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Deutsche Erstausgabe (ePub) Januar 2018

 

Für die Originalausgabe:

© 2012 by Amy Lane

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»How to Raise and Honest Rabbit«

 

Originalverlag:

Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2018 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN-13: 978-3-95823-676-9

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Aus dem Englischen von Charlotte Roiß


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

In Jeremys Leben ist alles schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte, doch er ist nach seiner Gefängnisstrafe fest entschlossen, ein anständiger Mensch zu werden. Als Rance Crawford ihm einen Job auf seiner kleinen Alpaka-Farm anbietet, greift Jeremy ohne zu zögern zu. Und nicht nur mit der neuen Arbeit ist alles anders als bisher, denn Farmhelfer Aiden ist jemand, der das Eis um Jeremys Herz zum Schmelzen bringen könnte...


 

Unehrliche Arbeit

 

 

Jeremy kannte seinen Nachnamen nicht. Sein Vater war ein Trickbetrüger und seine Mutter war Geschichte. Während er als Kind seinem Vater bei seinen Betrügereien geholfen hatte, hatte er so viele verschiedene Identitäten angenommen, dass er sich nur einer Sache sicher war: Er war ein schlechter Mensch. Er musste einer sein. Seine einzige Fähigkeit war es, die Leute um ihr Geld zu bringen.

Darin war er ganz passabel. Als Kind saß er einfach an der Seite seines Vaters und sah hungrig aus (was nicht schwer war), wenn er Enzyklopädien, Bibeln oder »freiverkäufliche« Munition verkaufte, je nach der Gegend, in der sie sich zu dem jeweiligen Zeitpunkt befanden. Als junger Erwachsener verkaufte er an Colleges Zeitschriften, genau wie die Studenten, die das gleiche taten. Seine Spezialität war es, an die molligen, einsamen Mädchen zu verkaufen, die aussahen, als hätten sie Geld, aber zu wenig Aufmerksamkeit.

Er hörte ihnen zu, redete mit ihnen, wenn sie unter den gesprenkelten Blättern eines malerischen Baumes saßen und intellektuell und gebildet aussahen. Dann zog er mit Schecks davon, die sich auf einen Betrag von zehn bis hundertzehn Dollar beliefen, ohne sie ein einziges Mal küssen zu müssen. Er hatte bis Mitte zwanzig sehr jung ausgesehen, also war das mehr oder weniger seine Arbeit gewesen, bis er ins Gefängnis gegangen war.

Er und sein Vater stockten ihre Einnahmen mit den üblichen Trickdiebstählen und Betrügereien auf – Kümmelblättchen, der Geigentrick, der barmherzige Samariter, Scheckbetrug – und Jeremy war ein guter Schüler. Als die anderen Teenager die Highschool abschlossen, machten Jeremy und sein Vater Räum die Wohnung-Übungen – sie konnten ihr Leben binnen fünf Minuten an einen anderen Ort verlagern.

Einmal, als die Polizei an ihre Tür hämmerte und sie in Chicago aus dem Fenster eines Apartments ohne Fahrstuhl kletterten, schafften sie es sogar in zwei. Jeremy nahm an, dass er und sein Vater als unschlagbares Team vermutlich weiterhin die ganze Welt hätten reinlegen können, aber zwei Dinge passierten.

Das eine war, dass sein Vater erschossen wurde, als er den falschen Kerl betrogen hatte. Im einen Moment wartete Jeremy noch in den Schatten eines alten Casinos in Vegas, während Oscar einen gefälschten Kaufvertrag für ein Grundstück in Utah unterschrieb. Im nächsten Moment zog der Kerl eine Fünfundvierziger hervor und pustete ihn weg.

Jeremy stand dort und hielt seinen Atem an, wich hinter die Vorhänge des Kinos zurück und sorgte dafür, dass ihn niemand entdeckte.

Er stand dort, als Mario Carelli seinen Vater ein weiteres Mal in den Kopf schoss, damit er aufhörte zu zucken. Er stand dort, als Marios Schläger die Leiche davontrugen und den Boden putzten. Er stand dort, als Mario fragte, ob überhaupt irgendjemand einen Betrüger mit schlechten Schuhen und einem billigen Anzug vermissen würde.

Er stand immer noch dort, als Marios Lieblingsschläger Gianni – der Jeremy am Abend zuvor einen geblasen hatte, während Oscar und Mario den abschließenden Deal ausgehandelt hatten – mit den Schultern zuckte und sagte: »Weiß nicht, Boss. Er hatte einen Kerl fürs Grobe dabei, aber der war angeheuert und nicht sonderlich clever. Soweit ich weiß, hat er die Fliege gemacht, als er den Schuss gehört hat.«

Gianni wusste genau, wo Jeremy stand, genauso wie er wusste, dass Oscar Jeremys Vater war, Jeremy fast sechsundzwanzig war und mit dem Gedanken spielte, vielleicht aufs College zu gehen. Oscar hatte viel Zeit damit verbracht, den Katze im Sack-Betrug vorzubereiten, und Jeremy hatte eine ebenso lange Zeit mit Gianni verbracht. Er hatte ihm so viel von der Wahrheit erzählt, wie er konnte. Aber man erzählte niemandem, dass sein Vater seinen Mafia-Boss übers Ohr haute, selbst wenn man sich langsam schlecht dabei fühlte.

Jeremy hatte schon einigen ihrer Opfer, männlichen wie weiblichen, den Deal versüßt, und Giannis Mund an seinem Schwanz war keine Überraschung gewesen. Die Überraschung hatte eher darin bestanden, wie zärtlich Giannis schüchternes Lächeln gegen Ende geworden war, und in der Art und Weise, wie er Jeremys Hose vorsichtig geschlossen und ihn dann leidenschaftlich auf den Mund geküsst hatte. Jeremy hatte den Kuss erwidert, ein wenig eingeschüchtert davon, wie echt es sich angefühlt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er geglaubt, dass Sex der größte Betrug von allen war.

Gianni ging ein großes Risiko für Jeremy ein, und Jeremy dankte es ihm damit, sich nicht vom Fleck zu rühren – umgeben von Bühnenvorhängen, während er verzweifelt versuchte, sich nicht in die Hose zu pissen. Er wartete, bis die Überbleibsel seines Vaters vom Boden aufgewischt waren und Mario Carelli mit seinen Schlägern davon stolziert war, wobei er über den Gesichtsausdruck seines Vaters gelacht hatte. Selbst nachdem sie gegangen waren, stand Jeremy dort und schwamm in seinem eigenen Schweiß, der ihm die Unterschenkel bis zu den Knöcheln hinablief und schließlich die Nylonsocken in seinen Anzugschuhen tränkte.

Er dachte daran, dass sein Daddy ihm am Abend zuvor gesagt hatte, er solle sich zurückhalten, weil ihm sein Sinn fürs Betrügen sagte, dass die Sache schiefgelaufen war. Oscar war nicht der Vater des Jahres gewesen, und Jeremy sollte später herausfinden, dass er im Bezug auf Eltern generell kein Glück gehabt hatte, aber in diesem Fall hatte er seinem Sohn einen Gefallen getan und sich Sorgen gemacht, dass Jeremy etwas passieren könnte.

Jeremy dachte, dass Gianni jetzt vermutlich tot wäre, wenn er nach Giannis kolossaler Lüge geatmet oder gewimmert oder sich in die Hose gepisst hätte. Aber Gianni hatte trotzdem gelogen, und das nur wegen eines Blowjobs und eines Kusses, zwei Dingen, denen Jeremy keine große Bedeutung beigemessen hatte.

Er dachte, dass er sein ganzes Leben lang geglaubt hatte, die Liebe sei vielleicht der größte Betrug von allen, und auf einmal war sie das einzig Echte, und er schwamm in ihr, wurde erstickt von ihr, genau wie von den wollenen Vorhängen und seinem eigenen Schweiß.

Irgendwann schaffte er es, von dort zu fliehen. Als er ihr heruntergekommenes Hotelzimmer erreichte, war es bereits von Marios Männern durchsucht worden. Der Notgroschen war verschwunden, die Matratze umgedreht und sogar seine wenigen Habseligkeiten waren zerstört oder gestohlen worden. Er hatte die Hoffnung bereits verloren, als er in der Kommode nach der zerfledderten Bibel suchte, in der ihr letztes Geld versteckt war, doch plötzlich wurde er belohnt.

Dort, in dem kleinen Hohlraum, der in die geklebten Seiten geschnitten worden war, fand er nicht nur das Geld, sondern auch die Brieftasche und den Ring seines Vaters – zwei Dinge, von denen er wusste, dass Oscar sie zum Zeitpunkt seines Todes bei sich gehabt hatte. Er sah sie an und schluckte. Gianni. Gianni war ein höllisches Risiko für ihn eingegangen, und hier war sie nun, seine Chance, von hier zu verschwinden.

Und er tat es, doch zu verschwinden war schwieriger, als es klang. Zwei Monate später war er in Denver und versuchte, eine nette Frau an einer Tankstelle zu überzeugen, ihm Bargeld für einen gefälschten Scheck zu geben. Sie fing zögerlich damit an, ihm ein schüchternes Lächeln zu schenken und blühte unter seinem hartnäckigen Charme auf. Dann bemerkte er die abklingenden blauen Flecken um ihren Mund herum, und sein Herz wurde schwer. Ja, die reichen, verträumten Mädchen unter den Bäumen am College hatten ihn genauso angesehen. Er hatte gewusst, dass sie sich vernachlässigt fühlten, und dass all die Sorgen, die sie sich machten, das Selbstbewusstsein zerstört hatten, das sie vor Tätern wie ihm beschützt hätten.

Das Selbstbewusstsein dieser Frau litt nicht an Vernachlässigung – es war aus ihr herausgeprügelt worden, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Wie würde es diese Situation verbessern, wenn sie auch noch um fünfzig Dollar betrogen wurde? Dann kam das Kind herein. Ein kleiner Junge, höchstens fünf, der sagte: »Mommy, müssen wir im Auto warten?«

Jeremys Gehirn schlug einen furchtbaren Salto, wie bei einer Achterbahn, nur hässlicher und mit mehr Schwindel. Er würgte in einer Kombination aus Hunger und Selbstekel. Er drückte ihr das Geld wieder in die Hand und zischte: »Was ist los mit dir? Gib niemals dein Geld irgendwelchen Fremden.«

Ihre Augen weiteten sich, ihr Mund zog sich schmal zusammen und in diesem Moment sah er die Hässlichkeit, die diese Hässlichkeit wiederum aus ihr gemacht hatte. Ja, sie hatte gewusst, was er verkauft hatte und hatte es gewollt, verzweifelt gewollt, wenn auch nur für einen Moment, und er hatte es ihr aus den Händen gerissen.

Er drehte sich um, verließ die Tankstelle und ging hinaus in die Novemberkälte, wobei ihm bewusst war, dass sie hinter ihm vermutlich Krawall schlug. Doch das war ihm egal. Sein Sichtfeld war dunkel und fleckig, und das nicht wegen des Hungers, der heftig war, sondern weil er begriffen hatte, was er war. Er war ein schlechter Mensch. Ein Schwindler, ein Betrüger, ein Dieb und ein Gauner. Der Name der Frau war Linda gewesen – wie vielen Lindas hatte er über die Jahre hinweg Geld gestohlen? Wie viele Lindas hatten seinen schnellen Worten und seinem hübschen Gesicht Vertrauen geschenkt und waren verraten und verletzt, angeschrien oder geschlagen, oder einfach nur betrogen worden, weil er gedacht hatte, dass sein Recht auf Essen eine höhere Priorität als das ihre besaß?

Er war ein schlechter Mensch. Er war einen Schritt von dem Kerl entfernt, der eine Kugel in den Schädel seines Vaters gejagt und sein Hirn vom Boden geputzt hatte.

Als die Polizei ihn einholte, kniete er im dreckigen Schnee und würgte trocken, da er seit drei Tagen nichts gegessen hatte.

Sein Pflichtverteidiger war grottenschlecht. Er hätte allenfalls dreißig Tage für Betrug bekommen sollen, aber auf einmal führten sie all die Scheiße an, die er mit seinem Vater gemacht hatte, sogar das, was sie ihm nicht beweisen konnten, und die Frau (die ein paar frische Blutergüsse von ihrem Mann hatte) kam und sagte obendrein, dass Jeremy ihr eine aufgeplatzte Lippe verpasst hätte.

Schließlich verbrachte er zwei Jahre in Fort Lyon, einem reizenden Ort, an dem er einmal pro Tag auf den Hof durfte und viele Möglichkeiten hatte, in der Öffentlichkeit zu kacken.

Es war überraschend friedlich, mit seinem wortkargen Zellengenossen und seinem schnell aufkeimenden Gewissen eingesperrt zu sein. Außer Lesen, Schreiben und Denken gab es nichts zu tun. Er war vielleicht einer der wenigen Menschen an diesem Ort, die tatsächlich dem kindischen Rat folgten, sich in eine Ecke zu setzen und darüber nachzudenken, was sie getan hatten.

Er war nicht wirklich begeistert von der Erfahrung. Es war schwer.

Er hätte lügen müssen, um zu sagen, dass er jeden Betrug und jeden Erfolg noch einmal durchlebte. Er war ein unbedeutender Betrüger und er hatte sein Leben mit kleinen Kartoffeln finanziert. Eine kleine Kartoffel sah wie die nächste aus, und wenn sie erst einmal gekocht und geschält waren, musste man sie nur noch zu Püree verarbeiten – und das war genau das, was Jeremy tat. Er kochte seine Erfahrungen im Geiste, schälte sie und verarbeitete sie zu Püree. Er stellte fest, dass er nicht mit dem, was in seinem Kopf zurückgeblieben war, den Rest seines Lebens lang leben wollte.

Er holte seinen Highschool-Abschluss in Fort Lyon nach und fing damit an, Collegekurse zu belegen. Er fand sogar Arbeit in der Wäscherei, und als er nach zwei Jahren entlassen wurde, war er der Meinung, auf dem besten Weg zu sein, ein ehrlicher Bürger zu werden.

Er lag so falsch.

Niemand wollte einen Exhäftling einstellen. Niemand. Man hatte ihn entlassen, er war nicht auf Bewährung – ihm standen keine Ressourcen zur Verfügung, und selbst wenn, hätte er nicht gefragt. Für ihn hatte es im Gefängnis keine Bindungen gegeben. Keine Bruderschaft. Sein erster Zellengenosse war wegen Totschlags nach Drogenmissbrauch am Steuer eingesessen. Ein lebenslanger Betrüger und ein Banker auf Entzug? Ihre beste Eigenschaft als Paar war, dass es ihnen gelungen war, sich gegenseitig verdammt noch mal in Ruhe zu lassen.

Jeremy wurde im Dezember entlassen. Einen Monat lang schaffte er es mithilfe von Suppenküchen, Spüldiensten und der weihnachtlichen Güte von Fremden zu überleben. Später würde er sich fragen, warum er nicht damit angefangen hatte, Blowjobs für Essensgeld zu geben, und er brauchte ein wenig, bis er erkannte, dass es daran lag, dass er sich selbst nie als Opfer gefühlt hatte. Er hatte immer nach einem Ausweg, einer Möglichkeit, einer Alternative gesucht – diese Art von Optimismus gab einem Selbstvertrauen. Sie hielt einen davon ab, Fleisch zu sein. Sie ließ einen die Schultern so schwingen, dass niemand auch nur davon träumen würde zu fragen, ob man seinen Arsch verkaufte. Denn wenn jemand das getan hätte, hätte man eine Retourkutsche parat, die einen Schwanz für immer verschrumpeln lassen würde. Wer wollte das schon, nur wegen eines billigen Arsches?

Sein Optimismus dauerte an. Er suchte bei Goodwill nach Kleidung, die so aussah, als könnte er einen Job behalten. Er besuchte das YMCA, um sauber und gepflegt zu bleiben, und er bestand darauf, sein eigenes Bettzeug mit sich herumzutragen, damit er in den Heimen keine Läuse bekam. Trotzdem war er im Januar mehr als nur ein bisschen verzweifelt.

Er begann damit, eine bestimmte Straße in Boulder zu besuchen, wo kleine, alte Damen ein familiengerechtes Fitnessstudio und einen Wollladen frequentierten. Wenn er zu der Zeit dort stand, wenn sie das Studio verließen und in den Wollladen strömten, konnte er meistens etwas zum Frühstück oder Mittagessen von ihnen ergattern. Dem Betteln fehlte zwar die Würde, aber es war zumindest ehrlich. Das Leben wurde nicht viel ehrlicher als Bitte gib mir Essen, weil ich Hunger habe, oder zumindest nicht für Jeremy zu diesem Zeitpunkt.

Dann, ungefähr nach einer Woche, sah er einen großen, nicht zu stämmigen Kerl mit lockigem roten Haar, der sich vermutlich unabsichtlich einen Bart wachsen ließ. Dieser Kerl kämpfte sich durch die Flut älterer, kleiner Damen, als wäre er ein Bär, der gegen einen Strom Lachse anschwamm.

Eine nette Frau, eine Stammkundin mit kurzem weißen Haar, freundlichen Augen und einem Hosenanzug aus Baumwollsamt, die immer gerne mit ihm über seinen Tag sprach, hatte ihm gerade fünf Dollar in die Hand gedrückt. »Okay, mein Lieber – also, versteh das nicht falsch, aber ich hoffe, dass ich dich nächste Woche nicht wiedersehe. Du sagst, dass du Arbeit suchst; ich wünsche mir, dass du eine findest!«

Jeremy lächelte und nickte, aber innerlich ließ die Hoffnungslosigkeit ihn einen kleinen Tod sterben. Er hatte den Computer der Bibliothek benutzt, um Bewerbungen für alles Mögliche zu schreiben – Reinigungen, Tierhandlungen, Sägewerke, Coffeeshops, einfach alles. Es gab offene Stellen, aber man musste erst jemanden kennen. Die einzige Person, die Jeremy je richtig gekannt hatte, verrottete vermutlich in einem flachen Grab.

Auf einmal stand der große Mann mit dem roten Haar direkt vor ihm und starrte sowohl Jeremy, als auch die kleine, alte Dame finster an.

»Helen«, sagte er, und sogar seine Stimme grollte, »belästigt dich dieser Kerl?«

Die Frau lächelte zu ihm hoch und tätschelte seinen Arm, als wäre er eine verdammte Art afghanischer Windhund. »Nein, Craw – er ist ein guter Junge. Hast du heute neue Ware vorbeigebracht? Du weißt, dass ich deine Arbeit liebe.«

Der Mann knurrte. »Ariadne hat ein paar Reste eingefärbt. Du beeilst dich besser – es gibt schon eine lange Schlange.«

Die kleine alte Dame sah mit echtem Schrecken auf und flitzte in den Laden, ohne ein weiteres Wort an Jeremy oder den großen, haarigen Bären von einem Mann zu verlieren. Dort würde sie mit ihren Ellenbogen um etwas kämpfen, bei dem es sich allem Anschein nach um einen großen Eimer voll mit buntem Garn handelte, das weder in der Farbgebung noch in der Größe einem bestimmten Muster folgte.

Jeremy sah ihr durch das große Schaufenster dabei zu, wie sie sich durchkämpfte, und seufzte dann. Helen hatte ihm Geld fürs Mittagessen gegeben, und nun würde er bei Denny’s während des Essens vergeblich die Stellenanzeigen durchsuchen. An manchen Tagen hatte er das nur beim Kaffee gemacht, und an anderen hatte es für eine ganze Mahlzeit gereicht.

Manchmal hatte er sogar Arbeit gefunden – Paletten aufschichten, einen Truck beladen – aber die Wahrheit war, dass er, wenn er auch nicht richtig schwach, doch kein Kraftpaket war.

Es gab Männer mit stärkeren Körpern und härteren Händen, die solche Arbeit besser und schneller machen konnten, und er wurde am Güterbahnhof oft nicht beachtet, wenn Leute nach Arbeitskräften suchten.

Und niemand machte in Colorado im Januar Gartenarbeit.

Als er dann bemerkte, dass der große Kerl ihn mit verengten Augen ansah, dachte Jeremy für einen Moment, dass er gut davongekommen war. Er hatte es zwei Jahre im Gefängnis ausgehalten, indem er mit Zigaretten gehandelt und geholfen hatte, Luxusgüter hereinzuschmuggeln. Gleichzeitig war sein hübscher, kleiner Körper nicht auf irgendeine Art geschändet worden, die er nicht gewollt hatte. (Er hatte es nicht gewollt. Wenn man erst einmal damit anfing, im Gefängnis Sex zu haben, sprach sich das herum und man war ziemlich bald das hübscheste Mädchen auf dem Abschlussball. Er hatte seine Sexualität für sich behalten, und die anderen hatten ihn in Frieden gelassen.) Für eine Sekunde dachte er tatsächlich, dass er sich prostituieren müsste, um ehrliche Arbeit zu finden.

Dann rümpfte der Mann die Nase und sagte: »Fünf Dollar? Du bekommst für fünf Dollar ein Mittagessen?«

Jeremy lächelte naiv. »Denny’s – da gibt es den ganzen Tag lang günstiges Frühstück, außer natürlich, du gibst mir einen Zehner!«

Der Mann lachte kurz. »Es wird mehr als einen Zehner kosten, diese Schuhe in Ordnung zu bringen.«

Jeremy blickte traurig auf seine Füße herab. Es waren die gleichen Schuhe, die er vor dem Gefängnis getragen hatte, und damals waren sie von ziemlich guter Qualität gewesen, aber jetzt war das Leder gebrochen und die Sohle so dünn, dass sie den schmutzigen, geschmolzenen Schnee durchließ.

»Ja, es geht nichts über ein gutes Paar Schuhe, nicht wahr? Das Erste, was ich mir kaufe, wenn ich wieder auf die Beine komme, ist ein neues Paar Schuhe.«

»Hast du Pläne, wie du wieder auf die Beine kommst?«

Jetzt, da Jeremy sich fühlte, als wäre er nicht in unmittelbarer Gefahr, konnte er wie der Profi schwatzen, der er mal gewesen war. »Ich werde mir einen Job als Verkäufer suchen, nicht? Weil ich gut mit Menschen kann. Aber erst werde ich wahrscheinlich schwarz in einer Bar arbeiten. Weil ich gut mit Menschen kann, und dann knüpfe ich ein paar neue Kontakte. Aber bevor ich den Barkeeper-Job finden kann, brauche ich ein Frühstück – und je größer das Frühstück, desto besser. Also, hast du einen Zehner übrig?«

Der Mann lachte und streckte seine Hand aus. »Ich bin Crawford, und ich werde dir ein Mittagessen kaufen, wie klingt das?«

Wow – Mittagessen und fünf Dollar in seiner Tasche, und er musste noch nicht einmal die Beine breitmachen. (Der Kerl war über einen Meter achtzig groß, und Jeremy wollte sich gar nicht vorstellen, welches Loch Crawford reißen würde, sollte er sich dafür entscheiden, dass das nicht der Fall war. Jeremy war sehr zufrieden damit, seinen Rekord, sich nicht für Essen bücken zu müssen, nicht zu brechen, vielen Dank auch.)

Es war Mittagszeit, aber Jeremy bestellte Frühstück, weil er Eier und Toast liebte, und die erste Mahlzeit machte ihn überschwänglich. Er verschlang sie in größter Eile, denn sein Magen hatte die Kontrolle über seinen Körper übernommen und er brauchte dringend etwas zu beißen. Natürlich konnte er gleichzeitig essen und reden, und so begann er damit, allerhand Luftschlösser darüber zu bauen, dass er Händler werden, seinen eigenen Laden haben und dann aufs College gehen und Jura studieren würde. »Weil, so wie ich es sehe, man als Geschäftsmann nur eine legale Art von Betrüger ist, oder? Also habe ich bereits die Grundlagen, und ich kann reden, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich einer Ente Wasser verkaufen könnte, nicht?« (Das war einer der Kernpunkte, die sein Vater ihm beigebracht hatte – die Leute würden fast alles tun, um nicht unhöflich zu sein.)

»Also dachte ich…«

»… dass du den Leuten Krempel verkaufst, den sie nicht brauchen, und dein einziger Anspruch an die Ehrlichkeit wäre, nicht im Gefängnis zu landen?«, fragte Crawford. Jeremy wurde rot und wischte die Eier auf seinem Teller mit einer Scheibe Toast auf, bevor er seinen Finger für die letzten Reste benutzte.

Es hätte sich eine angespannte Stille einstellen können, aber Crawford winkte der Kellnerin mit zwei Fingern und deutete auf Jeremys Teller. Jeremy öffnete seinen Mund und schloss ihn dann wieder. Crawford nahm einen Schluck Kaffee und sah ihn an, als erwarte er eine Antwort.

»Tja, wie soll ich das Jurastudium denn bezahlen?«, fragte er und begriff mit geweiteten Augen, dass das ganze wunderbare Essen für ihn war, als die Kellnerin in die Küche zurückkehrte und ein zweites Mal seine Bestellung durchgab. Seine Stimme brach ohne erkennbaren Grund, als er das sagte, und ließ das kalte Licht der Wintersonne durch seine Geschichten scheinen wie der Schnee, der durch die Löcher in seinen Schuhen drang. Er schluckte, und Crawford nippte erneut an seinem Kaffee. »Du wärst ein guter Anwalt«, sagte er nachdenklich. »Diese Arschlöcher saugen dir auch das Leben mit Worten aus.«

Darauf hatte Jeremy keine Antwort. Er war zu eingenommen von dem Gedanken an Essen, richtiges Essen, nicht nur genug, um sich auf den Beinen zu halten, sondern genug, um sich den Bauch vollzuschlagen, bis ihm schlecht wurde. Er schluckte, denn auf einmal lief ihm das Wasser im Mund zusammen, wie es nicht der Fall gewesen war, als sie das Diner betreten hatten. Er hatte das Gefühl, für sein Geld arbeiten zu müssen. Er musste reden, musste einfach, denn das war alles, womit er Crawford für die zweite und dritte Portion Essen danken konnte, die auf dem Weg zu ihm waren.

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Wäre Jeremy dabei gewesen, ein krummes Ding zu drehen, dann hätte er sich von dem hier ferngehalten – Typen wie Craw würden einen sofort darauf ansprechen, wenn man Schwachsinn erzählte, weil sie einfach das sagten, was sie dachten.

Craw nickte und lächelte leicht unter seinem unbeabsichtigten Bart. »Gut. Dann arbeite für mich. Ich habe eine Vollzeitkraft und einen Jungen, der nach der Schule vorbeikommt, aber es wird zu groß für uns. Ich werde dir Ehrlichkeit beibringen.«

Jeremy blinzelte und nahm wie ferngesteuert einen weiteren Bissen. »Du wirst mir Ehrlichkeit beibringen?«, fragte er benommen. Oh Gott. Das klang auf einmal schwieriger zu lernen als dieser Anwaltsscheiß. »Wie soll mich das ernähren?«

Craw zuckte mit den Schultern. »Du kannst in der Sattelkammer schlafen, bis du genug zusammen hast, um eine Wohnung zu mieten«, sagte er. Offenbar hatte er sich Gedanken darüber gemacht. »Bis dahin kann ich dich auch durchfüttern.«

Crawfords Blick glitt über die belebten Straßen von Boulder, die voll von menschlichen Schafen und Tauben waren, alle bereit, geschoren und gerupft zu werden, wenn Jeremy der Jagd nur nicht abgeschworen hätte. »Der einzige Haken ist, dass du diesen Kram zurücklassen musst. Ich wohne in Granby.«

Allein der Name ließ Jeremy frösteln. Das war der letzte Stopp vor den Rocky Mountains – Himmel, er hatte nicht einmal gewusst, dass die Straße nach Granby zu dieser Jahreszeit frei war!

»Das sind die einzigen Schuhe und die einzige Jacke, die ich habe«, sagte er und sein Herz wurde schwer.

»Wirst du für mich arbeiten?«, fragte Crawford.

»Ja«, sagte Jeremy und handelte nicht einmal um Schuhe oder eine Jacke. Es war ein Job. Es war ein Job, eine Unterkunft und Essen. Jeremy hatte nicht bemerkt, wie verzweifelt er war, bis ihm die drei Dinge angeboten wurden, die er am meisten wollte, als er sich in dem warmen Diner gerade an einen vollen Magen gewöhnt hatte.

»Dann besorge ich dir, was du brauchst«, sagte Crawford und Jeremy sah ihn mit glänzenden Augen an.

»Warum?«, fragte er, denn er wollte etwas hören, irgendetwas, das Sinn machen würde.

Alles, was er bekam, war ein Achselzucken. »Aiden braucht deine Hilfe.«

Jeremy nahm einen weiteren Bissen vom zweiten Teller mit den Eiern, und wischte dann wieder den Dotter auf. »Wer zur Hölle ist Aiden?«

Und Crawford lachte nur.