Über das Buch:
Die 36-jährige Carol kann so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Sie arbeitet als Sozialpädagogin beim Jugendamt der Stadt Zürich, ist überzeugter Single und die Unabhängigkeit in Person. Doch dann gerät ihr Leben unvermittelt aus dem Gleichgewicht: Die Einladung zu einem Ehemaligentreffen macht ihr bewusst, dass sie keinerlei Erinnerung an ihr sechstes Schuljahr hat. Und die Informationen, die sie beim Klassentreffen bekommt, sind nicht gerade beruhigend. Scheinbar hat Carol auch ihren damals besten Freund Peter vollkommen aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Als Carol ein Zettel mit der Botschaft „Ich weiß, weshalb du dich nicht mehr erinnern kannst“ zugespielt wird, beginnt sie, Nachforschungen anzustellen. Was ist mit ihr und Peter geschehen? Wurde ihnen etwas angetan? Oder hat sie selbst Schuld auf sich geladen?
Die Suche nach den Puzzlestücken ihrer Vergangenheit erweist sich als schwierig, denn Peter scheint wie vom Erdboden verschluckt und dann ist da auch noch der anonyme Zettelschreiber, der Carol nicht aus den Augen lässt ... Kann ihre frühere Schulfreundin Andrea Licht in das Dunkel bringen?

Über die Autorin:
Mirjam Schweizer ist verheiratet, Mutter von zwei Töchtern und lebt in der Schweiz. Die gelernte Krankenschwester arbeitet seit über zehn Jahren als Finanzfachfrau in der öffentlichen Verwaltung.
Neben Lesen und Diskutieren ist das Austüfteln von kriminalistischen Rätseln ihre liebste Freizeitbeschäftigung.

Kapitel 7

Samstag, 6. Juli, 18.40 Uhr

Das Restaurant Rigiblick thronte hoch über den Dächern von Zürich am Rande des als snobistisch verschrienen Zürichbergquartiers mit seinen prunkvollen Villen, die sich hinter großräumigen Gartenanlagen verbargen. Bis 1976 vom Zürcher Frauenverein als alkoholfreie Gaststätte geführt, hatte das Restaurant in den Sechziger- und Siebzigerjahren eher einer Militärkantine als einem edlen Gourmettempel geglichen. Doch seit der vollständigen Renovierung im Jahr 2004 und der Übernahme durch einen Spitzenkoch mit fünfzehn Gault Millau-Punkten hatte sich das im Biedermeierstil erbaute Gebäude immer mehr auch zum Ausflugsziel für gehobenere Ansprüche gemausert.

Carol japste erstaunt nach Luft, als sie das schicke, in hellem Weiß erstrahlende Bauwerk mit dem turmartigen Gebilde links neben dem Haupthaus erblickte. In ihrer Erinnerung hatte sie das Restaurant Rigiblick als schmuckloses Nullachtfünfzehn-Gebäude mit fleckigen grauen Mauern und einer tristen rechteckigen Terrasse gespeichert. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr, bevor ihre Mutter wieder zu arbeiten begonnen hatte, waren sie an den freien Mittwochnachmittagen oft zusammen zum Rigiblick spaziert, hatten dort etwas Kleines gegessen und getrunken, und Carol hatte sich danach auf dem nahe gelegenen Kinderspielplatz mit der großen Schaukel ausgetobt. Jetzt war der Kinderspielplatz verschwunden, dafür ragte eine elegant geschwungene, halbkreisförmige Terrasse in edlem Holz und Bambus, die von schlanken grünen Stahlpfeilern gestützt wurde, weit über den Vorplatz bis knapp an den Rand des steilen Zürichberghangs.

Die Festbänke und Lounges auf dem Vorplatz waren alle besetzt. Suchend blickte Carol sich um. Das Publikum waren vor allem eifrig plaudernde Senioren und Familien mit kleinen Kindern. Dazwischen war auch hin und wieder ein Pärchen zwischen vierzig und fünfzig zu sehen. Keine Jugendlichen, keine jungen Leute. Keine Spur von ihren ehemaligen Klassenkameraden.

Sie quetschte sich zwischen einem Kinderwagen auf drei Rädern und einem elektrischen Rollstuhl durch. Irgendwo musste die Gesellschaft doch stecken. In den vergangenen zehn Minuten hatte sie sich wohl kaum in Luft aufgelöst. Carol schüttelte über sich selbst den Kopf. Weshalb brockte sie sich durch ihr ständiges Zuspätkommen nur immer solche Unannehmlichkeiten ein? Aber anscheinend ging es einfach nicht anders. Immer kamen ihr im letzten Moment noch die unmöglichsten Dinge in den Sinn. Heute hatte sie beim Verlassen des Hauses plötzlich das Gefühl gehabt, dass es besser war, wenn sie die Haare nicht offen trug, sondern hochsteckte. Sie war noch einmal umgekehrt, hatte sich ihr lockiges, knapp schulterlanges Haar mit geübten Bewegungen einmal um den Handteller gewunden und es anschließend mit einer mahagonifarbenen Klammer am Hinterkopf festgesteckt. Dadurch hatte sie den Bus verpasst, aber es hatte sich gelohnt – sie fühlte sich besser als zuvor und dieses Gefühl verlieh ihr die trügerische Zuversicht, dass sie für alles, was ihr an diesem Abend begegnen würde, gewappnet war.

„Hallo, Carol, hier sind wir!“ Carol zuckte zusammen, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Reflexartig schaute sie hoch und erblickte einen Mann, der sich über die elegant geschwungene Holzbalustrade der Terrasse beugte und ihr gut gelaunt zuwinkte. Sie erkannte ihn sofort. Stefan. Er hatte noch immer dasselbe jungenhafte Gesicht mit dem spitzbübischen Grinsen, das unschuldig und wissend zugleich wirkte. Und in diesem Moment spulte sich, Nebelfragmenten gleich, eine Szene in ihrem Gedächtnis ab, die sie weder chronologisch einordnen noch in einen sinnvollen Zusammenhang setzen konnte.

„Wollt ihr wissen, wie die Geschichte ausgeht?“, fragt Stefan seine Mitschüler, die ihm gebannt zuhören. Carol wirft einen Blick in die Runde, sieht aber nur verschwommene Gesichter. „Der Maler wird immer reicher“, fährt Stefan fort, ohne eine Reaktion abzuwarten. „Bald schwimmt er fast so in seinem Geld wie Dagobert Duck. Aber die schöne Lady kann er damit nicht gewinnen. Sie reist ab und er sieht sie nie wieder. Kurz danach dreht er durch. Er isst nichts mehr und trinkt nichts mehr. Stattdessen zählt er nächtelang sein Geld, klimpert mit den Münzen, baut ganze Türme von Geldscheinen vor sich auf. Schließlich stirbt er. Und seitdem geistert er durch die Räume des alten Gebäudes. Manchmal hört man es rascheln, dann klimpern, dann scheppern. Er zählt sein Geld, schichtet es um, wirft die Münzen an die Wände. Ich kenne jemanden, der es mit eigenen Ohren gehört hat. Echt gruselig, sage ich euch.“

„Brr“, sagt Regina, die direkt neben Carol steht. Carol sieht nur ihre Augen. Sie sind groß und blau und erinnern ein wenig an die einer Märchenfee. „Mich würden keine zehn Pferde dorthin bringen. Nicht einmal bei Tageslicht, das kann ich euch versprechen.“

„Am Tag passiert dir nichts“, sagt Stefan beruhigend. „Man hört ihn nur in der Nacht. Und auch nur bei Vollmond oder wenn es stürmt.“

„Das glaube ich nicht.“ Das ist Dieters Stimme. Mit einem Mal sieht Carol sein Gesicht gestochen scharf vor sich. Sie kann ihn nicht leiden – er hat etwas Heimtückisches an sich, das er jedoch geschickt vor den anderen verbergen kann. „Für die nächtlichen Geräusche gibt es eine viel einfachere Erklärung: Bei alten Häusern ist das einfach so, irgendwo knackt und knarrt immer etwas – Dielenbretter, Fensterläden, ein Luftzug, der hindurchfährt. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass dort ganz sicher kein Gespenst umgeht.“

Stefan lächelt listig. „Dann würdest du also problemlos eine Nacht dort verbringen, wenn ich dich richtig verstanden habe, oder?“

„Carol, träumst du? Wir sind hier oben auf der Terrasse!“ Schlagartig verblasste die Erinnerung und Carol kehrte in die Gegenwart zurück. Sie sah, dass Stefan immer noch an der Balustrade stand und ihr fröhlich zuwinkte.

Mechanisch hob sie die Hand und winkte zurück. Was war das eben gewesen? Kehrte ihre Erinnerung jetzt vielleicht zurück? Krampfhaft versuchte sie, sich die verschwommenen Gesichter ihrer Mitschüler, die in ihrem Erinnerungsfragment aufgetaucht waren, zu vergegenwärtigen.

Hatte der namenlose Junge vom Foto auch in der Runde gestanden? Und von welchem alten Gebäude war in Stefans Geschichte die Rede gewesen? Hatte Dieter tatsächlich eine Nacht dort verbracht oder hatte er die Herausforderung nicht angenommen?

Wie ein Roboter schritt sie zur Treppe, die auf die Terrasse führte. Ein altes Gebäude. Nächtliche Geräusche. Schüler, die im Kreis standen. Sie musste sich einfach erinnern. Dieter war dabei gewesen, Stefan, Regina – weshalb sah sie denn die anderen Gesichter nicht klar vor sich? Geduld, ermahnte sie sich, während sie die letzten Treppenstufen erklomm. Bald ist es so weit. Ich werde meine Antworten kriegen, und wenn ich sie dem namenlosen Jungen einzeln aus der Nase ziehen muss!

„Carol, wie üblich die Letzte!“ Stefan eilte auf sie zu, umarmte sie und gab ihr die obligaten drei Küsschen auf die Wangen. Er war nur wenig größer als sie, dafür kräftig gebaut. Aus der Nähe sah sein Gesicht noch jungenhafter aus. Seine Augen strahlten. Er fühlte sich in seinem Element.

„Unsere Runde ist nicht allzu groß“, fügte er lebhaft hinzu, „dafür wird unser Abend so richtig schön familiär.“

Carols Augen überflogen die Gesichter der sechs am Tisch sitzenden Personen. Sie kannte alle. Francesca Caprio, Andrea Kellermann, Gregor Beglinger, Dieter Haller, Regina Liedtke und Mark de Fries. Sie verspürte einen leichten Stich in der Brust.

Der namenlose Junge vom Foto war nicht aufgetaucht.

Mit dieser Möglichkeit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Sie hatte sich alles so einfach vorgestellt. Sie würde dem Jungen, besser gesagt, dem Mann, zu dem sich der Junge entwickelt hatte, in die Augen blicken, ihre Erinnerung würde zurückkehren und sie könnte dieses Kapitel aus ihrer Vergangenheit mit einem belustigten Lächeln abhaken. Sie hatte sich bereits lebhaft vorgestellt, wie sie sich mit Sofia über den Nullachtfünfzehn-Jungen, der zu einem Nullachtfünfzehn-Mann mit eingefleischten Gewohnheiten mutiert war, amüsieren würde. Und jetzt hatte er ihr durch sein Nichterscheinen einfach einen Strich durch die Rechnung gemacht.

„Bin ich wirklich die Letzte?“, fragte sie Stefan mit dünner Stimme, bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.

„Ja, aber du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen.“ Stefan, der ihre Frage falsch gedeutet hatte, klopfte ihr lachend auf die Schulter. „Weißt du noch? Du kamst eigentlich immer als Letzte auf den Pausenplatz, keine Ahnung, was du immer noch so lang im Klassenzimmer herumgetrödelt hast. Oder nach dem Sport – da bist du regelmäßig zu spät zur nächsten Stunde eingetrudelt, ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, haha!“

Carol lächelte, aber das Lächeln blieb in ihren Mundwinkeln stecken. „Stimmt, jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich ebenfalls“, erwiderte sie langsam. „Herr Bachmann hat mit allen Mitteln versucht, mich zur Eile anzutreiben, aber er war nicht sehr erfolgreich, wie man sieht.“ Sie hielt inne und umfasste dann mit einer lockeren Handbewegung die am Tisch sitzende kleine Gesellschaft. „Erwartest du noch weitere Leute oder sind wir komplett?“

„Nein, das sind alle.“ Stefan zuckte bedauernd mit den Schultern. „Ich hätte mich auch gefreut, wenn sich mehr Leute angemeldet hätten, aber anscheinend habe ich den Zeitpunkt schlecht gewählt. Einige befinden sich mit ihren Familien bereits in den Sommerferien, andere feiern sonst wo eine Party und wieder andere hatten, wie’s scheint, einfach keine Lust zu kommen. Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, alle ehemaligen Kameraden möglichst lückenlos aufzutreiben. Das war nämlich gar nicht so einfach.“ Er fuhr sich mit der linken Hand durch sein kurz geschnittenes hellbraunes Haar und lächelte. „Ich habe beim Volksschulamt eine Liste mit den Namen unserer ehemaligen Mitschüler beantragt. Dazu musste ich erst ein ellenlanges Formular ausfüllen und zusammen mit einer Kopie meiner Ausweispapiere einreichen. Als ich die Klassenliste endlich hatte, fing die Arbeit erst richtig an. Recherchen im Internet, Dutzende von Anrufen bei Familienangehörigen oder Leuten mit demselben Nachnamen. Es war echt eine mühselige Arbeit, vor allem bei den Mädels, die ja teilweise geheiratet haben und nicht mehr unter ihrem alten Nachnamen zu finden waren.“

Carol nickte. „Das kann ich mir vorstellen“, sagte sie nachdenklich. „Hast du alle gefunden?“

„Alle, bis auf Peter Müller. Und wie du dir bestimmt vorstellen kannst, war das ein echter Rückschlag für mich, wo ich mich doch schon in der Rolle als neuer, verjüngter Josef Matula gesehen habe.“ Er grinste spitzbübisch. „Ein Fall für zwei ist meine Lieblingsserie, musst du wissen. Und Claus Theo Gärtner als Josef Matula finde ich einfach genial!“

Peter Müller. Josef Matula. Claus Theo Gärtner.

Peter Müller. Carols Kopf fühlte sich plötzlich leer an. Der namenlose Junge auf dem Foto. Wie ein Ungeheuer aus der Tiefe tauchte das Gesicht von dem Foto vor ihrem inneren Auge auf, das dunkle, leicht gewellte Haar, die ebenmäßigen Gesichtszüge, sein verkrampftes Lächeln. Doch sosehr sie sich auch mühte, sie konnte seinem Gesicht einfach kein Leben einhauchen. Alles, was sie sah, war das angespannte Gesicht vom Foto, diese Augen, die entweder etwas zu verbergen oder schon zu viel gesehen hatten.

„Carol, geht es dir nicht gut?“, drang Stefans Stimme wie aus weiter Ferne an ihr Ohr.

Sie zuckte zusammen, dann atmete sie tief durch. „Nein, nein, es geht schon“, sagte sie schnell, „mir ist etwas schwindlig, wahrscheinlich, weil ich seit heute Mittag nichts mehr gegessen habe. Sobald ich etwas zu mir genommen habe, fühle ich mich mit Sicherheit wieder topfit.“ Sie lächelte Stefan zu, dann steuerte sie an ihm vorbei zu dem Tisch, an dem sich ihre ehemaligen Klassenkameraden bereits angeregt miteinander unterhielten.

Peter Müller. Wer ist Peter Müller?, hämmerte es ununterbrochen gegen ihre Schläfen, während sie die Runde machte und alle mit Küsschen rechts – Küsschen links – Küsschen rechts begrüßte. Peter Müller. Pe-ter Mül-ler. P-e-t-e-r M-ü-l-l-e-r. Wer ist Peter Müller?

Kapitel 8

Samstag, 6. Juli, 18.55 Uhr

„Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid.“ Stefan klopfte an sein Proseccoglas und wartete, bis er die volle Aufmerksamkeit seiner ehemaligen Schulkameraden hatte. „Es hat großen Spaß bereitet, dieses Treffen zu organisieren“, fuhr er fröhlich fort, „auch wenn ich mir manchmal eher wie ein Detektiv als wie ein biederer Versicherungsfachmann und Familienvater vorkam.“

Carol nippte an ihrem Orangensaft, den ihr ein überhöflicher Kellner mit steifem Gesicht vor fünf Minuten gebracht hatte, und beobachtete die Leute am Tisch. Sie hatte sich auf den freien Platz neben Regina am rechten Tischende gesetzt. Direkt ihr gegenüber saß Mark de Fries und neben ihm Dieter Haller, gefolgt von Gregor Beglinger und Francesca Caprio. Stefan hatte am linken Tischende, gegenüber von Francesca, Platz genommen. Und schließlich Andrea – sie hatte sich zwischen Stefan und Regina niedergelassen.

„Bei den Jungs war es ja noch relativ einfach, da konnte ich die Namen einfach googeln oder über das elektronische Telefonverzeichnis auftreiben.“ Stefan war ganz in seinem Element. „Aber bei den Mädels gestaltete sich die Sache schon schwieriger. Na ja, nicht bei allen, aber bei jenen natürlich, die sich in der Zwischenzeit unter die Haube begeben und den Namen ihres Mannes angenommen haben. Francesca und Andrea“, er zwinkerte den beiden zu, „habe ich glücklicherweise ziemlich schnell ausfindig machen können, weil ihre Eltern noch an derselben Adresse wohnen wie vor vierundzwanzig Jahren, aber bei Jolanda musste ich schon alle meine detektivischen Fähigkeiten in die Waagschale werfen, um an ihren neuen Namen und ihre Anschrift zu kommen.“

„Und? Wie hast du es schließlich bewerkstelligt?“, fragte Francesca interessiert.

Carol hörte nur mit halbem Ohr zu. Verstohlen musterte sie die Gesichter ihrer ehemaligen Klassenkameraden.

Francesca hatte immer noch dasselbe leicht borstige blonde Haar, nur dass sie es heute nicht mehr zu einem Zopf geflochten trug, sondern kurz geschnitten, mit unzähligen rötlich eingefärbten Strähnen. Zwischen dem Kragen ihrer hellen Knitterbluse und dem Haaransatz lugte ein dunkel eingefärbtes Tattoo hervor, das diagonal über ihren Nacken lief und aus verschiedenen kunstvoll verschnörkelten Einzelzeichen bestand. Ihr Gesicht war breit und ebenmäßig und ihre leicht nach oben weisenden Mundwinkel deuteten darauf hin, dass sie dem Leben mehr positive als negative Seiten abgewinnen konnte. Gregor neben ihr wirkte wie der typische Geschäftsmann. Er trug einen leichten Sommeranzug aus cremefarbenem Leinen und ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen. Sein braunes, leicht gewelltes Haar lichtete sich vorne bereits ein wenig, wodurch er älter wirkte, als er tatsächlich war. Auch Dieter hatte bereits Geheimratsecken und in seinem Gesicht hatten sich Spuren eingegraben, die von Enttäuschung, ausschweifendem Lebenswandel und Zynismus zeugten. Mark hingegen hätte glatt einem Hochglanzmagazin für Filmstars und A-Promis entsprungen sein können. Breitschultrig, kantiges Gesicht, halblanges, locker frisiertes dunkles Haar und ein intensiver Blick aus geheimnisvollen grün-grau schillernden Augen.

„… dass Jolandas Eltern vor fünf Jahren nach Basel gezogen sind“, drang Stefans Stimme aus weiter Ferne zu Carol durch. „Dort leben sie auch heute noch und so kam ich schlussendlich dann doch noch zu ihrem neuen Nachnamen und ihrer aktuellen Adresse. Sie wohnt in der Ostschweiz, in Chur. Leider beginnen dort die Sommerferien eine Woche früher als bei uns und Jolanda hatte den Urlaub an der Adria bereits gebucht, als ich die Einladungen zu unserem Klassentreffen verschickt habe.“

„Schade“, sagte Regina bedauernd. „Ich hätte sie gern wiedergesehen.“

Carol verlagerte ihre Sitzhaltung ein wenig nach links und betrachtete Regina diskret von der Seite. Sie strahlte feminine Eleganz und Weichheit aus. Langes hellbraunes Haar umrandete ein Gesicht mit sanft gerundeten Wangen. Sie war dezent geschminkt und teuer gekleidet – eine weiße Kurzarmbluse von Joop mit Paillettenknopfleiste, Armani-Jeans und flache Riemchensandaletten von Prada. Andrea neben ihr sah dagegen wie ein graues Mauerblümchen vom Land aus. Spröde Haut, farblose Kleidung, müde Gesichtszüge. Selbst ihr dichtes, honigblondes Haar wirkte matt und strohig.

Ein seltsam schmerzlicher Stich fuhr durch Carols Brust. Was war bloß aus ihrer ehemaligen Freundin geworden? Welche Enttäuschungen hatte sie erlebt, dass sie derart müde und entmutigt wirkte?

„Du scheinst dich da ja ziemlich reingekniet zu haben.“ Gregors Stimme klang kultiviert und ließ auf eine gute Kinderstube schließen. Elegant angelte er nach einem länglichen Stück Salzgebäck und schwenkte es wie einen Zigarettenstummel zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. „War bestimmt ein Erfolgserlebnis, uns alle ausfindig gemacht zu haben.“

„Na ja“, Stefan zögerte einen kurzen Moment, „wie ich zu Beginn schon gesagt habe – einen gibt es, den ich auch mit allen detektivischen Kunstkniffen nicht aufspüren konnte. Peter Müller ist wie vom Erdboden verschluckt. Eine wirklich seltsame Geschichte.“

„Ehrlich?“, fragte Dieter. „Wie das denn?“

Stefan machte eine weit ausladende Handbewegung. „Ich gebe seinen Namen im elektronischen Telefonverzeichnis ein und was passiert? Das System spuckt über tausenddreihundert Personen aus, die Peter Müller heißen. Ich gebe also die Adresse ein, wo er vor vierundzwanzig Jahren gewohnt hat, in der Hoffnung, dass jemand aus seiner Familie vielleicht immer noch dort wohnt. Leider Fehlanzeige – in der Fichtenstraße 12 gibt es keine Person mit Namen Müller. Da ich wegen Jolanda ohnehin beim Einwohnermeldeamt vorstellig werden muss, erkundige ich mich dort auch gleich nach Peters Familie. Und jetzt geschieht etwas Seltsames. Die nette Dame am Schalter findet keine Familie Müller in der Fichtenstraße 12, egal, wie viele Jahre sie sich auch in die Vergangenheit klickt. Sie fragt mich, ob die Adresse auf der Klassenliste nicht vielleicht fehlerhaft sein könnte. Da ich das nicht mit Sicherheit ausschließen kann, sucht sie alle Personen heraus, die vor vierundzwanzig Jahren in der Fichtenstraße gewohnt haben. Und siehe da, sie wird tatsächlich fündig! In der Fichtenstraße 10 gab es eine Familie Müller, die jedoch im Jahr 1998 nach Lausanne umgezogen ist. Sie gibt mir die neue Adresse, ich schaue wieder im elektronischen Telefonverzeichnis nach, aber es ist wie verhext: Familie Müller ist nicht mehr in Lausanne wohnhaft, sondern schon wieder umgezogen. Und dann habe ich zähneknirschend aufgegeben. Mein Schulfranzösisch ist derart grauenhaft, dass es nicht den geringsten Sinn gemacht hätte, mich durch irgendwelche französischsprachigen Ämter zu kämpfen, um an weitere Informationen zu gelangen.“

„Seltsam“, sagte Dieter nachdenklich, „das mit der Adresse, meine ich. Haben die beim Volksschulamt vielleicht einen Tippfehler gemacht?“

„Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“ Francesca unterstrich ihre Worte mit heftigem Kopfschütteln. „Ich habe selbst mal beim Volksschulamt gearbeitet, die gehen sehr sorgsam mit ihren Daten um.“

„Carol, du warst doch mit Peter befreundet – hast du keinen Kontakt mehr zu ihm?“, fragte Mark.

„Was?“ Wie von einer Tarantel gestochen fuhr Carol herum. „Ich soll mit ihm befreundet gewesen sein? Das ist ganz und gar unmöglich. Ich kann mich ja nicht einmal mehr an ihn erinnern!“

„Du machst Witze!“, rief Dieter ein wenig ungeduldig. „Komm, spann uns nicht auf die Folter, bestimmt seid ihr auch heute noch die dicksten Freunde!“

„Nein.“ Carol schüttelte vehement den Kopf. „Ich kann mich wirklich nicht mehr an ihn erinnern. Und die einzige Erklärung, die ich dafür habe, ist, dass er ein solcher Langeweiler gewesen sein muss, dass ich ihn schlicht und einfach aus dem Gedächtnis gestrichen habe.“

„Du weißt echt nicht mehr, dass du in der sechsten Klasse sozusagen jede Pause mit ihm verbracht hast?“ Gregor musterte sie befremdet.

„Und ein Langeweiler war er auch nicht, im Gegenteil.“ Francesca reckte den Kopf vor, um sich besser Gehör zu verschaffen. „Als er neu in unsere Klasse kam, waren wir alle hin und weg. Er war gutaussehend, verschlossen und geheimnisvoll. Wir Mädchen hätten alle wer weiß was dafür gegeben, wenn er sich für uns interessiert hätte. Aber er hat sich ausgerechnet dich ausgesucht, obwohl du so ziemlich die Einzige warst, die ihn nicht anhimmelte.“

„Wenn ich mich nicht täusche, hattet ihr denselben Heimweg“, warf Mark ein. „Ihr wart schon nach kurzer Zeit ein eingeschworenes Zweiergespann und wir haben immer ein wenig über euch gelacht, aber eigentlich waren wir alle neidisch auf eure Freundschaft.“

Carol blickte an ihm vorbei auf den dunkelgrün schimmernden Hügelzug der Albiskette, die sich am Ufer des Zürichsees entlang weit nach Osten erstreckte und dort in die voralpinen Gipfelkämme des Glärnischmassivs überging. Der Kontrast zwischen dem strahlend blauen Himmel und den dunklen Wäldern war so gestochen scharf, dass sie fast jeden einzelnen Baum am Horizont erkennen konnte. Langsam wandte sie den Blick wieder zurück auf Mark und schaute ihm direkt in die Augen. „Das kann einfach nicht sein. Ich sehe weder sein Gesicht vor mir noch kommen mir irgendwelche Situationen aus dem Schulalltag in den Sinn, in denen er eine Rolle gespielt hätte. Wann ist er denn zu unserer Klasse dazugestoßen?“

„Das war im Sommer 1987“, mischte sich Andrea ins Gespräch ein, während aller Augen gebannt auf Carol gerichtet waren, „zu Beginn des sechsten Schuljahres. Kannst du dich noch daran erinnern, dass du und ich damals befreundet waren?“

Carol nickte nachdenklich. „Ja, das kann ich. Ich war, glaube ich, eher eine Einzelgängerin, doch wenn ich mit jemandem auf dem Schulhof zusammen war, dann mit dir. Und wir haben uns auch hin und wieder in der Freizeit getroffen, nicht wahr?“

„Ja, genau.“ Andrea ergriff ihr Proseccoglas und schwenkte es wie einen Dirigentenstock durch die Luft. „Peter kam nach den Sommerferien zu uns in die Klasse. Wir Mädels haben ihn angehimmelt, er war nämlich wirklich süß, so groß und stark, und er hatte die schönsten Augen, die man sich vorstellen kann: ganz dunkel und geheimnisvoll. Die Jungs haben ihn ebenfalls gemocht, weil er in Sport so gut war. Aber ihn hat das alles nicht groß gekümmert. Er nahm es zur Kenntnis, aber es war ihm egal. Und dann mussten wir diese Buchpräsentation machen, das war, glaube ich, vor den Herbstferien. Darüber habt ihr euch gefunden, du und er, und das hat euch beide verändert.“

„Buchpräsentation?“, fragte Carol verständnislos.

„Immer zwei Schüler mussten gemeinsam ein Buch vorstellen. Herr Bachmann hatte eine Bücherliste im Klassenzimmer aufgehängt, dort konnte man sich freiwillig eintragen. Es waren größtenteils bekannte Jugendbücher, wie Robinson Crusoe, Robin Hood, Prinz und Bettelknabe, David Copperfield, Onkel Toms Hütte, Heimatlos, Richard Löwenherz, Lederstrumpf und so weiter. Darunter war ein Titel, über den wir alle gelacht haben: Wer die Nachtigall stört, von Harper Lee. Nur du und Peter habt nicht darüber gelacht. Ihr habt euch für diese Präsentation eingetragen und nach dieser Präsentation hatte sich etwas verändert. Ihr wart oft zusammen, aber nicht so wie ein verliebtes Pärchen, sondern eher wie Geschwister, unzertrennlich, und einer immer für den anderen da. Und ihr wurdet beide ganz allgemein offener, fröhlicher, lustiger und habt euch auch besser in den Klassenverband integriert.“

Wer die Nachtigall stört. Ein kalter Schauder jagte über Carols Rücken. Wie leuchtende Blitze zuckten einzelne Szenen aus dem Buch durch ihren Kopf. Thomas Robinson, wie er vor Gericht seine rechte Hand zum Schwur hebt, während seine verkrüppelte Linke von der Bibel auf den Tisch des Gerichtsdieners zurückrutscht. Der gespenstisch bleiche Boo Radley. Das hohle Astloch im Baum, in dem Scout und Jem jeweils Geschenke gefunden haben. Scout, wie sie in ihrem Schinkenkostüm über eine Wurzel stolpert und danach von Mr Ewell angegriffen wird. Jem, der den Garten von Mrs Dubose verwüstet. Der tollwütige Hund, der das ganze Quartier in Angst und Schrecken versetzt und danach von Atticus erschossen wird. Und zwischen den Buchszenen geisterte ein Gesicht durch die Tiefen ihrer Erinnerung. Ein Jungengesicht. Angespannt, intelligent, engagiert. Er hatte sich so über die Ungerechtigkeit in der Welt aufgeregt. Er konnte es nicht verwinden, dass Thomas Robinson trotz erwiesener Unschuld nicht freigesprochen, sondern verurteilt worden war. Und er hatte ihr gesagt, dass er die Welt verändern, besser machen wollte. So etwas durfte nie, nie wieder passieren.

„Er wollte Anwalt werden“, sagte Carol wie aus weiter Ferne. Ihre eigene Stimme kam ihr völlig fremd vor. „Oder Polizist. Er wollte die Welt verändern. Soziale Ungerechtigkeit war für ihn das Schlimmste überhaupt.“

„Deine Erinnerung kehrt zurück?“, fragte Regina überrascht.

Carols Kopf wurde plötzlich leer. Das Gesicht verblasste, löste sich in seine Konturen auf.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie kläglich, „da war so ein Fragment, das aus der Tiefe aufgetaucht ist, aber jetzt ist plötzlich alles wieder weg.“

„Tja, wir werden halt alle älter“, Stefan lachte und ahmte mit seiner rechten Hand, die das Proseccoglas umschlossen hielt, eine parkinsonsche Zitterattacke nach. „Bei dir hat einfach die Vergreisung ein wenig früher eingesetzt als bei uns anderen, sehe ich das richtig?“

Dieter, Gregor, Regina und Francesca brachen in lautes Gelächter aus.

„Ich weiß nicht, was ihr daran lustig finden könnt“, sagte Mark, als sich alle wieder ein wenig beruhigt hatten. „Das sieht doch ein kleines Kind, dass dies eine Form von posttraumatischer Amnesie ist und nicht einfach eine harmlose Vergreisungserscheinung.“

„Haha, seht mal, unser Mark ist unter die Psychofritzen gegangen!“ Dieter versetzte Mark einen kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter. „Gleich diagnostiziert er bei mir eine multiple Persönlichkeitsstörung, bei Stefan eine akute Psychose, bei Regina eine Soziophobie, bei Andrea – hm, was könnte er bei Andrea finden?“

„Ein Borderline-Syndrom?“, schlug Regina vor.

„Das ist nicht lustig“, wiederholte Mark. „Meine Frau ist Fachärztin für Psychiatrie und behandelt in ihrer Praxis vor allem Leute, die schwere Traumata erlebt haben – Opfer oder Zeugen von Gewaltverbrechen, Missbrauch, Unfällen und was es noch so alles an schlimmen Dingen gibt. Sie hat mir erzählt, dass es zuweilen vorkommt, dass sich ihre Patienten weder an die Situation selbst noch an die dabei involvierten Personen erinnern können. So als wäre das traumatische Ereignis nie geschehen.“

Carol spürte, wie ihr die Farbe aus den Wangen wich. „Du meinst …?“ Sie wagte es nicht, die Frage zu Ende zu stellen.

Dieter beugte sich zu Carol vor und sein stechender Blick wanderte von ihrem Gesicht über den Hals bis zu ihrem Dekolleté und wieder zurück. „Lass dich von einer kleinen Gedächtnisstörung nicht gleich zum Psychiatriepatienten machen. Vergiss Peter und seine Weltverbesserungsversuche. Carpe diem – lebe im Hier und Jetzt, alles andere ist Unsinn.“

„Dieter hat recht.“ Francesca beugte sich ebenfalls vor. „Es ist wirklich nicht nötig, gleich den Teufel an die Wand zu malen. Traumata, Verdrängung – muss es denn unbedingt so was Dramatisches sein? Vielleicht hatten Carol und Peter einfach einen ganz normalen Streit und daraufhin hat Carol beschlossen, ihn aus ihrer Erinnerung zu streichen.“

„Oder es ist etwas Peinliches passiert“, warf Regina ein. „Etwa in der Art, dass du Peter deine Gefühle offenbart hast, und er dich hat abblitzen lassen oder so.“

Carol lachte ungläubig auf. „Nein, das ist ganz und gar unmöglich! Ich habe mich zu dieser Zeit doch überhaupt nicht für Jungs interessiert!“

„Wenn ich du wäre, würde ich der Sache auf den Grund gehen“, insistierte Mark. „Es ist alles andere als normal, dass man eine Person, mit der man derart intensiv befreundet war, einfach so vergisst. Vielleicht könntest du dich mal mit meiner Frau treffen, ich kann sie dir als Therapeutin nur empfehlen. Warte, vielleicht habe ich sogar eine Karte von ihr dabei.“

Er zog seine Geldbörse aus der Hosentasche, wühlte sich durch die verschiedenen Fächer und förderte endlich eine an den Ecken schon leicht eingerissene Visitenkarte zutage. „Hier“, er streckte sie Carol hin, „das ist die Praxisadresse meiner Frau. Du kannst sie jederzeit anrufen und einen Termin mit ihr vereinbaren.“

Carol nahm die Karte entgegen und drehte sie gedankenverloren zwischen den Fingern hin und her. „Ich werde es mir überlegen“, sagte sie zögernd, während ihre Augen ziellos von einem Gesicht zum anderen hüpften. Trotz der Hitze war ihr eiskalt. Was, wenn Mark recht hatte? Wenn damals in der Vergangenheit tatsächlich etwas Ungeheuerliches passiert war, etwas, das sie mit allen Mitteln zu verdrängen versucht hatte?

„Seht mal, da kommt ja unser Essen!“, rief Stefan plötzlich. Wie aus dem Nichts war der überhöfliche Kellner mit dem steifen Gesicht aufgetaucht. In seinen Händen balancierte er drei kunstvoll garnierte Teller. Hinter ihm folgten zwei weitere Kellner mit den restlichen fünf Tellern.

Stefan lächelte entzückt. „Die Kleine Vorspeisenvariation mit Fisch, Fleisch und vegetarischen Köstlichkeiten. Leute, da kann ich nur sagen: Vergessen wir sämtliche Gedächtnislücken und anderen Vorfälle und hauen wir einfach rein!“ Er wartete, bis alle Teller verteilt und sämtliche Gläser mit Weißwein gefüllt waren, dann brachte er einen frisch-fröhlichen Trinkspruch auf alte Kameraden und wiedergefundene Schulfreunde aus und eröffnete das Diner.

Erleichtert registrierte Carol, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit von ihr wegbewegte und dem Essen zuwandte. Sie entspannte sich ein wenig und begann mit Mark, Dieter und Regina über ihre beruflichen Werdegänge, Familiensituationen und Lebensziele zu plaudern.

Die Zeit verging wie im Flug. Auf die Vorspeise folgte eine Dreiviertelstunde später der Hauptgang. Rinderfiletsteak mit Rotwein-Schalottenbutter, Topinambur-Kartoffelgratin und gebratenem Wurzelgemüse an Balsamicojus. Die Weißweingläser wurden durch Rotweingläser ersetzt. Wieder brachte Stefan einen Trinkspruch aus, diesmal auf die gute Stimmung und den weiteren Verlauf des Abends.

Als um halb zehn der Nachtisch gebracht wurde, stellte Carol verwundert fest, dass die Sonne bereits untergegangen und die Hügelzüge auf der anderen Seite des Zürichsees zu tiefschwarzen Schemen geworden waren. Der Himmel war metallisch blau, fast leuchtend, aber in diesem Leuchten lauerten die verborgenen Schatten der Nacht. Wie auf ein geheimes Kommando hin gingen in diesem Moment die Gartenleuchten an und die Terrasse erstrahlte im gedämpften Licht der schlichten Designerlampen.

Gedankenverloren griff Carol nach ihrer Cappuccinotasse, die einer der steifbeinigen Kellner vor wenigen Augenblicken vor sie hingestellt hatte. Doch plötzlich stockten ihre Hände mitten in der Bewegung. Auf der Untertasse befand sich ein kleiner, zusammengefalteter Zettel, der nicht ins Bild passte. Ihre Augen glitten über die glatte weiße Fläche der Untertasse. Der Kaffeelöffel, die farbige Zuckertüte und das dunkelbraune Schokoladenplätzchen gehörten unverkennbar dazu. Aber der unscheinbare, zusammengefaltete Zettel hatte hier, auf ihrer Untertasse, nichts zu suchen. Vielleicht ein Notizzettel, der zufällig bei ihr gelandet war? Ein alter Einkaufszettel, eine Quittung, die nicht mehr benötigt wurde? Eine schnell hingekritzelte Handynummer, die nicht für sie, sondern für jemand anderen aus der Runde bestimmt war?

Zögernd ergriff Carol den schlichten weißen Zettel und beförderte ihn unauffällig unter die Tischkante. Sie fühlte sich wie früher während der Schulstunde, als geheime Botschaften von Hand zu Hand weitergegeben wurden, bis sie den Empfänger erreicht hatten und dieser den zusammengefalteten Zettel verschämt unter der Tischkante auffaltete, hin und her schwankend zwischen Stolz, Furcht und Verlegenheit.

ICH WEISS, WESHALB DU DICH NICHT MEHR ERINNERN KANNST.

Die Buchstaben starrten sie wie glühende Augen an. Groß, leicht geneigt, Schülerdruckschrift. Keine Ecken und Kanten, keine versteckten Hinweise.

ICH WEISS, WESHALB DU DICH NICHT MEHR ERINNERN KANNST.

Verstohlen blickte Carol in die Runde. Der Zettel war alles andere als zufällig bei ihr gelandet. Irgendeiner ihrer ehemaligen Klassenkameraden wusste mehr. Irgendjemand spielte ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihr. Eiseskälte rann durch ihre Adern, breitete sich wie langsam wirkendes Gift in ihrem ganzen Körper aus. Hier, in dieser Runde, wusste jemand Bescheid. Jemand, der ihr einen anonymen Zettel ohne jeglichen weiteren Hinweis zugesteckt hatte.

Täuschte sie sich oder waren die Gespräche leiser geworden? Blickten da nicht mindestens zwei Augenpaare gespannt zu ihr hin? Sie beugte sich vor, ergriff ihre Cappuccinotasse, nahm langsam einen Schluck und ließ ihre Augen gemächlich über die Gesichter ihrer ehemaligen Klassenkameraden gleiten. Nein, da war nichts. Ihre Nerven mussten ihr einen Streich gespielt haben. Die Gespräche gingen weiter wie zuvor. Andrea unterhielt sich mit Francesca und Gregor. Regina plauderte mit Dieter und Stefan. Und Mark war vor einiger Zeit auf die Toilette verschwunden und noch nicht zurückgekehrt. Niemand beobachtete sie, niemand interessierte sich für ihre Reaktion. Es schien, als wäre der Zettel auf ihrer Untertasse ein reines Zufallsprodukt.

Und doch wusste sie es besser. Es gab etwas in der Vergangenheit, das ihren Gedächtnisverlust ausgelöst hatte, etwas, von dem auch noch eine andere Person Kenntnis hatte. Wollte diese andere Person sie vielleicht einfach nur schützen, indem sie sie nicht vor den anderen bloßstellte? Oder hatte sie Angst, weil die ganze Sache komplizierter war und noch andere Leute aus der Runde involviert waren? Aber dann hätte sie sich doch zu erkennen geben und einen Treffpunkt nennen können, wo sie sich treffen und über die Sache reden könnten. Wenn sie es wirklich gut meinte, hätte sie Carol bestimmt nicht erschrecken, sondern beruhigen wollen.

ICH WEISS, WESHALB DU DICH NICHT MEHR ERINNERN KANNST.

Wieder rann ihr eine eisige Kälte durch die Adern. Diese Worte waren definitiv nicht beruhigend gemeint.