Über das Buch:
Die Amisch-Trilogie: Die Geschichte der Katie Lapp, die ihren Weg finden muss, hin- und hergeworfen zwischen liebgewordenen Traditionen in einer Amisch-Gemeinschaft und der unbarmherzigen Wirklichkeit.

Band 2
Ihrer bisherigen Identität beraubt, verlässt Katie die behütete Amisch-Gemeinschaft. Die Welt, in die sie nun bei der Suche nach ihrer leiblichen Mutter gerät, ist unbarmherzig - der Bruch mit den liebgewonnenen Traditionen droht sie zu zerreißen. All ihre Hoffnungen ruhen bald auf der Frau, die sie geboren hat – kann sie zwischen den Welten vermitteln?

Doch je weiter sie in die fremde Welt der „Englischen“ hinausgeht, desto unmöglicher wird ihr die Rückkehr in den Schoß der Amisch.

Katie geht einen aufregenden Weg ins Ungewisse ...

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren . Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amischen hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

6

Am Sonntag saß Katherine zwischen Lydia und deren Schwiegertochter, Edna Miller, auf einem gepolsterten Stuhl und freute sich, eine weitere Kostprobe des Morgengottesdienstes im mennonitischen Gemeindehaus von Hickory Hollow zu erleben.

Sie saß ruhig und ehrfürchtig da, wie man es ihr als Kind beigebracht hatte, und schenkte dem immer noch ungewohnten Kirchenschmuck, der sie umgab, große Aufmerksamkeit. Alles weltlich, würden die Amisch sagen. Während sie mit einer Hand über das weiche Polster unter sich fuhr, dachte sie, welch ein krasser Gegensatz dies doch zu den harten Holzbänken war, die sie bis vor kurzem gewohnt gewesen war – aber wie sie sich ehrlich eingestand, auch eine angenehme Abwechslung. Ganz vorne in der Kirche stand auf einer erhöhten Plattform eine einfache Kanzel. Sie hatte schon vor dem letzten Sonntag – ihrem ersten Gottesdienstbesuch in dieser Kirche – gewusst, dass der Prediger auf einer Kanzel stand. Dieses Detail hatte sie vor Jahren von Daniel erfahren, als er ihr beschrieben hatte, wie mennonitische Kirchen von innen aussahen. Er hatte sich gelegentlich zu einer nicht-amischen Versammlung davongeschlichen.

„Du kannst dir nicht vorstellen, welch eine fröhliche Zeit das ist“, hatte er über die verbotenen Gottesdienste gesagt. „Die Leute singen und erzählen von ihrem Glauben. Es ist so wunderbar und gut, Katie, wirklich.“

Natürlich war Daniel nie so weit gegangen zu sagen: „Du solltest dich selbst davon überzeugen“, oder: „Ich nehme dich einmal mit.“ Nichts in dieser Richtung. In diesem Punkt war Daniel sehr vorsichtig gewesen, da er nicht das Risiko hatte eingehen wollen, seine geliebte Freundin in Schwierigkeiten zu bringen, nur weil er in der eng begrenzten Amisch-Gemeinschaft keinen Frieden fand. Wenigstens hatte sie diesen Eindruck gewonnen.

Trotzdem musste sie an Daniel denken, während sie jetzt so dasaß. Durch die großen Fenster auf beiden Seiten der Kirche drang das Licht in den Raum und füllte ihn wie ein himmlisches Flutlicht aus. Katherine erinnerte sich schweren Herzens an ihren Freund und fragte sich, ob sie vielleicht eines Tages Mennoniten geworden wären.

Der Kantor stand vor der Gemeinde auf und schlug leise seine Stimmgabel an. Die Versammlung begann spontan ein kräftiges vierstimmiges Lied anzustimmen.

Katherine bekam eine Gänsehaut unter ihrer Satinbluse. Wieder kam der ganze Himmel über sie herab und strömte durch die hübschen, hellen Fenster in den Raum. Ein Vorgeschmack auf die Herrlichkeit Gottes erfüllte den Raum, begleitet von den mitreißenden Stimmen des A-capella-Chores.

In der zweiten Reihe links neben dem Mittelgang saßen vier junge Frauen Schulter an Schulter und trugen ähnlich aussehende Kopfbedeckungen aus einem leichten weißen Stoff. Dieses Teenagerquartett erregte ungewollt ihre Aufmerksamkeit. Obwohl Katherine nur wenige der Lieder kannte, konnte sie sehen, dass die Mädchen, die anscheinend Schwestern waren, mit großem Ernst und voller Hingabe sangen. Sie warfen kaum einen Blick in ihre Gesangbücher, so gut kannten sie das Lied.

Katherine teilte sich mit Lydias Schwiegertochter ein Liederbuch und war erneut fasziniert von den Noten. Als sie umblätterte, um das nächste Lied zu suchen, fiel ihr noch etwas anderes auf: In dem Buch standen auch fröhliche Lieder.

„Wir singen diese Lieder nur sonntagabends oder mittwochs beim Gebetsabend“, erklärte Edna ihr leise.

Mit einem leichten Nicken, als würde sie diese Erklärung verstehen, starrte Katherine den Notenschlüssel vor dem Lied an, das sie gerade sangen: „Glücklich der Tag.“ Sie fragte sich, warum es vor Gott in Ordnung sein konnte, dass Mennoniten ihre Musik niederschrieben, während die Amisch das nicht durften. Wenigstens nicht die Amisch in Hickory Hollow.

Außerdem fragte sie sich, warum einige Frauen in der Gemeinde einen Schleier als Kopfbedeckung trugen, andere aber nicht. Und warum einige Frauen in langen, bedruckten Kleidern mit schlichten weißen oder marineblauen Pullovern bekleidet waren, und andere wie Touristinnen und Engländer aussahen.

Das ergab alles keinen Sinn.

Mit Kusine Lydias kräftiger Altstimme und Ednas hoher Sopranstimme im Ohr, versuchte sie mitzusingen. Jedes Mal, wenn sie zu dem Refrain kamen, blieben ihr die Worte „Dies ist der Krönungstag“ im Halse stecken. Sie war ihr ganzes Leben lang gelehrt worden, dass niemand zu Lebzeiten wirklich mit Sicherheit wissen könne, ob er gerettet sei. Man hoffte nur, dass der Herr einen am Tag des letzten Gerichtes in sein ewiges Königreich aufnehmen würde. Aber mit vollem Glauben zu sagen, dass man gerettet sei, oder Lieder mit dieser Aussage zu singen, war nichts anderes als anmaßend.

Stolz – die schlimmste Todsünde.

Wie um ihren Überlegungen zu widersprechen, sangen alle vier mennonitischen Schwestern mit Inbrunst, dass sie in den Himmel kämen, und welch ein glücklicher Tag das wäre. Katherine hatte den Eindruck, dass sie im vollen Vertrauen und festen Glauben ihre Stimmen erhoben. Sie fragte sich auch, warum für die Amisch die „Ordnung“ so viel wichtiger war als die Bibel.

Als Kind war ihr alles so selbstverständlich erschienen – die regelmäßigen Predigten des Bischofs und anderer Prediger. Katherines beste Freundinnen waren ihre Kusinen und Klassenkameradinnen, die in dem einzigen Klassenzimmer des amischen Schulhauses mit ihr zusammensaßen – Mädchen und Jungen aus ihrem Gemeindebezirk. Mädchen wie Maria Stoltzfus, die sie fast genauso gut gekannt hatte wie sich selbst. Sie hatten sich gleich gekleidet, die Haare gleich getragen, dieselben Sprachen gesprochen – Englisch und ihren alten süddeutschen Dialekt – und hatten auch ziemlich ähnliche Gedanken gehabt.

Keiner von ihnen, außer den Zimmerern und Möbelschreinern in der Gemeinde, gab sich je mit Außenstehenden ab, und man hatte ihnen beigebracht, dass Mennoniten, Brüdergemeinden und andere christliche Gemeinden in Sünde lebten. Wenn man nicht amisch war, war die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass man nach dem Tod in die Finsternis oder in den Feuersee geworfen wurde. Möglicherweise sogar beides. Wer wollte sich da schon mit so sündigen Leuten anfreunden?

Die „Ordnung“ beherrschte Katherines Denken – auch jetzt nach ihrer Meidung noch. Und selbst an diesem strahlenden, sonnigen Tag – dem gesegneten Tag des Herrn, einen Tag, bevor Katherine beabsichtigte, ihre Zukunft anzutreten, ihre eitle, „englische“ Zukunft – ließ die „Alte Ordnung“ sie nicht los und versuchte, ihr den Mut zu rauben und sie zur Verzweiflung zu bringen.

* * *

„Erzähl mir eine deiner Geschichten, Rebekka“, sagte Annie Lapp, während sie und ihre Schwiegermutter gemeinsam in Annies Küche saßen.

Rebekkas Stricknadeln erfüllten den Raum mit einem leisen, rhythmischen Klappern, aber sie sprach kein Wort.

„Es ist so lange her, seit ich das letzte Mal eine deiner Geschichten gehört habe“, flehte ihre Schwiegertochter sie an.

Trotzdem lehnte Rebekka mit einem Kopfschütteln ihre Bitte ab.

„Erzählen ist eine gute Sache“, beharrte Annie. „Für den Erzähler und für den Zuhörer.“

Mit einem hörbaren Seufzen faltete Rebekka die Hände und starrte ihr Strickzeug an. „Ja, wahrscheinlich.“ Aber sie unternahm keinen Versuch, mit einer ihrer Geschichten anzufangen.

Etwas war bei Katies Mutter offenkundig aus dem Gleichgewicht geraten. Schmerz stand in Rebekkas Augen, ihr Rücken war gebeugt, ach, wie sie gealtert war. In so kurzer Zeit! Annie vermutete, dass es mit Katie zusammenhing, aber sie wagte es nicht, den Namen des abtrünnigen Mädchens auszusprechen.

Elam, Annies Mann, hatte jedem, der den Namen seiner gebannten Schwester in seinem Haus – oder auch sonst irgendwo – aussprach, eine harte Strafe angedroht. Er hatte diese Idee von seinem Vater übernommen. Beide Männer hatten beschlossen, dass weder die unmittelbare Familie noch die erweiterte Familie Katie je wieder erwähnen dürfe. Womit letztendlich sehr viele Leute betroffen waren, da die Amisch-Gemeinschaft durch die vielen Heiraten zwischen den einzelnen Familien aufs Engste miteinander verwoben war.

Inzwischen war es so weit gekommen, dass überhaupt niemand mehr über Katie Lapp sprach. Annie hatte das Gefühl, als versuchten die Amisch, den Schmerz darüber, dass sie eine aus ihrer Mitte an den Teufel verloren hatten, zu verdrängen. Nicht aus Wut oder Hass, nein. Sie versuchten einfach, das Leben weiterzuführen, das Gott in Hickory Hollow von ihnen erwartete.

Mit oder ohne Katie.

„Wie wäre es, wenn ich dir dieses Mal eine Geschichte erzähle?“, sprach Annie weiter.

„Gut, das wäre gut“, antwortete Rebekka.

Annie wiegte ihr Neugeborenes in den Armen und erzählte ihrer Schwiegermutter die Geschichte, die sie noch nie einem Menschen erzählt hatte. Nicht einmal Elam.

„Es geht um einen Traum, den ich immer wieder habe“, begann sie.

Rebekkas Augen wurden lebendiger. „Sprich weiter.“

„Also, es beginnt immer an einem bitterkalten Tag. Mitten aus dem Nebel kommt mein toter Bruder auf das Haus zu. Er geht die Stufen zur vorderen Veranda hinauf und klopft an die Tür. Seine Gestalt sieht genauso aus wie früher, aber sein Gesicht ... und seine Augen ... nun ja, Daniel sieht aus, als wäre er lange fort gewesen.“ Sie machte eine Pause, um eine weitere Decke um ihren kleinen Daniel zu wickeln. „Es ist, als würde er von den Toten zurückkommen.“

„Wir wissen alle, dass das nie geschehen wird“, murmelte Rebekka.

„Trotzdem beunruhigt er mich maßlos, er kommt immer wieder.“

Rebekka schaute sie mit tief in den Höhlen sitzenden Augen an. „Wie oft?“

„Zweimal in der Woche, würde ich sagen.“

„Das ist nur Wunschdenken und nichts anderes.“

Die Frauen verfielen in ein tiefes Schweigen. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach, und Annie fragte sich, ob Rebekkas Denken möglicherweise von etwas anderem als der Wirklichkeit getrübt war.

„Der Herr ist mein Zeuge: Wenn man Träume wahr machen könnte“, begann die ältere Frau plötzlich und schreckte Annie mit ihren lauten Worten auf, „dann hätte ich mein Mädchen inzwischen längst zurück.“

Annie musste nach Luft schnappen. Noch nie hatte sie Rebekka so respektlos reden hören. Sie waren ihr ganzes Leben lang unterwiesen worden, dass es eine Sünde war, den Namen des Herrn aus einem anderen Grund als zu seiner Ehre und zu seinem Ruhm auszusprechen. Und jetzt saß Rebekka hier in ihrer Küche und sprach beinahe einen Fluch aus. „Mama? Vielleicht sollten wir laut in der Heiligen Schrift lesen“, schlug sie schnell vor.

„Ich möchte nicht länger bleiben.“ Rebekka stand auf. „Ich fahre am besten wieder nach Hause.“

„Warte ... geh noch nicht.“

„Es ist am besten so.“

„Aber du bist doch gerade erst gekommen, und ich ...“

„Was ist, Annie?“, wollte Rebekka wissen und drehte sich, die andere mit einem prüfenden Blick musternd, um. „Hast du Angst?“

„Angst vor was?“

„Man könnte meinen, du hättest wegen deines toten Bruders den Verstand verloren?“

Annie stand auf und legte ihr schlafendes Baby in seine Wiege. „Natürlich bin ich nicht verrückt, falls du das meinst.“

Rebekka setzte unbeirrt ihren Weg zur Hintertür fort. „Zwischen einem klaren Verstand und dem Wahnsinn ist nur eine schmale Grenze. So Leid es mir tut, das sagen zu müssen.“

Die Worte klangen angestrengt und gezwungen. Rebekkas Stimme kam ihr ein bisschen spitz vor. So aggressiv zu sein, war gar nicht die Art von Katies Mutter. Ganz und gar nicht.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Annie besorgt.

„Es ging mir noch nie besser.“ Rebekkas Lachen grenzte fast an Hysterie – eine Mischung aus Weinen und Lachen, irgendwie unheimlich. Ihre Stimme war so hoch, dass Annie die Nackenhaare zu Berge standen.

„Aber natürlich ist es dir schon besser gegangen, Rebekka! Viel, viel besser.“ Mit diesen Worten eilte sie zur Tür, um der armen Frau in den Mantel zu helfen. Sie wünschte sich, Weihnachten stünde nicht vor der Tür.

Etwas am Geburtstag des Herrn weckte in ihr den Wunsch, sich zu freuen ... oder zu verzweifeln. Es war offenkundig, dass ihre Schwiegermutter seelsorgerliche Hilfe brauchte, und zwar ziemlich schnell. Ein Gespräch mit der Weisen Frau würde ihr bestimmt gut tun.

Als sie genauer darüber nachdachte, beschloss sie, dass sie in den nächsten Tagen mit ihrem Einspänner zu Ella Mae hinüberfahren würde.

7

Bis Weihnachten waren es nur noch zwei Tage. In der Villa der Bennetts herrschte reges Treiben. Frisch geschnittene grüne Zweige schmückten die breiten Türrahmen und schmalen Fenster im Treppenhaus. Laura liebte den würzigen Tannenduft, und sie bat Rosie, sie in die große Halle zu fahren.

An einem Ende stand ein riesiger, duftender Baum, am anderen Ende führten Glastüren ins Speisezimmer, in dem frisches Tannengrün und die Kronleuchter aus Messing erstrahlten.

Während ihr Blick über den Eingangsbereich zum Speisezimmer wanderte, hatte sie das Gefühl, als sehe sie alles zum ersten Mal. Oder, vielleicht genauer gesagt, sie versuchte, es zu sehen. Sie gestand sich nur sehr ungern ein – geschweige denn einem anderen Menschen –, dass ihr Augenlicht spürbar schwächer wurde.

Noch vor weniger als einer Woche hatte sie alles klar sehen können. Sie wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass ihr Augenlicht schlechter werden könnte, hätte sie nicht gelegentlich so ein Brennen verspürt. Heute war sie sich jedoch nicht so sicher und zog in Erwägung, mit Schwester Natalie darüber zu sprechen.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte Rosie.

Es war nicht nötig, ihr liebstes und bestes Hausmädchen zu beunruhigen, und was die Krämpfe in ihren Beinen betraf, ging es ihr wirklich weitaus besser. „Ich würde sagen, heute ist einer meiner besten Tage seit Wochen.“

Rosie lächelte und gab einen tiefen Seufzer von sich. „Gott sei Dank“, sagte sie freudestrahlend. „Ich habe dafür gebetet, dass dies ein wunderschönes Weihnachtsfest für Sie wird, Madam.“

Selig und der Chefsteward eilten an Lauras gemütlichem Platz vorbei. Sie hörte die beiden plaudern, während ihre Schritte auf dem Korridor verhallten.

„Sie holen sich hier draußen doch keinen Zug, oder?“, fragte Rosie und warf einen besorgten Blick den Gang hinab zum Eingang des Hauses.

„Das ist unmöglich – so wie Sie mich eingepackt haben.“ Laura lächelte in das runde Gesicht der Frau, deren braune Augen vor Besorgnis ganz dunkel waren. „Sie kümmern sich so liebevoll um mich, Rosie.“

„Das tue ich sehr gern“, kam die sanfte Antwort.

Laura fühlte eine leichte Berührung auf ihrem Arm und überlegte, ob jetzt der Zeitpunkt günstig wäre, um den Telefonanruf zu erwähnen, den sie vor einiger Zeit getätigt hatte. „Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich daran denke, einen Privatdetektiv zu engagieren?“

„Aber Mrs. Bennett, wozu denn?“

„Wegen meiner Tochter, Katherine. Sie erinnern sich doch daran, nicht wahr?“

Bei diesen Worten kam Rosie um den Rollstuhl herum und schaute ihre Chefin direkt an. „Ja ... ich habe Sie von ihr sprechen hören, aber warum ...“ Mit einem leichten Stirnrunzeln brach sie ab.

Laura machte eine Pause. „Ich hatte gehofft, es müsste nicht so weit kommen. Verstehen Sie, ich habe Grund zu der Annahme, dass Katherine nie gesetzlich adoptiert wurde.“

Rosie verschlug es den Atem. „Wie kann das sein?“

„In all den Jahren habe ich keinen einzigen Brief von ihren Pflegeeltern bekommen, in dem sie diese Absicht bekundet hätten ... nicht, dass das nötig gewesen wäre, um das Kind – meine Tochter – aufzuziehen und zu lieben und ...“

„Oh, aber Mrs. Bennett, es ist kurz vor Weihnachten“, unterbrach Rosie sie. „Vielleicht könnten Sie bis nach den Feiertagen warten. Wollen Sie sich nicht noch ein bisschen Zeit lassen?“

„Zeit? Ich habe keine mehr, oder?“ Sie legte die Hände auf ihre Knie. „Ich habe in meinen Gliedern fast überhaupt keine Kraft mehr. Wie lange soll ich da noch warten?“

„Noch drei Tage“, bat Rosie. „Weihnachten steht vor der Tür.“

„Ja, Weihnachten!“, mischte sich plötzlich eine männliche Stimme in das Gespräch der beiden Frauen ein.

Laura drehte sich um und sah ihren Mann auf sich zukommen. „Hallo, Dylan“, begrüßte sie ihn.

In einem seiner gut geschnittenen Lieblingsjacketts aus sportlichem Tweedstoff sah er wie immer makellos aus. Der übermütige Blick in seinen grauen Augen verlieh ihm ein fast jungenhaftes Aussehen. „Guten Morgen, die Damen.“

Sie unternahm jedoch nichts, um ihn bei seiner zur Schau gestellten Zuneigung zu ermutigen – sie hob nicht die Wange, als er sie flüchtig küsste.

Er trat zurück, schlug die Hacken seiner Schuhe zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe eine Weihnachtsüberraschung für dich, Laura“, sagte er mit einem rätselhaften Lächeln. „Die Feiertage sind nicht mehr weit weg, ich weiß, aber ich denke, du wirst mich verstehen, wenn du mein Geschenk siehst.“

Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte; schon deshalb nicht, weil Dylan so begeistert von seinem vorzeitigen Geschenk zu sein schien.

„Kannst du dich anziehen – dein schönstes Kleid? Sagen wir, für heute Nachmittag zum Tee?“

„Heute?“

„Ja, heute.“ Ihr Mann schien vor Begeisterung fast zu platzen.

Rosie nickte. „Ich sorge dafür, dass Mrs. Bennett ihr festlichstes Kleid anzieht.“

„Gut. Kümmern Sie sich darum.“ Dylan wandte sich zum Gehen, drehte sich noch einmal um und beugte sich vor, um Laura auf die Stirn zu küssen.

„Meine Güte, ist Mr. Bennett heute aber gut gelaunt, finden Sie nicht?“, sagte Rosie und schob Laura wieder in ihre Privaträume zurück.

„Ja ... das ist er. Es ist ziemlich lange her ... seit ich ihn das letzte Mal so glücklich gesehen habe.“ Trotz der Aufregung des Augenblicks konnte Laura sich eines kurzen Zögerns nicht erwehren. Was hatte die Dringlichkeit des Geschenks zu bedeuten?, fragte sie sich.

Ohne weiter einen Gedanken darauf zu verschwenden, schüttelte sie dieses Gefühl mit einem Achselzucken von sich ab. Vielleicht hatte ihr schwaches Augenlicht sie unnötig gewarnt.

Vielleicht gab es überhaupt nichts, das sie in Frage stellen musste.

* * *

Natalie Judah kam kurz vor dem täglichen Nachmittagstee. Sie war ganz außer Atem. „Die Straßen sind schrecklich glatt“, erklärte sie ihre Verspätung. „Das Wetter wird von Minute zu Minute schlechter. Und die vielen Leute, die in letzter Minute noch ihre Weihnachtseinkäufe erledigen, verbessern die Lage auch nicht.“

„Dann ist es ja gut, dass Sie heute nicht mehr hinausmüssen“, bemerkte Rosie und machte sich an Lauras Haaren zu schaffen.

„Ja, darüber bin ich wirklich froh!“ Natalie saß ihr gegenüber im Zimmer und schaute zu, wie Rosie Lauras dichte rote Haare hochbürstete und auf beiden Seiten mit glänzenden goldenen Kämmen feststeckte.

Mrs. Bennett drehte ihr das Gesicht zu und lächelte dankbar. „Es ist ein solcher Segen, dass Sie sich rund um die Uhr um mich kümmern.“

Ein Segen? Natalie hatte die Krankenpflege noch nie in diesem Licht betrachtet. Es war ihre Arbeit, und sie wurde für ihre Dienste mehr als ausreichend bezahlt. Aber es war noch mehr – sie empfand ein tiefes Mitgefühl mit ihrer todkranken Patientin. Vielleicht war es das, was Laura Bennett wahrnahm.

„Was ist denn der Anlass?“, fragte sie mit einem Blick auf Lauras hochgesteckte Frisur.

„Mein Mann hat eine Überraschung für mich.“

„Oh?“

Rosie nickte. „Etwas, das offenbar nicht bis zum Heiligen Abend warten kann.“ Ein Anflug von Ironie lag in ihrer Stimme.

Natalie ignorierte die Bemerkung und warf einen Blick zur Tür, die auf den Gang hinausführte. „Will Mr. Bennett das Geschenk hier überreichen?“

„Ja, in diesem Zimmer“, erklärte Rosie. „Und ich hoffe wirklich, dass es nicht lange dauern wird, was immer es auch ist.“ Sie deckte Lauras Beine mit einer Wolldecke zu.

Natalie horchte bei Rosies Bemerkung auf. „Fühlen Sie sich heute schlechter, Mrs. Bennett?“

„Eigentlich nicht, nur ...“

Sofort war die Krankenschwester auf den Beinen und stand eine Sekunde später an Lauras Seite. „Was ist?“ Sie bemerkte das plötzliche Flehen in den Augen der kranken Frau. Rosie, die Lauras wortlose Bitte anscheinend verstanden hatte, entschuldigte sich auf der Stelle und verließ das Zimmer.

Als sie allein waren, wurde Lauras Stimme leise. „Ich habe so unangenehme ... Schmerzen hinter den Augen.“

Natalie beugte sich über ihre Patientin. „Lassen Sie mich einmal sehen“, sagte sie und hob vorsichtig Lauras linkes Augenlid nach oben. Sie untersuchte das Auge und hoffte, lediglich ein Anzeichen einer Entzündung oder etwas Ähnliches zu sehen. Alles Mögliche, nur kein weiteres Symptom für das Fortschreiten der tödlichen Krankheit.

Als sie nichts fand, trat sie etwas zurück und betrachtete das blasse Gesicht der Frau. Dann fragte sie: „Sind diese Schmerzen jetzt erst aufgetreten?“

„Ich würde sagen, vor zwei oder drei Tagen.“ Mrs. Bennett beschrieb auch, dass sie nicht mehr klar sehen konnte, was natürlich ärgerlich sei.

Kein gutes Zeichen, dachte Natalie. Es deprimierte sie, so schlechte Nachrichten kurz vor Weihnachten zu hören – höchstwahrscheinlich Laura Bennetts letztes Weihnachtsfest.

Rosie, die eine mütterliche Fürsorge für ihre Patientin empfand, obwohl diese acht Jahre älter war als sie selbst, war zurückgekommen und stand nur wenige Zentimeter hinter dem Rollstuhl. Ihre Finger legten sich um die Griffe, als der Herr des Hauses Lauras privates Wohnzimmer betrat. Er hatte einen Strauß roter Rosen in der Hand.

Nichts Neues, dachte sie. Mr. Bennett überreichte seiner Frau oft Blumen, ob ein Anlass bestand oder nicht. Heute schienen sie jedoch die Einleitung zu sein – nur das Vorspiel zu etwas, das noch kommen sollte.

„Mein Liebling.“ Er sprach mit leiser Stimme, kniete neben seiner Frau nieder und nahm ihre zierlichen weißen Hände in seine. „Ich möchte dich nicht aufregen ...“ Seine Stimme wurde noch leiser, aber sein Blick blieb unverwandt auf ihrem Gesicht ruhen. „Jemand ist hier und will dich kennen lernen“, sprach er weiter. „Jemand, nach dem du dich schon lange sehnst.“

Rosie wurde steif und warf Schwester Natalie, die auf der anderen Seite des Zimmers angespannt und abwartend die Szene beobachtete, einen besorgten Blick zu. Was hatte dieser Mann im Sinn?

„Laura, meine Liebe, ich glaube, ich habe deine Tochter gefunden – deine Katherine.“ Mr. Bennett drehte sich um und warf einen Blick Richtung Tür. „Sie wartet vor der Tür.“ Mrs. Bennett rang nach Luft. Rosie hatte alle Mühe, ihre Besorgnis zu verbergen. Sie hoffte aufrichtig, dass diese Überraschung ihre Chefin nicht zurückwerfen würde – aber andererseits stand es ihr nicht zu, sich einzumischen.

Mr. Bennett machte eine kurze Pause und gönnte seiner Frau einen Augenblick Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten. „Bist du bereit, dein einziges Kind zu sehen?“, fragte er. „Sie führt jetzt den Namen Katie Lapp.“

„Katie?“, kam Lauras schwache Stimme.

Rosie warf Schwester Natalie, die schnell aufstand und an die Seite ihrer Patientin trat, um sich leicht an die rechte Seite des Rollstuhles zu lehnen, einen verzweifelten Blick zu. „Das kommt ziemlich unerwartet, Sir“, bemerkte sie und warf dem Mann ihrer Patientin einen Blick von der Seite zu. Dann sagte sie, an Laura gewandt: „Wie fühlen Sie sich, Mrs. Bennett?“

Ohne Vorwarnung begann der Stuhl zu zittern. Aber nicht aufgrund eines durch die Krankheit bedingten Krampfanfalls. Laura Bennett weinte. Ein leises Schluchzen war zu hören.

Rosie verspürte den seltsamen Drang, die Frau abzuschirmen und zu beschützen, unterdrückte diesen Impuls aber und ließ die Ereignisse ungehindert ihren Lauf nehmen. Wer war sie, dass sie dazwischentreten und die Hausherrin daran hindern sollte, nach langer Zeit endlich ihre Tochter zu Gesicht zu bekommen?

Weihnachten stand vor der Tür, um Himmels willen. Schließlich sollten Wunder an Weihnachten geschehen.

Laura tupfte wiederholt mit einem Taschentuch an ihre Augen. Dann nickte sie und sagte zitternd: „Bringe mein liebes Kind zu mir.“

Rosie wappnete sich innerlich. Sie richtete den Blick auf den breiten Türrahmen und kam sich vor, als warte sie darauf, dass die Heldin eines Theaterstückes ihren großen Auftritt hätte ...

Sie war angenehm überrascht, als eine junge Amischfrau, die nach der „Alten Ordnung“ gekleidet war und eine entsprechende Kopfbedeckung trug, in der Begleitung von Mr. Bennett zaghaft das Zimmer betrat. Das schlanke Mädchen, das keinen Tag älter als zwanzig sein konnte, hatte nur Augen für Mrs. Bennett. Über ihr ovales Gesicht zog ein spontanes, scheues Lächeln. „Hallo, Mutter“, sagte sie.

Mr. Bennett ergriff sehr schnell das Wort, noch bevor Laura auf die ersten Worte ihrer Tochter reagieren konnte. „Liebling, ich möchte dir Katie vorstellen.“

Trotz des Versuches vonseiten ihres Mannes, die Frau formell vorzustellen, hing Lauras Blick wie gebannt an dem amischen Mädchen. „Oh, Katherine, bist du es? Bist du es wirklich?“

Rosie ließ den Griff des Rollstuhles los und trat zur Seite. Dabei bemerkte sie ein Aufblitzen – oder was war das für ein seltsamer Blick in Dylan Bennetts Augen? Triumphierend ... oder doch nicht?

„Oh, komm doch näher, mein Liebes“, bat Laura und hatte alle Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die ihre Sicht nur noch mehr trübten. „Ich möchte dich genau anschauen. Das stört dich doch nicht, oder?“

Das amische Mädchen kam näher. Schwester Natalie stellte ihr schnell einen Stuhl hin, damit sie Laura gegenüber Platz nehmen konnte.

„Danke“, kam die zurückhaltende Antwort.

Laura bemerkte Katies höfliches Nicken in Richtung der Schwester. Ihr Herz wollte vor Glück schier stehen bleiben, als sie die junge Frau vor sich anschaute.

Katherine, ihre schöne Tochter, war endlich hier! Hier ... in diesem Haus!

Die junge Frau ergriff wieder das Wort. „Aber ich möchte doch dich anschauen, Mama.“

Die einfachen, schlichten Worte hingen in der Luft und warteten auf eine Antwort. Aber Laura wurde still. Die in ihrem Herzen aufwallenden Gefühle übermannten sie. Jubel, Freude ...

Umringt von Dylan, Rosie und der Krankenschwester, betrachteten die beiden Frauen einander schweigend.

Schließlich fand Laura die Sprache wieder. „Katherine, mein geliebtes Kind. Ich habe so lange, so schrecklich lange auf diesen Tag gewartet.“

Ihre Tochter nickte und lächelte freundlich.

Lauras Augen füllten sich mit Tränen. Sie wischte sie schnell weg, da sie fürchtete, sie könnte aufblicken und feststellen, dass ihre Tochter wieder fort sei und sie alles nur geträumt habe. „Der Herr hat meine Gebete erhört“, flüsterte sie und griff nach der zierlichen Hand. „Wie glücklich ich bin, dass du gekommen bist, Katherine.“

„Bitte, du musst mich Katie nennen. Das passt besser zu mir.“

Also hatten die amischen Eltern – die Lapps – den Namen, den sie für ihre Tochter ausgesucht hatte, geändert. Sie hatten sie Katie genannt. Es lag etwas Schlichtes, aber doch Charmantes in dem Namen. Der kurze, nette Name passte wirklich gut zu ihr.

„Dann also Katie“, antwortete sie, überrascht, wie leicht der ungewohnte Name ihr über die Lippen ging. Ein Ersatz, den sie akzeptieren konnte; immerhin war es eine Abkürzung von Katherine.

Das Bewusstsein, dass sie ihr diesen Namen gegeben hatte, gab ihr das Gefühl, irgendwie enger mit dieser Fremden verbunden zu sein. Es stellte eine Brücke zur Vergangenheit her. Eine Vergangenheit, die sie nicht miteinander erlebt hatten. Verlorene Tage. Für immer verloren.

Aber jetzt hatten sie diesen Augenblick. Darauf wollte sie schauen. Sie beide – sie und dieses wunderbare Mädchen namens Katie – hatten das Jetzt. Und mit der ganzen Liebe, die sie so viele Jahre vergeblich zu ihrer Tochter im Herzen getragen hatte, beschloss sie, dass sie die Gegenwart, die genauso sehr ein Geschenk des Himmels war wie ein Geschenk Dylans, wirklich genießen würden.

Sie hatte alle Mühe, ihr Kind nicht unverwandt anzuschauen. Laura war von Katies hübschem Gesicht angerührt – die matte Hautfarbe war wie gemalt, so vollkommen sah sie aus. Und das ruhige Lächeln. Alles an ihr faszinierte Laura. Wenn es überhaupt irgendeine Enttäuschung gab, dann war das höchstens die Farbe von Katies Haaren.

Laura hatte sich immer ausgemalt, dass ihr Fleisch und Blut mit Sicherheit ihre rotbraunen Locken geerbt hätte. Aber Rotblond stand Katie auch sehr gut und unterstrich die hellbraunen Brauen und Wimpern hervorragend.

Wenn sie nur dieses geliebte Antlitz besser sehen könnte. Leider war ihr Augenlicht zu schwach geworden, um das Erscheinungsbild ihrer Tochter richtig genießen zu können. „Oh, meine Güte, es gibt so vieles, so viele Dinge, die ich dir erzählen möchte“, hörte Laura sich sagen. „Dinge, die eine Mutter und eine lange verlorene Tochter sich zu erzählen haben.“

Hinter sich hörte sie Rosie schniefen. Laura war ziemlich sicher, dass auch ihrem Mann Tränen in den Augen standen. Eine tief empfundene Dankbarkeit ihm gegenüber ließ sie einen Augenblick nach Luft ringen. Sie musste ihn fragen, wie es ihm gelungen sei, Katherine ausfindig zu machen – und das so kurz vor Weihnachten. Aber das konnte warten. „Wir müssen miteinander Tee trinken“, sagte sie zu dem Mädchen. „Nur wir beide.“

Bei diesen Worten tauchte Dylan aus der Ecke des Zimmers auf. „Der Tee ist schon unterwegs.“

„Wunderbar.“ Laura hob das Kinn und schaute ihn direkt an, auch wenn sie ihn mit ihrer abnehmenden Sehkraft nur verschwommen wahrnehmen konnte.

Schwester Natalie kontrollierte Lauras Puls und entschuldigte sich dann höflich. Rosie schien weniger gewillt, ihre Hausherrin zu verlassen. Sie beugte sich vor und flüsterte: „Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht brauchen?“

„Danke, aber wir kommen schon zurecht“, sagte Laura, auch wenn ihr Herz wie wild hämmerte und raste. Der Schmerz der Jahre, die quälende Sehnsucht ... das alles überwältigte sie. Das Gewicht der Sorgen, die Erinnerungen erdrückten sie fast. Für einen kurzen Augenblick musste sie sich im Raum umsehen und sich neu ins Bewusstsein rufen, was gerade passiert war.

Da bemerkte sie plötzlich, dass Dylan an einen Stuhl nur einen Meter neben Katie getreten war. Warum war er geblieben, obwohl sie doch ausdrücklich darum gebeten hatte, mit ihrer Tochter allein zu sein?

Sie wich seinem Blick aus und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die sittsam gekleidete Katie, die das gleiche blaue Kleid und die schwarze Schürze trug, die sie im letzten Monat bei ihrem Besuch im Bezirk Lancaster an mehreren Amischfrauen gesehen hatte. Wenn ihr Gedächtnis ihr keinen Streich spielte, dann hatte die Tracht sogar den gleichen Farbton wie das Kleid, das Rebekka, die Adoptivmutter ihres Kindes, an jenem Tag getragen hatte, an dem sie sich auf dem Gang des Krankenhauses von Lancaster vor knapp dreiundzwanzig Jahren begegnet waren.

„Katie, könntest du dir vorstellen, über die Feiertage hier zu bleiben?“, fragte sie und lächelte bei diesem ihr angenehmen Gedanken.

Bevor ihre Tochter antworten konnte, mischte sich Dylan ein und wandte sich an Katie. „Mrs. Bennett, äh, deine Mutter und ich, wir würden uns freuen, wenn du mit uns Weihnachten feierst.“ Er drehte sich um und warf Laura einen liebevollen Blick zu, als wären sie das glücklichste Paar der Welt.

„Ich wünsche mir natürlich nichts mehr, als dass du bei uns bleibst“, sagte Laura, deren Kehle zunehmend trockener wurde, während sie regungslos in ihrem Rollstuhl saß. Die beunruhigende, wenn auch nicht unwillkommene Spannung dieser Situation – die starken Gefühlsbewegungen, ihre Tochter zu sehen, und sie doch nicht richtig zu sehen – nahm ihr fast den Atem.

Dylan schien es nicht erwarten zu können, die Spannung, die im Raum lag, aufzulockern. „Wenn du es wünschst, kann ich den Butler rufen und ihn bitten, dass er dich in eines unserer Gästezimmer im oberen Stockwerk führt.“

„Ja, unbedingt“, fügte Laura hinzu. „Wir wollen, dass du dich bei uns ganz wohl fühlst, Katie.“

Bei dieser Bemerkung strahlte das amische Mädchen. „Dann können wir uns noch besser kennen lernen? Ja?“

„Oh, das hoffe ich doch sehr.“

Tief in ihrem Inneren sprach Laura ein schweigendes Dankgebet, dass Gott ihre geliebte Katie ... noch rechtzeitig ... zurückgebracht hatte.

Noch rechtzeitig.

Es war Zeit für den Nachmittagstee. Rosie servierte ihn zusammen mit einem köstlichen Gebäck, das einer königlichen Familie würdig gewesen wäre, die das Wiedersehen ihrer lange verschollenen Tochter feierte.

Obwohl Laura tausenderlei Fragen durch den Kopf schossen, während sie den Tee tranken, sah sie davon ab, auch nur eine einzige davon zu äußern, da ihr bei dem Gedanken, ihre von der Reise erschöpfte Tochter so bald nach ihrer Ankunft ungeniert auszufragen, unbehaglich zumute war.

Außerdem war sie, auch wenn sie das Geschenk, das Dylan ihr gemacht hatte, sehr schätzte, etwas verärgert über ihn, weil er ihr Zusammensein störte.

Wenn er wirklich daran interessiert wäre, etwas über Katies Leben und ihre Vergangenheit zu erfahren, warum lenkte er dann immer wieder das Gespräch von genau den Themen weg, die Laura so sehr interessierten? Das alles verwirrte sie. Ein schreckliches Gefühl übermannte sie plötzlich und löste einen qualvollen Zitteranfall in ihren Beinen aus.

Sie schrie auf und verzerrte vor Schmerzen das Gesicht.

Auf der Stelle sprang Dylan auf und schaute sie scharf an. Sie merkte, dass er angewidert war. Das konnte sie trotz ihres verschwommenen Augenlichtes sehen.

Als sie Katie nach Luft schnappen hörte, versuchte sich Laura verzweifelt zu entschuldigen. Aber ihre Stimme wollte ihr nicht gehorchen.

Schwester Natalie übernahm die Kontrolle. „Ich kümmere mich um Mrs. Bennett“, sagte sie und schob den Rollstuhl aus dem Zimmer.

Nicht jetzt, haderte Laura, während sie eilig in ihr Schlafzimmer gebracht wurde. Als sie außer Sicht waren, umklammerte sie verkrampft ihr linkes Bein. Bitte, Herr Jesus, nicht ausgerechnet jetzt!