image

image

Das Buch

Es könnte sein wie bei vielen anderen Pärchen, Mitte der 1970er, in Großburgstein, einer Uni-Stadt in der DDR. Paul und Birgit lieben sich, bekommen ein Kind, ziehen nach Havelfurt und warten auf eine Neubauwohnung.

Doch während Paul sich mit alltäglichen Problemen der sozialistischen Planwirtschaft im Betrieb herumschlägt, beklagt Birgit den empfundenen Stillstand. Dann fällt die Mauer. Euphorisch starten sie in ein neues Leben. Es gibt soviel aufzuholen, die anderen einzuholen, aufwärts soll es nun gehen, doch das geht ihr viel zu langsam. Die Mühen der Ebene haben sie gemeinsam bewältigt, nun will Birgit endlich auf den Berg. Jetzt. Nicht erst nach weiteren Jahrzehnten.

Die Autorin

Rita König (*1962) ist diplomierte Betriebswirtin und lebt in Rathenow/Brandenburg.

Für ihre literarische Arbeit erhielt sie zahlreiche Aufenthaltsstipendien im In- und Ausland. Ihre Erzählungen erschienen in Literaturzeitschriften und Anthologien deutscher Schriftstellerverbände.

Im Oktober 2015 debutierte sie bei Lauinger Verlag | Der Kleine Buch Verlag mit dem Roman Rot ist schön.
www.rita-koenig.de

Rita König

Fast
schon
EIN GANZES
LEBEN

ROMAN

MIT GLOSSAR IM ANHANG

image

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© Originalausgabe 2018 Lauinger | Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement, Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Sonia Lauinger Lektorat: Martina Leiber M. A., Lektoratsservice, Karlsruhe

Korrektorat: Miriam Bengert

Umschlagabbildung: liebe.de/schlussstrich-trennung-fair

Druck in Europa

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-9132-2

Dieser Titel erscheint auch als E-Book:

ISBN: 978-3-7650-9133-9

www.lauinger-verlag.de

www.derkleinebuchverlag.de

www.rita-koenig.de

www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag image

Für B*

Inhalt

Teil 1

1. Großburgstein

2. Schrecklich romantisch

3. Für immer

4. Havelfurt

5. Der rote Wartburg

6. Ein bisschen Frieden

7. Perestroika

8. Warten

9. Das Konzert

10. Engpässe

11. Der Fuchs und die Trauben

12. Logik

13. Angie

14. Lügen

Teil 2

1. Tanzen

2. Ein endlos scheinender Traum

3. An der Weltzeituhr

4. Wandlitz

5. Keine Knautschzone

6. Vingh

7. Havelsee

8. Griechenland

9. Dieter Zange

10. Abschied

11. Thea

12. Kopfschmerzen

Teil 3

1. Sandra

2. John

3. Schwarz-Weiß-Foto

4. Blühende Landschaften

Glossar

Danksagung

Teil 1

1.

Großburgstein

Am frühen Sonntagabend stand ein junger Mann auf dem Bahnsteig, ans Geländer gelehnt, als wäre er damit verwachsen. Der Novemberwind fuhr durch seine Haare und über das blasse Gesicht eines Stubenhockers, dabei hatte der Sommer von April bis Oktober gedauert. Er schob sich einen »Pfeffi« in den Mund, lutschte ein Loch hinein und kaute den Rest, zwischendurch sog er immer wieder Luft ein, um die Schärfe abzuschwächen. Eine Diesellok verschaffte sich mit dröhnendem Hupen Einlass in den Bahnhof von Großburgstein. Der junge Mann beugte sich vor, seine Unterschenkel berührten einen schwarzen Kunstlederkoffer. Er kniff die Augen zusammen, sei es, weil er eine Brille brauchte, oder aus Angst, jemanden zu verpassen. Dann lehnte er sich wieder zurück. Das Geländer bot Schutz davor, fortgeschoben zu werden, hinauf zum Übergang mit den rußgeschwärzten oder fehlenden Scheiben. Von dort oben hatte er oft auf das Gewirr aus Gleisen geschaut und die Drähte über den E-Loks knistern gehört.

Das Quietschen der Bremsen riss ihn aus seinen Gedanken. Fahrgäste hatten unvorschriftsmäßig die Türen geöffnet, bevor der Zug hielt. Studenten, Campingbeutel, Koffer oder handgenähte Seesäcke an den Körper gepresst, quollen aus den Waggons. Wie der süße Brei, dachte der junge Mann. Es hörte gar nicht wieder auf. Er reckte den Kopf; auf den Zehenspitzen konnte er nicht allzu lange stehen, aber er war groß genug, um über die dunkelgrüne Parka-Menge zu schauen und den karierten Mantel – rot, grün und gelb – sofort zu entdecken. Birgit war ein Farbtupfer, sie allein hastete nicht. Das Gesicht des jungen Mannes bekam nun doch Farbe, das Blut pulsierte schneller, er öffnete den Reißverschluss des Parkas, zupfte am Schal, atmete flacher.

Birgit hielt einen dunkelbraunen Lederkoffer in der Hand, eine Stofftasche über der Schulter. Für den Bruchteil einer Sekunde stockte sie, dann trat sie auf den jungen Mann zu: »Paul? Wartest du auf mich?«

Er nickte, nahm ihr das schwere Gepäckstück ab.

»Danke«, mehr brachte sie nicht heraus. Überrascht und geschmeichelt schritt sie neben ihm her und stellte erstaunt fest, wie vertraut ihr sein Profil bereits war.

Eine junge Frau kam den beiden entgegen. Paul schielte auf die schwarzen Wollhandschuhe um den metallenen Bügel des Kinderwagens und spürte augenblicklich seine kalten Finger.

Birgit machte ihr Platz und ging dann wieder neben Paul.

»Überleg dir genau, was du willst, und dann setze es durch«, hatte die Mutter ihr beigebracht, und sie meinte damit durchaus nicht nur den beruflichen Werdegang. Paul war nicht der erste Junge, der ihr auffiel, aber der erste, den sie formbar fand, und »formbar« verband sie mit den Worten der Mutter. Paul wirkte größer als nach jenem Seminar, als ihn die dritte Fünf und nicht zwei Koffer belastet hatte. Damals hatte sie ihn zum ersten Mal angesprochen.

Abgase mischten sich mit dem Geruch von Braunkohle, den der Wind an den Häuserfronten nach unten drückte. Die Rote Sommerspiere hatte ihre Blätter abgeworfen, die kahlen Zweige begrenzten die großzügigen Rasenflächen vor den Neubauten. Zwischen den Betonplatten des Weges wuchsen Grasbüschel und Vogelmiere, ab und zu Löwenzahn.

Birgit seufzte: »Die Platten stehen hoch, als würden mächtige Wurzeln sie anheben, aber es gibt keine Bäume.«

»Am Kies gespart wahrscheinlich.« Paul blickte auf ihre Stiefel.

»Ich kann gut damit laufen, ich dachte nur … die Koffer.«

Paul schüttelte den Kopf.

Mein Gott, dachte sie, fällt mir denn nichts Besseres ein? Als ob mich der Bau von Gehwegen jemals interessiert hätte. Der Wind pfiff, Birgit schüttelte sich und umklammerte mit steifen Fingern den hochgeschlagenen Jackenkragen. »Dabei ist der Sommer erst seit zwei Wochen vorbei.«

»Wir haben November«, entgegnete Paul. Sonst hielt er den Mund geschlossen; kein Keuchen sollte ihn verraten und Birgit zeigen, dass er alles andere war als eine Sportskanone. Dann musste er doch das Gepäck absetzen, er schwitzte, lockerte den Schal ein wenig, wischte sich die Hände an der Manchesterhose trocken. Birgit drehte sich zu ihm. »Ich könnte dich morgen in die Milchbar einladen. Magst du?«

»Ja, na klar, ich …«

»Gut.«

Paul nahm die Koffer wieder auf und folgte ihr mit weit ausholenden Schritten.

»Drinnen wird es wieder zu warm sein. Im Westen soll es Regler geben für die Heizungen.« Birgit zwinkerte ihm zu, doch er reagierte nicht darauf. Hoffentlich war er in der Eisdiele gesprächiger; so einsilbig war er ihr gar nicht in Erinnerung gewesen. Sie bogen in eine kleinere Straße ein. Auch hier standen auf beiden Seiten Neubauten, aus den späten Sechzigern, viergeschossig und grau verputzt, genau wie das Wohnheim, das am Ende der Straße mit seinen fünf Stockwerken alles überragte.

Aus einem angekippten Fenster trieb Kohlgeruch über die Straße. »Riecht wie in der Mensa.« Birgit drehte sich zu Paul. »Wie bunt doch der Speisenplan ist: Rotkohl, Grünkohl, Weißkohl.«

»Sauerkraut.«

»Ach ja, vergaß ich.« Sie verzog das Gesicht, wurde langsamer.

»Und Möhren und Rote Bete als Sättigungsbeilage.«

Paul war schweigend weitergegangen; Birgit eilte ihm hinterher, wie nach jenem Seminar vor einigen Wochen.

Sie hatte Block und Stifte hastig in die Stofftasche geworfen, aus Furcht, Paul zu verpassen. Mit einer sie einen Moment lang selbst ängstigenden Energie hatte sie nach seinem Ärmel gegriffen, drehte ihn zu sich und zischte ihm ins Gesicht: »Du willst studieren? Warum paukst du nicht einfach die Definitionen? Grundwiderspruch des Kapitalismus, zum Beispiel, das ist doch ganz einfach: ‚Die Entwicklung des Kapitalismus bestimmender Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung ihrer Ergebnisse. Antagonistischer Widerspruch. Punkt.‘ Ist das so schwer?«

»Du?«, war alles, was er herausgebracht hatte; stolz hob sie ihren Kopf noch einen Zentimeter höher und blickte ihm fest in die Augen: »Du hast mehr drauf.«

Damit hatte sie sich umgedreht und war davongegangen. Sie wusste, dass Paul ihr nachschaute.

Im Wohnheim stellte Paul die Koffer auf den Linoleumboden, nahm den Schal ab und stopfte ihn in die Parkatasche. Der Pförtner hatte nur kurz aufgesehen, ihren Gruß mit einem Nicken erwidert und seinen Blick wieder in die Zeitung gesenkt. Es war warm, Birgit öffnete den Mantel und ging mit zügigem Schritt auf die Treppe zu. Vor der vierten Etage stellte Paul seinen Koffer ab und trug Birgits bis zu ihrem Zimmer.

»Morgen Nachmittag, halb vier?«

Paul stand überpünktlich vor dem Wohnheim. Den Schal hatte er nicht zugebunden, obwohl ein scharfer Ostwind blies, er zog den Reißverschluss des Parkas weiter hinunter und schwitzte immer noch. Er hatte sie schon lange beobachtet. Birgit war nicht das erste Mädchen, das ihm auffiel, aber mit Abstand die Kühlste. Ihr meist gelangweilt wirkender Blick zog ihn an. »Hochnäsig« hieß sie bei den anderen Mädchen, »eingebildet« bei den Jungen, die sich von ihrer Kühle nicht angezogen fühlten, was er nicht verstand, aber erleichtert registrierte.

Mit einigen jüngeren Mädchen war er schon befreundet gewesen. Eine mit langen schwarzen Haaren hatte ihn vor der Disko aufgegabelt und ins Wohnheim gezerrt. Das Doppelstockbett quietschte; an mehr erinnerte er sich nicht und wunderte sich noch Tage später, keine Angst verspürt zu haben, dass eins von den anderen Mädchen plötzlich das Zimmer betreten könnte.

Ein paar Abende verbrachte er mit ihrer Nachfolgerin am nahen, schmutzigen Fluss. Selten nur waren sie für eine kurze Abkühlung ins Wasser gestiegen. »Sommermädchen« hatte sie sich selbst genannt, als hätte sie um das Ende bereits gewusst. Die anderen Gesichter blieben blass, auch wenn er sich ihre Namen ins Gedächtnis rief.

Als Paul Eli von Birgit erzählte, hatte sie wie ein kleines Mädchen gekreischt: »Du bist ja total verknallt!«, dann drückte sie ihn und fragte ihn aus. Schließlich gab sie ihm den Tipp, Birgit zu überraschen.

»Wie denn?«, fragte Paul seine große Schwester.

»Das musst du schon selbst herausfinden.«

»Das ist nicht so leicht wie bei den anderen.«

»Aber sie ist es wert, oder? Also streng dich an!«

»Warum Ökonomie?«, fragte Paul eines Abends.

»Für Architektur hat es nicht gereicht«, antwortete Birgit, und als er sie traurig ansah, lachte sie los. Dann erzählte sie mit fester Stimme, dass Ökonomie die Eltern beruhige. Sie hatte nicht Lebensmitteltechnologie studieren wollen, sie würde ihr Leben nicht in dem kleinen Dorf verbringen, nicht in der seit Jahrhunderten von der Familie geführten Bäckerei.

Zum Lernen saßen sie in einer Ecke der Bibliothek, hinter Bücherreihen hielten sie sich an den Händen und paukten die Definitionen.

»Was ist das für ein Deutsch?«, fragte Paul, »Schachtelsätze ohne Ende: ‚Die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion‘, … bla, bla, bla.«

»Vergiss nicht, zu beginnen mit: ‚Gemeinsamer Beschluss des Zentralkomitees der SED, des Bundesvorstandes des FDGB und des Ministerrates der DDR‘.« Birgit erhob sich und dozierte weiter: »Zweifellos werden diese Maßnahmen von der Arbeiterklasse, den Genossenschaftsbauern und nicht zu vergessen uns!, den Angehörigen der Intelligenz, als ein Ansporn empfunden, mit hohen Leistungen im sozialistischen Wettbewerb zur allseitigen Stärkung der DDR beizutragen. Was der VIII. Parteitag beschlossen hat, wird sein!«

»‚Der Wohnungsbau als Kernstück des sozialpolitischen Programms‘, das ist interessant, aber sonst? Bla, bla, bla. Wie machst du das nur?«

»Wie ein Gedicht lernen«, antwortete Birgit, »einfach auswendig.« »Aber es reimt sich nicht«, erwiderte Paul, das war wie ein Spiel. Manchmal küssten sie sich auch nur oder saßen da, tasteten mit Blicken jeden Zentimeter vom Gesicht des anderen ab, ohne ein Wort zu sagen, bis die große Klingel ertönte, weil die Bibliothekarin schließen wollte.

Birgit begann zu summen, immer neue Liedfetzen fielen ihnen ein, zu denen sie getanzt hatten im Studentenklub.

»In jener Nacht«, hauchte Veronika Fischer in den Kuss hinein, bevor sich die Pärchen beim »Klavier im Fluss« wieder lösten, erstaunt Arme und Beine schüttelten und auf den nächsten langsamen Titel warteten, Paul auf »Am Fenster« von »City«, in der Langfassung, dann glaubte er, Birgit nie mehr loslassen zu müssen, siebzehn Minuten lang, fast schon ein ganzes Leben.

2.

Schrecklich romantisch

Als Paul am 2. Adventssonntag aus dem Bahnhofsgebäude trat, winkte Birgit mit ihrem knallroten Schal, den sie sich über die Handschuhe gewickelt hatte. Er zog eines der Vanilleplätzchen aus der Jackentasche – eine große Tüte voll hatte seine Mutter ihm eingepackt – und schob es ihr in den Mund. Dann küsste er sie, ihre Zungen stritten sich um die klebrige Masse, bis sie kichernd voneinander ließen.

»Wohin gehen wir?«, fragte Paul, als Birgit ins Neubaugebiet abbog. Aber sie zog ihn stumm weiter, stoppte nur für einen langen Moment unter dem Durchgang, um ihn erneut zu küssen. Dann standen sie vor einem alten Haus, sie hielt ihm einen riesigen Schlüssel unter die Nase, »Trara!«, und rannte die Treppen hoch. »Warum hast du mir nichts gesagt?«

»Überraschung!« rief sie, ihre Wangen waren gerötet, er küsste sie wieder und wieder.

»Magst du mit mir hier wohnen?«

Auf ihrem weißen Hals schimmerten Schweißtropfen, der Schal lag auf dem Boden, sie hob ihn auf, mit einer langsamen Bewegung, als wolle sie Paul erst wieder anschauen, wenn er antwortete. »Und die Miete?«, fragte er. »Fürs Wohnheim sind es nur zehn Mark, das reicht hier sicher nicht.«

»Daran musst du nicht denken«, sagte sie lächelnd, »nur daran, ob du einziehen willst.«

»Na klar!«

Paul hob sie hoch, trug sie ins Zimmer, ja, dachte Birgit, traumhaft, wunderbar! Sie schmiegte sich an ihn. Verträumt war sie, ganz tief innen, schrecklich romantisch. »Das ist nichts für dich«, hatte ihre Mutter gesagt und ihr die Schmöker aus der Hand gerissen, immer wieder. Dabei wollte sie gar nicht so sein wie die Frauen in den Romanen, sie war klug und stolz, sie würde sich nie so demütigen lassen wie sie, die bis zur vorletzten Seite warten mussten, um erlöst zu werden. Aber träumen durfte man wohl noch? Von einem starken Mann, schönen Kleidern, teurem Parfum.

Nun wohnten sie seit drei Monaten in der Altbauwohnung. Es fühlte sich gut an, den Raum für sich zu haben, eine eigene kleine Küche und sogar eine Toilette, auch wenn sie zum Hände-waschen die Spüle benutzen mussten. Sie roch an der neuen »Lux«, von der ihre Mutter zum Einzug zwei Stück mitgebracht hatte: »Alles Gute von Tante Gertrud.« Ein Stück hatte sie zwischen die Pullis gelegt, sie würde es lange dort duften lassen. Sparsam bestrich sie jeden Finger einzeln mit Seifenschaum und legte das Stück behutsam in die Plasteschale zurück. Kein Vergleich mit den Vier-Mann-Zimmern im Wohnheim, der Enge, der Lautstärke und vor allem diesem Gestank. Etagenküche, Nudelwasserschwaden, ah, einmal nur, der Geruch von Spiegeleiern. Mit einer Art Rost überzogene Herdplatten, Nudelwürmer, bräunlich, mit getrocknetem Ketchup, widerlich. Und der Bärtige aus dem fünften Semester – sie konnte sich nicht einmal mehr an seine Augenfarbe erinnern –, aber seinen Tipp für diese Wohnung würde sie nicht vergessen. Zum Glück, dachte sie, Paul legt seine Sachen auf den Stuhl, trocknet ab, er fragt, er ist lieb, er fügt sich. Sie nahm einen Zeitungsstapel und schnitt sorgfältig alle Artikel aus, die sie für das Seminar brauchten, und summte dabei. Die Reste bündelte sie mit Paketschnur. Montag würden die Pioniere kommen, die Papierstapel abholen und nach leeren Gläsern fragen.

»‚Ham se nich noch Altpapier, Flaschen, Gläser …?‘«

Nein, die Gläser tauschte Birgit bei ihren Eltern gegen gefüllte ein, mit Kompott und mit Selbstgeschlachtetem. Das bedruckte Papier dagegen … Paul begann den Refrain mitzubrummen, sie lachte und hielt den Stapel hoch: »‚Planübererfüllung‘, ‚Ernteschlacht‘ – wirklich schade, dass diese Wörter sich so gar nicht für ein Lied eignen!«

»‚Sie ham doch sicher ’n paar Flaschen zu stehn? Und wenn noch was drin is, is auch kein Problem …‘«

»Nein«, unterbrach Birgit ihn, »haben wir nicht, aber wenn«, sie begann, verhaspelte sich im Text, sang unbeirrt weiter: »Das schütten wir rein in den alten Herrn Boll von der Annahmestelle, denn der alte Herr Boll ist niemals so doll wie die Müllschlucker vor Ihrem Mietshause voll!«

Glucksend ließ sie sich neben Paul auf die Couch fallen, er legte den Arm um sie, als wolle er schunkeln, dann sangen sie den Refrain aus voller Kehle: »‚Ham se nich noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa, klingelingeling, ein Pionier …‘«

»Die allein lebende Frau unten im Haus«, sagte Paul, als sie sich beruhigt hatten, »gibt bestimmt Gläser ab. Und Weinflaschen! Damit werden die Pioniere den Handwagen füllen und den Wettbewerb bestimmt gewinnen.«

Ja, dachte Birgit, sie waren manche Nacht davon aufgewacht, dass die Frau lauthals zu singen anfing, bevor es polterte und irgendwann ruhig war. Paul brummte weiter die Melodie vor sich hin, sie schwieg. Wer weiß, was die Frau dazu trieb, Liebeskummer wahrscheinlich. Liebeskummer ist tödlich.

Erst am Vormittag war sie wieder aus dem Umkleideraum geflüchtet. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, weshalb die Mädchen ausgerechnet vor und nach dem Turnen diese erlebten oder erdachten Liebesgeschichten erzählen mussten, die nur in der Phantasie ein gutes Ende nahmen. Es war immer das Gleiche: Die Mädchen himmelten unerreichbare Jungen an und heulten sich in den Schlaf. Und immer liebten die Mädchen mehr als die Jungen. In seltenen, sehr kurzen Momenten beneidete sie solche Mädchen um ihre Energie. Um den Schmerz beneidete Birgit sie nicht. Vor ein paar Jahren hatte sie die tschechische Oper »Rusalka« gesehen. An die Bilder der Rusalka im schneeweißen Hochzeitskleid zwischen roten Rosen dachte sie gern, genauer jedoch erinnerte sie sich an die hohen Töne voller Schmerz. Rusalka, die davon überzeugt war, dass ihre Liebe jeden bösen Zauber besiegen würde. So wie die Mädchen im Umkleideraum. Doch als der Prinz endlich begriff, dass Rusalka die Einzige war, die ihn liebte und die er liebte – was auf der Bühne fast drei Stunden dauerte –, half das gar nicht. Ein letzter Kuss, er starb und sie war wieder allein. Birgit schüttelte sich. Nein. Es tat weh, an diesen Schmerz auch nur zu denken. Ebenso wie an die Familiengeschichte, die vor ihrer Geburt stattgefunden hatte und die sie daher nur unvollständig rekonstruieren konnte. Tante Gertrud, sonst für jeden Klatsch zu haben und äußerst gesprächig, schwieg beharrlich oder speiste Birgit mit Halbsätzen ab, die sie mühsam zu einem Bild zusammensetzte. Birgit erinnerte sich an einen Streit zwischen den Schwestern, aber das war nicht der erste und nicht der letzte Disput zwischen Gertrud und Birgits Mutter, und er war nicht einprägsamer als die anderen. Einzig die Tatsache, dass Birgit sich unter den ausgezogenen Couchtisch verkrochen hatte und dem weiteren Gespräch unbemerkt lauschte, war neu. »Liebe – was ist das schon gegen ein gutes Leben?«, war ein Satz, der sich seitdem nicht mehr aus ihrem Gedächtnis löschen ließ und unmerklich zu ihrem eigenen Motto geworden war. Wahrscheinlich hatte die Mutter als junges Mädchen versucht, sich umzubringen, und sehr wahrscheinlich wegen eines Mannes. Die Mutter im Nachthemd auf einer Brücke, das leere Tablettenröhrchen noch in der Hand – Birgit sah die Szene nicht nur in Alpträumen vor sich. Auch jetzt drängte sich dieses Bild nach vorn. Sie schmiegte sich an Paul, er streichelte ihren Rücken, seine Finger glitten unter ihr Nicki, öffneten den BH.

»Du wirst mir nie weh tun«, sagte sie leise, als Paul die heruntergefallene Decke vom Boden aufhob und sie behutsam zudeckte. »Niemals«, antwortete Paul.

Nach dem Abendbrot setzte Birgit sich an die elektrische Nähmaschine, die ihre Eltern zum Einzug mitgebracht hatten.

»Weiß oder blau?«

Er zuckte die Schultern.

»Für die Küchengardinen – was gefällt dir besser?«

»Du«, sagte er, »ohne Bordüre.«

»Bordüre doch nicht, Zackenlitze ist das hier«, sie hielt das schmale weiße Band in die Höhe.

»Und das hier heißt Borte; das blaue ist Baumwoll-Brokat-Borte, ich weiß aber nicht, ob die Nadel das aushält.«

»Dann lieber das weiße, diese Wellen passen doch gut auf den dunkelblauen Vorhang, oder?«

Er beugte sich wieder über den Hefter. Wahrscheinlich übte er gerade die Definitionen. Sie lächelte, während sie den Stoff durch die Finger gleiten ließ und die Spule exakt einstellte. Paul lernte, um ihr zu gefallen, das wiederum gefiel ihr, sehr gut sogar.

»Hast du dich schon gekümmert?«, fragte Birgit, als die Gardine fertig genäht war und sie die Fusseln absammelte. »Warst du da?« Paul schüttelte den Kopf.

»Du willst nicht tatsächlich achtzehn Monate durch den Schlamm robben?«

Nein. Pauls Mutter hatte in ihrem letzten Brief von Georg und Andreas, seinen Schulkameraden, erzählt, die eingezogen worden waren. Sie verstand nicht, weshalb man die »Jungen« nicht erst das begonnene Haus fertigstellen ließ, weshalb nicht einmal die Geburt von Georgs Tochter dazu taugte, ihn bei der Familie zu belassen, und fragte nach seinen Plänen.

»Ein Schlupfloch«, sagte Birgit, »das ist unsere Chance.«

Paul dachte an die vormilitärische Ausbildung und schüttelte sich. Er hatte Helm und Gasmaske tragen müssen, bis er fürchtete, nie wieder richtig durchatmen zu können, kletterte über hölzerne Hindernisse, riss sich die Hände auf und schaffte die Strecke doch nie in der vorgegebenen Zeit. Abends fielen sie erschöpft auf die ausrangierten Armeebetten. Die Mädchen dagegen wickelten sich Tücher um die Taille und knoteten Gürtel um die ausgewaschenen DRK-Uniformen. Sie malten sich rote Streifen ins Gesicht, hielten sich die Hand vor den Mund und imitierten Indianergeheul. Sie trugen die DRK-Käppis keck und schief aufgesetzt, begutachteten glucksend die mit aufgeklebten Wunden verunstalteten Oberschenkel; nichts von all dem Gelernten nahmen sie ernst. Bei der »Rotlichtbestrahlung«, der »marxistisch-leninistischen Weiterbildung«, war es umgekehrt. Außer Birgit, der die Langeweile im blassen Gesicht geschrieben stand, saßen die Mädchen gebeugt über den Schnellheftern oder aufrecht und aufmerksam. Die Jungen dagegen fläzten sich in den Bankreihen und hingen eigenen Gedanken nach, unterbrochen nur vom häufigen Blick auf die Armbanduhr. Erst bei den darauf folgenden Hilfseinsätzen bei der Kartoffel- oder Rübenernte kamen das Lachen und die Leichtigkeit wieder, schäkerten die Jungen mit den Mädchen, ließen diese sich gern helfen und belohnten die Jungen am Abend mit Stockkuchenteig oder Kartoffeln, die sie gemeinsam am Lagerfeuer garten.

»Schlupfloch«, flüsterte Paul, atmete tief ein und klopfte an die Tür des Uni-Büros. Er stand verloren in einem riesigen Zimmer, der Schreibtisch meterweit entfernt, und stammelte sein Anliegen. Schlimmer konnte der Frühsport bei der »Fahne« auch nicht sein; er spürte den Schweiß am gesamten Körper, während die Angestellte den Bogen mit aufreizender Langsamkeit in die Maschine zu spannen schien. Über die Brillengläser hinweg sah sie nur kurz hoch, fragte seinen Namen in einem militärischen Ton ab, dem er doch entkommen wollte, tippte das Datum, zog mit einem Ruck den Bogen heraus und knallte den Stempel darunter, dass es im Raum nachhallte. Er verschwand mit dem losen Blatt, legte es erst in den Schnellhefter, nachdem er die Tür von außen geschlossen und erleichtert aufgeatmet hatte.

Genau elf Wochen war es her, dass er in die Dunkelheit geflüstert hatte: »Ich wünsche mir ein Kind.«

»Ich weiß«, hatte Birgit geantwortet und dabei seine blauen Turnhosen nach unten geschoben. Ja, wie er so sehnsuchtsvoll schaut, wie im Film, wie in einem wunderbaren Film, genau so sollte es sein.

Am Morgen danach stand sie vor dem Spiegel und versuchte sich vorzustellen, wie sie mit einer Wölbung aussehen würde, die schmalen Hände auf den Beckenknochen. Paul starrte wie hypnotisiert auf ihren weißen Bauch, sie drehte sich langsam, legte seine Hände auf ihre Brüste und sagte: »Ich liebe dein zwanghaftes Harmoniebedürfnis.«

Erst als Birgit sicher war, schwanger zu sein, schrieb er seiner Mutter, dass er bald Vater werden würde und deshalb versuche, der Aufforderung des Wehrkreiskommandos mit den gesammelten Bescheinigungen zuvorzukommen, sich die Wehrausbildung im Studium anrechnen zu lassen. Die Nationale Volksarmee war mit den geburtenstarken Jahrgängen schlicht überfordert. Die Sätze sprudelten, er konnte kaum stillsitzen, nur für einen Moment hielt er inne und versuchte, sich auszumalen, wie es war, Vater zu sein. Er dachte an die Schwarz-Weiß-Fotos von ihm und seiner Schwester und den Stolz im Blick seines Vaters, den er später vermisste, horchte zur Küche, wo Birgit vor sich hin summte, und schrieb weiter. Nach dem Zukleben ging er zu ihr, küsste ihren Hals und fuhr mit dem Zeigefinger über ihren flachen Bauch. Er nahm das Lied auf, brummte mit, während er sich die Schuhe band, und lief zur Hauptpost, um den Brief dort einzuwerfen, er wollte keine Zeit verlieren. Abends hörte er nicht auf, Birgit zu streicheln und zu küssen, sie wehrte sich lachend, bis er sagte: »Nie will ich weg von dir, nicht einmal für einen Tag!«, da schaute sie ihn ernst an und verstummte. Ihre Augen glänzten.

3.

Für immer

Der Februar hatte sich mit Schneematsch verabschiedet. Der März begann milder, doch es goss, und von den Bäumen hörte es nicht auf zu tropfen.

Pauls Mutter hatte beim Gastwirt angefragt, ob sie nicht doch den Saal mieten könne, aber Paul war zuversichtlich, dass seine Hochzeit an einem sonnigen Tag stattfinden würde. Der Termin stand fest, unumstößlich, denn Birgit wollte verheiratet sein, bevor jemand die Schwangerschaft bemerken konnte. Auch Birgit glaubte an schönes Wetter; einen Mantel jedenfalls hatte sie nicht kaufen wollen, um ihn über dem Kleid zu tragen. Nur eine Strickjacke erstanden sie gemeinsam, weil es ihnen trotz mehrfachem Suchen nicht geglückt war, eine Bolerojacke aufzutreiben. Zwei Tage vor der Hochzeit klarte der Himmel auf; ein frischer Wind half den Sonnenstrahlen, die Nässe innerhalb weniger Stunden von den Wegen zu wischen.

Auf dem schwarzen Jackett des Standesbeamten prangte das Parteiabzeichen. Seine Stimme war kräftig, aber monoton. Zwischendurch schluckte er. Paul schluckte mit.

Birgit hatte geschnüffelt, als sie den Raum betraten: »Bohnerwachs, wie in der Uni«, aber die dunkelroten Azaleen zwischen den blassen Alpenveilchen lenkten sie von dem ansonsten schmucklosen Raum ab. Mehr als einmal hatte sie Paul erzählt, dass sie als kleines Mädchen davon geträumt hatte, in einer riesigen Kirche zu heiraten, einer, in der die Fenster bunt waren und das Geländer zur Empore vergoldet. Dabei war sie nicht einmal getauft. In ihrem langen Kleid bewegte sie sich graziös und zugleich so natürlich, als hätte sie ihr ganzes bisheriges Leben in solch einem Kleidungsstück verbracht – und als gefiele es ihr, auch weiterhin eine solche Garderobe zu tragen. Zwei Stühle in der ersten Reihe waren für das Brautpaar reserviert. Der weinrote Kunststoffbezug gab mit leisem Seufzen nach, als Paul sich setzte. Von der Wand hinter dem Standesbeamten schaute der Staatsratsvorsitzende jung und freundlich von einem Foto herab. Paul griff nach Birgits Hand, sie warf ihm einen ermutigenden Blick zu. Dann lauschte sie mit leicht nach vorn gestrecktem Kopf der Rede. Sie wirkte konzentriert und nicht halb so nervös wie Paul, der seine Finger unter dem Sitz abwechselnd spreizte und zur Faust ballte. Seine Hände zitterten, als er Birgit den Ring ansteckte. Sie lächelte ihn an und hielt ihre Hand ganz ruhig. Hinter ihnen schniefte jemand laut auf. Die Musik schniefte auch, doch Paul streckte sich und ging mit Birgit am Arm an den anderen vorbei nach draußen, als wolle er sie nie wieder loslassen. Als könne er sich nur mit Mühe beherrschen, die Treppen nicht hinunterzuspringen und Birgit nicht herum-zuwirbeln. Seine Frau, denn das war sie, jetzt und für immer.

Im Garten roch es nach umgebrochener Erde und dem eigens für die Feier gemähten Rasen. Schneeglöckchen, Krokusse und selbst einige Osterglocken blühten, »Frühling, Frühling«, tschilpten die Spatzen über die riesige Tafel hinweg, die Pauls Mutter mit Hilfe der Nachbarn zusammengetragen und mit weißem Leinen bedeckt hatte. Dazwischen kringelten sich Papierschlangen, von Eli mitgebracht. Auch den Türrahmen der Laube hatte sie geschmückt, mit einer Girlande aus Krepp-Papier-Blumen. Drinnen waren Obst- und Streuselkuchen, Frankfurter Kranz und Schwarzwälder Kirschtorte auf gläsernen Tellern angerichtet. Die Fußrohre der beladenen Campingtische hatte Pauls Vater mit Feldsteinen beschwert. Das Gartenhäuschen glich eher einem Schuppen, aber der Raum verfügte über Betonmauern und hatte innen einen ergrauten Anstrich. Neben den Campingtischen standen die weißgestrichenen Hocker vor dem Küchenregal aus Sprelacart, in dem kleinere Gartengeräte und Gummihandschuhe lagerten. Die Wände waren kahl, nur gegenüber der Tür klebten vergilbte Postkarten: »Balatonfüred« am gleichnamigen See, den sie sich als Kinder so vorgestellt hatten wie die Müritz, nur viel größer, der Tschirmer See in der Hohen Tatra, »Štrbské pleso«, Blick von der Fischerbastei zur Donau und eine Ansichtskarte mit den schneebedeckten Gipfeln des Pamirgebirges. Jedes Jahr im Frühjahr gab es an einem Samstag ein großes Aufräumen und Putzen. Der Campingtisch wurde aufgeklappt, mit einer geblümten Wachstuchdecke verschönert, das Fenster wurde geputzt, das Türschloss geölt und die Gartengeräte um die Ecke unter ein kleines Vordach gestellt. Pauls Mutter wollte wetterunabhängig sein, den gesamten Sommer über, der spätestens im März für sie begann und nicht vor Oktober endete. Sie maß das Jahr nach Gartenzeit und Ruhezeit – und Ruhezeit war für sie dann, wenn es draußen nichts zu tun gab. Pauls Vater hatte manches Mal entgegnet, auch im Winter würde die Arbeit nicht ruhen, und in richtigen Wintern ging er morgens noch vor dem Zähneputzen hinaus und schaufelte mit einem Holzschieber den frisch gefallenen Schnee vom Trottoir.

Das Rascheln der Papierblumen an der Laube klang wie ein vergessenes Kinderlied, der Wind blies sacht und warm. Birgit zog ihre Strickjacke aus, Paul krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und steckte die goldfarbenen Manschettenknöpfe in die Hosentasche. Eli war nicht mitgekommen zur Trauung. Jetzt trat sie aus der Tür, zog sich hastig die Dederonschürze über den Kopf und rannte auf das Brautpaar zu. Sie drückte Paul, boxte ihn. »Wie fühlt man sich als frischgebackener Ehemann?«

Pauls Mutter platzierte die Gäste und Eli zog Paul hinter die Wacholderbüsche.

»Ach Paule«, Eli drückte ihn noch einmal. Er beugte sich über ihr Haar, sog mit einem tiefen Atemzug den Duft ein, als lägen darin all die Jahre der Kindheit, die sie hier, hinter den Büschen, am See, gemeinsam verbracht hatten. Nur Eli sagte »Paule«. Birgit mochte keine Kosenamen. Stark wolle sie sein, und dazu passten keine Verniedlichungen, leise hatte sie das gesagt, auf Widerspruch wartend vielleicht, doch er hatte nur genickt. Birgit sprach sogar Pauls Schwester mit dem vollständigen Namen Edith an, dabei kannten alle anderen sie nur als Eli.

Sie kicherte: »Ich glaube, ich werde nie erwachsen. Ich habe immer noch Angst, Paps könnte mich beim Rauchen erwischen.«

Eli zog so kräftig an der Zigarette, dass die Glut wie ein kleines Feuer leuchtete. »Und bevor du es von Mutti hörst: Ich lass mich scheiden.« Es sei okay so, sagte sie, er käme nie darüber hinweg, dass sie keine Kinder haben würde. Paul nestelte an seiner Zigarette und fixierte die Büsche.

»Außerdem habe ich meine Kinder, achtundzwanzig sind es dieses Jahr!« Paul nickte erleichtert, sein Gesicht entspannte sich.

»Gewiss hast du es dir gut überlegt«, sagte er zu Eli, »du wusstest ja schon immer genau, was du wolltest. So wie Birgit.«

»Paul?« Birgit schirmte mit einer Hand die Augen ab und schaute zu einer Gästegruppe, die an der Hollywoodschaukel stand. Die Sonnenstrahlen malten Kringel auf ihren Hals. Paul warf die Zigarette auf den Boden und spuckte kräftig aus, als könne er damit den beißenden Tabakgeschmack loswerden. Eli schaute ihn an; zwischen ihren Augen bildete sich eine Falte. »Pass auf dich auf.« Sie holte einen »Pfeffi« aus der Tasche und grinste. Dann gab sie Paul einen Schubs. »Nun geh schon zu deiner Frau.«

»Ich gehe nicht zurück«, sagte Birgit, als sie nach der Klausur am breiten Fluss spazierten. Paul hatte an das Sommermädchen gedacht, daran, dass es Birgit viel zu schmutzig wäre und ob er sie wohl überzeugen könnte, mit ihm nach Mecklenburg zu gehen, wo das Wasser der Seen klar war.

»Nach Mecklenburg möchte ich auch nicht.«

»Wohin willst du dann?«

»Weiß nicht, vielleicht an irgendeinen Ort dazwischen. Havelfurt hört sich gut an.«

»Es wird schwer sein, das Übliche zu durchbrechen.«

»Als Familie nicht. Glaube ich wenigstens.«

»Aber die Betriebe haben uns doch eingeplant, sie rechnen damit, dass wir nach dem Studium dort anfangen, wozu sonst hätten sie uns delegieren sollen?«

»Du machst dir Gedanken um den Betrieb? Nicht um uns?«

Paul starrte auf das schnell fließende Wasser, kickte einen Stein beiseite. »Ich möchte dahin, wo du bist.« Er holte tief Luft. »Eine märkische Kleinstadt, das ist also dazwischen. Zwischen Mecklenburg und Großburgstein.«

»Brillen werden immer gebraucht. Außerdem werben sie mit Neubauwohnungen, Kaufhallen und Kindergartenplätzen. Werden wir bald nötig haben.« Sie schmiegte sich an ihn.

»Versuchen können wir es.«

»Der Optikbetrieb sucht händeringend Ökonomen. Wir sind bald welche. Was soll da schiefgehen?«

An den Abenden spazierten sie jetzt oft durch das Neubaugebiet Großburgsteins, blickten an den Fensterreihen hoch und Birgit malte sich aus, wie sie die Wohnung einrichten würden. Paul multiplizierte im Kopf und mit dem Gedanken an Eli die Fensterreihen in den Häusern mit den Aufgängen und Stockwerken. Als er laut die Sandkästen zählte, sah Birgit mit einem spöttischen Grinsen zu ihm auf: »Wie viele Kinder wolltest du denn? Eine ganze Fußballmannschaft?«

»Eine halbe?«

Sie drohte ihm, er tat so, als würde er weglaufen, sich ducken unter imaginären Schlägen, dabei rannten sie wie kleine Kinder über den Spielplatz und hielten erst an einer zwischen hochgewachsenen Sträuchern versteckten Bank. Paul fuhr mit einer Hand über die Farbnasen, bevor er sich setzte und Birgit die Beine auf den Latten ablegte, mit dem Rücken an ihn gelehnt. Der Wind wirbelte die weißen Blüten hoch, die wie Schneeflocken tanzten und auf den Gehweg sanken, auf den Rasen und auf Birgits dunkles Haar. Paul lauschte ihren Träumen von einem gemeinsamen Leben wie früher den Märchen, die Eli ihm vorgelesen hatte. Birgit strich über ihren Bauch und freute sich darauf, zu Hause zu bleiben. »Ich kümmere mich um unsere Tochter und du leitest den Betrieb«, träumte sie laut und Paul antwortete: »Mach das, kümmere dich um unseren Sohn.«

Und dann kam Paul eines Tages später aus der Uni. »Ich habe heute unterschrieben. Bin jetzt Kandidat.«

»Was bist du?«

»Kandidat der Partei. Ich habe den Antrag unterschrieben. Du, ich hab Brötchen mitgebracht, 7er, die magst du doch lieber, der Bäckerwagen kam gerade, ich glaube, sie sind noch warm.«

»Das erzählst du mir hinterher?«

»Du hast doch gesagt, die für 5 Pfennige schmecken dir nicht.«

»Du hättest mich fragen müssen.«

»Ich dachte, du wärst einverstanden. Soll ich die Butter holen?«

»Einverstanden mit der SED? Wenn schon Partei, dann eine, die uns weiterhilft! Die CDU, zum Beispiel.«

»Ich bin doch gar nicht kirchlich erzogen worden.«

»Denkst du auch einmal praktisch? Die CDU stellt die Abgeordneten für Wohnungspolitik! Wir brauchen eine Wohnung!«

»Warum bewirbst du dich dann nicht für die CDU?«

»Ich? In eine Partei gehen? Karriere machen? Nein, nein, Paul, ich werde unsere Tochter großziehen und du machst die Karriere. Das ist dir doch klar, oder?«

Paul stützte sich mit den Händen auf den Tisch aus massivem Holz. Seine Fingerknöchel wurden weiß. Er starrte auf die graue Papiertüte mit dem Konsumemblem. Die Frage hing noch in der Luft. Paul nahm die Brötchentüte vom Tisch, drehte sich langsam zu ihr um: »Und ich besorg die Schrippen. Magst du jetzt?« »Ich habe Gemüsesuppe gekocht und ich habe schon gegessen. Steht auf dem Herd.«

Sie atmete aus, sah ihn einen Moment lang schweigend und sehr ernst an und fügte hinzu: »Entscheide so etwas nie wieder allein.«

4.

Havelfurt

Vom Bahnhofsvorplatz blickte ein bronzener Mann auf die aus dem Backsteingebäude strömenden Menschen. Rosenblüten in Weiß und Rot säumten den Rasen zu seinen Füßen. Nur Paul sah zum Denkmal, ging mit großen Schritten darauf zu und las die Inschrift auf dem Sockel. Dann wandte er sich zum Taxistand und ließ sich den Weg zum Betrieb beschreiben. Nach den Jugendstilbauten mit einseitigen Türmen und verglasten Loggien wich das Kleinstadtbild der funktionellen Architektur der fünfziger Jahre. Links und rechts der Hauptstraße wuchsen die gleichen Sträucher vor den Neubauten wie überall, parkten Fahrräder in den betonen Ständern vor den Hauseingängen, mit Einkaufsnetzen behangen und nie abgeschlossen. Nach wenigen Minuten war die Stadtmitte erreicht. Sein Dederonhemd klebte, Paul nestelte das Taschentuch aus der Hose, um sich die Schweißtropfen von der Stirn und aus dem Nacken zu wischen. Das Grün vor den Häusern duftete nicht, er roch keinen Sommer, wie eine Glocke lag die Hitze über der Stadt und zwang ihn, flach zu atmen. Auf einem unbefestigten Platz stand ein Eiswagen, Schokoladeneis war seine Lieblingssorte, doch er hatte einen Termin in der Kaderabteilung und trug das helle Hemd, das Birgit ihm hingelegt hatte. Nachher vielleicht, seufzte er.

Das Hauptgebäude des Betriebes war an den meterhohen Säulen vor dem breiten Eingang zu erkennen. Der an einer Seite angesetzte Fertigungskomplex dagegen schien über sechs Etagen hinweg nur aus Stahl und Fenstern zu bestehen. Paul blickte zur anderen Seite. Schräg gegenüber neoklassizistische Säulen, vor einem Theater. Stalinbau. In den grauen Betonkästen auf dem Platz davor gleißten Blüten in der Sonne, dicht an dicht. Rechts erstreckte sich ein Park. Gepflegte Rhododendronbüsche, Rasen, Bänke und ein Spielplatz mit Klettergerüst. Ein Mädchen und zwei Jungen …

»Pass auf, dass wir gleich eine Wohnung bekommen und nicht nur ein Zimmer«, hatte Birgit ihm mit auf den Weg gegeben, »eine schöne!«, fügte sie leise hinzu: »Denk an das Kleine.«

Stattdessen starrte er auf die Jugendlichen am Klettergerüst und dachte an den Park in seiner mecklenburgischen Heimat. »Star« hieß das begehrte Moped, das Jugendweihegeld hatte gerade so gereicht, 3,4 PS. All die Feldwege und KAP-Straßen um Breithagen herum, Georg, Andreas, John vorneweg, manchmal auch Mädchen, mit »Schwalbe« oder nur mit dem Rad. »Darf ich, ich möchte so gern …« Ja, natürlich, nur nicht gleich, ein bisschen forsch sein, ein wenig auskosten das Betteln. Wie sie die Arme hoben, um den Pferdeschwanz zu binden oder Zöpfe zu flechten, ganz hoch, sodass unterm kurzen Ärmel ein paar blonde oder schwarze Härchen sich zeigten und die Brüste sich hoben, bis einem vor lauter Schauen die Spucke wegblieb. Wie die Mädels sich dann festkrallten, wie wohl das tat, dieses Kneifen in die Seiten, wie süß der Aufschrei. Schmollmund, Lippen schürzen, Kulleraugen, die Wimpern ganz langsam sinken lassen, bis einem das Blut schoss, nach oben und nach unten, bis einem die Zunge schwer wurde, als hätte man in der »Fischerhütte« gerade einen halben Liter »Rostocker Pils« auf ex getrunken und nicht nur eine »Club-Cola«. Eines der Mädchen trug immer ein rotes Kopftuch. Wie ein Rennfahrer scheute sie keinen noch so holprigen Weg. Die Räder ächzten, wenn sie hart auf den Boden schlugen. Ihr Gesicht wie versteinert. Doch beim Drehen des Zündschlüssels statt angespannter Gesichtsmuskeln fröhliches Lachen.

Das Klettergerüst. Ein Mädchen und zwei Jungen … Hab ich auch so dagestanden, als John um das Mädchen meiner Träume warb? Milchgesichtig, die »Cabinet« in der Hand. Habe ich damals schon Lunge geraucht? Das Mädchen hier trug einen kurzen Rock. Der blasse Junge neben ihr schnippte die Kippe weg und starrte auf die nackten Beine des Mädchens. Sie sah dem anderen zu, der seine Knie über dem oberen Holm gebeugt hatte. Kopfüber baumelte er. Der Junge steckte sich die nächste Zigarette an. Paul wandte sich den Parkanlagen zu. Er musste zum Termin. Der blasse Junge überholte ihn auf einem klapprigen Damenfahrrad. Dürr sah er aus. So hatte Paul auch ausgesehen. Als er das Mädchen anhimmelte. Das mit dem roten Kopftuch. »Rauchen Sie ruhig weiter«, hatte der Sportlehrer gesagt, »rauchen macht schlank.«

Nur wenige Wochen nach dem Termin in der Kaderabteilung saß Paul auf dem Beifahrersitz des Möbelwagens und holperte über das Kopfsteinpflaster. Sie hielten vor einem dreistöckigen Haus, Paul kletterte aus dem LKW und blieb auf dem Gehweg stehen. Die Farbe der Fensterrahmen blätterte, das Holz darunter war grau wie die gesamte Fassade. Im zweiten Stock sprenkelten helle Flecken die staubigen Scheiben. Paul schaute die Straße hinunter, der Wartburg von Birgits Vater war noch nicht zu sehen, er stemmte sich gegen das breite grau-blau gestrichene Tor und stand im Hausflur. Es roch nach Moder, dabei drückte draußen die Hitze die Stadt klein, noch kleiner, als Paul sie von seinem Besuch in der Kaderabteilung in Erinnerung hatte. Die Stufen waren ausgetreten, der Ölsockel an einigen Stellen abgeplatzt. Am dunkelgrün gestrichenen Geländer schienen gelbe und graue Farbschichten durch, er stieg schnell höher, schloss die Wohnungstür auf und atmete den Geruch frischer Malerfarbe. Die eigenen vier Wände, das war doch etwas ganz anderes als Birgits Altbauwohnung in Großburgstein! Er strich über eine Naht zwischen zwei Tapetenbahnen. Das hier ist auch meins, ein Anfang jedenfalls. Er ging ins Bad, fuhr über das orange-beige Metallgehäuse des Badeofens. Ein Bad, eine Wanne, ja! Insgesamt nur eine kleine Butze, mit Dielen, die vom vielen Bohnern rotbraun schimmerten, Linoleum ohne erkennbares Muster im Flur, der Küche und im Bad. Keine Neubauwohnung wie versprochen, Paul dachte an Birgits Zornesfalten, nachdem sie den Brief der Wohnungskommission gelesen hatte, daran, wie er versucht hatte, sie zu beruhigen, und wie hilflos er sich fühlte, als sie leise weinte. Die Blöcke waren noch gar nicht gebaut. Dabei hatten sie nun ein Kind, einen Sohn, Paul verschlug es immer noch die Sprache, er konnte das Glück nicht in Worte fassen, dass er tatsächlich Vater geworden war.

Der Fahrer des Möbelwagens hämmerte gegen die Wohnungstür. »Kannste mal mit anfassen oder dachteste, ich mach das hier allein?«

Paul beeilte sich, hinunterzulaufen, ein paar Möbel sollten stehen, wenn Birgit kam. Er trug die Einzelteile der Schrankwand hinauf, drei Regalbretter übereinander, eine Schublade in der anderen Hand, die auseinanderzufallen drohte, lehnte alles an die Rückwand im Flur, schnaufte.

»‚Jugendzimmer‘, was? Hat meine Älteste auch.«

Die Schlafcouch trugen sie gemeinsam, Paul entschied sich für die Wand neben dem Kachelofen, nickte zufrieden. Er öffnete das Doppelfenster, sah die Farbspritzer und brachte mit den nächsten Teilen Eimer und Lappen hinauf.

»Soll ich schon mal mit dem Aufbauen beginnen?«, fragte der Fahrer und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken. Ohne auf eine Antwort zu warten, faltete er Reste eines karierten Arbeitshemdes auseinander, entnahm dem Gewirr aus Schraubenziehern und weiteren Lappen Holzkaltleim und einen Hammer und begann, das Schubfach zu reparieren.

»Dann putz ich derweil die Fenster.« Paul füllte in der Spüle der Einbauküche Wasser ein, es lief nur kaltes, an die Sicherungen hätte er zuerst denken müssen, er fluchte vor sich hin. Mit dem Daumennagel kratzte er die Farbreste von der Scheibe, verschmierte dicken Staub, schrubbte vor lauter Eifer den Kitt und alte Farbschichten vom morschen Rahmen.

»Mach nicht so’n Wind hier«, brummte der Fahrer, »sonst kannste die Schrankwand auch gleich noch waschen«, aber sein dröhnendes Lachen entspannte Paul. Er wrang den Lappen aus, wischte die Farbkrümel zusammen und schüttelte sie aus dem Fenster, wie Schneeflocken segelten sie hinaus in die flirrende Hitze.

Paul hatte es nicht weit zur Arbeit, er konnte zu Fuß zu der alten Villa gehen, die zum Betrieb gehörte, vorbei an den Schaufenstern von Spielwarenladen und Fleischerei. An die »Hohe Rippe« für die Gemüsesuppe musste er denken und wenn er Glück hatte – Paul lief das Wasser im Mund zusammen –, gab es frischen Leberkäse; er würde eine Scheibe noch auf der Straße essen. Ins Molkereigeschäft ging Birgit selbst gern, zum Glück, denn der säuerliche Milchgeruch war das Einzige, das ihm bei seinem Sohn aufstieß, er konzentrierte sich auf die »Süße Ecke« mit Backwaren aus dem Kombinat und Imbiss. Punschkuchen hatte er lange nicht mehr gegessen, auf der anderen Straßenseite interessierte ihn nur der Obst- und Gemüsehändler, Kommissionshändler der Handelsorganisation, das merkte er sich, so ein halb Privater, meinte auch Birgit, wäre wichtig. Nach dem Möbelkaufhaus und der »Milchbar« kam der große Platz vor dem Stalinbau, ein paar Meter weiter dann die Villa und die Materialwirtschaft. Paul stieg in die zweite Etage hinauf, verbat sich, an der Tür des Großraumbüros zu horchen. Sollten sie doch reden, er kannte die Sprüche, »so’n junger Spund, vom Hörsaal direkt auf den Chefsessel, keine Ahnung vom Produktionsbetrieb«, aber er würde das hinbekommen mit der Zeit. Immerhin waren ihm vier Disponenten zugeteilt – vier! – obwohl er so jung war. Vier Angestellte, die auf große Karteikarten Ein- und Abgänge schrieben, den Materialverbrauch kontrollierten und ihn, Paul Kreisig, zu informieren hatten, wenn es eng wurde, wozu sie zu ihm nach oben laufen mussten, in einen Raum, der größer war als sein Wohnzimmer.

Einmal hatte Birgit ihn besucht, Markus schlief unten im Kinderwagen, der Pförtner versprach, auf ihn achtzugeben. Sie tanzte durch den Raum, setzte sich hinter den großen Schreibtisch und zog ihn zu sich heran, bis sie vor lauter Kichern fast mit dem Drehstuhl umgefallen wären. Stolz zeigte er ihr die Mappen und die Ordner und bat die Sekretärin, einen Pfefferminztee zu kochen, nur für Birgit. Diese nickte der Vorzimmerdame zu. Wie die Ehefrau vom Doktor in Breithagen, Eli hatte ihn darauf aufmerksam gemacht und sie hatten dann oft gelacht, wenn diese sich im Konsum mit »Frau Doktor« anreden ließ. Hier lachte Paul nicht, er streckte sich stolz, der Raum beeindruckte Birgit.

Nachmittags verließ Paul das Büro pünktlich, verlangsamte am Werksausgang den Schritt und nickte dem Pförtner zu, er wusste nie, wie er ihn ansprechen sollte, der Mann hatte ja noch keinen Feierabend, den er ihm »schön« wünschen konnte. Paul lief schnurstracks nach Hause, unterbrach höchstens, um einzukaufen, schaute pflichtbewusst, aber auch, weil er den rundlichen Verkäufer mit seinen trockenen Bemerkungen mochte, im Obst- und Gemüseladen vorbei:

»Ham wa nich’, is’ och aus«, kam genauso emotionslos aus dessen Mund wie der Hinweis: »Tante Amalie hat’s och nich’ so mit’m Klo, aber morgen …«, während er in eine Dreieckstüte Sauerkraut abwog, »… frühs isses am schlimmsten.«