Über das Buch:
Lance Michelli ist auf der Suche nach etwas – er weiß nur nicht genau wonach.
Seine schwer kranke Großmutter konnte ihm lediglich verständlich machen, dass er sich auf die Suche nach den dunklen Geheimnissen ihrer Vergangenheit begeben soll.
Diese Suche führt ihn erst nach Italien und dann ins Sonoma Valley, Kalifornien. Die wunderschöne Villa, in der seine Großmutter als Kind lebte, gehört inzwischen einer Frau namens Rese Barrett. Diese renoviert das Anwesen, um darin ein Bed & Breakfast zu eröffnen. Kurz entschlossen lässt Lance sich als Koch und Mädchen für Alles einstellen. Vielleicht kann es ihm so gelingen, den Geheimnissen seiner Nonna auf die Spur zu kommen.
Zuerst geraten Lance und Rese immer wieder aneinander. Doch dann kommen sie sich trotz ihrer Unterschiede näher. Und bald muss Lance sich fragen, ob es wirklich so eine gute Idee war, Rese über seine Motive im Unklaren zu lassen. Wie wird sie reagieren, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kommt? Hat er womöglich jede Chance auf eine Zukunft mit ihr verspielt?

Über die Autorin:
Kristen Heitzmann lebt mit ihrem Mann und den vier Kindern am Fuße der Rocky Mountains. Bereits in der Grundschule begann sie zu schreiben, und studierte später Englische Literatur und kreatives Schreiben. Wenn sie nicht an einem ihrer Bücher arbeitet oder ihre Kinder unterrichtet, engagiert sich die überaus erfolgreiche Autorin im Musikteam ihrer Gemeinde.

Kapitel 6

Rese gefiel seine Unterstellung überhaupt nicht. Nur weil sie sich nicht vor Lachen ausschüttete oder sich die Augen ausheulte, hieß das doch nicht, dass sie keine Gefühle hatte. Sie hatte ihre Selbstbeherrschung mit viel Mühe aufgebaut, zu viel Mühe. Und in den letzten Monaten noch mehr.

Er hatte keine Ahnung, welche Belastung das ganze Projekt gewesen war, eine überwältigende Übung in Entschlossenheit und Tapferkeit nach … Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Nicht zu Gefühlen fähig? Er sollte einmal einen Tag in ihrer Haut stecken, dann würde er sehen, wie schwer es gewesen war, überhaupt weiterzumachen. Von den Jungs hatte sie kein Mitgefühl erwartet, und als sie es zeigten, war das beinahe schwerer zu ertragen gewesen als ihr Spott. Aber sie hatte sich auch das nicht anmerken lassen. Sie wollte nicht. Rese reckte das Kinn vor und dachte daran, wie überrascht alle gewesen waren, als sie die Firma verkauft hatte und gegangen war.

Ihr Magen knurrte. Sie hatte gehofft, dass Lance heute Abend etwas kochen würde. Er hatte seit gestern Mittag nicht mehr gekocht, und hatte sie ihn dafür nicht eingestellt? Sie riss die Schranktür auf und begutachtete das magere Sortiment eingelegter Gemüse und Fertigsuppen. Sie schloss die Tür wieder und ging zum Kühlschrank. Sie hatte mittags schon ein Brot gegessen und hatte keine Lust, jetzt das Gleiche zu tun.

Sie schnaubte verächtlich. Seit wann war das wichtig? Essen war essen. Es sorgte dafür, dass der Körper funktionierte. Sie hatte sich auf weitere Gerichte von Lance gefreut, aber auf keinen Fall würde sie jetzt hinausgehen und ihn darum bitten. Während er an seinem Haus baute, wurde er nicht bezahlt. Material und Werkzeug. Das war ihre Abmachung.

Zum Material gehörten wohl auch die Badezimmerarmaturen und der Ofen, um das Gebäude zu heizen, wie er ihn auf der Skizze eingezeichnet hatte. Sie hätte selbst daran denken sollen und hätte es unter normalen Bedingungen auch getan. Wenn sie eine Renovierung des Kutscherhauses geplant hätte, wären alle Einzelheiten bedacht und die Kosten berücksichtigt worden.

Bis Lance aufgetaucht war, hatte sie sich strikt an ihr Budget gehalten. Aber es stimmte, dass es für sie ein gutes Geschäft war – Arbeiten für Baumaterialien, und das Kutscherhaus würde anschließend fertig sein. Sie schloss die Kühlschranktür und ging in ihr Bad, um zu duschen. Das Wasser brannte in der Schürfwunde an ihrer Seite und erinnerte sie an ihre Unvorsichtigkeit. Das würde nicht noch einmal passieren. Wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte, würde kein Raum für Unfälle sein.

Als sie aus ihrem Zimmer kam, sah sie Lance, der sich an der Spüle in der Küche die Hände wusch. Sie blickte ihn prüfend an, um zu sehen, ob er noch wütend war, aber er schien sich beruhigt zu haben. „Machen Sie etwas zu essen?“

Er schüttelte das Wasser von seinen Händen. „Nein.“

„Ich kaufe die Zutaten.“

Er nahm ein Handtuch und rieb seine Unterarme ab. „Ich bin müde.“

Sie wusste, wie das war. Wie oft hatte sie sich in die Küche geschleppt und sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass wie durch Zauberhand eine Mahlzeit auf dem Tisch erschien? So wie sie es sich jetzt wünschte. Lance’ Zauberhand.

Rese verdrängte die Enttäuschung. Sie würde irgendetwas essen und den Abend damit zubringen, so müde zu werden, dass sie schlafen konnte … Sie straffte die Schultern. „Ich habe überlegt. Sie brauchen Ihr Hotelzimmer nicht zu behalten. Sie könnten oben wohnen, bis Ihr Haus fertig ist.“ Sie verschränkte ihre Arme. „Dann müsste Baxter nicht eingesperrt sein.“

„Das macht ihm nichts aus.“

Sie sah zum Küchenfenster hinaus zum Mandelbaum, unter dem der Hund lag, den Kopf auf die Pfoten gelegt. „Warum für ein Zimmer bezahlen, wenn meine möbliert und bezugsfertig sind? Sie könnten sich aussuchen –“

„Ich dachte, Sie wollten mich nicht im Haus haben.“

Rese blickte zu Boden. Das hatte sie gesagt, aber die letzte Nacht war unheimlich gewesen und schlafloser als gewöhnlich. Sie wollte das nicht noch einmal durchmachen. Wenn Lance Geräusche hörte, wusste sie, dass sie sich das alles nicht einbildete. „Wenn Sie ganz oben sind –“

„Werde ich Sie nicht belästigen?“

Sie wandte sich um und sah ihn überrascht an.

„Sie haben keine sehr hohe Meinung von Männern, oder?“

Wie kam er denn darauf? „Hören Sie, es war nur eine Idee. Sie brauchen nicht so –“

„Emotional zu werden?“

„Kann ich meine Sätze vielleicht mal selbst beenden?“

Er verschränkte die Arme. „Also gut. Nicht so was?“

„Beleidigend zu werden.“

Er verdrehte die Augen.

„Ich wollte nur sagen, wenn Sie oben wären und ich hier unten, würden wir uns gegenseitig nicht stören. Wenn Sie hinten im Kutscherhaus fertig sind, werde ich Gäste aufnehmen und nicht allein sein …“ Das hatte sie nicht sagen wollen.

Er legte den Kopf schief. „Haben Sie Angst?“

Sie schnaubte. „Nein.“

Sein Mundwinkel wanderte nach oben. „Seien Sie ehrlich.“

„Ich habe keine Angst. Es ist …“ Diesmal wünschte sie sich, er würde den Satz vollenden. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich habe nicht gut geschlafen. In diesem Haus …“

„Spukt es?“ Das Lächeln wurde breiter.

„Seien Sie nicht albern.“

Er lachte, aber dann klang seine Stimme schroff. „Wollen Sie, dass ich Sie beschütze?“

Sie funkelte ihn an. „Ich bin nicht sicher, was ein Mann mit Ohrring da wohl ausrichten kann.“

Seine Miene verhärtete sich, als er seinen goldenen Ohrring berührte. „Deshalb bin ich kein richtiger Mann?“

„Das habe ich nicht gemeint.“

„Doch, das haben Sie.“ Jetzt loderte das Feuer wieder in seinen Augen.

„Ich bin nur nicht daran gewöhnt, das ist alles. Die Männer in meiner Kolonne –“

„Ihrer Kolonne?“

Sie schluckte. „Ja, in meiner Kolonne. Ist das so schwer zu akzeptieren? Dass ich einem Bautrupp Befehle erteilt habe?“

„Nein, das kann ich mir nur zu gut vorstellen.“

Irgendwie war das kein Kompliment. Sie warf die Hände in die Luft. „Vergessen Sie’s, okay?“

Er nagte an seiner Oberlippe. „Sie halten mich für einen Weichling.“

Sie richtete ihren Blick gen Decke.

„Einen emotionalen Weichling.“

Sie holte Luft, um ihm zu widersprechen, aber er trat näher und blickte sie finster an. „Nur weil ich nicht rülpse und mich kratze und weil ich finde, dass ein Ohrring gut aussieht, bin ich noch lange nicht –“

„Das behaupte ich ja auch gar nicht.“ Sie wand sich unter seinem Blick.

Er schluckte. „Sie bringen nicht gerade das Beste in einem Mann zum Vorschein.“

Das saß. „Warum nicht?“

„Sie reden und benehmen sich wie ein Kerl.“

„Und?“

„Und Sie sind kein Mann, auch wenn Sie einen Männernamen haben.“

„Ich heiße Theresa.“

Lance hielt inne und musterte sie zu lange.

Sie wandte den Blick ab. „Nennen Sie mich nicht so, ich hasse den Namen.“

„Weil er hübsch ist?“

Sie antwortete nicht. Ihr Vater hatte sie Rese gerufen, seit sie klein war. Mom war es gewesen, die Theresa zu ihr gesagt hatte, und zwar vor allem, wenn „er“ da gewesen war.

„Ich wette, Sie könnten es auch nicht leiden, wenn ich sagen würde, dass Sie hübsch sind.“

Rese spürte, wie die Röte ihren Nacken hinaufkroch. Sie musste sich das nicht anhören.

„Tja, ich habe Neuigkeiten für Sie. Sie sind hübsch. Auch mit den kurzen Haaren, den weiten T-Shirts und allem anderen.“

Sie war wütend. „Sind Sie fertig?“

„Nein. Ich möchte Sie heute Abend zum Essen einladen.“

„Was?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften.

Er lehnte sich an die Arbeitsplatte. „Sie haben richtig gehört. Ich bitte Sie um eine Verabredung.“

Der Mann hatte eindeutig den Verstand verloren.

Er legte den Kopf schief. „Es sei denn, Sie hätten lieber ein Sandwich oder eine Dose Bohnen.“

Ihr Magen protestierte, aber sie reckte das Kinn in die Höhe. „Ich verabrede mich nicht mit meinen Angestellten.“

„Dann betrachten Sie mich als Partner.“

„Ich brauche keinen Partner.“ Sie ließ die Arme hängen und verschränkte sie dann wieder.

Er sagte sanft: „Dann betrachten Sie mich als Freund.“

Darauf hatte Rese keine Antwort. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens mit Männern verbracht. Aber schon als Mädchen hatte sie ihre Energie darauf verwendet, besser zu sein als sie. „Ich weiß nicht, wie das gehen soll.“ Nicht, dass sie besonders gut darin gewesen wäre, Freundschaft mit Frauen zu schließen. Ihre beste Freundin, Star, war eigentlich mehr ein Schmetterling als ein echter Mensch. Sie flatterte herein, um den Nektar der Anerkennung aufzusaugen, und nahm ein Stückchen Stabilität mit, das sie auf dem Weg aber wieder verlor.

Lance trat einen Schritt vor. „Zuerst beschließt man, dass man Zeit miteinander verbringen will. Zum Beispiel bei einem Abendessen.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Warum nicht? Sie hätten doch gegessen, wenn ich es gekocht hätte.“

„Das ist etwas anderes.“

„Weil ich für Sie arbeite?“ So wie er es sagte, klang es hässlich.

Hatte sie es so gemeint? Das war eine Beziehung, die sie einordnen konnte. Mit der sie umgehen konnte.

Er sah sie kritisch an und schüttelte den Kopf. „Sie sind wirklich unglaublich.“ Er ging an ihr vorbei zum Hintereingang und pfiff schrill nach seinem Hund. Eine Minute später hörte sie, wie sein Motorrad ansprang und das Motorengeräusch dann allmählich leiser wurde. Sie starrte quer durch die Küche auf die Schränke, in denen sich ihre trostlose Auswahl befand. Aber es machte nichts. Ihr war sowieso der Appetit vergangen.

* * *

Lance parkte am Marktplatz und ließ Baxter absteigen. Er streckte seinen verspannten Rücken und beschloss, ein wenig im Park spazieren zu gehen, der sich in der Mitte des Platzes befand. Von den riesigen Eukalyptusbäumen hingen zarte Blätter, und die Rinde an den Baumstämmen blätterte in großen Fetzen ab. Es war ein schöner Abend. Und es wäre schön gewesen, ihn zusammen mit einem anderen Menschen zu verbringen.

Er hatte nicht vorgehabt, Rese einzuladen, aber sie hätte es sich wenigstens überlegen können. Schließlich hatte er sie nicht angebaggert. Okay, er hatte sie ein bisschen geneckt, aber sie musste auch dringend lockerer werden. Viel lockerer. Trotzdem hätte er sie nicht um eine Verabredung gebeten, wenn in ihrer Stimme nicht eine solche Einsamkeit gelegen hätte. Die Statue war hohl. Er hatte das Echo gehört.

Er blieb stehen und beobachtete einen Vogel, der mit den dürren Beinchen und dem Körper eines Seetauchers auf den kleinen Teich mit dem Brunnen zuwatschelte. Eine ganze Reihe grünhalsiger, braun gefleckter und weißer Gänse paddelten im Wasser und suchten den Rasen ab. Es war ein hübsches Bild, aber er musste an die Bussarde denken. War das erst heute Morgen?

„Hallo Baxter.“

Lance drehte sich um und sah die sommersprossige Blondine, der er bereits mittags begegnet war. „Hi.“

Sie ging in die Hocke und kraulte den Hund hinter den Ohren. „Hi.“ Sie trug ein blaues Stricktop, das nicht ganz bis zum Gürtel ihrer Hose reichte. Ihre Taille war gebräunt und voller Sommersprossen wie ihre Arme.

„Ich heiße Lance.“ Er streckte die Hand aus.

Sie stand auf. „Sybil Jackson.“ Der Name passte zu ihr, eine Mischung aus exotisch und Mädchen von nebenan.

„Du wohnst hier?“

„Schon mein ganzes Leben.“ Sie warf ihre Haare zurück. „Aber du bist entweder neu hier oder zu Besuch.“

Er setzte seinen breitesten Bronx-Akzent auf. „Hey, was geht?“

Sie lachte, ein temperamentvolles, kehliges Lachen, das in ihm die Erinnerung an heiße Nachmittage auf der Straße weckte, als er für ein paar Dollar mit seinen Kumpels mehrstimmig gesungen hatte. Er blickte über den Platz zu den historischen Gebäuden hinüber. „Gibt es hier was, wo man gut essen kann?“

Sie lächelte. „Jede Menge.“

„Was magst du gerne?“

„Das Swiss Hotel ist gut.“ Sie zeigte auf ein Gebäude in der Nähe.

„Hättst du Lust, mir Gesellschaft zu leisten?“

Sie musterte ihn lächelnd. „Warum nicht?“

Sieh mal einer an. Er war also nicht aussätzig. Lance gab Baxter Anweisung, draußen zu warten, und ließ Sybil vorgehen, als sie das Gebäude betraten. Die Plakette am Haus wies darauf hin, dass im Jahre 1850 General Vallejo hier gewohnt hatte. Eine Vitrine hinter der Rezeption zeigte die ursprünglichen Lehmziegel, aus denen die Rückwand bestanden hatte.

Der Speisesaal hinter der Lobby war neueren Datums, aber Sybil erklärte ihm, dass schon seit vier Generationen die gleiche Familie das Hotel führte. Es war angenehm, sich mit einer Frau zu unterhalten, die ganz normal reagierte. Sie flirtete nicht direkt, aber sie interessierte sich offensichtlich für das, was er zu sagen hatte. Und nicht nur das – sie war völlig aus dem Häuschen, als sie erfuhr, dass er kochen konnte.

„Ein Mann in der Küche – davon träume ich.“

Na gut, sie flirtete. Aber war das nach Rese so schlimm?

Genüsslich biss sie in ein Stück Fleisch. Während bei Rese alle Zeichen auf Abwehr standen, war Sybil das genaue Gegenteil. Sie schloss die Augen und stöhnte leise. „Gourmetfrühstück?“

„Vielleicht koche ich abends auch etwas Besonderes.“

Ihre Augenlider hoben sich auf halbmast. „Abendessen vorher und Frühstück danach. Perfekt.“

Was hatte der Barkeeper in ihren Drink getan?

Sie sagte: „Verrätst du mir, wie du kochen gelernt hast?“

Gute alte Familientradition. „Meine Großmutter hat es mir beigebracht.“

„Deine Großmutter?“ Das hatte Sybil offenbar nicht erwartet.

Er beschrieb die Stunden, die er mit Nonna im Restaurant verbracht hatte, die Kräuter und Gewürze, die seinen Geruchssinn geschult hatten, die Düfte, die von der Küche auf die Straße hinausgezogen waren. Sein Herz zog sich bei den Erinnerungen zusammen.

Weil er wusste, wie verlassen und allein Nonna sich fühlen musste, betete er, dass sie bald aus der Reha nach Hause kommen würde. Besuche der Angehörigen waren nicht dasselbe, wie das Herz der Familie zu sein, und das war sie immer gewesen. Aber darüber wollte er mit Sybil nicht sprechen.

„Ich habe angefangen, ihr in der Küche zu helfen, als ich sieben war, und mit dreizehn habe ich richtig Geld verdient. Ich habe alles durch Anfassen und Probieren gelernt.“

Sybil ließ ihre Zunge langsam über die Lippen wandern und legte so mehr in seine Worte hinein, als er beabsichtigt hatte. Mit ihrer Figur und ihrem Duft könnte sie ihm leicht zu Kopfe steigen. Er kannte die Signale, und sie standen alle auf Grün. Aber das war nicht seine Absicht.

Lance bezahlte für das Essen und nahm die Reste, die er für Baxter hatte einpacken lassen. Dann begleitete er Sybil hinaus und erstickte jeden weiteren Gedanken ihrerseits im Keim. „Ich bringe jetzt lieber Baxter nach Hause. Danke für die Gesellschaft.“

Mit Baxter vor sich fuhr er zu dem Hotel, das ihn hundertfünfundachtzig Dollar die Nacht kostete, plus eine Gebühr für Baxter. Rese’ Angebot erschien ihm immer verlockender. Er warf sich aufs Bett und wählte mit seinem Handy die Nummer seiner Eltern. Niemand nahm ab, deshalb rief er in seiner eigenen Wohnung an und hatte kurz darauf Chaz am Apparat.

„Keine Veränderung, Mann. Alles zu Gottes Zeit.“

„Das sagst du nur, weil du nicht aus New York stammst. Wir Eingeborenen haben eine Sitte. Wir nennen es die Tür einrennen.“

„So was in der Art habe ich gestern Abend gesehen. Kein schöner Anblick.“

„Hat Rico überlebt?“

Chaz lachte. „Er war nicht dabei, Mann.“

„Dann verrate ihm nicht, was er verpasst hat. Ich bin schließlich nicht da, um ihn rauszuhauen.“

„Darüber will er mit dir reden.“

„Da bin ich sicher.“ Lance rieb sich die Stirn. „Sag ihm nicht, dass ich angerufen habe.“

„Der Herr hasst die Lüge.“

„Ich sage nicht, dass du lügen sollst, Chaz. Du sollst ihn nur nicht anstacheln. Spielt er heute Abend?“

„Irgendwo. Er wird jammernd nach Hause kommen.“

„Bestimmt.“ Lance streckte sich und gähnte. Er legte auf und lag dort, so müde, dass er einfach so einschlafen könnte. Sein Körper spürte die Knochenarbeit mehr, als er sollte. Vielleicht war er ein Weichling. Dünn, schwach und modisch, wie Rese gesagt hatte. Sie selbst bestand wahrscheinlich aus solidem Stahl.

Aber während er vor sich hin döste, fragte er sich, ob sie sich in dem großen, alten, knarrenden Haus fürchtete. Er hätte nicht vom Spuken sprechen sollen. Aber andererseits hatte sie es verdient.

Kapitel 7

Rese saß auf der Bettkante, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Es war albern, sich vorzustellen, dass Gespenster durch die Gänge im Obergeschoss huschten und sich auf dem Dachboden versammelten. Sie glaubte nicht an Gespenster oder an Mutters Todesfeen.

„Was ist eine Todesfee, Mom?“

„Ein jammernder Geist, der beinahe so laut heulen kann wie du.“

„Warum heult er?“

„Weil jemand sterben wird.“

Mom und ihre Todesfeen. Aber Rese sah sich im Zimmer um, stand auf und schloss die Tür, dann vergewisserte sie sich, dass das Fenster fest verriegelt war. Dumm. Moms lebhafte Fantasie verdrängte nur nachts Dads Pragmatismus – wenn sie verwundbar war. Rese blickte über ihre Schulter und schalt sich dann dafür.

Ihr Vater würde sagen, sie sei albern, und er musste es wissen. Seit sie neun war, waren sie und Dad auf sich gestellt gewesen. Er war jeden Tag zur Schule gekommen und hatte sie mit seinem großen Lieferwagen abgeholt. Ihre Hausaufgaben hatte sie dort gemacht, wo er gerade für Millionen von Dollar Gebäude renovierte. Und wenn sie mit ihren Aufgaben fertig war, begann ihre eigentliche Ausbildung. Ihr Vater sagte, sie bemerke Dinge wie kein anderer. Und sie hatte sie seinen Mitarbeitern gezeigt – alles, was falsch zugeschnitten oder unordentlich genagelt war, vor allem die Verzierungen. Sie war eine Perfektionistin. Wenn etwas nicht passte, musste man es noch einmal machen.

Mit vierzehn Jahren arbeitete sie wie ein Profi mit dem Werkzeug. Und als sie einundzwanzig war, übernahm sie die Leitung von Dads zweiter Kolonne. Sie sorgte dafür, dass alles, was sie taten, seinen Ansprüchen gerecht wurde. Und es war ihr egal, was die Männer davon hielten, machte sich nichts aus den spöttischen Bemerkungen. Sie tat so, als würden ihr auch die Streiche nichts ausmachen, aber sie waren nicht so leicht zu ignorieren, vor allem, wenn sie grausamer Natur waren.

Rese rollte sich auf ihrem Bett zusammen. Ihr Magen knurrte. Sie hätte etwas essen sollen. Sie konnte immer noch in die Küche gehen, die sich gleich gegenüber befand. Aber dann wäre sie draußen in dem großen, dunklen Raum. Sie hörte keine Geräusche wie in der vergangenen Nacht, kein Heulen auf dem Speicher, aber die Stille war beinahe noch schlimmer. In ihrer Intensität schien sie wie ein Maul, dessen Zähne sie beinahe zu spüren glaubte. Rese schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie sollte sich dazu zwingen, es zu tun. Aber sie zog die Decke über sich und versteckte sich.

Jedes Mal, wenn sie fast eingeschlafen war, dachte sie, sie hätte etwas gehört. Hatte Lance es ernst gemeint? Hatte er etwas auf dem Dachboden gesehen, von dem er nicht wollte, dass sie es sah? Mom hatte ihr Geschichten erzählt, die man nie in Kinderbüchern finden würde. Aber das war eigentlich nicht das, wovor sie Angst hatte. Er war es. Der „Freund“. Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. Warum kam er jetzt zum Vorschein?

Weil Dad nicht mehr in ihrem gemeinsamen Haus schnarchte? Er war immer wie eine Abwehrmauer gewesen. Moms „Freund“ ging, wenn Dad nach Hause kam – oder zumindest sprachen sie und Mom nicht mit ihm, wenn Dad da war. Der Schmerz, mit dem sie ihren Vater vermisste, krampfte ihre Eingeweide zusammen. Bis jetzt war sie noch nie allein gewesen, hatte mit ihren vierundzwanzig Jahren noch nie ohne ihn gelebt. Sie waren Partner gewesen. Sie hatte das College aufgegeben, um mit ihm zusammen zu arbeiten, hatte sich Wissen über Holz und Beize und Farben und Rohre angeeignet. Sie hatten ein blühendes Unternehmen, bis …

Jetzt drängten die anderen Bilder sich in den Vordergrund. Rese gab auf. Sie schaltete die Lampe ein und nahm die Fernbedienung, die auf ihrem Nachttisch lag und mit der sie irgendein hirnloses Programm auf ihrem kleinen Fernseher einstellte. Manche Leute lasen, um einzuschlafen. Aber das war nicht ihr Ding. Wie bei ihrem Vater. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals ein Buch gelesen hätte. Jeden Tag die Zeitung, aber nie eine Geschichte einfach nur so zum Vergnügen. „Im Leben gibt es schon genug Lügen; warum sollte ich die von anderen Leuten lesen?“

Mom war diejenige gewesen, die Geschichten geliebt hatte. Und was Dad sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Rese seufzte. Diese Erinnerungen waren schön und schmerzlich zugleich. Sie lehnte sich an das Kopfteil des Bettes und zappte durch die Sender, aber die Wiederholungen oder Talkshows, die über den Bildschirm flimmerten, interessierten sie nicht. Wenn man bedachte, wie schwer sie tagsüber arbeitete, sollte sie eigentlich nachts in der Lage sein zu schlafen. Der Streit mit Lance hatte allerdings auch nicht gerade geholfen. Warum nahm er alles so persönlich?

Rese versetzte ihrem Kopfkissen einen Schlag und schob es hinter sich, während sie versuchte, sich auf die Werbung zu konzentrieren und zu vergessen, dass sie allein in einem Haus war, das von selber zu atmen schien. Das Ächzen der letzten Nacht hatte sich zu einer bedrückenden Stille gewandelt.

Eigentlich sollte sie durchs Haus gehen, durch jedes Zimmer, auch auf den Dachboden, und sich selbst beweisen, dass dort nichts war. Natürlich war da nichts. Das musste sie nicht beweisen. Alte Häuser waren ihr vertraut. Sie hatte sie auseinandergenommen und kannte sie bis zu den Eingeweiden.

Eingeweide. Sie schloss die Augen und schauderte. Das war doch lächerlich. Sie musste sich zusammenreißen. Sie warf die Fernbedienung hin und schlug die Bettdecke zurück. Nur in die Küche, um etwas zu essen zu holen. Nein. Sie konnte nicht in der riesigen Küche stehen, ohne zu wissen, ob der Rest des Hauses leer war. Sie drückte eine Hand auf ihre Brust und öffnete ihre Schlafzimmertür.

Auf dem schmalen Flur war alles still. Sie öffnete die Tür zur Küche. Dunkelheit umfing sie, und sie tastete nach dem Lichtschalter. Ihre Hand wanderte über die Wand, bis sie den Schalter gefunden hatte. Nachdem sie mehrmals tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen, ging sie von der Küche ins Esszimmer. Sie drehte nur so viel am Dimmer, dass der Raum schwach erhellt war. Keine Gespenster. Sie ging weiter in den Salon. Es waren ursprünglich zwei kleine Räume gewesen, die sie wegen der beschädigten Wand dazwischen zu einem großen Raum verändert hatte. Leer sah er jetzt zu groß aus, aber mit kleinen Sitzecken versehen würde er sich gut eignen, um den Nachmittagstee zu reichen.

Auf der anderen Seite führte die Treppe nach oben. Vielleicht hatte sie sich schon ausreichend umgesehen. Sie musste nicht hinaufgehen. „Feigling. Du bist ja nur ein feiges Mädchen.“ Bobby Frank war ein Idiot. Sie musste ihm gar nichts beweisen. Aber das hatte sie trotzdem getan. Sie war den Baum ganz hinaufgeklettert, bis zum Wespennest, und hatte die Stiche davongetragen, die es bewiesen.

Rese schluckte. „Also gut, Bobby. Sieh mal!“ Sie stieg die Treppe hinauf. Das Holz schwieg unter ihren Füßen. Sie erreichte den breiten, ovalen Treppenabsatz und ging von dort aus ins erste Gästezimmer. Leer. Sie ging von Zimmer zu Zimmer und ließ dabei immer das Licht an und die Tür offen stehen.

Und jetzt der Dachboden. Sie würde nicht aufgeben, bevor die Aufgabe ganz und gar erledigt war. Außerdem hatte sie nicht gesehen, wie weit Lance mit seiner Entrümpelung gekommen war, seit er ihr von den Mäusen berichtet hatte. Der Gedanke, dass etwas Warmes, Lebendiges – auch wenn es nur ein Nagetier war – dort hauste, hatte beinahe etwas Tröstliches. Schade, dass sie Fallen besorgt hatten. Immerhin konnte sie nachsehen, ob die Fallen etwas genutzt hatten.

Rese holte tief Luft, zog die Tür zum Dachboden auf und stieg zögernd die knarrenden Stufen hinauf, während sie sich vortastete, als das Licht aus dem Flur schwächer wurde. Eine Lampe über der Treppe wäre eine gute Idee. Vielleicht konnte Lance Leitungen verlegen. Aber andererseits würde sie nach heute Nacht keinen Grund mehr haben, im Dunkeln hier heraufzukommen. Sie stieß mit dem Zeh gegen die Stufenkante und stolperte. Sie hielt sich am Handlauf fest und lauschte, ob über ihr etwas zu hören war.

Hatten die Geister sich in irgendeine dunkle Ecke gekauert und warteten jetzt darauf, dass sie oben ankam? Sie schluckte und stieg langsam bis zum Dachboden hinauf. Es roch nach Staub und Mäusen und altem PVC. Lance hatte den gesamten vorderen Bereich leer geräumt. Der nackte Boden lag blass vor ihr im Mondlicht.

Gut, sie hatte nachgesehen. Nein, sie musste hineingehen und das Licht einschalten, damit die Todesfeen wussten, dass heute Nacht niemand sterben würde. Keine Kobolde, keine Feen, keine heulenden Gespenster. Sie griff nach der Kette neben der Glühbirne und hielt inne. Was, wenn sie das Licht anmachte und die Mäuse dann über den Boden huschten?

Rese ließ die Hand sinken. Sie hatte genug bewiesen. Kein Poltergeist, nichts, was in der Nacht Lärm machen konnte. Sie ließ das Licht aus, ging die Treppe wieder hinunter und schloss die Tür hinter sich. Dann schaltete sie das Licht im Flur und den Gästezimmern aus. Sie war allein, weit und breit kein Spuk in Sicht. Und vor allem kein „Freund“.

Sie ging die Haupttreppe hinunter und schaltete das Licht im Eingangsbereich aus, dann im Salon, im Esszimmer und in der Küche. Sie öffnete die Tür zum Flur und schrie auf. Dann schlug sie, so heftig sie konnte, auf die schemenhafte Gestalt ein.

„Au!“ Er packte ihre Hände.

„Lance?“ Sie konnte ihn auf dem dunklen Gang nicht richtig sehen, aber sie erkannte seine Stimme. Die Luft platzte aus ihrer Lunge, und sie ließ den Kopf auf die Handgelenke sinken, die er an seine Brust presste. Sie fühlte sich so schwach, dass sie ihn am liebsten noch einmal geschlagen hätte.

„Beruhigen Sie sich, bevor Sie jemandem wehtun.“

„Sie haben es verdient.“ Ihre Brust hob und senkte sich. Wenn er das lustig fand …

„Sie zittern ja wie ein nasser Hund.“

„Was erwarten Sie denn?“ Sie versuchte sich zu befreien. „Lassen Sie mich los.“

„Nur, wenn Sie mit dem Boxen fertig sind.“

Sie entriss ihm eine Hand. „Ich bin fertig.“ Aber er hatte besser einen guten Grund, warum er in ihrem Flur herumlungerte, obwohl sie ihm gesagt hatte, er solle die Schwelle nicht übertreten. „Was machen Sie hier?“

„Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich meine Sachen herbringe. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Er hielt ihr anderes Handgelenk noch umfasst und zog sie in die Küche, wo er das Licht über dem Herd einschaltete. „Ich habe durch die Tür gerufen.“

„Ich war auf dem Dachboden.“

Er wandte sich halb um, und das Licht spiegelte sich in seinen Augen. „Was wollten Sie denn da?“

„Die Fallen überprüfen.“

Er rieb sich mit dem Daumen die Unterlippe, eine eindeutig skeptische Geste.

„Ich habe Ihre Arbeit begutachtet.“

„Ohne Licht?“

Sie entwand sich seinem Griff. „Woher wollen Sie wissen, dass das Licht nicht an war?“

„Ich habe zuerst die Treppe hinaufgesehen. Der Dachboden war dunkel, aber alles andere war erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum.“

Sie konnte sich vorstellen, was er dachte. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Jedenfalls möchte ich, dass Sie in Zukunft meine Zimmer nicht mehr betreten. Der Bereich ist privat.“

Er drückte sie auf einen Küchenstuhl. „Sie zittern immer noch.“

„Mir ging es gut, bevor Sie sich auf mich gestürzt haben.“

„Ich bin nur in den Flur getreten.“

Sie legte die Hände auf die Tischplatte. „Von einem Zimmer, in dem Sie nichts zu suchen hatten.“

Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. „Was haben Sie auf dem Speicher gemacht?“

Sie ballte die Fäuste. „Ich habe das Haus abgesucht.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Nach Gespenstern?“

Sie funkelte ihn an.

„Sie sind ganz schön mutig. Ich weiß nicht, ob ich im Dunkeln auf den Dachboden gegangen wäre. Aber ich weiß ja auch, was da oben ist.“

„Fangen Sie bloß nicht damit an.“

Er lachte. „Ich meine, irdischer Natur.“

Sie rieb sich die Augen.

„Müde?“

Sie nickte. Es war nach Mitternacht. Nicht, dass es für sie ungewöhnlich gewesen wäre, dass sie zu dieser Zeit nicht schlafen konnte. Sie kämpfte diesen Kampf nur allzu oft. Aber wieso zog er um diese Uhrzeit hier ein?

„Ich würde uns etwas Heißes zu trinken machen, wenn unsere Kaffeemaschine schon da wäre.“

Sie lugte zwischen ihren Fingern hindurch. „Was denn?“

„Aufgeschäumte Milch mit, sagen wir, Amarettosirup.“

„Klingt gut.“ Sie ließ die Hände auf den Tisch sinken.

Er lehnte sich auf seine Unterarme. „Bestellen Sie unsere Maschine.“

Sie konnte die Wärme seiner Hände nur wenige Zentimeter von ihren entfernt spüren, so wie Funken, die von einer Quelle zur anderen überspringen. Unsere Maschine. Sie war zu müde, um sich über grammatische Fragen zu streiten. Er würde ohnehin derjenige sein, der die Maschine benutzte. „Ich denke darüber nach.“

„Himbeertrüffel Latte. Pfefferminzmokka.“

Sie schluckte. „Warum sind Sie zurückgekommen?“

„Damit Sie mich im Dunkeln schlagen können.“ Er lehnte sich zurück und betrachtete sie.

Sie seufzte. „Ich muss ins Bett.“

„Ich werde leise sein.“

Sie stieß sich vom Tisch ab und ging in ihr Zimmer. Trotz des Schreckens, den er ihr eingejagt hatte, war sie beruhigt. Es war kein Eindringling gewesen, wie sie befürchtet hatte, als die Gestalt sich im Dunkeln bewegt hatte. Und auch kein Geist. Sie hatte gedacht, sie würde endlich Walter sehen.

* * *

Obwohl Lance nicht vorgehabt hatte, Rese zu erschrecken, verspürte er ein Gefühl boshafter Befriedigung. Zweimal hatte sie ihn aus Angst angegriffen – es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie eher kämpfen als fliehen würde. Was zu der Frage führte, warum er sich Sorgen darüber gemacht hatte, dass sie in dem großen Haus allein war. Aber es hatte ihm keine Ruhe gelassen, bis er sich entschieden hatte herzukommen, obwohl er das Hotel schon bezahlt hatte. Irgendein übermächtiger Beschützerinstinkt oder das Bedürfnis, gebraucht zu werden.

Lance ging hinaus und holte seinen Rucksack und seine Gitarre. Sie hatte gesagt, er könne sich irgendein Zimmer aussuchen, also stieg er mit seinen Sachen die Treppe hinauf. Er wählte das Zimmer direkt an der Treppe zum Dachboden. Es war in antikem Marinestil eingerichtet und in schlichtem Dunkelblau und Beige gehalten. Eine Herrenkommode aus Walnussholz, ein schwarzes Metallbett und eine Holztruhe am Fußende des Bettes bildeten die Einrichtung. Natürlich gab es ein Flaschenschiff, auf dem Sims über einem kleinen Kamin. Ein altes Aquarell, das ein Schiff in stürmischer See zeigte, hing über dem Bett, und an der Seitenwand waren ein Netz und eine Harpune dekoriert, während in der Ecke ein Kapitänssessel stand.

Er ließ sich aufs Bett fallen, um die Matratze zu testen. Nicht schlecht. Sie hatte gute Qualität gekauft. Er überflog die Titel der Bücher auf einem kleinen Regal und sah Robert Louis Stevensons Schatzinsel, Melvilles Moby Dick – als ob irgendjemand lange genug bleiben würde, um das zu lesen –, eine Sammlung von Seefahrergedichten und eine Geschichte des Walfangs.

Schlief Rese schon? Er hatte sich Sorgen gemacht, weil sie Angst haben könnte, und dann genau das getan, was er vermeiden wollte. Allerdings war es nicht seine Schuld. Er hatte ihren Namen gerufen und war erst in den Flur gegangen, als sie nicht geantwortet hatte. Eine Werkzeug schwingende Frau sollte man nicht im Dunkeln überraschen, obwohl sie alles andere als bedrohlich erschienen war.

So wie Rese gezittert hatte, musste ihre Angst eine tiefere Ursache haben als den Schrecken, den er ihr eingejagt hatte. Warum hatte sie das Haus abgesucht? Wie viele Menschen würden nachts mit diesem Haus klarkommen, nachdem ihre Gedanken sowieso schon aufgewühlt waren?

Dieses Haus machte ihm keine Angst. Es war das Haus seiner Vorfahren. Rese dagegen hatte keine Geschichte, kein Blut, die mit dem Haus verbunden waren. Merkwürdig, welch starkes Gefühl der Verantwortung ihn deshalb durchströmte. Er war nicht für Rese Barrett verantwortlich, aber er würde um ihretwillen behutsam vorgehen. Nicht, dass sie diesen Gefallen erwidern würde, wenn die Rollen vertauscht wären. Aber das spielte keine Rolle.

Herr, hilf mir, das hier zu erledigen, ohne ihr dabei wehzutun. Lance sank auf die Knie und legte die Stirn auf seine verschränkten Hände, während er Weisung und Weisheit suchte – zwei Dinge, die ihm immer zu entgleiten schienen. Er wusste, dass diese Eigenschaften für diejenigen, die sie ernsthaft suchten, zu finden waren. „Suchet, dann werdet ihr finden.“ Aber manchmal kam es ihm vor, als spiele er Verstecken. Als suche und suche er vergeblich, während alle anderen sich an einem Ort zusammendrängten und er im Dunkeln an ihrem Versteck vorbeiging. Er kletterte ins Bett und schlug die kleine Bibel mit Goldschnitt auf. Das Lesebändchen markierte die Stelle im Matthäusevangelium, an der er beim letzten Mal zu lesen aufgehört hatte.

Sein Blick fiel auf die Worte des Herrn. „Dann sagte Jesus zu seinen Jüngern: ‚Wer mir folgen will, muss sich und seine Wünsche aufgeben, sein Kreuz auf sich nehmen und auf meinem Weg hinter mir hergehen.‘“

Lance dachte darüber nach. Das war nicht neu und noch nicht einmal schwierig. Er war bereit dazu. Er hatte schon viele Kreuze getragen, manche davon noch nicht einmal seine eigenen, wenn er sich als Kind auf die Seite der Schwachen, der Abgelehnten, der Gehänselten gestellt hatte. Seine Mutter hatte seine blauen Flecke verarztet und stets gesagt: „Dein Herz bringt dich in Schwierigkeiten, Lance, aber hör nicht auf, darauf zu hören.“ Und sein Vater hatte dann für gewöhnlich hinzugefügt: „Manchmal könntest du aber auch auf deinen Verstand hören.“

Er las weiter: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Aber wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ Ein Schmerz durchzog seine Brust. Er wusste, wie zerbrechlich das Leben war. Starke, vor Leben strotzende Männer lösten sich in nichts auf. Leben voller Mut und Hoffnung … Tonys Leben und dann einfach … vorbei. Lance schluckte den Schmerz hinunter. „Was hat ein Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber zuletzt sein Leben verliert? Womit will er es dann zurückkaufen?“

Tonys Seele war beim Herrn. Aber sein Leben hätte nicht enden sollen. Sie alle litten noch immer darunter. Was hast du dir nur dabei gedacht, Gott? Er ballte die Hände zu Fäusten. Du hast den Falschen erwischt. Als wenn er Gott sagen könnte, was er tun sollte. Aber warum den Versager leben lassen und den nehmen, den alle bewundert hatten?

„Denn der Menschensohn wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommen. Dann wird er allen vergelten nach ihrem Tun.“ Der Teil bereitete ihm Sorgen. Da war kein Raum für gute Absichten. Wenn er es gut meinte, aber trotzdem das Falsche tat, und das Tun das war, was zählte … Lance rieb sich das Gesicht. Er legte die Bibel auf den Nachttisch. Irgendwo in dem Buch stand, dass Gott das Herz ansah. Darauf verließ er sich.