Über das Buch:
Tapfer nimmt Leah die neuen Herausforderungen an, die mit der Verantwortung für ihre kleinen Geschwister vor ihr stehen. Ihr Glaube und Gottvertrauen helfen ihr, diese Aufgabe zu bewältigen – genauso wie ihre Schwester Sadie wieder willkommen zu heißen.
Doch auch das Glück macht sich ganz leise auf den Weg. Ihren alten Vater Abram hat es schon erreicht. Zum ganz großen Durchbruch könnte ihm ein lang verschollener Brief verhelfen ...

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

6

Am Donnerstagvormittag schnitten Abram und Gid die abgestorbenen Zweige ab, die der schwere Schnee abgebrochen hatte, und verbrachten einen guten Teil des sonnigen, aber kalten Morgens damit, die Zweige und Äste zum Trocknen in den Holzschuppen zu schaffen. Abram genoss es, Seite an Seite mit seinem Schwiegersohn zu arbeiten, und sagte ihm das auch. „Du hast ja keine Ahnung, was für ein einsamer alter Mann ich ohne dich bei der Arbeit wäre.“

Gid schaute ihn fragend an, als wollte er ihm sagen, dass er es nicht gewohnt war, von einem Mann so sentimentale Worte zu hören. „Du bist nicht alt, Abram.“

„Ach, ich fühle mein Alter jeden Morgen, wenn ich aufstehe. Außerdem wird mein kleiner Junge heute sieben.“

Gid stapelte weiter das Holz auf und schwieg, als warte er darauf, dass Abram weitersprach.

„Zur nächsten Auktion sollten du und ich gemeinsam fahren. Abe wird wahrscheinlich jede Gelegenheit nutzen, um einen Schultag zu versäumen. Es sei denn, Leah hat etwas dagegen.“ Er plauderte weiter und erzählte, wie gut Abe und Lydiann in der Schule zurechtkamen. „Ich kann nur hoffen, dass sie nicht irgendwann auf die Idee kommen, eine höhere Schulausbildung anzustreben, so wie Mary Ruth damals.“

Abram würde nie zugeben, dass er sich an manchen Tagen wie eine alte Glucke Sorgen machte, dass er noch mehr seiner Kinder an die eitle englische Welt verlieren könnte. Es sah absolut nicht danach aus, als würde Mary Ruth ihr neues Leben mit seinem elektrischen Strom, seinen schnellen Autos und seinen Bibelstunden je aufgeben. Im Gegenteil, sie ging immer mehr in dieser Welt auf und verbrachte fast ihre ganze freie Zeit mit dem ältesten Sohn des Arztes, Robert. Aber Abram hatte nicht die Absicht, seine Gedanken jetzt in diese Richtung wandern zu lassen. Also richtete er sich auf und fragte Gid, was er davon hielte, wenn er Gids Schwager, Sam Ebersol, fragen würde, ob er am Samstag mit ihnen zum Eisfischen gehen wollte.

Gid nickte zustimmend.

„Dann fahre ich heute Nachmittag hinüber und rede mit Sam“, beschloss Abram. „Wir bekommen dieses Wochenende einen köstlichen Fisch zum Abendessen.“ Der Gedanke an den Fischfang und die gemeinsame Zeit mit den anderen Männern begeisterte ihn.

* * *

Nach dem Mittagessen trocknete Sadie das Geschirr und Besteck ab und räumte alles auf. Dann ging sie ins Wohnzimmer, wo sie sich hinsetzte, um ein Blumenmuster auf einem Satz Kopfkissen fertig zu sticken, der vor einem Monat in der Kiste mit ihren Hochzeitsgeschenken und ihrer Wäsche aus Indiana angekommen war. Als es plötzlich an der vorderen Haustür klopfte, schreckte sie auf und sah den Postboten auf der Veranda stehen.

„Guten Tag“, grüßte der Mann mit der Postmütze. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie an diesem kalten Tag störe, aber ich dachte, diesen Brief sollte ich lieber persönlich abgeben.“ Er reichte ihr einen schmutzigen Briefumschlag, auf den die Worte Zurück an den Absender gestempelt waren. „Sieht so aus, als wäre dieser Brief irgendwie verloren gegangen“, sagte er und deutete auf den Poststempel vom Oktober 1947. „Er ist neun Jahre alt.“

Sadie nickte und bedankte sich erstaunt. Sie blieb an der Tür stehen und hielt den Brief in der Hand, der durch die vielen Jahre vergilbt war. Als sie die verblasste Schrift genauer betrachtete, stellte sie verblüfft fest, dass es ein ungeöffneter Brief von Leah an Jonas Mast war. Irgendwie hatte er seinen Weg zurück auf den Ebersol-Hof gefunden.

Kann das der Brief sein, den ich damals weggeworfen habe?

Als sie ihn umdrehte, sah sie, dass der Umschlag verschmutzt war, als hätte er tatsächlich irgendwann in einem Mülleimer gelegen. Aber wie in aller Welt war er nach fast zehn Jahren plötzlich wieder aufgetaucht?

Unmöglich, dachte sie, als sie sah, dass der Brief immer noch versiegelt und ungeöffnet war.

Nachdem sie jahrelang versucht hatte, ihre schändliche Tat zu vergessen, fühlte sie sich jetzt überführt, als sie den Umschlag anstarrte, den Beweis für ihr falsches Handeln.

Was soll ich jetzt tun?

Sie und Leah hatten in den letzten Monaten seit Sadies Rückkehr ihre Beziehung zueinander neu aufbauen müssen, und sie zögerte, eine alte, schmerzliche Wunde wieder aufzureißen. Außerdem waren zu der Zeit, als dieser Brief geschrieben wurde, zwischen Leah und Jonas viele Briefe hin und her gegangen.

Sie hatte ihn in einem Wutanfall weggeworfen; warum sollte sie ihn jetzt nicht wieder beseitigen? Oder noch besser ... ihn verbrennen? Wenn Sadie Leah diese furchtbare Tat jetzt gestand, würde das die Sache nicht mehr besser machen. Am besten ließ sie alles beim Alten und deckte die Wahrheit nicht auf und verbarg ihre Sünde ein für alle Mal.

Oder noch besser: Sie könnte den Brief einfach in den Briefkasten stecken, damit Leah ihn selbst finden konnte. Dann müsste sie ihrer Schwester auch nichts gestehen. Leah würde sich zwar vielleicht fragen, warum Jonas diesen Brief nie geöffnet hatte und warum er nach so vielen Jahren zurückgeschickt wurde, aber Sadies Rolle beim Verschwinden des Briefes würde unentdeckt bleiben. Bezahlte sie nicht ohnehin für ihre Sünden aus der Vergangenheit? Die ihr auferlegte sechsmonatige Prüfung war ein klarer Beweis dafür. Sie konnte die Zeit leider nicht zurückdrehen und ihre Fehler ungeschehen machen.

Quälende Gedanken ließen Sadie keine Ruhe, während sie auf und ab ging. Eines stand fest: Dieser Brief war auf keinen Fall ihr Eigentum. Leah verdiente es, ihn mit einer vollen Entschuldigung zurückzubekommen.

Was wird Leah von mir denken? Sie hat so ein ehrliches, gutes Herz. Wird sie mich verachten? Sie wand sich bei der Aussicht auf das Geständnis, das sie Leah eindeutig schuldete.

Aber Leah war so fröhlich. Schließlich war heute Abes Geburtstag. Sadie hatte das Gefühl, ihre Schwester würde die Nachricht von diesem lange verlorenen Brief heute nicht gut aufnehmen.

Nicht heute, entschied sie. Heute würde nichts Gutes herauskommen, wenn sie die Wahrheit gestand. Mit klopfendem Herz steckte sie den Brief in die Tasche an ihrem Kleid und eilte nach oben, wo sie ihn zwischen verschiedenen Kleidungsstücken in ihrer eigenen Schublade der großen Kommode verbarg.

Mit dem Gefühl, dass es richtig sei, diesen Brief für heute zu ignorieren, weil sie Leah den Tag nicht verderben wollte, eilte Sadie nach unten und setzte sich mit zitternden Händen wieder an ihre Näharbeit.

* * *

Leah war froh, dass sie an diesem Nachmittag hinausgehen und etwas frische Luft schnappen konnte. Abe und Lydiann plauderten die ganze Zeit während der Einspännerfahrt zu Onkel Jesse Ebersol und seiner Familie. Leah hoffte, dass ihre liebe Freundin Adah auch da sein würde. Sadie hatte sich ebenfalls einverstanden erklärt mitzukommen, wenn auch nicht so begeistert, wie Leah gedacht hätte, da sie um diese Jahreszeit ja alle kaum aus dem Haus kamen. Lizzie hatte ein wenig traurig gewirkt, als Leah erzählt hatte, dass sie alle heute Nachmittag zu Besuch auf Onkel Jesses Hof fahren würden. Lizzie hatte sich verpflichtet gefühlt, bei Großvater Johannes zu Hause zu bleiben – das war anscheinend ihr Los im Leben. Leah erfüllte eine gewisse Traurigkeit bei dem Gedanken, dass Tante Lizzie wieder eine Gelegenheit verpasste, andere Menschen zu besuchen, was sie so sehr genoss. Leah beschloss, dass beim nächsten Ausflug sie zu Hause bleiben wollte.

„Zu schade, dass Lizzie nicht mit uns kommen konnte“, sagte Papa, als sie den halben Weg zurückgelegt hatten.

„Sie ist so ein liebenswerter Mensch und beklagt sich nie darüber, dass sie sich um Großvater kümmern muss“, stimmte Leah zu.

Papa drehte sich um und lächelte sie an. „Klingt genauso wie eine andere Person, die ich kenne.“ Er schnalzte mit der Zunge, damit das Pferd etwas an Geschwindigkeit zulegte.

„Oh, meine Güte“, sagte Leah verlegen, als sie verstand, was er meinte.

Sadie, die links neben Leah saß, legte ihrer Schwester die Hand auf die Schulter. „Ja, das ist wirklich Güte!“

Papa sagte nichts mehr. Leah vernahm plötzlich Lydianns Stimme auf dem Sitz hinter ihr. „Du darfst es niemandem verraten“, sagte Lydiann leise zu ihrem Bruder.

„Ich werde nicht versprechen, es nicht zu verraten“, sagte Abe. „Das ist Mädchengerede.“

„Nein ... nein, du hörst mir jetzt zu.“ Lydianns Stimme wurde einen Augenblick lauter und dann wieder leiser.

Daraus schloss Leah, dass Lydiann Abe etwas ins Ohr flüsterte und die Hand vorhielt. Offenbar sollte sie den Rest dieses Gesprächs nicht erfahren. Sie war nicht sicher, ob sie es überhaupt hören wollte, besonders, als der Name Carl Nolt in den nächsten Augenblicken mehrere Male fiel.

Leah erinnerte sich, was sie als Mädchen in Lydianns Alter gedacht und getan hatte. Fast den ganzen Tag hatte sie bei den Tieren verbracht – sie gefüttert und ihnen Wasser gegeben, die Ställe saubergemacht und mit Papa auf den Feldern gearbeitet. Wie gut, dass kurz nach Lydiann Abe geboren war. Das bedeutete, dass Lydiann schon in jungen Jahren kochen und nähen lernen konnte. Ganz anders als Leah, die erst mit fast sechzehn Jahren zum ersten Mal an einem Quilttag teilgenommen hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an jenen ersten Quilttag und daran, wie sie einen Stuhl an den riesigen Quiltrahmen herangezogen hatte, auf dem das bunte Diamant-im-Quadrat-Muster genäht worden war. So viel war seit jenem Septembertag geschehen. Sie war mit Gottes Hilfe inzwischen ein sehr eigenständiger Mensch geworden und war sehr froh darüber. Vorbei waren die Tage, an denen sie sich nach etwas gesehnt hatte, das sie nicht hatte. Sie war heute genauso zufrieden wie damals, als sie unter Papas und Mamas wachsamen Augen auf ihrem friedlichen Hof aufgewachsen war.

Sadie riss sie aus ihren Gedanken. „Oh, schau nur, Leah. Adah ist da.“

Tatsächlich stieg Adah gerade aus der Familienkutsche. Ihre zwei kleinen Söhne rannten bereits herum, während sie sich umdrehte und den Ebersols winkte.

Sie sieht so glücklich aus, dachte Leah. Adahs Mann Sam, Leahs Vetter, war ein fleißiger und netter Mann. Während Sam und Adah sich ihren Weg durch den Schnee zu dem großen Schindelhaus bahnten, wurde Leah erneut bewusst, wie schön es war, dass Adah jetzt mit ihr verwandt und zugleich ihre beste Freundin war.

„Wenn Adah und Sam hier sind, könnten der Schmied und Miriam vielleicht auch kommen, oder?“, fragte Leah und hoffte es um Sadies willen, da die starken Schneestürme sie alle in den letzten Tagen daran gehindert hatten, durch die Schneewehen zum Hof der Peacheys zu stapfen. Der Schmied war in seinem Schlitten zu ihnen gekommen, um ihnen schöne Tüten mit Zuckerstangen und Nüssen für Lydiann und Abe am Heiligen Abend zu bringen, aber keiner von ihnen hatte sich zu Fuß hinausgewagt, um Miriam Peachey Plätzchen zu bringen. Miriam freute sich darauf, im Frühling aus dem großen Haupthaus ins Großvaterhaus umzuziehen. Ihre jüngste Tochter Dorcas und ihr Mann, Sam Ebersols bester Freund Joseph Zook, und ihre Kinder planten, den Hof zu übernehmen. Nach allem, was Leah von Papa gehört hatte, war der Schmied noch nicht ganz bereit, alles aus der Hand zu geben und sich zur Ruhe zu setzen; er wollte weiterhin die Pferde beschlagen und im Laufe der Zeit Gid nach und nach mehr Kunden überlassen.

Als Papa das Pferd zum Stehen brachte, brach Lydiann das Schweigen und erzählte Abe, was Carl ihr vor Kurzem in der Schule berichtet hatte. „Ein zweijähriger amischer Nachbarjunge, Johnnie Weaver, hat letzte Woche Kerosin getrunken und musste dringend in die Notaufnahme gebracht werden“, berichtete sie.

„Im Ernst?“, fragte Abe ungläubig.

„Anscheinend ging es ihm wieder gut, sobald er Sauerstoff bekam.“

„Wie konnte er nur etwas so Ekliges trinken?“, wunderte sich Abe.

Leah hielt sich aus dem Gespräch heraus und genoss den kindlichen Wortwechsel, während sie vom Einspänner sprang und sich zu Sadie gesellte.

„Das begreife ich auch nicht“, sagte Lydiann. „Aber du kannst ja Carl danach fragen, wenn wir ihn an Silvester sehen.“

Lydiann wird vielleicht furchtbar enttäuscht werden, dachte Leah, die ziemlich sicher war, dass Papa diese Einladung nicht annehmen würde, selbst wenn sie zu den Nolts eingeladen werden sollten.

Sadie beobachtete, dass Onkel Jesses Gesicht heller strahlte, als er zur Hintertür kam und sah, wer davorstand. Ihr Onkel umarmte Papa und klopfte ihm auf den Rücken. Er schien sich wirklich sehr zu freuen, seinen jüngeren Bruder zu sehen. Außerdem erblickte sie Miriam Peachey am Tisch, die mit Tante Maria Ebersol flüsterte und in ihre Richtung deutete. Vielleicht sind sie auch gekommen, um Abes Geburtstag zu feiern, dachte Sadie.

Sadies Vermutung stellte sich als richtig heraus, als Tante Maria eine Schüssel Buttercremepudding sowie einen leckeren Schokoladenstrudel und Nussbonbons holte. Sadie half Tante Maria und Miriam, einen Stoß Teller und das nötige Besteck auf den Tisch zu stellen, aber als es so weit war, die leckeren Sachen zu verteilen, setzten sich nur Lydiann, Abe und Adahs Jungen mit den Frauen an den Tisch. Die Männer – Onkel Jesse, Papa, der Schmied und Sam – standen alle um den Holzofen und unterhielten sich in ihrem amischen Dialekt. Sadie wollte nicht lauschen, ihr entging jedoch nicht, dass Papa Onkel Jesse und Vetter Sam einlud, mit ihnen am Samstag eisfischen zu gehen.

Sadie konnte nicht verstehen, was daran so reizvoll sein sollte. Was ist so schön daran, in der Kälte zu sitzen und halb zu erfrieren, nur um ein paar Fische zu fangen?

Miriam rutschte neben sie auf die Holzbank und griff nach dem Buttercremepudding. „Eure Mama hat Puddings geliebt“, bemerkte Miriam und schaute Sadie an, aber dann wanderte ihr Blick weiter zu Lydiann und Abe auf der anderen Seite des Tisches.

„Hatte sie einen Lieblingspudding?“, fragte Abe.

Miriam schwieg einen Augenblick und runzelte die Stirn. „Das müsste deine große Schwester Sadie am besten wissen.“

Sadie lächelte und erinnerte sich an viele glückliche Stunden, in denen sie in Mamas Küche die verschiedensten Strudel und Puddings gekocht hatten. „Sie liebte den Geruch von Schokoladenpudding, so viel steht fest. Aber einen Lieblingspudding? Ich glaube, entweder Pudding mit Grahamkeksen oder Dattelpudding.“

„Oh ja“, stimmte Miriam zu. „Deine Mama liebte ihren Dattelpudding wirklich.“

Lydiann hatte jetzt beide Ellbogen auf dem Tisch und schaute Miriam groß an. „Unsere erste Mama war deine beste Freundin, nicht wahr?“, fragte sie.

Miriam lief rot an. „Nun ja, ich muss sagen, dass sie für mich meine beste Freundin war, ja.“

„Und ich muss sagen, dass mein bester Freund ein Junge ist“, plapperte Lydiann weiter. „Ein mennonitischer Junge!“

Abe schlug sich mit der Hand auf den Mund und schaute Lydiann an, die selbst erkannt haben musste, wie unbedacht sie gerade geplappert hatte. „Du solltest lieber mehr essen und weniger reden“, wiederholte er einen Spruch, den er schon oft von seinem Vater gehört hatte, und stieß sie in die Rippen.

Adahs Söhne waren vollauf mit ihren Puddingschüsseln beschäftigt und noch zu klein, um den Wortwechsel zwischen Abe und Lydiann zu verstehen. Aber Miriam war er nicht entgangen, kein Wort; das wusste Sadie genau, denn sie hatte ein deutliches Keuchen aus Miriams Mund gehört.

„Hast du einen schönen Geburtstag, Abe?“, fragte Miriam. Ihre Stimme klang ein wenig höher als gewöhnlich.

Sadie hatte das Gefühl, sie könnte ihre Beherrschung verlieren und anfangen zu lachen, obwohl sie sicher war, dass das für eine trauernde Witwe kein weises Verhalten wäre. Außerdem saß Miriam nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt. Was würde sie sagen, wenn sie von Sadies Zögern wüsste, Leah den Brief zurückzugeben und sich bei ihr zu entschuldigen?

Die Gedanken an ihre Prüfungszeit und die Buße für ihre Sünden ließen sie schnell wieder ernst werden. Sie setzte sich zurück und beobachtete das Ganze und genoss das fröhliche Plaudern, besonders zwischen dem Geburtstagskind und seiner nicht viel älteren Schwester. Sadies Blick wanderte zu Leah. Wenn sie sich vorstellte, dass Leah diese ganzen langen, traurigen Jahre gedacht hatte, Sadie wäre mit Jonas verheiratet ... Und doch begegnete sie Sadie jetzt nicht mehr mit der geringsten Bitterkeit. Besonders heute wünschte sich Sadie, ihre Schwester hätte mit ihr geschimpft. Leah war wirklich ein Beispiel für einen Menschen, der viel vergibt, wie Mama es auch immer gewesen war. Aber auch für jemanden wie Leah gab es bestimmt Grenzen.

Mitten in dieser lachenden und feiernden Gesellschaft erfüllte Sadie plötzlich eine große Traurigkeit. Sie vermisste ihren Mann und ihre Mutter. Sie hatte gedacht, sie würde mit Harvey alt werden, und jetzt war sie eine junge Witwe. Hatte sie ihr Eheglück als zu selbstverständlich hingenommen? Sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen ihrer Sehnsucht nach Harvey und der Trauer darum, dass sie in Mamas letzten Jahren nicht bei ihr gewesen war. Aber wenn sie in Gobbler’s Knob bei Mama geblieben wäre, hätte sie ihren Harvey nie kennengelernt und sich nicht in ihn verliebt. Manchmal ließen ihre schmerzlichen und beunruhigenden Gefühle ihr keine Ruhe.

Als das Geschirr abgeräumt, gespült und abgetrocknet war, setzte sich Sadie mit Miriam ins Wohnzimmer und war dankbar, dass sie mit Mamas bester Freundin ein wenig allein sein konnte. „Wie fühlst du dich diese Woche, und wie ging es dir an Weihnachten?“, erkundigte sich Miriam und berührte Sadies Handrücken.

„Es ist nicht gerade mein glücklichstes Weihnachten“, gestand sie. „Aber es ist herrlich, wieder in Gobbler’s Knob zu Hause zu sein. Ich genieße die fröhliche Zeit mit Lydiann und Abe.“

Miriam nickte und schaute Sadie aufmerksam an. „Aber du denkst doch bestimmt auch an die Menschen, die du verloren hast.“

Sadie schaute auf ihre schwarze Schürze hinab, die so sehr ein Teil ihrer täglichen Kleidung war. Sie war aus demselben Stoff gemacht wie ihr Trauerkleid, wodurch es schwer zu sagen war, wo das eine begann und das andere aufhörte. „An manchen Tagen denke ich, ich könnte für den Rest meines Lebens Schwarz tragen.“ Für alle, die gestorben sind ... Sie sagte nicht, was sie wirklich dachte, denn sie hatte nur Leah anvertraut, dass sie mehrere Totgeburten gehabt hatte.

„Es ist normal, dass du so denkst“, sagte Miriam mit einem mitfühlenden Seufzen. „Harveys Tod ist immer noch ganz frisch.“

„Er war ein guter Mann“, flüsterte Sadie. „Er hat nie die Beherrschung verloren. Kein einziges Mal. Er hat von jedem freundlich gesprochen, und er kam mit seinen ganzen Geschwistern großartig aus.“

Miriam hörte zu, ohne den Blick von Sadie abzuwenden. „Wie viele Geschwister hatte er?“

„Fünf Brüder und drei Schwestern.“ Damit Miriam sich nicht fragte, warum Harveys Geschwister sie nicht eingeladen hatten, bei ihnen zu wohnen, erklärte Sadie, dass sie nach seinem Tod das Gefühl gehabt hatte, der Herr rufe sie nach Lancaster County zurück.

„Es ist so gut, das zu hören, Sadie! Weiß der Bischof das?“

„Nein ... ich habe zu ihm kein Wort davon gesagt.“ Sie würde nicht verraten, dass Bischof Bontrager sie nicht im Geringsten interessierte. Wenn er die ganze Wahrheit über sie wüsste, würde er die Bestrafung, die er über sie verhängt hatte, vielleicht als zu milde ansehen. Aber Sadie konnte nicht noch mehr ertragen und wünschte sich an den meisten Tagen, sie könnte einfach im Erdboden versinken.

„Ich finde, er sollte das wissen“, sagte Miriam. „Es ist höchste Zeit.“

„Bitte nicht ... Das bleibt bitte unter uns ... und in meiner Familie. Der Bischof muss es nicht wissen.“ Ihre Gefühle waren so stark, dass ihr Tränen in die Augen traten.

„Ach, Sadie, es tut mir leid, dass ich das gesagt habe.“ Miriam beugte sich vor. „Ich bin ja so froh, dass du wieder bei uns bist, und ich bin sicher, dass dein Vater genauso empfindet.“

Sadie konnte nur nicken. Ihr Herz war schwer und wurde von einer Last niedergedrückt, die sie sich selbst aufgeladen hatte.

7

In der Stunde mitten am Nachmittag lag eine besondere Ruhe, die Lorraine Schwartz schon immer genossen hatte – besonders im Sommer, wenn die Hitze des Tages zu einem Nickerchen oder wenigstens zu einer Pause von der glühenden Sonne einlud. Dieser Freitag ließ sich jedoch nicht im Geringsten mit den Hundstagen im Juli oder August vergleichen. Das alte Jahr ging seinem Ende entgegen, sie hatte die Vorhänge zugezogen und es sich am knisternden Feuer bequem gemacht, das Henry freundlicherweise für sie in dem schön gekachelten Kamin nicht weit von ihrem gemütlichen Sessel entfernt entfacht hatte. Mit einer Tasse Kamillentee in der Hand hatte sie in der Bibel gelesen, bis das Klingeln des Telefons sie aufschreckte. Sie nahm den schwarzen Hörer ab.

„Lorraine Schwartz, guten Tag.“

„Hallo, Lorraine. Hier ist Dottie Nolt.“

„Oh, hallo, wie geht es euch?“

„Uns geht es gut. Danke. Wie war euer Weihnachten?“

„Ruhig ... aber sehr schön. Und bei euch?“

Dottie erzählte ihr, wie viel Freude es ihr und Dan bereitet hatte, Carl beim Auspacken der Geschenke zuzuschauen, und dass ihr Sohn sich besonders über seinen neuen Schlitten gefreut hatte. „Ich rufe an, weil ich dich und deinen Mann an Silvester zum Abendessen einladen möchte.“

„Wie lieb von dir.“ Lorraine wusste, dass sie selbst keine anderen Pläne hatten. „Ich werde Henry fragen, aber ich denke, ich kann zusagen, dass wir kommen. Danke, Dottie. Was kann ich mitbringen?“

„Nur euch selbst. Um alles andere kümmern Dan und ich uns. Wir laden mehrere Nachbarn ein. Mary Ruth wird auch da sein. Sag bitte also auch eurem Sohn Robert, dass er herzlich eingeladen ist.“

„Das werde ich machen.“

„Wir haben außerdem vor, Mary Ruths Familie einzuladen.“

„Das wäre schön. Dann kann man sich besser kennenlernen“, bemerkte Lorraine.

Einige Minuten später, als Henry aus der Praxis ins Haus kam, erzählte sie ihm von Dotties freundlicher Einladung.

Er wurde sichtlich steif. „Du hast hoffentlich abgesagt.“

„Nein, ich habe die Einladung selbstverständlich angenommen.“ Seine Reaktion verwirrte sie.

Henry schüttelte den Kopf. „Ruf zurück und sag ab ... sag, dass wir andere Pläne haben.“

„Aber wir haben doch nichts anderes vor, Schatz. Wir wären an Silvester einfach allein, es sei denn, Robert würde sich entschließen, auch zu Hause zu bleiben und den Abend nicht mit Mary Ruth zu verbringen. Aber ich glaube kaum, dass er das tun will.“

Wieder schüttelte Henry den Kopf und runzelte die Stirn. „Bitte ruf Dottie an, Lorraine.“

Henry wollte wahrscheinlich nicht zu den Nolts gehen, weil sie hauptsächlich dafür verantwortlich waren, dass Lorraine sich wieder für die Kirche interessierte.

Robert kam nach Hause. Das setzte einen Schlusspunkt unter ihre Meinungsverschiedenheit, wofür Lorraine dankbar war. Er war kaum im Haus, als er erzählte: „Dottie Nolt plant eine Silvesterfeier, und wir sind alle eingeladen.“ Lorraine war insgeheim sehr erleichtert.

Als er das hörte, gab Henry seinen Widerstand auf.

Gut, dachte sie, dann muss ich mich nicht blamieren und Dottie zurückrufen und ihre Einladung absagen. Robert hatte offensichtlich mehr Einfluss auf Henry, als sie je haben würde.

* * *

Gid ging im Wohnzimmer des Blockhauses auf und ab. Hin und wieder blieb er stehen, um dafür zu sorgen, dass Ida Mae und Katie Ann mit ihren Spielsachen beschäftigt waren. Er war fast versucht, an der Tür des Schlafzimmers zu lauschen, in dem Hannah bestimmt in den letzten Wehen steckte. Gegen den Wunsch seiner Mutter hatte er einen Hexendoktor ins Haus gerufen, der jetzt nur ein paar Meter von ihm entfernt in einem Schaukelstuhl saß und den Mädchen beim Spielen zuschaute. Hannah war enttäuscht gewesen, als sie gehört hatte, dass die Alte Frau Henner, die mächtigste amische Wunderheilerin in der Gegend, keine Hausbesuche mehr machte. Deshalb hatten sie sich für diesen Mann mit dem ernsten Blick entschieden.

Wenigstens habe ich jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann, dachte Gid und ging mit der neuesten Ausgabe des Budget hinüber und bot dem älteren Mann einen Teil der Zeitung an. „Hast du Verwandte in Ohio?“, fragte er in der Hoffnung, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen.

„Zwei Vettern.“

„Warst du schon einmal zu Besuch dort?“

„Nein.“

Gid hatte keine große Lust, gegen eine Wand zu reden, und ging in die Küche und goss sich ein großes Glas Wasser ein. Er stellte sich dann an die Hintertür und starrte auf den Wald hinaus, dessen Bäume jetzt ganz kahl waren. Die Wolkendecke war etwas aufgerissen und er war dankbar für das Licht. Er fühlte sich momentan, als würde er in seinem eigenen Leben verschiedene Jahreszeiten durchleben.

Dieses Warten war schwer, eine harte Geduldsprobe. Er dachte über die Bräuche der Alten Ordnung nach: Der werdende Vater versteckt sich hinter einer Zeitung oder geht irgendwo im Haus auf und ab. Hannah hatte ihm einmal erzählt, dass es einige Frauen gab, die im Sommer einfach hinter einen Strauch gingen und ihre Babys ohne fremde Hilfe bekamen. Bei dem Gedanken, dass seine geliebte Hannah ihre Babys auf diese Weise auf die Welt bringen müsste, zuckte er innerlich zusammen. Solange er zu einer Hebamme – und in diesem Fall auch zum Hexendoktor – fahren konnte, würde seine Frau ihre Kinder nicht allein zur Welt bringen müssen. Leah hatte geplant, auch bei der Geburt dabei zu sein, aber als sie gehört hatte, dass Hannah darauf beharrte, einen Hexendoktor kommen zu lassen, hatte Leah schnell ihre Meinung geändert, worüber Hannah sehr enttäuscht war.

Als das Weinen eines Neugeborenen die Luft durchschnitt, spürte er eine seltsame Erleichterung, dass die Hebamme seinen Sohn oder seine Tochter ohne die Hilfe des Mannes, der im Wohnzimmer saß, auf die Welt hatte bringen können.

Gid eilte zur Schlafzimmertür und wartete auf ein Wort von der Hebamme. Als diese schließlich die Tür öffnete, erfuhr er, dass Hannah eine dritte Tochter geboren hatte. „Sie ist gesund und kräftig“, sagte die Hebamme und bedeutete ihm, ins Zimmer zu kommen.

Er ging schnell auf seine Frau zu, beugte sich nach unten und küsste Hannah auf die Stirn. Dann berührte er ihr Kinn. „Ich liebe dich, Hannah.“ Er wischte eine Strähne ihrer hellblonden Haare zurück.

„Oh, Gid, ich liebe dich.“ Sie hielt seine neugeborene Tochter hoch, die jetzt in eine dünne Decke gewickelt war. „Ein sehr hübsches Kind.“

„Hast du dir schon einen Namen überlegt?“

Hannah lächelte von ihrem Kissen liebevoll zu ihm hoch. „Ich glaube, du bist an der Reihe.“

Er hatte schon über einen Namen nachgedacht und fragte, was Hannah von Miriam hielte, dem Namen seiner Mutter. „Wir könnten sie kurz Mimi nennen.“

Hannah nickte und sagte, das sei ein wunderschöner Name. „Er gefällt mir.“

Damit war das geklärt, und obwohl er gehofft hatte, dass er dieses Mal einen Sohn bekäme – und den Namen Mathias ausgesucht hatte, zu Ehren von Großvater Byler –, war Gid sehr dankbar, dass Hannah und das Baby wohlauf waren. Ehrlich gesagt, konnte er es kaum erwarten, dem Hexendoktor für seine Bereitschaft, in sein Haus zu kommen, zu danken und ihn wieder fortzuschicken.

* * *

Leah war überglücklich, als sie die gute Nachricht von der Geburt der kleinen Mimi Peachey hörte, die Gid ihr persönlich überbrachte. Bis es Samstagmorgen wurde, hatte Leah Hannahs niedliches Baby schon öfter auf dem Arm gehalten. Jetzt saß sie mit Tante Lizzie in der Küche neben dem Holzofen, während Papa, Abe und eine Gruppe von Männern zum Blackbird Pond hinübermarschiert waren, um an diesem Morgen eisfischen zu gehen. Sie hatte Papa insgeheim gebeten, gut auf den abenteuerlustigen Abe aufzupassen, da der Junge heute zum ersten Mal an einem solchen Winterunternehmen teilnahm.

„Oh, ihm wird schon nichts passieren“, sagte Tante Lizzie, als Leah ihr von ihren Sorgen erzählte.

„Wahrscheinlich mache ich mir zu viele Sorgen.“

„Ja, aber das tun alle Mütter“, antwortete Lizzie mit einem wissenden Lächeln.

Leah war schon eine ganze Weile aufgefallen, dass Lizzie sie nicht mehr „Liebes“ nannte, ihren Kosenamen für ihre leibliche Tochter über viele Jahre. Glaubte sie, dass Leah inzwischen zu alt für diesen Kosenamen sei? Sie wusste es nicht und verwarf diesen Gedanken, als sie anfingen, gemeinsam die Bibel aufzuschlagen und das vierundfünfzigste Kapitel des Buches Jesaja laut zu lesen. Als Leah zum letzten Vers kam, den Vers, der in Mamas alter Bibel unterstrichen war, fragte sie Tante Lizzie danach. „Hast du eine Ahnung, warum Mama diesen Vers unterstrichen hat?“

Lizzie schaute eine Weile auf ihren Schoß, dann hob sie das Gesicht und sagte langsam: „Meine Schwester Ida – deine geliebte Mama – wurde von Prediger Yoder vor vielen Jahren stark getadelt.“ Sie machte eine Pause und strich seufzend eine Falte in ihrer Schürze glatt. Dann sprach sie weiter: „Deine Mama hatte eines Tages, ohne dass von uns jemand etwas davon wusste, Diakon Stoltzfus aufgesucht ...“

„Nicht einmal Papa hatte davon gewusst?“

„Abram hätte sie mit allen Mitteln daran gehindert, wenn er eine Ahnung davon gehabt hätte.“

„Warum wollte Mama mit den Ältesten reden?“

Lizzie legte ihren Finger in die Bibel, um ihre Seite zu markieren. „Sie hatte viele Fragen ... mehrere Stellen in der Bibel warfen bei ihr viele Fragen auf.“

„Hat sie dir davon erzählt?“

Lizzie nickte. „Wir haben über vieles gesprochen. Nur wir beide.“

Leah wollte nicht zu neugierig wirken. „Ich hoffe, Mama bekam ihre Antworten.“

Lizzie richtete sich auf ihrem Stuhl auf und schlug die Bibel langsam wieder auf. „Das hat sie ... und einiges mehr.“

Leah atmete tief ein und las die unterstrichene Stelle noch einmal. Keiner Waffe, die gegen dich bereitet wird, soll es gelingen, und jede Zunge, die sich gegen dich erhebt, sollst du im Gericht schuldig sprechen.

Laut Tante Lizzie hatte Mama über Papas Kopf hinweg gehandelt und dem Prediger ihre Fragen gestellt, der sie offenbar ermahnt hatte, still zu sein. Mama war wegen ihrer Neugier getadelt worden ... nein, wegen ihres starken Hungers nach dem Herrn Jesus, ein Hunger, den Leah jetzt auch nach dem „lebendigen Brot“ hatte, wenn sie in Mamas geliebter Bibel las.

„Das Schlimmste daran war“, fügte Lizzie hinzu, „dass Ida die Beherrschung verlor.“

„Sie hat widersprochen?“

„Sie hat nicht aufgehört zu sprechen ... und noch mehr Fragen gestellt und versucht, sich zu verteidigen, als sie längst hätte schweigen sollen“, erklärte Lizzie. „Keine gute Idee, würde ich sagen. Dafür wurde ihr der Gemeindebann angedroht.“

Leah blieb die Luft weg. Sie begann Mamas tiefen Schmerz zu verstehen, als Sadie mit dem Gemeindebann belegt wurde. Als sie sich wieder gefangen hatte, sah sie eine Träne über Tante Lizzies Wange rollen.

„Manchmal ist es so schwer ...“

Leah streckte eine Hand aus, um Lizzie zu trösten. „Haben die Prediger Mama dann mit dem Bann belegt?“

„Sie standen kurz davor ... aber Abram gelang es, die Oberhand zu behalten, wenigstens bis sich der aufgewirbelte Staub wieder gelegt hatte und der Bischof sie nicht mehr so stark im Auge behielt.“ Lizzie bemühte sich, die Tränen, die sich bei ihr Bahn brechen wollten, zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht.

Leah reichte ihr ein Taschentuch, das sie aus ihrem Ärmel gezogen hatte, und bedauerte, dass sie ein so schmerzliches Thema angesprochen hatte.

* * *

Leah hörte aufmerksam zu, als Lydiann ihr zum wiederholten Mal aufgeregt erzählte, dass „wir heute Abend zu Carl fahren“. Die ganze Familie war warm eingepackt, und beide Sitzbänke des Einspänners waren ziemlich voll. Abe saß auf Leahs Schoß, und Lydiann und Sadie drückten sich eng zusammen, damit Papa, Tante Lizzie und Großvater Johannes vorne Platz hatten.

Ziemlich überraschend war am Freitag eine handgeschriebene Einladung von Dan und Dottie Nolt mit der Post gekommen. Zu Leahs noch größerem Erstaunen hatte Papa sie angewiesen, die Einladung anzunehmen. Sie war unsicher, wie das alles zustande gekommen war, obwohl sie von Lydiann ja genug vorgewarnt worden war. Trotzdem fand es Leah interessant, dass Carl es geschafft hatte, seine Eltern dazu zu bringen, ihre amischen Nachbarn zu Silvester einzuladen, wenn auch sicherlich mit Mary Ruths Hilfe. Leah konnte nur hoffen, dass ihnen nicht die mennonitische Lebensweise aufgezwungen würde. Das würde Papa nicht dulden.

Plötzlich fühlte sie sich richtig fröhlich und wackelte mit den Knien. Abe lachte. „Mama hat furchtbar spitze Knie“, sagte er, als sie ihn durchrüttelte.

Großvater Johannes drehte den Kopf in seine Richtung. „Sei lieber dankbar, dass du nicht auf meinen Knien sitzt, junger Mann.“

Das entlockte Lydiann ein Kichern. „Oh, Abe ... ich würde sagen, du solltest froh sein, dass du überhaupt einen Platz zum Sitzen hast. Oder würdest du lieber zu Fuß gehen?“

„So weit ist es zu den Nolts nicht“, erwiderte Abe.

„Weißt du noch, wie es war, als Abe noch ganz klein war?“, sagte Papa mehr zu Lizzie als zu den anderen. „Ich habe ihn und Lydiann immer gleichzeitig auf meine Knie gesetzt.“

„Ich erinnere mich“, rief Lydiann.

Leah musste lächeln. „Das halte ich kaum für möglich, Liebes.“

„Aber ich erinnere mich wirklich!“, beharrte Lydiann.

Großvater Johannes mischte sich ein: „Dann musst du aber sehr schlau sein, wenn du dich an etwas erinnerst, das passiert ist, als du noch Windeln anhattest.“

„Ach, Großvater!“, sagte Lydiann ein bisschen zu laut.

„Lyddie“, tadelte Papa sie über die Schulter.

„Pscht“, flüsterte Leah und legte die Hand auf die schwere Wolldecke, die auf Lydianns Schoß lag.

Lydiann murmelte leise etwas, sagte aber nichts mehr. Dafür war Leah dankbar. Es wäre nicht gut, eine vorlaute Lydiann dabeizuhaben. Nicht an diesem Abend! Nach Papas Schelten herrschte Schweigen. Man hörte nur das dumpfe, schwere Stapfen der Pferdehufe auf dem festgefahrenen Schnee. Schlittenglocken erklangen in der Ferne, das vom bekannten Klang einer Essensglocke untermalt wurde, als sie an einem amischen Bauernhaus vorbeifuhren.

Als sie bei den Nolts vorfuhren, fiel Leah auf, dass Carl am Wohnzimmerfenster stand und hinauslugte. Einen flüchtigen Augenblick lang erinnerte sie sich an ihre Aufregung als Mädchen, wenn sie Jonas und ihre anderen Vettern und Kusinen auf dem Hof der Familie Mast besucht hatten; dann stieg sie aus dem geschlossenen Einspänner und drehte sich um, um Lydiann und Sadie zu stützen, als diese ausstiegen und auf den Schnee traten.

Lydiann brauchte nicht lang, bis sie Carl ebenfalls gesehen hatte. „Schau dort, Mama“, sagte sie und zupfte an Leahs Arm. „Mein bester Freund wartet auf uns.“ Damit begann sie zu rennen, was Leah und zweifellos auch Tante Lizzie sehr in Verlegenheit brachte.

Papa band inzwischen das Pferd an einen Holzbalken, während Lizzie Großvater Johannes den frei geschaufelten Weg hinaufhalf, aber beide kamen nur sehr langsam voran.