Über das Buch:
Die Sozialarbeiterin Alison Taylor hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder zu beschützen und dafür zu sorgen, dass zu ihren Gunsten Recht gesprochen wird. Doch als sie plötzlich beunruhigende Anrufe und bizarre „Geschenke“ bekommt, scheint es, als wäre sie mit einem Mal diejenige, die Schutz braucht.
Gut, dass sie Beziehungen zur Bezirkspolizei hat. Detective Mitch Morgan wird schnell klar, dass die Vorfälle mit Alisons Arbeit zusammenhängen. Doch der Verfolger spielt mit ihnen und kommt seinem Ziel, sich an Alison zu rächen, immer näher. Mitch setzt alles daran, Alison aus der Schusslinie zu bringen. Sie zu beschützen, ist längst mehr als ein Job für ihn. Aber wird ihm das gelingen?

Über die Autorin:
Irene Hannon studierte Psychologie und Journalistik. Sie kündigte ihren Job bei einem Weltunternehmen, um sich dem Schreiben zu widmen. In ihrer Freizeit spielt sie in Gemeindemusicals mit und unternimmt Reisen. Die Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann in Missouri.

Kapitel 8

„Können wir irgendwann mal ins Magische Haus gehen? Jeff hat gesagt, es gibt da total coole Sachen zu sehen.“

Nicole Larson bog in die Einfahrt zu dem Wohnblock ein, in dem sie und Kyle seit zwei Jahren wohnten. Sie warf ihrem Sohn durch den Rückspiegel einen Blick zu. Er hatte ununterbrochen geplappert, seit sie ihn aus dem Schulhort abgeholt hatte, aber ihre Gedanken waren nur halb bei der Sache. So wie sie auch nur halb bei der Arbeit gewesen waren.

Und das hatte sie Daryls unerwartetem Anruf letzte Woche zu verdanken, an dem Tag, als er aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Nach Jahren, in denen sie keinerlei Kontakt gehabt hatten, wollte er jetzt einfach so in ihr Leben zurückmarschieren, als wäre nichts geschehen. Sie hatte jeden der wenigen Briefe, die er ihr geschickt hatte, sofort in den Müll geworfen. Was hatte er von ihr erwartet, als er aus heiterem Himmel angerufen hatte? Dass sie ihn mit offenen Armen empfing?

Von wegen!

„Mom? Können wir?“

Kyles Stimme zog sie in die Gegenwart zurück. „Ich weiß nicht, Schätzchen. Es ist ziemlich teuer.“

„Jeff sagt, manchmal ist es freitagabends umsonst.“

Stimmte das? Sie hatte die Stadt nach kinderfreundlichen Dingen durchkämmt, die man tun konnte und die nicht einen Haufen Geld kosteten. Das Magische Haus war ihr dabei nie untergekommen, aber sie wusste, dass er davon begeistert sein würde. Nach allem, was sie gehört hatte, war es voll mit ganz praktischen, interaktiven Ausstellungsstücken für Kinder. Und Kyle war ein praktisch veranlagter Junge.

„Ich mach mich schlau, in Ordnung?“

„Ist gut. Danke, Mom.“

Sie lächelte ihm im Spiegel zu, während sie auf den Parkplatz fuhr. Er war ein guter Junge. Klug, höflich, liebevoll. Sie hatte in ihrem Leben eine Menge Fehler begangen, aber das Baby, das sie anfangs abtreiben wollte, hatte sich als ihr größter Segen erwiesen.

Noch immer lächelnd stellte sie den Motor aus und fragte ihn über ihre Schulter hinweg: „Hast du Hunger?“

„Ja! Was gibt es denn zum Abendessen?“

„Was hältst du von Spaghetti?“

„Cool!“ Er schnallte sich ab.

Nicole öffnete ihre Tür und schwang die Beine hinaus. „Ich habe auch das Knoblauchbrot, das du so gern magst, und …“

Die Worte erstarben in ihrer Kehle, als sie den groß gewachsenen, dünnen Mann sah, der ein Dutzend Autos weiter aus einem verbeulten Pick-up stieg.

Daryl.

Seine langen, struppigen Haare waren fort, aber sie hatte keine Schwierigkeiten, ihn dennoch zu erkennen.

Sie sah voller Entsetzen zu, wie er auf den Rücksitz griff, um ein in Geschenkpapier eingepacktes Päckchen und einen kleinen Blumenstrauß herauszuholen.

Als die Wagentür hinter ihr sich öffnete, fuhr sie zu ihrem Sohn herum.

„Bleib bitte noch im Wagen, Kyle. Ich muss kurz mit jemandem sprechen. Drück den Knopf herunter und mach nicht auf, bis ich es dir sage, egal, was passiert. Hast du verstanden?“

Während sie diese abrupten Anweisungen von sich gab, überprüfte sie, ob die Türen auf der anderen Seite des Wagens verschlossen waren. Dann schob sie den Autoschlüssel in die Becherhalterung neben sich und schloss den Deckel. Sie wollte den Schlüssel im Wagen eingeschlossen und nicht bei sich haben.

„Was ist los, Mom?“

Sie hörte die Angst in seiner Stimme. Sie hätte ihn so gerne beruhigt, aber dazu war keine Zeit. Daryl schloss seine eigene Wagentür und wandte sich ihr zu.

„Nichts.“ Sie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy und gab es Kyle. „Aber wenn du aus irgendeinem Grund Angst bekommen solltest, dann ruf 911 an. Und bleib hier sitzen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie aus, betätigte die Türverriegelung und schloss die Tür. Dann ging sie auf den Mann zu, den sie einmal als ihren Retter betrachtet hatte. Sie wollte ihn so weit wie möglich von Kyle entfernthalten – und von ihrem Leben. Sie dachte, das hätte sie am Telefon deutlich gemacht.

Offenbar hatte er den Wink nicht verstanden.

Sie beschleunigte ihre Schritte und versuchte, das Zittern ihrer Beine zu kontrollieren. Sie hatte Konfrontationen immer schon gehasst. In ihrem alten Leben hatte sie sie um jeden Preis vermieden. Aber im Laufe der letzten Jahre hatte sie gelernt, dass ihre Neigung, unter Druck nachzugeben, der Grund war, warum sie in Schwierigkeiten geraten war. Manchmal musste man für den eigenen Standpunkt kämpfen.

Und das würde sie jetzt tun.

Denn je eher sie Daryl für immer los war, desto besser waren sie und Kyle dran.

* * *

Als Nicole auf ihn zukam, stockten Daryls Schritte. Sie hatte nichts mehr von der scheuen, unterwürfigen Frau, mit der er ein Jahr lang zusammengelebt hatte. Ihre ganze Haltung war verändert. Der gesenkte Blick war ebenso verschwunden wie die zusammengesackte Haltung. Sie hatte das Kinn erhoben und die Schultern gestrafft. Als wollte sie in den Kampf ziehen.

Das hatte er nicht erwartet.

Genauso wenig wie ihr Aussehen. Sie trug das Haar kinnlang in einem eleganten Schnitt. Ihr Makeup war dezent, und von dem türkisfarbenen Lidschatten, den sie früher dick aufgetragen hatte, war nichts mehr zu sehen. Der knielange schwarze Rock, die seidig grüne Bluse und die silberne Halskette strahlten Stil aus. Vor allem im Vergleich zu den billigen Polyesterhosen und dem Sporthemd, das er mit dem Geld, das Chuck ihm geliehen hatte, bei Walmart gekauft hatte.

Er blieb stehen. Am Telefon hatte er das Gefühl gehabt, als fände sie, dass sie jetzt zu gut für ihn war.

Vielleicht war sie das ja auch.

Dadurch, dass sie unmittelbar vor ihm stehen blieb, konnte er Kyle nicht sehen.

War das vielleicht ihre Absicht gewesen?

„Hi, Nicole.“ Er brachte ein Lächeln zustande.

Sie erwiderte es nicht.

„Was willst du hier?“ Sie durchbohrte ihn mit einem eiskalten Blick.

„Ich wollte noch mal persönlich mit dir sprechen.“ Er streckte ihr den Blumenstrauß und das Geschenk entgegen. „Die sind für dich und Kyle.“

Sie ignorierte seine Gaben.

„Ich habe dir letzte Woche gesagt, dass du uns in Ruhe lassen sollst. Unsere Beziehung ist beendet. Ich habe jetzt ein neues Leben.“

Er senkte die Blumen und das Päckchen und sein Lächeln erstarb. „Ich will auch ein neues Leben anfangen.“

„Ich freue mich, das zu hören. Und ich wünsche dir viel Glück. Aber halte dich von uns fern, während du es tust.“

In ihrem Gesicht lag eine Härte, die er noch nie gesehen hatte. Und eine feste Entschlossenheit, die ihm sagte, dass er vermutlich einen aussichtslosen Kampf führte. Dass Drohungen auch nicht besser funktionieren würden als Komplimente.

In seiner Verzweiflung verlegte er sich auf Schuldgefühle.

„Ich will dich zurück, Nicole. Und nach allem, was ich für dich getan habe, schuldest du mir was.“

Sie reckte das Kinn vor und funkelte ihn an. „Deine Mitleidsmasche wird nichts bringen. Ich habe diese Schuld schon vor langer Zeit abbezahlt. Genau genommen würde ich sagen, dass du mir jetzt etwas schuldest. Dir habe ich es zu verdanken, dass man mir meinen Sohn für ein Jahr weggenommen hat. Ein Jahr! Weil du vor unserer Wohnung mit Drogen gedealt hast! Viel mieser geht es wirklich nicht.“

Seine Wut flackerte auf, aber er bemühte sich um Selbstbeherrschung. Was glaubte sie eigentlich, wer sie war, dass sie hier so hochnäsig tat? Sie hatte sich auch manches zuschulden kommen lassen. Deshalb hatte ihr alter Herr sie ja rausgeworfen. „Du hast dich verändert.“

„Ja, das habe ich. Zum Guten. Ich habe jetzt ein gutes Leben und ich bin endlich zur Vernunft gekommen, dank einer Menge Therapie und der Freundschaft von Menschen, denen ich nicht egal bin.“

Er kniff die Augen zusammen, als ihm ein neuer Verdacht kam. Einer, der erklären würde, warum sie seine Briefe nie beantwortet hatte. „Hast du einen anderen?“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Ein Mann ist das Letzte, was ich brauche. Im Moment halte ich mich an die Personen, die mir geholfen haben, mein Leben in den Griff zu bekommen.“

„So wie Alison Taylor?“ Wütend stieß er den Namen der Sozialarbeiterin aus.

„Ja. Wie ich dir am Telefon schon sagte, habe ich ihr viel zu verdanken. Wenn sie nicht auf meiner Seite gewesen wäre, hätte ich Kyle vielleicht für immer an eine Pflegefamilie verloren. Und ich habe noch andere tolle Leute kennengelernt. Meinen Therapeuten. Meinen Chef. Meinen Pastor.“

Er blinzelte ungläubig. „Du gehst in die Kirche?“

„Ja, das tue ich.“

„Du hast doch immer auf Gott geschimpft.“

„Weil ich ihn für meine Probleme verantwortlich gemacht habe, anstatt die Verantwortung für mein Leben selbst zu übernehmen. Ich bin endlich erwachsen geworden. Und ich habe zu Gott gefunden. Es ist ein Riesenunterschied zu wissen, dass Gott rund um die Uhr bei mir ist.“

„Ich brauche dich bei mir.“ Er hasste den verzweifelten Unterton in seiner Stimme. Aber die Anspannung in ihrer Miene ließ dadurch ein wenig nach und die Glut der Hoffnung lebte in seiner Seele wieder auf.

Dann runzelte sie die Stirn und löschte jeden Funken Hoffnung.

„Hör zu, ich bin froh, dass du einen Neuanfang machen willst. Ich finde das toll. Aber mich brauchst du dafür nicht. Du kannst es selbst schaffen. Trotz allem, was dein Vater gesagt und dir angetan hat.“

Er erstarrte. Nur sehr wenige Menschen hatten die vielen kleinen runden Narben auf seinem Rücken gesehen, Überbleibsel von den Zigaretten, die sein Vater als Strafe für die kleinsten Verfehlungen auf ihm ausgedrückt hatte – und manchmal nur so zum Spaß. Als Nicole ihn danach fragte, hatte er ihr damals die wesentlichen Fakten in einem oder zwei emotionslosen Sätzen erzählt. Der Schrecken in ihren Augen hatte jedoch den Eindruck vermittelt, dass sie weitaus mehr von dem Elend seiner Kindheit verstand, als er hatte preisgeben wollen.

„Es geht hier nicht um meinen Vater.“

„Doch, das tut es. Weil das, was er getan hat, große Wirkung auf dich hatte. Aber du kannst dich von deiner Vergangenheit befreien. Du musst nur aufhören, Ausreden für die bösen Dinge zu finden, die du tust. Hör auf, ein Opfer zu sein, Daryl. Nimm dein Leben in die Hand.“

Seine Wut stieg bis dicht unter die Oberfläche und er packte die Blumen fester, sodass er ihre Stiele zerdrückte. „Das klingt wie ein Haufen Psychogelaber.“

„Nenn es, wie du willst, aber es stimmt. Hör zu, ich bin sicher, mein Pastor wird gerne mit dir reden, wenn du dein Leben wirklich ändern willst. Willst du seine Nummer haben?“

„Nein!“ Das Wort brach aus ihm heraus und sie zuckte zurück, als wäre sie geschlagen worden. Er ließ die Geschenke auf den Asphalt fallen und packte sie an den Oberarmen. „Ich will dich.“

Die Überraschung in ihrer Miene wandelte sich in starren Zorn. Ihre Nasenlöcher waren aufgebläht, aber anstatt den Kopf zu senken, wie sie es früher getan hätte, hielt sie seinem Blick stand.

Und er wusste, dass er einen großen Fehler begangen hatte.

„Lass mich los. Sofort.“ Sie sagte es leise und selbstbewusst, ohne jeden Anflug von Angst.

Er rührte sich nicht.

„Ich sagte sofort, Daryl. Sonst werde ich schreien und dann wimmelt es hier nur so vor Polizei, bevor du bei deinem verbeulten Wagen den Gang eingelegt hast.“

Sie zuckte nicht. Erhob die Stimme nicht. Wandte den Blick nicht ab. Aber sie hatte ihm die Stirn geboten und damit seine Wut noch mehr angeheizt.

Er ließ die Hände sinken.

„Ich sage es nur einmal.“ Sie beugte sich ein wenig vor und sprach bedächtig und deutlich. „Wenn du mir oder Kyle näher kommst als zwanzig Meter, werde ich eine gerichtliche Verfügung beantragen. Da du gerade erst aus dem Gefängnis entlassen wurdest, könnte das sehr negative Folgen haben. Ich schlage vor, du steigst wieder in deinen Wagen und fährst weg. Du hast zehn Sekunden.“

Daryl wägte seine Optionen ab.

Und ihm wurde klar, dass er keine hatte.

Er versetzte den Blumen einen so kräftigen Tritt, dass die Blütenblätter sich über das Pflaster verteilten. Dann stampfte er auf das bunte Päckchen und zerstörte den billigen Plastikroboter, den er für Kyle ausgesucht hatte. Er stapfte zu Chucks Wagen zurück. Nachdem er den Gang eingelegt hatte, raste er mit quietschenden Reifen über den Parkplatz.

Als er die Einfahrt erreichte, warf er noch einen letzten Blick in den Rückspiegel. Nicole stand immer noch dort und beobachtete ihn. Sie wartete darauf, dass er verschwand.

Er schlug mit der Faust auf das Lenkrad ein und kämpfte gegen die Versuchung an, umzudrehen und sie zusammenzuschlagen, so wie er es früher ein paar Mal getan hatte, wenn sie ihm widersprach. Aber die Angst hielt ihn zurück. Er konnte keine Begegnung mit den Bullen riskieren. Sie würden ihn wieder in einen Käfig stecken und er hatte nicht vor, noch eine einzige Nacht hinter Gittern zu verbringen.

Das Lenkrad mit vor Wut zitternden Fingern umklammernd, fädelte er sich in den Verkehr ein und lenkte den Pick-up in die Richtung, in der Chucks Wohnwagen stand. Er überlegte fieberhaft, was er als Nächstes tun sollte.

Er würde sich gerne an Nicole rächen, weil sie ihn zurückgewiesen hatte. Aber wenn er ihr oder Kyle irgendetwas tat, und sei es nur etwas so Einfaches und Befriedigendes wie ein paar zerstochene Reifen, würde sie sofort zur Polizei gehen und ihn beschuldigen, das wusste er.

Nein, Nicole war tabu.

Außerdem hatte sein Problem woanders begonnen. Mit der Frau, die ihre Nase in seine Angelegenheiten gesteckt und Nicole gegen ihn aufgehetzt hatte.

Alison Taylor.

Er kramte in seiner Tasche nach dem Schokoriegel, den er bei Walmart hatte mitgehen lassen, riss die Folie mit den Zähnen auf und biss hinein. Während er kaute, dachte er noch einmal über die Unterhaltung nach, die er gestern mit Chuck geführt hatte. Der Mann hatte erwähnt, er hätte noch mehr Ideen, wie er der Sozialarbeiterin das Leben zur Hölle machen konnte.

Das klang vielversprechend. Und nur gerecht.

Schließlich hatte sie sein Leben auch zur Hölle gemacht.

Daryl lockerte seinen Griff um das Lenkrad und ließ sich den süßen Geschmack der schmelzenden Schokolade auf der Zunge zergehen.

Chuck hatte recht.

Sie könnten sich einen schönen Spaß daraus machen.

* * *

Als Daryls Pick-up aus ihrem Blick verschwand, atmete Nicole langsam und tief ein.

Er war fort.

Für immer, hoffte sie.

Sollte er doch wieder auftauchen, würde sie ihre Drohung wahr machen, aber sie hatte das Gefühl, dass er das begriffen hatte.

Gut nur, dass er nicht bemerkt zu haben schien, wie weich ihre Knie waren. Oder wie heftig ihr Herz hämmerte. Oder wie sehr ihre Finger zitterten, was sie zu verbergen versucht hatte, indem sie ihre Handtasche mit beiden Händen umklammert hielt.

„Mom?“

Sie fuhr herum und sah, dass Kyle sein Fenster einen Spalt breit geöffnet hatte. Die Farbe war aus seinen Wangen gewichen und er hielt das Telefon so, als wollte er jeden Augenblick die drei Nummern eintippen, um Hilfe zu holen.

Mit einem letzten Blick in Richtung Ausfahrt setzte Nicole ein Lächeln auf und ging zum Wagen zurück.

„Du kannst jetzt die Tür aufmachen, Kyle. Und gib mir bitte meine Schlüssel, damit ich die Einkäufe aus dem Kofferraum holen kann.“

Er reichte sie ihr durchs Fenster, zusammen mit dem Handy. Während sie den Schlüssel ins Schloss des Kofferraums steckte, kletterte er aus dem Wagen, nahm seinen Rucksack und gesellte sich zu ihr.

„Bist du bereit für die Spaghetti?“

Er betrachtete sie mit ernster Miene. Dann antwortete er mit einer Gegenfrage. „Wer war der Mann, Mom?“

Sie öffnete den Kofferraum und nahm die drei Tüten heraus. „Jemand, den ich früher kannte.“

„Er sah gemein aus.“

Stimmt.

„Na ja, vor langer Zeit war er kein netter Mensch. Aber er hat mir gesagt, dass er versuchen will, in Zukunft besser zu sein.“

„Hat er deshalb die Sachen mitgebracht?“ Er zeigte auf die verstreuten Blumen und das zerquetschte Paket.

„Ja.“ Sie schloss den Kofferraum und schob ihn zur Haustür.

„Waren die für uns?“

„Ja.“

„Und warum hat er sie auf den Boden geworfen?“

Nicole überlegte, was sie antworten und wie sie mit der Situation umgehen sollte, während Kyle neben ihr her trottete. Daryl hatte immer ein Problem damit gehabt, seinen Jähzorn zu beherrschen, und die plötzliche Wut in seinen Augen, als sie ihm die Stirn geboten hatte, sagte ihr, dass er auch im Gefängnis keine Selbstbeherrschung gelernt hatte. Aber wenn er wirklich versuchte, ein neues Leben anzufangen, würde es seine Bemühungen zunichtemachen, wenn die Behörden auf ihn aufmerksam wurden.

Trotzdem musste sie vorbereitet sein, für den Fall, dass er noch einmal auftauchte. Und Kyle musste auch Bescheid wissen.

„Mom? Wieso hat er die Sachen auf den Boden geworfen?“ Kyle wiederholte die Frage, während sie die zwei Stufen zu ihrer winzigen Veranda hinaufstiegen.

Sie drehte den Schlüssel im Schloss ihrer Wohnungstür und schob Kyle hinein. Mit einem letzten Blick über die Schulter schloss sie hinter sich zu und ging in den hinteren Teil ihrer kleinen Dreizimmerwohnung. „Komm mit in die Küche, dann reden wir darüber, während ich die Sachen wegräume.“

Er folgte ihr, den Rucksack noch immer fest in der Hand, mit besorgtem Blick. Besorgter, als ein Siebenjähriger dreinschauen sollte. Er hatte keine unmittelbare Erinnerung an Daryl, was sie als Segen empfand. Und auch an sein Jahr in einer Pflegefamilie erinnerte er sich nicht. Aber die Zeit, die sie voneinander getrennt gewesen waren, hatte auf sie beide eine tiefe Wirkung gehabt.

Für sie war es ein Weckruf gewesen: sie musste sich zusammenreißen oder sie würde das Kind verlieren, das sie mit einer solchen Intensität liebte und zu beschützen versuchte, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Für Kyle war ihre Trennung genauso traumatisch gewesen und hatte zu einer tiefen Verunsicherung geführt, die ihn manchmal klammern ließ. Selbst jetzt, drei Jahre nach ihrer Zusammenführung, hatte er gelegentlich noch Albträume. Erst wenn sie ihn dicht neben sich zugedeckt und ihn mit tröstenden Worten oder Liedern beruhigt hatte, schlief er dann wieder ein.

Ihn zur Wachsamkeit zu ermahnen, ohne seine latenten Ängste noch zu schüren, würde nicht einfach sein.

Nicole stellte die Tüten auf den Tresen, der die Kochecke von dem Ess- und Wohnzimmer trennte, und betete um Führung. „Willst du einen Keks und ein Glas Milch, während wir reden?“

Er starrte sie mit offenem Mund an. „Vor dem Abendessen?“

„Stimmt, da hast du auch wieder recht.“ Sie grinste ihn an, nahm seine Hand und führte ihn zum Sofa. Sie hatte es vor sechs Monaten von dem Geld gekauft, das sie extra für die Möbel angespart hatte, die jetzt das kleine Wohnzimmer in ihrem Zuhause schmückten. Dem Zuhause, das sie geschaffen hatte.

Sie klopfte auf das Sitzkissen neben sich und zog ihn dann näher, als er sich setzte, sodass sie den Arm um ihn legen konnte, während sie nach den richtigen Worten suchte.

„Ich kannte diesen Mann vor langer Zeit, Liebling. Als du noch ganz klein warst. Er war damals kein guter Mensch, aber das wusste ich zuerst nicht, weil er am Anfang nett zu mir war. Er hat mich getäuscht.“

„So wie Billy es mit mir gemacht hat?“

Sein manipulierender Klassenkamerad. Eine hervorragende Analogie. Der Junge hatte das Videospiel, das er sich von Kyle ausgeliehen hatte, nie zurückgegeben. Es war das Lieblingsspiel ihres Sohnes gewesen.

„Ja. Genau wie Billy. Der Mann war nur so lange nett, bis er hatte, was er wollte. Außerdem hat er schlimme Dinge getan und musste ins Gefängnis. Jetzt ist er wieder draußen. Er hat gehofft, dass wir wieder Freunde sein können, aber ich habe ihm gesagt, er soll sich neue Freunde suchen.“

„Er sah wütend aus.“

„Das war er auch. Deshalb hat er die Sachen auf den Boden geworfen.“ Sie strich das feine braune Haar aus Kyles Stirn auf eine Seite. „Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm befreundet sein will und dass er nicht wiederkommen soll. Ich glaube nicht, dass er zurückkommt, aber du musst mir versprechen, dass du mir sofort sagst, wenn du ihn noch einmal siehst. Und dass du niemals mit ihm sprichst. In Ordnung?“

„Glaubst du, er könnte versuchen, uns wehzutun?“

Ein ängstlicher Ton schwang in seiner Frage mit und sie musste ihre plötzlich aufkeimende Wut und den Hass niederkämpfen. Nach vier Jahren, in denen sie mit viel Mühe ihr Leben wieder in den Griff bekommen hatte, würde sie nicht zulassen, dass Daryl es noch einmal durcheinanderbrachte. Und sie hatte auch nicht vor, wieder in Angst zu leben.

Aber was seine Pläne betraf, war sie sich nicht so sicher. Deshalb würde sie in den nächsten paar Wochen ganz genau aufpassen und ihren Sohn nicht aus den Augen lassen.

„Ich glaube, so dumm ist er nicht, Liebling.“ Das hoffte sie jedenfalls. „Er weiß, wenn er etwas Böses tut, muss er wieder ins Gefängnis. Das will er nicht. Ich glaube nicht, dass wir ihn noch einmal wiedersehen. Aber falls doch, weißt du, was du tun musst, nicht wahr?“

„Mmmh. Dir sofort Bescheid sagen.“

„Genau. Und jetzt kochen wir endlich die Spaghetti.“ Sie schlug einen lockeren Tonfall an und setzte ein Lächeln auf. „Und vielleicht fahren wir zum Nachtisch zur Eisdiele. Meinst du, du könntest mit einem Schoko-Cookie-Eisberg fertigwerden?“

Die Erwähnung seines Lieblingsdesserts, das es nur zu besonderen Gelegenheiten gab, wischte einen Großteil der Anspannung aus seinem Gesicht.

„Das wäre cool!“

„Dachte ich mir doch, dass du nichts dagegen hast!“ Nicole drückte ihn noch einmal und stand dann auf. „Fang doch schon mal mit deinen Hausaufgaben an, während ich das Essen mache. Wenn du jetzt alles schaffst, haben wir vielleicht noch Zeit für ein Video nach unserem Ausflug zur Eisdiele.“

„Wow!“ Er sprang auf und rannte los, um seinen Rucksack zu holen. „Das ist ja fast so, als hätte ich Geburtstag!“

Nicole packte die Lebensmittel aus, während Kyle sein Mathebuch aus dem Rucksack zog und anfing, seine Rechenaufgaben zu machen. Er schien den Zwischenfall von vorhin schon zu den Akten gelegt zu haben.

Aber während sie einen Topf aus dem Schrank nahm und mit Wasser für die Spaghetti füllte, ließ ihr Unbehagen keinen Deut nach. Es war möglich, dass Daryl tatsächlich ernsthaft clean bleiben und sein Leben in Ordnung bringen wollte. Menschen konnten sich in vier Jahren ändern. Sie selbst hatte es ja auch geschafft.

Aber die nagenden Zweifel blieben. Sie hatte heute ein paar negative Schwingungen gespürt.

Und sie wusste, dass sie in nächster Zeit ständig über ihre Schulter blicken würde.

Kapitel 9

Alison zog eine Schachtel mit Haferflocken vom Regal in Miller’s Lebensmittelgeschäft, dann ging sie den Inhalt ihres Einkaufswagens anhand ihrer Liste noch einmal durch. Das Einzige, was noch fehlte, war das Hundefutter.

Während sie durch den Laden ging, hielt sie Ausschau nach Erik. Er war oft im Dienst, wenn sie dienstagnachmittags nach der Arbeit einkaufen ging. Seit sie gestern Mitchs Geschichte über den verstörten jungen Mann gehört hatte, war sie erpicht darauf, ihm zu versichern, dass sie ihm nicht böse war. Aber sie musste ihn verpasst haben.

Was kein Wunder war, wenn man bedachte, dass sie wegen des Callahan-Falles länger gearbeitet hatte als sonst. Die Nachbarin, die Ellens Kinder hatte hüten sollen, Bev Parisi, war immer noch nicht aufgetaucht – weder in ihrer Wohnung noch in dem Restaurant, in dem sie als Kellnerin arbeitete. Außerdem blieb Stan Orton bei seiner Behauptung, dass die Mutter ihre Kinder nachts und an Wochenenden oft unbeaufsichtigt ließ. Leider hatte Ellen niemanden beibringen können, der ihre Version der Geschichte bestätigen konnte.

Aber ihr Verstand sagte Alison, dass eine Frau, die unter der Woche eine zuverlässige Kinderbetreuung in einer anerkannten Einrichtung organisiert hatte, ihre Kinder wohl kaum zu anderen Zeiten allein lassen würde. Wenn sie das Haus verlassen musste, um einen leckenden Heizkörper begutachten zu lassen, wie es an dem fraglichen Abend der Fall gewesen war, dann würde sie die Kinder mitnehmen. Es sei denn, ihre Nachbarin hatte angeboten, auf sie aufzupassen, wie Ellen behauptete.

Der jungen Mutter zufolge war die Frau, die so Anfang dreißig war, vor zwei Monaten auf ihrer Etage eingezogen. Sie hatten sich kennengelernt, als sie ihre Post aus dem Briefkasten genommen hatten, und plauderten, wann immer sie einander begegneten. Irgendwann hatte die Nachbarin angeboten, auf die Kinder aufzupassen, wenn Ellen jemals einen Notfall haben sollte. Ellen hatte von diesem Angebot noch nie Gebrauch gemacht – bis letzte Woche.

Und jetzt war Bev plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.

Während Alison nach einem Sack mit Berts Lieblingsfutter griff, ihn in den Wagen hievte und eine Hundertachtzig-Grad-Wende in Richtung Kasse vollführte, fing ihr Handy an zu klingeln. Sie kramte in ihrer Handtasche und lächelte, als sie die vertraute Nummer sah.

„Hi, Mitch.“

„Du erkennst meine Nummer sofort?“ Er klang erfreut.

„Ich habe sie auswendig gelernt, als ich diese anonymen Anrufe bekam, für den Fall, dass ich dich schnell erreichen muss.“ Sie wartete eine Sekunde. „Aber ich habe auch nicht vor, sie wieder zu vergessen.“

Er lachte leise. „Gut zu wissen. Ich habe übrigens erst versucht, dich zu Hause anzurufen.“

Sie schob ihren Einkaufswagen an die Kasse, begab sich dann vor den Wagen und legte einen Plastiktrenner auf das Laufband. „Ich habe lange gearbeitet. Im Moment bin ich im Lebensmittelladen.“

„Legst du für den Callahan-Fall eine Nachtschicht ein?“

„Es ist zwar noch nicht Nacht, aber es fühlt sich so an.“ Sie fing an, ihre Einkäufe auf das Band zu legen, wobei sie ihr Körpergewicht auf ihr nicht verletztes Bein verlagerte, weil das andere zu pochen begonnen hatte. Kein Wunder angesichts der vielen Stunden, die sie heute auf den Beinen verbracht hatte.

„Und gibt es Fortschritte?“

„Noch nicht.“

„Du schaffst das schon. Diese Familie kann von Glück sagen, dass du dich für sie einsetzt.“

„Ich hoffe es.“ Sie klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter, sodass sie den Beutel Hundefutter mit beiden Händen auf das Band heben konnte.

„Ich weiß es.“

Die Wärme in seiner Stimme gefiel ihr und sie fühlte Schmetterlinge im Bauch. Sie verbarg ihre Reaktion unter einem neckenden Tonfall. „Und welchem Umstand verdanke ich die Ehre deines Anrufs?“

„Ich hatte gehofft, du könntest dich für einen Ausflug zu Ted Drewes erwärmen. Aber wenn du noch nicht einmal zu Hause bist, ist ein anderer Abend vielleicht besser.“

Ein schneller Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte, dass es schon kurz vor sieben war. So gerne sie auch eine Stunde mit ihm verbringen würde, hatte er doch recht. „Ehrlich gesagt wäre ein anderer Abend wirklich besser. Ich hatte noch kein Abendessen, und ich muss Bert rauslassen und ihm etwas zu fressen geben. Außerdem muss ich mich noch auf eine Anhörung morgen vorbereiten.“

„Klingt so, als hättest du einen arbeitsreichen Abend vor dir.“

„Zu arbeitsreich.“

„Ich würde dir ja anbieten vorbeizukommen, wenn ich das Gefühl hätte, dass ich dir irgendwie helfen kann.“

Sie widerstand der Versuchung, auf seinen Wink einzugehen, weil sie wusste, dass seine Anwesenheit sie eher ablenken würde, anstatt hilfreich zu sein. „Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber wir sehen uns besser ein andermal, in Ordnung?“

„Kein Problem.“

Während sie ihren Einkaufswagen ein Stück vorzog, erblickte sie Erik einige Kassen weiter. Er füllte dort in seiner üblichen langsamen, methodischen Art Einkaufstüten für die Kunden, völlig auf seine Aufgabe konzentriert.

„Ich habe gerade Erik entdeckt. Ich hatte gehofft, dass er heute hier ist. Er soll wissen, dass ich ihm nicht böse bin.“

Als ihr heimlicher Verehrer eine gefüllte Tüte in den Einkaufswagen des Kunden stellte, trafen sich ihre Blicke und sie winkte. Anstatt mit seinem üblichen offenen Lächeln zu antworten, senkte er jedoch den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit.

Sie ließ die Hand sinken. „Er ignoriert mich.“

„Die Leiterin der Wohngruppe hat gesagt, dass sie mit ihm reden würde. Vielleicht denkt er jetzt, dass er überhaupt nicht mit dir sprechen darf.“

„Den Eindruck habe ich auch. Dieses Missverständnis muss ich ausräumen.“

„Dann lasse ich dich jetzt in Ruhe. Wie wäre es, wenn ich dich morgen oder übermorgen anrufe? Oder du kannst mich anrufen, falls du wieder ein verdächtiges Päckchen findest.“

„Ich hoffe doch, das ist vorbei.“

„Das hoffe ich auch. Viel Erfolg bei Erik.“

„Danke.“

Während Alison ihre Kreditkarte durch das Lesegerät zog, behielt sie Erik im Blick. Keine Frage, er vermied den Blickkontakt mit ihr. Sie wollte nicht unterwandern, was die Wohngruppenleiterin zu ihm gesagt hatte, aber er sollte auch nicht denken, dass er nie wieder mit ihr sprechen durfte.

Ohne Zeit damit zu verschwenden, ihre Kreditkarte oder den Beleg zu verstauen, schob sie ihren Wagen in Richtung Tür. Auf dem Weg würde sie an Erik vorbeikommen. Er war gerade damit fertig, seinem Kunden zu helfen, und an der Kasse stand niemand mehr an. Sie würden also ein paar Minuten haben, um sich zu unterhalten.

Als sie näher kam, senkte er wieder den Kopf und drehte sich weg, während er an seinem Namensschild herumfingerte.

„Hi, Erik.“

Er sah sie nicht an. „Hi.“

Sie schob sich in sein Blickfeld und senkte die Stimme. „Erik, ich bin dir nicht böse.“

Er riskierte einen kurzen Blick. „Der Polizist, der Mitch heißt, hat gesagt, dass du Angst hattest. Ich wollte nicht … dass du Angst bekommst.“

„Das weiß ich. Mach dir keine Sorgen.“

„Ms. Walker hat gesagt … ich soll dich nicht mehr anrufen. Oder dir Geschenke machen.“

„Da hat sie recht. Aber im Laden mit mir zu reden, ist völlig in Ordnung. Ich freue mich immer auf unsere Unterhaltung, wenn ich herkomme. Ich hoffe, wir können weiter Freunde bleiben.“

Sein ernster Blick suchte ihren. „Das hoffe ich auch.“ Er zeigte auf ihren Wagen. „Soll ich den für dich rausschieben?“

„Ich glaube, heute schaffe ich das allein, aber danke für das Angebot.“ Sie legte ihre Handtasche in den Wagen und zog ihre Brieftasche heraus, um die Kreditkarte einzustecken. Doch das Portemonnaie rutschte ihr durch die Finger, sodass Plastikkarten, Führerschein, Fotos und Wechselgeld überall verstreut lagen.

Sie betrachtete bestürzt das Chaos und hockte sich auf den Boden. „Ich kann nicht fassen, dass ich so ungeschickt bin.“

Erik begab sich auf alle viere und sammelte die verstreuten Gegenstände mit ihr ein. „Ich lasse immer Sachen fallen. Es macht nichts. Ich helfe dir, alles zu finden.“

Während sie die Münzen einsammelte, holte Erik das Familienfoto von der Geburtstagsparty ihrer Mutter hervor, das unter einen Ständer mit Süßigkeiten gerutscht war. Er entdeckte auch ihre Kreditkarte zwischen den Plastiktüten für die Einkäufe.

Sie zuckte zusammen, als sie sich wieder aufrichtete, wobei sie sich an der Kante der Warenablage festhielt. Ihr Bein hatte ihr die unerwartete Bewegung übel genommen, aber wenigstens hatte der Zwischenfall die entspannte Beziehung zu ihrem Lieblingsassistenten wieder hergestellt.

Alison warf alles in ihre Handtasche, um es später in Ruhe zu sortieren, und lächelte Erik zu. „Danke. Ohne dich hätte ich bestimmt nicht alles gefunden.“

Er strahlte. „Ich helfe gerne.“

„Ich weiß. Und das finde ich toll.“ Die Kassiererin hatte angefangen, die Einkäufe des nächsten Kunden einzuscannen und Alison ging zur Tür. „Bis nächste Woche, okay?“

„Okay. Tschüss, Alison.“ Er winkte, griff nach den ersten Gegenständen, die vom Laufband rutschten, und machte sich wieder an die Arbeit.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen hinkte Alison zum ersten Mal seit Wochen. Wenn nichts dazwischenkam, würde ein langes, heißes Bad auf ihrer Prioritätenliste noch vor das Abendessen rutschen, sobald sie zu Hause war.

Während sie ihre Einkäufe in den Kofferraum stellte, hielt sie das Versprechen, das sie Jake gegeben hatte, und sah sich auf dem Parkplatz um. Weil er wusste, wie sehr ein Fall sie in Anspruch nehmen konnte – so sehr, dass sie ihre Umgebung gar nicht mehr wahrnahm –, hatte er gestern Abend angerufen und sie daran erinnert, in der Öffentlichkeit wachsam zu sein. Sie hatte ihm versichert, dass sie besser aufpassen würde, bis sie sich um den Zwischenfall mit den schwarzen Rosen und der Bingokarte keine Sorgen mehr machen mussten.

Aber alles wirkte ruhig. Nur die üblichen Leute, die nach einem langen Arbeitstag noch schnell ihren Einkauf erledigten.

Alison verstaute die letzte Tüte, schloss den Kofferraum und schob sich auf den Fahrersitz. Ein Knopf verriegelte alle Türen. Jetzt, wo sie in Sicherheit war, konnte sie sich auf den Callahan-Fall konzentrieren.

Sie setzte rückwärts aus der Parkbucht, während ihre Gedanken zu dem Gespräch zurückwanderten, das sie heute mit Ellen geführt hatte, und zu dem tränenreichen Besuch der Frau bei ihren Kindern, mit Alison als Aufsicht. Sie hatte Ellen versichert, dass sie ihr Möglichstes tun würde, um ihre Geschichte zu beweisen, aber es gab keine Garantien. Das Gericht hatte zuerst das Wohl der Kinder im Blick und bevor der Richter nicht davon überzeugt werden konnte, dass Ellen eine gute Mutter war, würde es keine Familienzusammenführung geben. Eine Aussage von Bev Parisi über den Zwischenfall, der zu der Trennung geführt hatte, würde enorm helfen. Aber wenn die Frau drogenabhängig war, wie die Anklage behauptete, wusste Alison, dass sie sich versteckt halten würde. Wenigstens eine Zeitlang.

Wieder einmal dachte sie daran, wie ähnlich Ellens Situation der von Nicole Larson vor vier Jahren war. Die junge Mutter hatte damals auch bis zum Hals in Problemen gesteckt. Selbst als Pflegekind aufgewachsen, hatte sie mit einem Drogendealer zusammengelebt und zwei Jobs gemacht, während sie versucht hatte, ein Kind großzuziehen, dessen Vater aus ihrem Leben verschwunden war.

Auch wenn der Richter nicht davon überzeugt gewesen war, dass Nicole ihr Leben in den Griff bekommen würde, hatte ihre Entschlossenheit, ihren Sohn zurückzubekommen, Alison beeindruckt. Deshalb hatte sie sich besondere Mühe gegeben, der jungen Frau zu helfen. Und es hatte sich bezahlt gemacht, als Mutter und Sohn ein Jahr später wieder miteinander vereint waren.

Sie hatte das Gefühl, dass ihre Mühe sich auch in Ellens Fall lohnen würde. Und hoffentlich nicht erst in einem Jahr. Aber die Frau hatte noch einen weiten Weg vor sich.

Angesichts dieses dornigen Weges, auf dem Ellen sich befand, schienen Alison mit einem Mal ein Strauß tote Rosen und eine Bingokarte kein besonderer Grund zur Besorgnis zu sein.

* * *

„Ich weiß nicht, Chuck.“ Daryl zog das dritte Bier aus dem Kühlschrank und zog an dem Aluminiumring. „Wir könnten erwischt werden.“

„Nicht, wenn wir vorsichtig sind.“ Er hielt ein kleines Glas mit weißem Pulver hoch und schüttelte es. „Bist du sicher, dass du nichts willst? Das ist der Rest von dieser Ladung.“

Daryl trank einen Schluck Bier und musterte das Meth. Nach seiner Begegnung mit Nicole an diesem Abend könnte er einen Kick gebrauchen – und den bekam er nicht vom Bier.

„Komm schon, Mann.“ Chuck kam näher und hielt ihm das Glas dicht vors Gesicht. „Das reicht locker für uns beide. So wie in der guten alten Zeit.“

Nur dass die gute alte Zeit ihn ins Gefängnis gebracht hatte.

Daryl stieß die Hand des Mannes zur Seite und trank noch einen Schluck Bier. „Heute nicht.“

„Wie du willst.“ Chuck öffnete eine Schublade und zog seine Spritze heraus.

„Wann hast du eigentlich angefangen zu spritzen?“

„Vor zwei, drei Jahren. Alles andere ist Mist, Mann.“ Chuck holte einen Löffel aus der Schublade und schüttete ein kleines Häufchen von dem Pulver in eine Schüssel. Dann fügte er ein wenig Leitungswasser hinzu und vermischte beides mit der Kappe der Spritze. „Aber um auf deine Lieblingssozialarbeiterin zurückzukommen: Ich sage dir, wir können damit durchkommen. Wenn du ihr richtig wehtun willst, ist das deine beste Chance.“

Er wollte ihr wehtun.

Er konnte nur kein Blut sehen.

Aber das würde er vor Chuck natürlich nicht zugeben.

„Wir müssten uns ihr Haus gründlicher ansehen. Als wir die Blumen hingebracht haben, waren wir ja nicht lange da.“ Daryl trank einen Schluck aus seiner Dose.

„Stimmt. Wir können es machen wie Privatdetektive. Beschattung.“ Chuck sog das flüssige Crystal Meth in die Spritze. Dann zog er im Sitzen Schuh und Socke aus. Daryl wandte sich ab, als Chuck sich das Zeug zwischen die Zehen spritzte, wo der Einstich nicht zu sehen sein würde.

Nadeln hatte er auch noch nie leiden können.

„Los geht’s, Baby.“

Während Chuck sprach, drehte Daryl sich wieder um. Die Augen des Mannes waren halb geschlossen und die Wirkung der Droge glättete die Falten in seinem Gesicht.

„Sollen wir morgen hinfahren?“ Daryl trank noch einen Schluck Bier. Es schmeckte schal.

„Ja. Das ist eine gute Idee. Gib mir noch einen Augenblick, dann können wir das Ganze planen.“

Nicht sehr wahrscheinlich. Wenn der Kick nachließ, würde Chuck nicht mehr stillsitzen können. Dann konnte man stundenlang nichts mit ihm anfangen.

„Warten wir bis morgen. Ich bin ziemlich fertig.“ Daryl leerte die Dose mit einem letzten Schluck und warf sie dann in den Müll.

„Auch gut, Mann.“

Daryl ging den Flur hinunter und dachte über Chucks Idee nach. Der Typ wusste, wie man jemanden an einer empfindlichen Stelle traf, keine Frage. Ob er den Mut hatte, den Plan seines Gastgebers in die Tat umzusetzen, war jedoch eine andere Frage.

Als er die Schwelle zum Schlafzimmer überschritt und das Licht anschaltete, huschte eine Kakerlake unter das Futonbett. Der Ekel drehte ihm den Magen um, als er seine dreckige, trostlose Umgebung betrachtete. Er wollte nicht den Rest seines Lebens so verbringen. Aber was blieb ihm anderes übrig? Er hatte nie Glück gehabt, nicht ein einziges Mal in seinen ganzen neunundzwanzig Jahren – außer an dem Tag, als er Nicole über den Weg gelaufen war. Er hatte ihr vorhin gesagt, sie schulde ihm etwas und er hätte ihr einen Gefallen getan. Aber in Wirklichkeit war er es gewesen, der von dem Handel am meisten profitiert hatte.

Und dann hatte Alison Taylor alles kaputt gemacht.

Er ging zu dem Futon und trat dagegen, in der Hoffnung, dass die Kakerlaken den Wink verstehen und verschwinden würden. Nachdem er die Decke ausgeschüttelt hatte, legte er sich hin.

Alison Taylor hatte wahrscheinlich ein schönes weiches, sauberes Bett. In ihrem Haus gab es bestimmt kein Ungeziefer. Sie war jemand, der Glück hatte. Die Art Person, die ein zauberhaftes Leben in einer vollkommenen Welt führte.

Aber es lag in seiner Macht, ihre Welt weniger vollkommen zu machen. Er musste nur Chucks Idee aufgreifen.

Während er zur dunklen Decke hinaufstarrte, konnte er hören, wie Chuck anfing, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Er würde die nächsten Stunden herumlaufen, zu aufgedreht, um zu sitzen oder zu schlafen. Daryl drehte sich auf die Seite und versuchte den Lärm auszublenden und an seine Zukunft zu denken.

Aber die war zu deprimierend.

Wieder einmal hatte er das Gefühl, am Rande eines Abgrunds oder vor einem heranrasenden Zug zu stehen. Aber das Schlimmste war, dass er das Gefühl hatte, das Ergebnis nicht beeinflussen zu können. Dass er wieder einmal ein Opfer der Umstände werden würde.

Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und er knüllte die schmutzige Decke in seiner Faust zusammen, während er wünschte, er könnte sich an einer Welt rächen, die ihn unfair behandelt hatte.

Doch das lag nicht in seiner Macht. Aber er konnte eine Person bestrafen. Sie dafür bezahlen lassen, dass sie sein Leben zerstört und ihm dann die letzte Chance geraubt hatte, es zu retten.

Alison Taylor mit den schwarzen Rosen einen Schrecken einzujagen, hatte Spaß gemacht. Aber Chucks neuer Plan war noch teuflischer. Diesmal würde sie leiden. Und das gefiel ihm. Sehr sogar.

Ein freudloses Lächeln umspielte seine Lippen, als er auf das harte, unförmige Kissen eindrosch und hoffte, dass der Schlaf – und die Flucht, die er bot – schnell kommen möge. Ja, er musste sich mit Chuck noch mal über dessen Idee unterhalten.

Sobald er sich mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass Blut fließen würde.

* * *

Mitch hielt einen Becher mit Kaffee, den er sich zusammen mit seinem Mittagessen in einem Drive-in gekauft hatte, während er aus dem Wagen stieg. Er ließ seinen Blick über den Tatort wandern. Das gelbe Absperrband der Polizei war bereits um das heruntergekommene Zweifamilienhaus in South County gespannt und der Wagen der Spurensicherung parkte davor.

„Du bist also auch für den Fall eingeteilt worden, was?“

Er drehte sich um und sah Cole von der gegenüberliegenden Straßenseite her auf sich zukommen.

„Ja. Weißt du schon was?“

„Nicht viel. Klingt so, als könnte es eine Überdosis Drogen sein.“ Er zeigte auf die Haustür. „Sehen wir mal nach.“

Ohne Mitchs Antwort abzuwarten, nannte Cole dem diensthabenden Streifenpolizisten seinen Namen und die Dienstnummer seiner Abteilung. Dann duckte er sich unter dem Absperrband hindurch und ging zur offen stehenden Eingangstür.

Mitch gab dem Beamten die entsprechenden Informationen und folgte Cole, wobei er stehen blieb und Türklinke und Schloss untersuchte. „Kein Hinweis auf gewaltsames Eindringen.“

„So ist es.“ Cole warf einen kurzen Blick darauf, während eine Frau mit kurzen lockigen schwarz-grau melierten Haaren vom Flur ins Wohnzimmer trat. „Hi, Lacey. Seid ihr hier fertig?“

„Vorläufig schon.“

Cole sah Mitch an. „Kennt ihr zwei euch?“

„Noch nicht.“

„Lacey, das ist Mitch Morgan. Ein Neuling.“ Cole grinste ihm zu. „Jedenfalls bei uns. Kommt aus New York. Mitch, Lacey Stephens. Eine unserer besten Ermittlerinnen der Gerichtsmedizin.“

„Guten Morgen, Mitch. Willkommen in unserer Abteilung.“ Sie reichte ihm nicht die Hand, da sie noch in einem Latexhandschuh steckte.

„Danke.“

„Also, was meinst du?“ Cole deutete mit dem Kopf in Richtung Flur.

„Sieht aus wie eine Drogensache. Meiner Einschätzung nach hat der Tote jahrelang Crystal Meth konsumiert. Ich vermute Schlaganfall oder Herzversagen.“

„Kannst du schon etwas über den Zeitpunkt des Todes sagen?“

„Nach der Leichenstarre zu schließen vor etwa zwölf bis fünfzehn Stunden.“

„Wer hat die Leiche gefunden?“

Entscheidungen.

Nicht Gottes Entscheidung.

Gott hatte das armselige Ende dieses Mannes nicht bestimmt.

Angesichts dieser unerwarteten Schlussfolgerung runzelte Mitch die Stirn, während er aus der Parkbucht setzte. Es war Jahre her, dass er im Zusammenhang mit seiner Arbeit an Gott gedacht hatte. Und selbst dann war es selten genug vorgekommen, in der Regel nur als Reaktion auf ein erschütterndes Gemetzel oder einen sinnlosen Tod. Und meist beschränkte er sich darauf, ein gequältes „Warum?“ gen Himmel zu schleudern, ohne dass er eine Antwort erwartete.

Und er hatte auch nie eine bekommen.

Während er sich in den Straßenverkehr einfädelte, überlegte er, dass der ungewohnte Gedanke etwas mit der Unterhaltung zu tun hatte, die er letzte Woche mit Alison über dieses Thema geführt hatte. Sie hatte zugegeben, dass es Ungerechtigkeit gab, glaubte aber, dass Gott Gutes daraus entstehen lassen konnte, wenn die Menschen ihn ließen.

Mitch war sich nicht sicher, ob er das schlucken konnte. Nicht nach all dem, was er bei den Einsätzen seiner Marinespezialeinheit und auf den Straßen von New York gesehen hatte. Wie sollte aus unterdrückerischen, totalitären Regimen und sinnlosem Töten unschuldiger Menschen oder aus brutalen Morden etwas Gutes entstehen? Oder daraus, dass ein Mensch starb, weil er falsche Entscheidungen getroffen und Drogen genommen hatte, um seinen Fehlern zu entfliehen?

Ihm fiel keine Antwort ein, als er beschleunigte und sich an den Verkehrsfluss anpasste. Aber Alison hatte auch gesagt, dass es dauern konnte, bis ein Sinn zu erkennen war. Oder dass man es nie verstand. Dann musste man Gottes Plan vertrauen, ohne ihn zu verstehen.

Das war viel verlangt. Und schwerer zu erfüllen als eine Menge der Spezialeinsätze, die er durchgeführt hatte. Aber wenn Alison es konnte, wenn sein Vater es konnte, vielleicht fand er dann auch einen Weg, es zu tun. Wenn nicht, würde er nie mit Gott ins Reine kommen, das wusste er – und das war etwas, das ungeheuer an Wichtigkeit gewonnen hatte, seit Alison in sein Leben getreten war. Denn als jemand, der gläubig war, würde sie von einem Mann mit ernsten Absichten dasselbe erwarten.

Und seine Absichten wurden von Tag zu Tag ernsthafter.

Vielleicht war das nicht der vornehmste Grund, Gott zu suchen, aber es war ehrlich. Und vielleicht spielte es für Gott ja keine Rolle, warum Menschen sich ihm zuwandten … solange sie auf dem Weg zu ihm waren.

Leider würde es noch ein langer Weg sein, was das Vertrauen betraf. Der heutige Tag war ein perfektes Beispiel. Auch wenn er schon weitaus Schlimmeres gesehen hatte als einen Drogenabhängigen, der in einer schäbigen Mietswohnung gestorben war, machte es ihn trotzdem traurig. Wie konnte darin ein größerer Sinn stecken?

Es war nicht leicht zu verstehen.

Aber als Mitch den Blinker setzte und in die Auffahrt zur Interstate 270 bog, hoffte er trotzdem, dass es einen Sinn gab.