Über das Buch:
Jill und Morgan hatten kaum ihren Schulabschluss in der Tasche, als das Leben – und ihre Eltern – die Teenager auf grausame Weise auseinanderrissen. Inzwischen sind sie erwachsen, doch die Wunden der Vergangenheit sind nie wirklich geheilt.
Morgan ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er hat wie kein Zweiter die Gabe, Probleme zu erkennen und zu lösen. Doch sein eigenes Leben bekommt er nicht in den Griff. Zu tief hat der Verlust seiner Jugendliebe ihn verletzt.
Jill ist Lehrerin und schenkt ihren Schülern all ihre Liebe. Insgeheim sehnt sie sich jedoch nach einem anderen Leben. Als ein unerwarteter Brief Jills geregeltes Leben ins Wanken bringt, bleibt ihr keine andere Wahl: Sie muss sich Morgan stellen und ihm gestehen, was vor all diesen Jahren wirklich geschah. Doch wie wird er reagieren, wenn er erfährt, dass sie sein Kind geboren und weggegeben hat?
Ein wunderbarer Roman über zwei gebrochene Herzen, die sich nach Heilung sehnen. Und die lange brauchen, um zu erkennen, dass Gott Gutes für sie bereithält – trotz all ihrer Fehler.

Über die Autorin:
Kristen Heitzmann lebt mit ihrem Mann und den vier Kindern am Fuße der Rocky Mountains. Bereits in der Grundschule begann sie zu schreiben, und studierte später Englische Literatur und kreatives Schreiben. Wenn sie nicht an einem ihrer Bücher arbeitet oder ihre Kinder unterrichtet, engagiert sich die überaus erfolgreiche Autorin im Musikteam ihrer Gemeinde.

7

Jill starrte auf den Brief, ein unpersönliches, von emotionslosen Händen getipptes Blatt Papier, an dessen Ende eine gekritzelte Unterschrift stand. Sie fühlte sich ganz leicht, als hätte die Schwerkraft sie plötzlich freigegeben, und erkannte erst an einem Aufprall, dass es nicht so war. Ihr Kopf schlug auf die Tischkante. Schmerz.

„Jill!“ Shelly eilte herbei, knallte den Messbecher auf den Tisch und kauerte sich neben sie. „Bist du ohnmächtig geworden? Bist du krank?“

Jill versuchte, durch den Schock hindurch einen klaren Gedanken zu fassen. Krank? Nein. Aber ihr Herz konnte es nicht fassen.

„Du hast nichts gegessen, Mädchen.“

Das stimmte. Trotzdem war sie jeden Morgen in der Dämmerung aufgestanden und gelaufen, in der Hoffnung, dass das Dopamin, das dadurch ausgeschüttet wurde, ausreichte und ihr dabei half, den Tag zu überstehen. Sie hatte sich in ihre Arbeit mit den Schülern gestürzt, die sich für die Sommerkurse qualifiziert hatten, während sie auf die Ergebnisse wartete. Und jetzt …

„Was ist das?“ Shelly schnappte sich den Brief.

Jill versuchte halbherzig, ihr das Schreiben wieder wegzunehmen.

Shelly stand auf. „Was ist das?“ Ihr Gesicht wurde blass, ihr Unterkiefer sackte nach unten. „Knochenmarkstestergebnisse im Vorfeld der Transplantation? Jill! Stirbst du?“

Jill schlug sich die Hände vors Gesicht. „Nein“, erwiderte sie tonlos. „Meine Tochter stirbt.“

Shelly ließ sich gegen den Küchenschrank fallen und starrte Jill an, als wäre diese plötzlich grün geworden und hätte Fühler bekommen.

„Eine Knochenmarkstransplantation ist ihre einzige Chance auf Heilung.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich bin nicht kompatibel, Shelly.“ Dann brach sie zusammen, geschüttelt von furchtbaren Schluchzern. „Ich passe nicht.“ Sie nahm verschwommen wahr, dass Shelly sich wieder neben sie auf den Boden kauerte und sie in den Arm nahm. Sie vergrub ihr Gesicht an Shellys Hals. „Oh mein Gott, mein Gott.“ Würde er jemals aufhören, sie zu bestrafen?

„Shell? Die Burger sind auf dem Grill; wir brauchen –“ Brett blieb in der Terrassentür stehen.

Ein Schauer fuhr Jill über den Rücken, als sie aufblickte und sah, wie Dan hinter Brett in der Tür erschien.

Er schob sich an Brett vorbei und ließ sich auf den Boden fallen. „Was ist los? Hast du dir wehgetan? Bist du gestürzt?“ Er berührte die Beule an ihrem Kopf.

„Shelly, was ist hier los?“, wollte Brett wissen.

Jill packte den Brief und presste ihn an ihre Brust, während sie Shelly einen flehenden Blick zuwarf.

Aber Shelly schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Ich lasse nicht zu, dass du das allein durchstehst. Wir sind deine Freunde, Jill. Jedenfalls dachte ich das.“

Jills Kinn zitterte, als neue Tränen in ihr aufstiegen. Was machte es schon? Was machte es, wenn die ganze Welt es erfuhr? Ihre Tochter starb, und sie konnte nichts tun, um das zu verhindern.

Dan trat hinter sie und hob sie auf einen Stuhl. „Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist? Was durchstehen?“ Er warf Shelly einen fragenden Blick zu.

Shelly zuckte mit den Schultern und sah Jill erwartungsvoll an.

Jill blickte von einem zum anderen. Ihre drei besten Freunde. Shelly musste durch die Hecke zwischen ihren Terrassen herübergekommen sein, um sich etwas auszuborgen. Sie konnte den Rauch vom Grill riechen und erinnerte sich daran, dass sie eingeladen gewesen war, die Einladung aber abgelehnt hatte. Mit einem Seufzen ließ sie die Stirn in ihre geöffnete Handfläche sinken und legte den Brief auf den Tisch. „Ich kann meiner Tochter kein Knochenmark spenden.“ Sie blickte auf und sah genau den Ausdruck auf Dans Gesicht, den sie erwartet hatte.

Sein Unterkiefer war heruntergefallen, und seine braunen Augen erforschten ihr Gesicht, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. „Deine Tochter?“

Sie lächelte gequält. „Safer Sex, genau wie du ihn predigst.“

Er runzelte die Stirn. „Jill …“

Shelly zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. „Brett, setz dich. Dan, hör auf, so herumzuzappeln.“

Als alle am Tisch saßen, sah Jill ihre Freunde erneut an. Shellys Miene war mitfühlend, aber gekränkt. Brett blickte unbehaglich drein. Dan … der arme Dan. Jill hätte am liebsten gelacht. Es war so … aber stattdessen kamen ihr erneut die Tränen. Sie drängte sie zurück. „Ich war siebzehn. Ich habe sie zur Adoption freigegeben.“ Ihre Kehle schnürte sich zu, als sie Dan anblickte. Sie sah, wie es ihm dämmerte.

„Vor ein paar Wochen bekam ich einen Brief, in dem man mir mitteilte, dass sie Leukämie hat.“ Jills Stimme brach. Eisern versuchte sie den Schrecken in Schach zu halten, den das Wort noch immer in ihr auslöste. Sie hatte alles gelesen, was sie im Internet über die Krankheit finden konnte, und hatte den Bibliothekskatalog nach den besten Büchern zu diesem Thema durchforstet.

„Die Eltern wussten, wo sie dich finden können?“ Die Frage kam von Shelly.

„Ich gebe ihnen immer meine neue Adresse, für alle Fälle.“ Für den Fall, dass Kelsey sie finden wollte, nicht für den Fall, dass sie im Sterben lag.

Ihre Freunde saßen schweigend da. Natürlich, sie wussten nicht, was sie sagen sollten. Sie korrigierten vermutlich gerade ihr Bild von Jill und verwarfen jede Menge scheinbare Tatsachen über sie, angefangen mit keusch. Jill warf Dan einen schnellen Blick zu.

Er streckte den Arm aus und ergriff ihre Hand. „Warum hast du es mir nicht einfach erzählt?“

„Warum hast du es mir nicht erzählt?“ Shelly klang verletzt. „Es ist doch nicht so, dass wir dich an den Pranger gestellt hätten.“

Jill schüttelte den Kopf. „Es ist fünfzehn Jahre her. Das alles passierte, lange bevor ich euch kannte. Ich – ich hatte es hinter mir gelassen.“ Abgesehen von den vielen Tagen, an denen sie sich ihr Kind vorgestellt, sich nach ihm gesehnt und um es geweint hatte.

Dans Hand war warm, seine Augen sahen sie sanft, beinah erleichtert an. Vielleicht betrachtete er sie jetzt als „normal“. „Wie heißt sie?“

„Kelsey. Kelsey Renée Benson. Sie ist vierzehn. Sie ist …“ Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.

Dans Hand drückte ihre. „So etwas versucht man nicht allein zu bewältigen, Jill.“

Sie schniefte und wischte sich die Tränen ab. Was konnten sie schon tun? Kelsey würde sterben, und es gab nichts, was sie tun konnten, um es zu verhindern.

Shelly nahm den Brief. „Sie haben dich also gebeten, Knochenmark zu spenden, um die Leukämie aufzuhalten?“

Jill nickte. „Ohne eine Transplantation hat sie keine Chance auf Heilung. Die ersten Testergebnisse waren gut, aber der zytoxische Antikörpertest ergab ein positives Ergebnis für Anti-HLA-Antikörper Klasse 1.“ Ein stechender Schmerz durchzog ihre Brust, während sie plapperte. Wie Cinda verwendete sie all die richtigen medizinischen Begriffe, aber das half ihr nicht, den Schmerz zu kanalisieren. „Wenn sie die Transplantation vornähmen, würde Kelsey meine Zellen abstoßen. Ich kann ihr nicht helfen.“

Shelly sah von dem Brief auf. „Und was ist mit ihrem Vater?“

Jill erstarrte. Morgan. Sie hatte nicht einmal daran gedacht. Oh Gott, ich kann das nicht. Das kannst du nicht von mir verlangen. Aber wie es schien, konnte Gott alles verlangen. Zu Morgan gehen? Ihm sagen, dass ihre Tochter, ihre gemeinsame Tochter ihn brauchte? Schließlich hatte er die andere Haplotypübereinstimmung und möglicherweise keinen Antikörper-Crossmatch. Trotz der Junihitze begann sie zu frieren.

Dan warf Brett einen Blick zu und rieb ihre Hand. „Ganz ruhig, Jill.“

Aber Shelly bedachte sie mit einem durchdringenden Blick. „Es ist Morgan Spencer, oder?“

Dan sah verwirrt aus. Jill konnte beinah seine Gedanken lesen. Gab es etwas, das er wissen sollte?

„Hm.“ Sie hob eine zitternde Hand, um sich die weichen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen. „Er weiß nichts davon.“ Sie hatte den Richter bei der Anhörung zur Vaterschaft angelogen und den Vater als unbekannt angegeben. Die rechtlich erforderliche öffentliche Informierung aller potentiellen Väter in einer Zeitung hatte sie im Bezirk ihrer Tante erscheinen lassen, wo sie sicher sein konnte, dass Morgan sie nicht sah. „Meine Eltern haben ihm erzählt, dass ich einen Schwangerschaftsabbruch hatte.“

Shelly sog scharf die Luft ein und setzte sich wieder. „Dann ist es vielleicht an der Zeit, ihn aufzuklären. Woher nehmen Männer nur die Vorstellung, dass mit einer Abtreibung alles wie durch Zauberhand aus der Welt geschafft ist? Ich wette, er war erleichtert.“

Jill biss sich auf die Lippe. Sie war nicht dabei gewesen, als ihre Eltern es ihm gesagt hatten, aber sie hatte sein Gesicht gesehen, als sie es zum ersten Mal erwähnt hatte, und sie hatte gehört, wie ihr Vater und der von Morgan sich am Telefon angeschrien hatten. Nein, sie glaubte nicht, dass Morgan oder die Spencers erleichtert gewesen waren. Aber was hätte sie tun sollen?

„Also“, sagte Shelly, die das Thema nicht auf sich beruhen lassen wollte. „Weißt du, wo er wohnt?“

„Ich habe nur die Nummer von einem Postfach in Kalifornien.“

Shellys Gesicht spiegelte Jills eigene Unsicherheit. So groß die Versuchung auch war, er sollte die Wahrheit nicht durch einen Brief erfahren. Und sie hatte ihn gerade erst gesehen! Sie hätte es ihm erzählen können, aber stattdessen hatten sie idiotische, völlig bedeutungslose Bemerkungen ausgetauscht.

„Seine Familie wohnt hier in der Nähe.“ Jedenfalls hatten sie einmal hier gewohnt. Jill stellte sich die schicke Farm der Spencers vor, wo sie so wundervolle Stunden verbracht hatte. „Ich nehme an, sie wissen, wo er ist.“ Sie schniefte, um die Tränen zurückzuhalten, und bemerkte plötzlich einen strengen Geruch.

„O nein!“ Brett fuhr hoch. „Die Hamburger!“ Er eilte hinaus, und die anderen starrten ihm hinterher.

Dan sagte: „Das Fleisch ist inzwischen zu Briketts verbrutzelt. Shelly, warum gehst du nicht mit Brett etwas essen, ich bleibe hier bei Jill.“

Shelly blickte von ihm zu ihr. Jill spürte ihr Zögern, aber sie wusste, dass Shelly gehorchen würde. Was immer Dan für richtig hielt. Selbst wenn das bedeutete, dass sie nicht die Erste war, die die ganze Geschichte erfuhr. Müdigkeit legte sich wie eine Decke über Jill.

Shelly erhob sich. „Wir sprechen später miteinander, ja?“ Ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, dass ein weiteres Gespräch unvermeidbar war.

Jill lächelte schwach. Was, wenn sie Nein sagte? Doch hatte Shelly sich jemals abwimmeln lassen? In der Tür blickte ihre Freundin sich noch einmal um, dann folgte sie ihrem Mann. Jill saß wortlos da, ihre Hand von Dans Händen umfangen.

„Das ist also der eigentliche Grund, oder?“ Dan sprach sanft, aber seine Stimme hatte einen scharfen Unterton.

Sie blickte in sein offenes, sonnengebräuntes Gesicht. Er war der Typ, der bei „Guter Cop, böser Cop“-Spielchen den Guten spielte. Sein Gesicht lud dazu ein, ihm zu vertrauen. Aber sie hatte ihm nicht vertraut. Jill senkte den Blick. „Alles, was ich gesagt habe, war ernst gemeint. Ich glaube an die Ehe. Intimität gehört in diesen Bund. All das ist wahr.“

„Jetzt.“

Sie zog ihre Hände weg und sprang auf. „Ich war siebzehn, Dan. Ich hatte Menschen wie dich, die mir sagten, ich könne und solle sexuell aktiv sein.“

„Und natürlich Morgan Spencer.“ Wieder der scharfe Ton. War er eifersüchtig?

Jill setzte sich wieder auf ihren Stuhl. „Ich kann das jetzt nicht brauchen. Ja, ich habe es auf die harte Tour gelernt. Sind meine Überzeugungen deshalb weniger wert? Wenn ich alles richtig gemacht hätte, meinst du, ich würde dann hier sitzen und Gott anflehen, dass er nicht von mir verlangt, Morgan die Wahrheit zu sagen, und beten, dass Morgan mich nicht so sehr hasst, dass er unsere Tochter sterben lässt?“

„Ein richtiger Pfadfinder, was?“

Jill stellte sich den kalten, zynischen Mann vor, der Morgan mittlerweile war, und begann wieder zu zittern. „Ich weiß es nicht. Wir waren Kinder. Er war achtzehn. Was erwartest du, Dan? Meine Eltern haben mir keine Wahl gelassen. Sie gaben Morgan die Schuld an allem und schickten mich fort, bevor ich ihn auch nur ein einziges Mal wiedersehen konnte.“

Dan stieß langsam die Luft aus. „Okay. Tut mir leid. Aber wir waren beinah ein Jahr zusammen, und ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, ich kenne dich. Das ist etwas, was mir eine tierische Angst macht. Wenn wir so lange eine Beziehung führen und du etwas wie diese Sache für dich behältst …“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist genau wie bei Liz.“

Jill wusste, dass er verletzt war, aber diese Bemerkung schoss eindeutig übers Ziel hinaus. „Ich habe dich nie angelogen, Dan. Und betrogen habe ich dich schon mal gar nicht.“ Jetzt überlagerte Wut ihre Verletztheit. „Und die Tatsache, dass ich eine Tochter habe, geht dich eigentlich überhaupt nichts an.“ Sie versuchte aufzustehen, aber er hielt sie am Handgelenk zurück.

„Es tut mir leid, Jill. Das war nicht fair.“

Sie gab nach und blieb sitzen. Sie wünschte, die Wut würde nicht nachlassen, aber das tat sie und machte erneut der schrecklichen Angst und Enttäuschung Platz.

„Was wirst du jetzt tun?“

Ihr war, als würde ihre Brust von einem Schraubstock zusammengequetscht. „Morgan suchen.“ Sie wollte es nicht, aber sie musste. Kelsey brauchte jede Chance, die sie kriegen konnte.

Dan rieb ihre Hand. „Du siehst ziemlich fertig aus.“

„Ich fühle mich auch ziemlich fertig.“

„Was macht dein Kopf?“

Sie tastete nach ihrer Beule. „Geht schon.“

„Was hältst du davon, wenn ich dir ein Bad einlasse und uns etwas …“

„Dan.“ Jill legte ihre freie Hand auf seine. „Nein.“ Dann zog sie beide Hände fort. „Ich muss allein sein.“ Um nachzudenken. Zu beten. Aber das sagte sie nicht laut. Für ihn war sie ohnehin schon eine Heuchlerin.

Dan war verletzt, das war ihr klar. Er wollte, dass etwas zwischen ihnen geschah, von dem sie jetzt wusste, dass es nie geschehen würde. Schon allein der Gedanke, Morgan gegenübertreten zu müssen, verstärkte ihre Entschlossenheit, nie wieder eine solche Intimität riskieren zu wollen. Sie nahm den Brief, faltete ihn zusammen und schob ihn zurück in den Umschlag.

Dan erhob sich. Er sah lange auf sie herab, während er wahrscheinlich überlegte, ob er sie würde umstimmen können. Sie hielt den Blick auf den Umschlag gerichtet, der von außen so harmlos aussah und doch einen so vernichtenden Inhalt hatte. Schließlich ging er.

Jill schloss die Augen. Sie saß wie betäubt da. Das hier konnte einfach nicht wahr sein. Warum hatte Shelly Morgan nur erwähnt? Natürlich kam der Vater als Spender in Frage, aber ihr war der Gedanke nicht gekommen. Sie hatte ihn nicht zugelassen, weil er bedeutete, dass sie versagt hatte, dass sie unfähig war, ihre Tochter zu retten. Oh Gott. Bitte verlang das nicht von mir. Sie würde die Nummer auf dem Brief anrufen, die Nummer für Rückfragen. Und sie würde fragen, ob es sich vielleicht um ein Versehen handelte. Ob sie sie noch einmal testen konnten.

Sie hatten Schwierigkeiten mit ihren Venen gehabt, und nach der Blutabnahme hatte sie Blutergüsse und Schmerzen gehabt. Aber das noch einmal über sich ergehen zu lassen wäre weniger schmerzhaft, als Morgan die Wahrheit zu sagen. Sie konnte es nicht. Gott konnte das nicht von ihr verlangen.

„Warum?“ Jill faltete die Hände und presste die Knöchel ihrer Fäuste an die Lippen. „Herr, ich war so naiv.“ Und so verliebt. Auf Morgan war sie nicht gefasst gewesen. Morgan, wie sie ihn gekannt hatte. Sie hatte ihn angebetet. Und Gott war ein eifersüchtiger Gott.

Sie könnte weglaufen. Cinda würde die Ergebnisse bekommen und erfahren, dass das Knochenmark nicht kompatibel war. Jill versuchte nicht daran zu denken, wie verzweifelt die Bensons in diesem Moment mit Sicherheit waren. Sie hatte es versucht, aber sie konnte ihrer Tochter nicht das Leben retten. Kann Morgan es? Sie wusste es nicht. Er trug die andere Hälfte von Kelseys Antigenen in sich, aber da gab es noch den Crossmatch der Lymphozyten. Morgans Werte passten vielleicht auch nicht besser als ihre eigenen. Es konnte sein, dass sie zu ihm ging, ihm alles erzählte und alles umsonst war.

Sie fuhr sich mit gespreizten Fingen durchs Haar und presste die Hände gegen ihre Stirn. Hatte sie das Recht, diese Chance nicht zu ergreifen? Oh Gott, warum? Plötzlich setzte sie sich kerzengerade auf. Sie konnte es Cinda überlassen, ihm die Nachricht zu überbringen. Sie konnte Cinda seinen Namen geben und sie schreiben oder anrufen oder ihn besuchen lassen. Jill stellte sich vor, wie Morgan die Nachricht erhielt, den Schock, den er erleiden würde, und seine Fassungslosigkeit. Sie sackte wieder in sich zusammen.

Sie konnte unmöglich ein solcher Feigling sein. Er hatte es verdient, diese Nachricht von ihr zu erfahren. Also gut, Herr. Wenn du willst, dass ich es ihm sage, dann zeig es mir. Sie stand auf und ging zu dem Regal, in dem ihre Bibel stand. Sie kannte sie recht gut – die Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament waren ihr nicht zuletzt durch den Sonntagsschulunterricht vertraut. Aber sie war nicht sehr gut darin, Gottes Worte und Weisungen auf ihr eigenes Leben zu übertragen. Dabei verließ sie sich auf die Predigten des Pastors.

Eine der Frauen in der Kirche hatte ihr erzählt, dass sie Antworten bekam, indem sie die Bibel aufs Geratewohl aufschlug und den ersten Vers las, der ihr ins Auge stach. Jill hatte das für eine verrückte Idee gehalten, aber jetzt war sie so verzweifelt, dass sie alles versuchen würde. Sie ließ die Bibel in ihren Händen auffallen. Sie öffnete sich ungefähr in der Mitte, beim Buch Jona, und Jills Blick fiel auf das dritte Kapitel. „Dann sprach der Herr ein zweites Mal zu Jona: ‚Mach dich auf den Weg und geh in die große Stadt Ninive und überbring ihr die Botschaft, die ich dir sage.‘“

Zitternd klappte Jill die Bibel zu. Es war verrückt zu glauben, dass das eine göttliche Botschaft gewesen war. Es war reines Glücksspiel. Natürlich fiel das Buch ungefähr in der Mitte auf, und wahrscheinlich konnte sie in das, was sie dort fand, alles Mögliche hineininterpretieren. Sie schlug die Bibel erneut auf. Diesmal landete sie bei Jesaja, bei einer Botschaft für Edom, wo auch immer das sein mochte. „Aus Seir ruft man mir zu: ‚Wächter, wie lange dauert die Nacht noch? Wächter, wie lange dauert die Nacht noch?‘ Der Wächter antwortet: ‚Der Morgen kommt, aber auch die Nacht. Wenn ihr mehr wissen wollt, kommt ein andermal wieder und fragt.‘“

Sinnlose Worte. Aber das hatte sie ja gesagt. Sie konnte hundert Stellen aufschlagen und hundert verschiedene Verse erhalten. Wenn ihr mehr wissen wollt, kommt ein andermal wieder und fragt. Sie hatte noch einmal gefragt, und die Botschaft war keinen Deut klarer gewesen als die erste Stelle. Sie schlug die Bibel zu und setzte sich in ihren Giraffensessel. Dann dachte sie an Kelseys liebes, schmales Gesicht und fiel auf die Knie. „Ich frage, Herr. Was soll ich tun? Wie kann ich ihr helfen?“

Überbring die Botschaft. Aber das war für Jona gedacht. Ninive existierte nicht mehr. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Warum war das so schwer? Sie hatte kein Problem damit, für Joey zu beten, wenn er gewalttätig wurde, für Sammis Wutausbrüche, für die anderen, die verletzt und ungeliebt und missverstanden waren. Sie konnte für die Kinder beten. Vielleicht musste sie sich jetzt auf Kelsey konzentrieren.

Wieder sah sie das Gesicht ihrer Tochter vor sich. „Ist es ein Dienst?“ Welches vierzehnjährige Mädchen sah in Freundlichkeit und Hilfe einen Dienst? Hatte Jill das Wort in dem Alter überhaupt verstanden? Sie benetzte ihre Lippen. Herr, was willst du von mir? Aber sie wusste es. In ihrem Herzen wusste sie es. Wenn es nur nicht Morgan wäre. Ihr standen wieder die tiefe Verachtung und der Hass, den er ihr entgegenbrachte, vor Augen.

Spielte das eine Rolle? Es ging um Kelsey. Seufzend schlug sie die Bibel erneut auf, diesmal nicht auf der Suche nach einer übernatürlichen Antwort, sondern einfach nach Trost. Sie blätterte zu den Psalmen vor, Nummer vierzig: „Geduldig hoffte ich auf die Hilfe des Herrn, und er wandte sich mir zu und hörte mein Schreien. Er rettete mich aus dem Sumpf der Verzweiflung, aus Matsch und Schlamm. Er stellte mich auf festen Boden und gab meinen Füßen festen Halt. Er legte mir ein neues Lied in meinen Mund, mit dem ich unseren Gott loben kann. Viele werden sehen, was er getan hat, und darüber staunen. Sie werden dem Herrn vertrauen.“

Friede machte sich in ihr breit. Sie liebte die Psalmen. Und diesen fand sie besonders ermutigend. Vielleicht hatte Gott einen Plan, selbst wenn sie ihn nicht erkannte. Im Moment wusste sie gar nichts mit Sicherheit. Es war zu spät, um wegen eines erneuten Tests im Krankenhaus anzurufen, aber morgen früh würde sie ihre Fragen stellen. Und wenn es keine andere Möglichkeit gab, dann würde sie Morgan ausfindig machen.

* * *

Morgan setzte Todd den Rucksack auf, zog den linken Gurt fest und klopfte dem Jungen auf die Schulter. „Gehen wir.“

„Warum muss ich das tragen?“ Todd machte ein paar Schritte vom Auto weg in Richtung Wanderpfad. Er hatte Morgan an diesem Morgen gefragt, ob sie etwas unternehmen könnten, wirkte nun aber nicht gerade begeistert bei der Aussicht, durch den Nationalpark zu wandern.

„Weil ich die Verantwortung trage.“

„Und?“

Morgan griff nach dem Wanderstock, den er in einem der Touristenläden in Juniper Falls gekauft hatte. Normalerweise kaufte er dort nicht ein, doch dem Ständer mit den naturbelassenen Stöcken, die knorrig, aber glatt geschliffen waren, hatte er nicht widerstehen können, und so hatte er für sich und Todd je einen Stock erworben.

„Stell dir einfach vor, dass ich Gandalf bin und du Frodo.“

„Ich wäre aber lieber Streicher.“

Am Abend zuvor hatten sie sich den ersten „Herr der Ringe“-Film angesehen, der es endlich auch in das kleine Kino von Juniper Falls mit seiner einen Leinwand geschafft hatte. Todd war begeisterter gewesen, als Morgan es erwartet hatte. Erstaunlicherweise hatte der Junge bisher keinen der Filme gesehen, und die Wirkung, die er auf ihn gehabt hatte, war bemerkenswert.

„Wenn du Streicher bist, musst du dich aber ranhalten.“ Morgan gab das Tempo auf dem schmalen Weg vor, auf dem er auch Noelle das erste Mal zum Wandern mitgenommen hatte. Von oben hatte man einen fantastischen Ausblick.

„Warum müssen wir denn laufen?“ Todd trottete mit säuerlicher Miene hinter ihm her.

„Weitet die Lungen und den Horizont.“

Todd benutzte ein Schimpfwort, das sinngemäß „Und wen interessiert das?“ bedeutete.

Morgan zuckte mit den Schultern. „Dich sollte es interessieren. Oder willst du dein ganzes Leben so dünn bleiben?“

„Du bist auch nicht gerade Arnold Schwarzenegger.“

„Das will ich auch gar nicht sein. Fette Schultern sehen im Anzug nicht besonders aus. Aber ich bin fit und stark, und das ist wichtig.“

Todd fluchte wieder.

Es würde eine lange Wanderung werden, wenn Todd vorhatte, mit jeder Bemerkung Streit zu suchen. Erst fünfzehn Stunden vorher war der Filmabend ein außergewöhnliches Erlebnis gewesen, und das nicht nur auf der Leinwand. Todd war wie ausgewechselt gewesen, war aus sich herausgekommen und hatte geredet. Dieser Ausflug begann nicht sonderlich vielversprechend.

„Was magst du an Streicher?“

Todd ließ seine Stimme mächtig klingen. „Lasst uns Orks jagen!“

Morgan lächelte. „Aha.“

„Und als er dem einen Ork den Kopf abgehackt hat. Das war echt cool.“

Wenigstens redete der Junge jetzt, anstatt zu fluchen. „Und was ist mit der Szene, wo er Frodo mit den Kräutern heilt?“

Todd rümpfte die Nase. „Ach ja. Als das Elfenmädchen gekommen ist.“ Offenbar keine so beeindruckende Szene. Aber Todd schien seine Trotzhaltung aufgegeben zu haben. „Und als er gegen die schwarzen Reiter gekämpft hat. Ihre Schreie waren krass.“

Morgan zog eine Augenbraue hoch, während sie weiterliefen. „Hättest du die gerne auf unserer Fährte?“

„Das wär übel.“ Todd blickte den Hang hinunter. „Aber wenn sie es wären …“ Er packte seinen Wanderstock wie einen Knüppel und schwang ihn durch die Luft. „Zurück! Zurück, bevor ich euch die Köpfe abschlage!“

Morgan lachte. In diesem Moment konnte er kaum glauben, dass der Junge vor ihm derselbe Teenager war, den er dabei ertappt hatte, wie er Schimpfwörter in Ricks Veranda geritzt hatte. „Aber sie haben keine Köpfe.“

„Na, schon irgendwie. Streicher hat sie schließlich angezündet.“

„Das stimmt. Irgendeine Art Körper müssen sie haben, obwohl sie weder lebendig noch tot sind.“ Es hatte Tage gegeben, an denen Morgan sich genauso gefühlt hatte und an denen ihm das Endergebnis egal gewesen war. Aber nicht, seit Todd ihn vor zwei Tagen herausgefordert hatte.

„Sie hätten dich als Streicher nehmen sollen.“

„Mich?“

„Du hast schwarze Haare und blaue Augen. Und siehst mehr wie Streicher aus.“

Morgan legte den Kopf schief. „Und du findest also, ich sehe böse aus, bin aber gut? ‚Es ist nicht alles Gold, was glänzt, und nicht alle, die wandern, haben sich verirrt‘?“

Todd zog eine Grimasse. „Was?“

„Ach, das ist aus dem Buch. Haben sie im Film ausgelassen.“ Er begann wieder aufwärtszusteigen. „Als sie ihn das erste Mal sahen, waren die Hobbits dem Waldläufer gegenüber misstrauisch. Aber Frodos Herz konnte erkennen, dass er Streicher vertrauen konnte, auch wenn er wie ein Schurke aussah.“

„Ein was?“

„Ein übler Typ.“

Todd grinste, eine Premiere. „Schurke. Was haben sie noch weggelassen?“

„Eine Menge.“ Morgan bog um die Kurve. „Keine Chance, alles in einen Film zu packen. Auch nicht, wenn er drei Stunden lang ist. Du solltest die Bücher lesen.“

Todd hieb mit seinem Wanderstock auf einen Busch ein. „Die hab ich nicht.“

Morgan stieß seinen Stock in den Boden und drehte sich um. „Dagegen müssen wir etwas unternehmen.“

„Ich lese sowieso nicht gerne.“

„Du liest nicht gerne? Dann hast du einfach noch nicht die richtigen Bücher gefunden.“

„Ich kann’s nicht besonders, okay? Ich bin dumm – na und?“

Morgan sah ihn prüfend an. Wenn das stimmte, war es kein Wunder, dass der Junge in der Schule keinen Erfolg hatte. „Du bist nicht dumm, Todd.“ Ganz im Gegenteil. Der Knabe war gewiefter als die meisten Erwachsenen. „Weiß Stan das?“

„Ist doch egal.“

Morgan ging weiter. Sie hatten einen steilen Abschnitt erreicht und stiegen schnaufend den Berg hinauf, ohne zu reden. Dann hielten sie an, um etwas zu trinken. Die Sonne über ihnen warf auf alles ihren scharfkantigen Lichtstrahl. Morgan zog zwei Wasserflaschen aus dem Rucksack auf Todds Rücken. Er trank in einem langen Zug und drängte Todd, es ihm gleichzutun, obwohl der Junge nicht wollte. „Du musst auf deinen Flüssigkeitshaushalt aufpassen. Brauchst du was zu essen, oder sollen wir weitergehen?“

Todd bohrte seine Fußspitze in den Staub. „Ist mir egal.“

„Dann essen wir oben etwas.“ Morgan packte ihre halbleeren Flaschen wieder in den Rucksack, der immer noch fest auf Todds Rücken saß, und schloss die Schnallen. „Komm.“

Todd verdrehte die Augen, aber er folgte ihm. Sie kletterten weiter, bis sie den Gipfel erreicht hatten, dann standen sie oben und blickten auf die gewellten Bergkämme und goldenen Hügel hinunter.

Todd streckte sich. „In welcher Richtung liegt Mordor?“

Morgan wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht und blickte auf die Landschaft hinaus, während er sich das verfallene, gequälte Land voller schrecklicher Dunkelheit vorstellte. Langsam stieß er die Luft aus. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, dass alles sinnlos war. „Mordor ist überall dort, wo du es entstehen lässt, Todd.“

8

Liebe Kelsey, meine dreijährige Tochter Annie glaubt, dass sie Engel sieht, wenn sie ihre Behandlung bekommt. Ist das möglich?

Kelseys Finger legten sich auf die Tastatur.

Liebe Susan,
ja, ich glaube, dass deine Tochter Engel sieht. Jesus hat gesagt: „Hütet euch davor, auf ein einziges dieser Kinder herabzusehen. Denn ich sage euch, dass ihre Engel im Himmel meinem himmlischen Vater stets besonders nahe sind.“ Annie ist noch zu klein, um zu verstehen, was mit ihr geschieht. Aber Jesus weiß genau, was sie braucht. Er liebt sie nämlich sehr. Warum sollte er ihr nicht die Engel zeigen, die auf sie aufpassen? Mir hat man erklärt, wie ich meinen Trost in Bildern ausdrücken kann, aber es fällt mir gar nicht schwer zu glauben, dass Annie ihre Engel wirklich sehen kann. Vor allem, wenn es ihr dabei hilft, keine Angst zu haben.

Jesus hat dich lieb und ich dich auch. Kelsey.
www.kelseys_hoffnungsseite.com

Kelsey ließ ihre Finger auf der Tastatur ruhen und las noch einmal, was sie geschrieben hatte. Und obwohl sie es nicht erwähnt hatte, wurde ihre Armee manchmal so real, dass auch sie meinte, sie wirklich sehen zu können. Annie war erst drei und hatte akute myeloische Leukämie, den Krebs mit der geringsten Heilungschance. Kelsey fühlte Tränen in ihren Augen aufsteigen. Vielleicht zeigte Jesus ihr den Himmel, damit sie keine Angst hatte, dorthin zu gehen.

Sie trocknete sich die Augen, las die nächste Frage und begann mit ihrer Antwort.

Lieber Micah,
sich für eine Studie zur Verfügung zu stellen, könnte anderen in der Zukunft helfen. Ich mag den Gedanken, dass wir für einen besonderen Zweck ausgewählt wurden. Auch wenn es uns gegenüber unfair erscheint – was wäre, wenn der ganze Grund für unsere Krankheit der ist, anderen Kindern später zu helfen? Wenn niemand bei den Studien mitmacht, wie sollen die Ärzte dann ein Mittel finden, um zu siegen? Aber deine Eltern haben auch Angst. Sie leiden genauso viel wie du. Bete um Hilfe, damit du die richtige Entscheidung triffst. Vertrau Jesus.

Er hat dich lieb und ich dich auch. Kelsey
www.kelseys_hoffnungsseite.com

Trotz der schlechten Nachricht, dass Jills Knochenmark nicht kompatibel war, hatte sie einen guten Tag gehabt. Ihre Freunde waren nach der Schule vorbeigekommen, um mit ihr Tabu zu spielen. Mama hatte ihre Lieblingshaferkekse und Puffreis gemacht. Das Gute am Kranksein war, dass sie essen konnte, was sie wollte. Zumindest in den Zeiten zwischen den Chemotherapien, wenn ihr nicht schlecht war und alles wie Pappe schmeckte. Aber sie vermutete, dass sie die Art Körper hatte, der generell nicht leicht Fett ansetzte, egal ob sie krank oder gesund war.

So wie Jill.

Kelsey stand auf und spähte die Treppe hinunter. Die Stimmen von Mama und Papa waren unten zu hören, aber es würde noch eine Weile dauern, bis sie zu Bett gingen. Sie schlich ins Arbeitszimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Drei der Wände waren mit Bücherregalen bedeckt, und im Wandschrank befanden sich Schachteln mit Fotos und alten Schulheften und allem möglichen anderen Zeug. Der große Schreibtisch in der Mitte des Zimmers war so voll, dass man die antike Schreibmaschine darauf kaum sah. Papier stapelte sich vom Fußboden an den Seiten des Schreibtischs hinauf bis beinah zur Tischplatte. Wo sollte sie anfangen?

* * *

Jill sah ins Telefonbuch und hoffte fast, dass sie den Namen nicht finden würde. Als ihr Finger die Liste der Spencers hinunterfuhr und beim Namen Hank ins Stocken geriet, wurde ihr Mund ganz trocken. Wer würde den Anruf entgegennehmen? Und könnte sie sich überwinden, eine solche Nachricht am Telefon zu überbringen? Von Angesicht zu Angesicht wäre sicherlich besser. Sie schrieb die Adresse auf. Es war immer noch dieselbe wie damals.

Jill schloss die Augen, um all ihren Mut zusammenzunehmen, wie sie es früher vor einem Wettkampf getan hatte. Sie hatte Cinda am Abend zuvor angerufen und ihr von der Möglichkeit erzählt, Morgan ausfindig zu machen. Sie musste wissen, ob das ein Weg war, den sie in Erwägung ziehen würden, bevor sie den Kummer riskierte, der damit verbunden war. Sie hatte versucht, nicht zu optimistisch zu klingen, weil sie keine Ahnung hatte, was dabei herauskommen würde. Aber Cinda und Roger hatten sich beide auf die Chance gestürzt. Cinda hätte ihr sogar beinah den schweren Gang abgenommen, indem sie ihr angeboten hatte, selbst mit Morgan Kontakt aufzunehmen. Aber Jill hatte das abgelehnt.

Cinda hatte keine Ahnung, wie weh es tun würde, zu Morgan zu gehen und ihm die Wahrheit zu sagen. Sie wusste nichts von den Lügen, der Täuschung, nur dass es schwierig sein könnte, ihn zu finden. Jill seufzte. Die Verantwortung lag bei ihr. Sie würde Morgan gegenübertreten. Aber sie musste ihn erst finden, denn eine Nachricht an sein Postfach zu schicken, war nicht der richtige Weg. Welcher Mann hatte ein Postfach als Adresse? Vielleicht reiste er viel. Seinem schicken Anzug nach zu urteilen, hatte er das Geld dazu. Wie auch immer es sich verhielt, sie hatte ihren Ausgangspunkt.

Jill schlug das Telefonbuch zu und schnappte sich ihren Schlüsselbund. Die Etikette verlangte eigentlich, dass sie die Spencers zuerst anrief und ein Treffen vereinbarte. Aber das würde bedeuten, dass sie mit ihnen sprechen musste, ohne die Situation zu erläutern, oder dass sie die ganze Sache am Telefon erklären musste, und ihr war schon jetzt klar, dass sie das nicht konnte. Nein, sie würde es darauf ankommen lassen.

Sie durchquerte die Stadt und fuhr aufs Land hinaus, vorbei an Armeen von Maiskolben. Der Hof der Spencers war eines der schönsten Güter dort draußen, und Jill hatte immer gerne die Pferde betrachtet, die Hank züchtete, obwohl sie Angst davor gehabt hatte, auf ihnen zu reiten. Morgan hatte sie nie gedrängt. Er war kein Pferdenarr wie sein Vater und Rick. Bei der Erinnerung an Rick musste sie an den Rest der Familie denken: Celia, Morgans Mutter, und vier kleine Mädchen.

Die jetzt nicht mehr klein waren, überlegte sie. Therese musste erwachsen sein und war vielleicht schon ausgezogen. Stephanie auch? Sie konnte sich nicht mehr an ihr genaues Alter erinnern. Es gab eine ziemliche Lücke zwischen Rick, der zwei Jahre jünger war als Morgan, und der ältesten Schwester, Therese. Wie alt war sie damals gewesen, fünf oder sechs? Jill bog in die Straße ein, die zu dem niedrigen, ranchartigen Haus führte. Es war gut in Schuss und sah kaum verändert aus, abgesehen davon, dass die Bäume und Büsche davor gewachsen waren. Die weiße Zierleiste war ordentlich gestrichen, und die Tür war jetzt schiefergrau, was zeitgemäßer wirkte, aber trotzdem nicht mit dem Landhausstil brach.

Jill hielt auf dem Schotterhalbkreis an, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Würden sie sie erkennen? Wahrscheinlich nur zu gut. Herr, gib mir Kraft. Sie stieg aus, ging zur Haustür und überlegte, ob sie den Messingtürklopfer oder die Klingel betätigen sollte.

Bevor sie das eine oder das andere tun konnte, ging die Tür auf, und ein Mädchen mit rosigem Gesicht und den blauen Augen der Spencers sah sie prüfend an. „Hallo.“

Jill betrachtete das Gesicht und versuchte sich eine von Morgans pausbäckigen Schwestern in dieser schlaksigen Teeniegestalt vorzustellen. Sie kramte nach dem Namen des Babys. „Tiffany?“

„Nö. Sie ist mit den Inlinern unterwegs.“

War Tiffany nicht der Säugling gewesen? „Dann bist du …“

„Tara. Kann ich Ihnen helfen?“

Ja, Tara war das Baby. Tiffany war ein Kleinkind gewesen. „Ich wüsste gerne, ob deine Eltern zu Hause sind.“

„Sind sie. Kommen Sie rein.“

Jill betrat das Haus, in dem sie oft mit der ganzen Familie gegessen hatte, während Morgan von den kleinen Mädchen abwechselnd amüsiert und genervt war und Rick alles still beobachtete und Celia … es wäre einfacher, Hank gegenüberzutreten. Er war immer so freundlich und tolerant gewesen.

„Mama, hier ist jemand.“ Taras Stimme klang lebhaft, und Jill wurde mit einem schmerzlichen Stich bewusst, dass sie beinahe in Kelseys Alter war, wenn auch gesund und viel größer. „Sie ist im Arbeitszimmer. Einen Augenblick.“

Jill war drauf und dran ihr zu sagen, sie solle ihre Mutter nicht bemühen, sie könne auch mit ihrem Vater sprechen. Aber auf der anderen Seite: Was sollte sie Hank erzählen? Erinnern Sie sich an das Baby, von dem mein Vater Ihnen erzählt hat, dass ich es abgetrieben habe? All das, was er über die Moral Ihres Sohnes und Ihre eigenen Wertvorstellungen gesagt hat? Sie werden es nicht glauben …

Celia kam den Flur hinunter, in einem blau bedruckten Schürzenkleid und Sandalen. Ihr Haar war mehr grau als braun, aber ihre Augen hatten denselben dunklen Schokoladenton, an den Jill sich erinnerte. Tara folgte ihr auf dem Fuß, neugierig, wie heranwachsende Mädchen es nun einmal waren.

„Ja?“ Celias Tonfall war reserviert und höflich; dann blieb sie plötzlich stehen und starrte sie an. „Jill?“

„Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze.“ Sie hätte anrufen sollen.

Celia stand einen Augenblick lang wortlos da.

Tara blickte neugierig von einer zur anderen und sagte dann mit einer morganschen Handbewegung: „Warum setzen wir uns nicht?“

Celia wandte sich mit einem schwachen Lächeln zu ihrer Tochter um. „Du gehst raus, Tara. Ich möchte allein mit Jill sprechen.“

Tara sah überrascht und enttäuscht aus, aber sie drehte sich mit einem theatralischen Seufzer um und ging.

„Bitte komm rein.“ Celia führte Jill ins Wohnzimmer, das von diffusem Sonnenlicht erhellt wurde. „Kann ich dir einen Tee anbieten?“

Jill schüttelte den Kopf, als sie sich an Celias grenzenlose Gastfreundschaft erinnerte. Sie würde ihrem ärgsten Feind Tee anbieten, und es konnte gut sein, dass Jill in diese Kategorie fiel. „Nein, danke. Ich bleibe nicht lange.“

Celia deutete auf einen Sessel und setzte sich in das Gegenstück dazu. „Ich muss sagen, du hast mich überrascht.“

„Es tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe. Ich dachte, es wäre besser, alles in einem persönlichen Gespräch zu erklären. Ich hätte anrufen sollen.“

Celia winkte ab. „Das macht nichts.“

Gott, gib mir Kraft. „Ich bin hier, weil ich Morgan finden muss.“ Ihr Fehler wurde ihr bewusst, als sie sah, wie Celias Miene sich plötzlich verschloss. Dies war schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. „Mrs Spencer …“

„Nenn mich Celia.“

Jill sammelte sich. Aber wie sollte sie das Täuschungsmanöver ihrer Familie, die Enkelin, von der Celia nichts wusste, und den Zustand dieses Kindes in Worte fassen?

„Worum geht es denn, Jill?“

„Meine Tochter hat Leukämie.“ Natürlich sagte das Celia gar nichts, obwohl ihr Gesicht einen weicheren, mitfühlenden Ausdruck annahm. Was für eine dumme Bemerkung. Ihre Tochter? Cindas Tochter, Morgans Tochter. Es war alles so verwirrend.

Jill sah Morgans Mutter an. „Celia, ich habe diese Abtreibung nie gehabt.“ Jetzt war es heraus, und eine erste Andeutung des Verstehens huschte über Celias Gesicht, während Jill eilig weitersprach. „Meine Eltern haben mir erlaubt, das Kind zu bekommen, unter der Bedingung, dass ich es zur Adoption freigebe und …“ Tränen brannten ihr in den Augen. Herr, lass mich nicht zusammenbrechen!

In Celias Blick lagen Verwirrung und Bestürzung. Sie sagte: „Ich hole Tee.“

Eine Ausrede, um das Zimmer verlassen zu können, aber Jill war dankbar für die Gelegenheit, ihre Fassung zurückzugewinnen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen, sobald Celia hinausgegangen war. Wahrscheinlich hätte sie es nicht schlimmer machen können. Warum geriet alles durcheinander, sobald sie versuchte, die Sache in die Hand zu nehmen?

Bitte hilf mir. Ich versuche, das Richtige zu tun. Jill hörte Stimmen in der Küche, wahrscheinlich Tara und ihre Mutter. Alles in Ordnung, Mama? Nein, du kannst nicht reinkommen. Stimmt irgendwas nicht? Ja, alles. Vermutlich würde Celia das nicht wirklich zu ihrer Tochter sagen. Jill sammelte sich und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Jetzt, wo sie allein in diesem Haus saß, das so viele Familienmitglieder beherbergte, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie einsam sie war.

Das war eine Sache, um die sie Morgan immer beneidet hatte: seine große, glückliche Familie. Obwohl er und Rick im Scherz immer die Ankunft ihrer kleinen Schwestern beklagt hatten, hatte Jill die Liebe und Verbundenheit im Haus der Spencers gespürt. Sie hatte nur einen vier Jahre älteren Bruder, und sie hatte in den letzten beiden Jahren kaum mit ihm gesprochen – nicht aus Feindseligkeit, nur aus gegenseitigem mangelndem Interesse.

Celia kam mit einem Tablett mit zwei Gläsern Eistee und einer Zuckerdose zurück. Sie stellte es auf den Tisch. „Zucker?“

Jill schüttelte den Kopf. „Ohne alles, danke.“

Celia süßte ihren eigenen Tee und setzte sich dann wieder. „Ich glaube, ich habe den Schock jetzt verkraftet.“

„Es tut mir leid. Ich mache das nicht besonders gut.“

Celia lächelte ein wenig, aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. „Du hast Morgans Kind also doch bekommen.“

Jill nickte. „Ich habe sie einem wundervollen Ehepaar gegeben. Ich hätte Sie auch nie damit belästigt, nur …“ Sie schluckte krampfhaft, so zugeschnürt war ihre Kehle. „Wie ich schon sagte, Kelsey hat Leukämie und braucht eine Knochenmarkstransplantation.“

„Kelsey“, murmelte Celia.

Jill würde einen Heulkrampf bekommen, wenn sie Einzelheiten erzählen, Beschreibungen liefern sollte. Sie zwang sich, sich ganz auf den Zweck ihres Besuches zu konzentrieren. „Ich habe mich testen lassen, eigne mich aber nicht als Spenderin.“

„Und jetzt glaubst du, Morgan könnte geeignet sein?“ Celia war ihr einen Schritt voraus. Sie hatte den Grund für ihr Kommen bereits erfasst.

„Es besteht zumindest die Chance.“ Jill nippte an ihrem Tee, um mit dem eisigen Getränk ihren Mund und ihre Kehle zu befeuchten.

„Und ansonsten hättest du all das für dich behalten.“ Celias Stimme hatte einen scharfen Unterton.

Jill ließ das Glas sinken, umfasste es mit beiden Händen und starrte in seine gelbbraunen Tiefen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ja, sie hätte es für sich behalten. Selbst jetzt hatte sie noch Angst davor, es Morgan zu sagen.

„Hast du irgendeine Vorstellung davon, was es Morgan angetan hat zu glauben, du hättest sein Kind abgetrieben?“

Jill hörte die kalte Wut einer liebenden Mutter. Sie wusste, was sie in Celias Gesicht sehen würde, wenn sie aufblickte.

„Seit die Kinder klein waren, verstehen sie den Wert, die ganze Kostbarkeit des Lebens – meine Jungen ebenso wie meine Töchter. In dieser Familie sind Kinder ein hohes Gut. Wenn du ihm irgendetwas anderes erzählt hättest …“

Jetzt hob Jill den Blick und sah den bitteren Schmerz in Celias Augen. Was konnte sie sagen? Sie murmelte: „Es tut mir leid. Es tut mir schrecklich leid.“ Ja, es war die Entscheidung ihrer Eltern gewesen … am Anfang. Aber sie hatte nicht bedacht, dass die Lüge Morgan immer noch, nach all dieser Zeit, wehtun könnte. Hasste er sie deshalb so sehr?

„Du wirst feststellen, dass er sich verändert hat.“

Ich weiß! Aber daran konnte sie jetzt nicht denken. „Wird er ihr helfen?“ Sie konnte die Frage nicht zurückhalten. Morgan tat ihr schrecklich leid, aber Kelsey war diejenige, die Hilfe brauchte.

Celias Mund verhärtete sich. „Meinst du etwa, das würde er nicht tun?“