Über das Buch:
Wie bitter muss ein Geheimnis sein, dass seine Enthüllung eine Familie zerreißen würde?
Auf den ersten Blick scheint das Leben von Emma, Grace und Suzanne – Mutter, Tochter und Enkelin – wie ein ruhiger Strom dahinzugleiten. Doch aus heiterem Himmel beginnt das Wasser Wellen zu schlagen. Suzannes Ehe steht vor dem Aus. Um ihrer Enkelin zu helfen, muss Emma eine schwere Entscheidung fällen. Soll sie ihre Nachkommen in die dunklen Kapitel ihrer bewegten Familiengeschichte einweihen? Doch wie viel darf Emma offenbaren, ohne dass ihr bittersüßes Geheimnis ans Tageslicht kommt? Behutsam entrollt sich das ergreifende Schicksal von vier Generationen. Verlorengeglaubtes wird wiederentdeckt und verwundete Herzen lernen neu zu lieben.
Eine faszinierende Familiensaga über die Opferbereitschaft der Liebe.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist ebenso Aufgabe wie Inspiration für sie. Wenn ihr nach dem Tagesgeschäft noch Zeit bleibt, ist sie als Vortragsreisende unterwegs und widmet sich der Schriftstellerei.

Kapitel 6

Friedrichs Einberufungsbefehl lag mehr als einen Monat lang ungeöffnet auf unserer Kommode. Er musste ihn nicht lesen, um zu wissen, dass er uns bald verlassen musste. Der September kam, und die Schule begann ohne ihn. Er hatte dem Schulleiter erklärt, dass er einen Einberufungsbefehl erhalten hatte, aber nicht, dass er vorhatte, nach Amerika zu flüchten. Die Schulbehörden waren so freundlich, uns weiter in dem Häuschen wohnen zu lassen, bis Friedrich ging, und sie versprachen ihm, dass er seine alte Stelle wiederhaben könnte, wenn er in zwei Jahren zurückkäme. Ich verstand immer noch nicht, warum Friedrich nicht einfach für mich zwei Jahre seines Lebens opfern und seinen Militärdienst leisten konnte und stattdessen von mir verlangte, dass ich den Rest meines Lebens für ihn opferte.

Je mehr sich mein Ärger auf ihn festsetzte, desto mehr zog ich mich von Friedrich zurück, so wie sich die Leute von einem lieben Menschen zurückziehen, wenn er stirbt, als könnten sie sich damit Schmerz ersparen. Meine ganze Liebe galt Sophie, die mit jedem Tag kräftiger und hübscher wurde. Aber je mehr ich mich zurückzog, desto mehr schien sich Friedrich an mich zu klammern, als wollte er das feine Band, das sich in unserem ersten Ehejahr zwischen uns gesponnen hatte, unbedingt erhalten. Was mich betraf, so hatte seine Entscheidung dieses Band längst zerschnitten.

Eines Abends saß er an dem Küchentisch neben dem verwaisten Bücherregal und schrieb wieder einmal einen Brief an seinen Vetter in Amerika, als mir etwas einfiel. „Warum gehst du nicht einfach jetzt, Friedrich“, schlug ich vor, „anstatt dich hier noch zwei Monate lang zu quälen? Du wirst noch wahnsinnig, wenn du hier weitere zwei Monate tatenlos herumsitzt, und ich halte es nicht aus, dir dabei zuzusehen.“

Er legte bedächtig den Füllfederhalter aus der Hand und löschte das Papier sorgfältig ab, bevor er antwortete. „Ich hab dir doch versprochen, dass ich hierbleiben werde, so lange es geht.“

„Darum habe ich dich aber nie gebeten.“

„Ich weiß ... Ich bin einfach immer davon ausgegangen, dass dir das so lieber wäre.“

Tränen schossen mir in die Augen. Ich wiegte Sophie in meinen Armen, obwohl sie tief und fest schlief. „Was mir lieber wäre, ist doch nicht wirklich wichtig, oder?“

„Oh doch, das ist sehr wichtig.“

Ich wartete, bis ich ihn wieder trockenen Auges ansehen konnte, und sagte: „Dann möchte ich lieber, dass du gehst. Du bist doch bereit zu gehen, das merke ich dir an. Warum solltest du es länger hinauszögern?“

Er antwortete nicht. Ich hatte immer noch an der leisen Hoffnung festgehalten, dass Friedrich es doch nicht schaffen würde, uns zu verlassen, wenn es so weit war, und dass er nur deswegen noch nicht weg war, weil ihm Zweifel an seiner Entscheidung gekommen waren. Aber als er nun zurückkehrte, nachdem er seinen Brief nach Amerika zum Briefkasten gebracht hatte, breitete er die Karte mit den Fluchtwegen in die Schweiz auf dem Tisch aus. Ich legte Sophie in ihre Wiege und betrachtete die Karte über seine Schulter hinweg. Ich fragte mich, was er wohl vorhatte. Legen Sie sich eine gute Geschichte zurecht, wenn Sie in diese Orte reisen, hatte Rudolf den Männern eingeschärft. Ich wies auf eines der Dörfer, die rot umkringelt waren.

„Da wohnt meine Tante Martha. Du kannst den Behörden erzählen, dass wir sie besuchen.“

Friedrich holte tief Luft. „Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich nicht vorhabe zu lügen.“

„Warum planen wir dann nicht einen richtigen Besuch? Mit dem Schiff braucht man nur einen Tag dorthin. Sophie und ich könnten mitkommen.“

„Ich möchte dich und das Kind da nicht mit hineinziehen.“

„Es ist ein bisschen spät, daran zu denken, meinst du nicht?“, sagte ich schroff. „Uns betrifft das alles sowieso. Meinst du nicht, die Behörden würden weniger Verdacht schöpfen, wenn du deine Frau und dein Kind dabei hast?“

„Luisa ...“

„Ich schreibe Tante Martha. Sie ist sicher glücklich, ihre kleine Großnichte kennenzulernen.“ Ich griff nach der Kiste mit Blättern und Briefumschlägen, die Friedrich gerade benutzt hatte, und setzte mich an den Tisch, um meinen Brief aufzusetzen. Mir war klar, dass ich ziemlich eigensinnig war, aber warum sollte ich es ihm zu einfach machen, uns zu verlassen? Ich hoffte ein bisschen darauf, dass er es nicht übers Herz bringen würde, uns in einem abgelegenen, fremden Grenzstädtchen Lebewohl zu sagen.

Er atmete wieder tief durch und rieb sich die Augen. „Lass mich drüber nachdenken.“

* * *

Schließlich erlaubte Friedrich widerwillig, dass Sophie und ich mit ihm bis zur Schweizer Grenze reisten. In der Morgenluft lag eine eisige Kälte, als wir auf das Schiff stiegen, das uns in den Süden bringen sollte. Als das Schiff ablegte, suchte ich mit Sophie drinnen mit den anderen Passagieren Unterschlupf, während Friedrich an Deck stand und zusah, wie unser kleines Dorf kleiner und kleiner wurde und schließlich gar nicht mehr zu sehen war. Ich wusste, dass er Abschied nahm. Er hatte am Abend vorher seiner Familie Lebewohl gesagt und sie bis zum Schluss angefleht, nach Amerika nachzukommen. „Du könntest deinen Laden verkaufen und drüben einen neuen aufmachen“, hatte er seinen Vater beschworen. „In Amerika brauchen sie auch gute Metzger.“ Aber in unseren beiden Familien hatte keiner ihm irgendetwas zugesagt.

Am frühen Nachmittag hatten wir schon die halbe Strecke hinter uns gebracht. Der Tag war ungewöhnlich warm, und wir saßen auf Stühlen oben auf dem Deck des Schiffs und sahen zu, wie Dörfer, Weinberge und Kirchturmspitzen gemächlich an uns vorbeizogen. Ich nahm meinen Hut ab, um mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Sophie schlief an meiner Schulter. Es war ein so herrlicher Tag, dass ich mir nur wünschte, wir machten wirklich einen Tag Urlaub. Wenn das sanfte Schaukeln des Schiffs doch nur nicht mit jeder Sekunde Friedrich von uns entfernte! Die Tatsache, dass wir stromaufwärts fuhren, kam mir irgendwie bedeutsam vor – mein Mann schwamm gegen den Strom und zerrte uns dabei mit sich.

Ich schloss die Augen, und in der Sonne überkam mich eine wohlige Müdigkeit. Ich war gerade für einen Moment eingeschlummert, als Friedrich nach meinem Arm griff.

„Luisa ...“

„Mhmm?“ Ich öffnete die Augen und sah zwei Männer in Uniform – einen Offizier und einen jüngeren Soldaten –, die sich ihren Weg über das Deck bahnten. Sie betrachteten alle Passagiere ausgiebig, als suchten sie nach jemandem, und in ihrem kalten Gesichtsausdruck lag nicht die Spur eines Lächelns.

„Die waren vorhin noch nicht da“, flüsterte Friedrich. „Sie müssen beim letzten Halt zugestiegen sein.“ Wir sahen zu, wie sie neben dem jungen Bankangestellten aus Köln stehen blieben, den wir eben kennengelernt hatten. Der Offizier streckte die Hand aus, vermutlich, um nach den Ausweispapieren zu fragen, die jeder Mann im wehrfähigen Alter mit sich zu führen hatte. Sie ließen den Mann aufstehen und begannen, seine Taschen und sein Gepäck zu durchsuchen. Alle Farbe wich aus Friedrichs Gesicht.

„Nein ...“, flüsterte er.

Ich sah plötzlich klar vor mir, dass ich meine Zukunft in der Hand hatte. Ich konnte Friedrich in Deutschland halten und mein Leben so weiterleben wie bisher. Es lag ganz in meiner Hand, und ich würde nicht ein einziges Wort sagen müssen, weil Friedrich keine Lüge über die Lippen bringen würde. Die Soldaten würden das Päckchen mit seinem Geld finden, die Einreisepapiere, die Karte mit den Fluchtwegen in die Schweiz und die Adresse seines Vetters in Amerika. Ich spürte, dass eine ungeahnte Kraft mich durchströmte – wie sie durch das Schiff gefahren war, als es am Kai abgelegt und den Kampf mit der Strömung aufgenommen hatte. Ich konnte das auch: gegen den Strom schwimmen.

Die Soldaten befragten nun den jungen Studenten, mit dem sich Friedrich kurz unterhalten hatte. Ihm schien das alles nichts auszumachen – er reichte den Soldaten lächelnd seine Papiere und knöpfte sogar die Jacke auf, damit sie ihn besser durchsuchen konnten. Aber die Soldaten behandelten ihn schroff und von oben herab. Sie hatten alle Macht, sie hatten alle Befugnisse, und sie hatten Gewehre. Ich versuchte mir Friedrich in Uniform vorzustellen, aber es gelang mir nicht recht. Er würde andere Menschen nie so behandeln können, wie diese Soldaten es taten, und er würde nie ein Gewehr anlegen und töten können. Und dann versuchte ich ihn mir im Zuchthaus vorzustellen, unter wirklichen Verbrechern.

Meine Gefühle für Friedrich waren längst so verworren wie ein Strang Garn, der nicht richtig aufgerollt worden war. Ich war wütend, weil er eine so folgenschwere Entscheidung getroffen hatte, und noch wütender, weil er als mein Ehemann so vollkommen über mich bestimmen konnte. Aber er war ein guter Mann, der hart arbeitete, mich liebevoll behandelte und gut für mich sorgte. Ein Teil von mir wollte ihn beschützen, der andere wollte ihn bestrafen.

Ich streichelte meine Tochter, die an meiner Schulter lag, und küsste zärtlich ihre weiche, duftende Haut. Friedrich war ihr Vater. Sie brauchte ihn, um sie zu versorgen und zu beschützen. Ohne Friedrich konnte ich Sophie nie durchbringen.

Die Entscheidung fiel mir leichter, als ich sie nicht für Friedrich, sondern für meine Tochter fällte. Ich lehnte mich zu Friedrich hinüber, als wollte ich ihn küssen.

„Fritz“, flüsterte ich, „gib mir deine Papiere und die Karte.“

Er bewegte sich nicht. Einer der Soldaten sah zu uns herüber, als hielte er schon nach dem nächsten Opfer Ausschau, während der andere noch den Studenten befragte. Ich streichelte Friedrichs Hand, die zu einer Faust geballt auf seinem Bein lag.

„Mach schon, Fritz.“

Ich nahm das Kind von meiner Schulter und setzte es auf den Schoß. Sophie wachte auf und begann zu quengeln, aber ich versuchte sie nicht wieder zum Einschlafen zu bringen. Vielleicht würde ihr Schreien die Soldaten ablenken. Männer schienen mit weinenden Kindern immer überfordert zu sein.

„Auch das Geld. Schnell.“

Endlich brachte Friedrich die Kraft auf, sich zu bewegen. Er beugte sich über Sophie und redete leise auf sie ein, und dabei griff er in seine Brusttasche nach dem Päckchen, in dem all seine Papiere und das Geld war, das er für Amerika gespart hatte. Er hatte alles in Fleischerpapier gewickelt und zusammengeschnürt wie eine Portion Gulasch. Er beugte sich weiter über das Kind, sodass niemand das Päckchen sehen konnte, und reichte es mir herüber.

Ich tat so, als überprüfte ich Sophies Windel, und schob das Päckchen in das fest gestrickte Wollhöschen, das sie über ihrer Windel trug. Sie zeterte laut los. Sie lag nicht gerne auf dem Rücken, und mir war klar, dass sie sofort aufhören würde zu schreien, wenn ich sie wieder hochnahm und an die Schulter legte. Aber die Vertreter der Obrigkeit rückten näher, und so zerrte ich energisch an Sophies Röckchen herum und ließ sie weiter heulen.

„Ihre Ausweispapiere, bitte.“

Ich fragte mich, ob sie das Zittern in Friedrichs Händen wohl bemerkten, als er ihnen seine Papiere reichte, und ob ihnen wohl auffiel, dass er die Zähne fest zusammengebissen hatte. Ich beobachtete den Gesichtsausdruck des Offiziers, als er die Papiere in aller Ruhe studierte. Er war dünn und farblos, und sein Haar war genauso blass wie seine Augen und seine Haut. Er erinnerte mich an einen dieser Fische, die in Höhlen leben, weitab vom Sonnenlicht. Was seine Hand berührte, wurde bestimmt ganz kalt.

„Ich sehe, dass Sie wehrtauglich sind, Herr Schröder“, sagte er schließlich. „Haben Sie Ihren Einberufungsbefehl schon erhalten?“

„Ja.“

„Wann war das?“

„An dem Tag, an dem meine Tochter geboren wurde. Vor ungefähr einem Monat.“

„Warum haben Sie sich noch nicht zum Dienst gemeldet?“

Friedrich zögerte. Ich hätte fast für ihn geantwortet, aber schließlich sagte er: „Ihnen ist sicher bewusst, dass mir drei Monate Zeit bleiben, um meine Angelegenheiten zu regeln, bevor ich mich melde.“

Der Offizier starrte meinem Mann lange in die Augen, aber Friedrich wich seinem Blick nicht aus. Ich betete, dass die Soldaten keine weiteren Fragen stellen würden.

„Ihre Fahrkarte, bitte.“

Friedrich kramte in seiner Rocktasche nach unseren zwei Rückfahrkarten. Sophie schrie nun aus Leibeskräften, und ihr Geschrei zerrte an meinen Nerven. Die Soldaten dagegen schienen es nicht einmal zu bemerken.

„Warum reisen Sie in dieses Dorf?“

„Die Tante meiner Frau wohnt dort. Wir besuchen Sie mit unserem Neugeborenen.“ Friedrich sagte die Wahrheit, und trotzdem klang seine Stimme gepresst. Der jüngere Soldat zog ein kleines Büchlein und einen Stift aus der Tasche.

„Name und Anschrift Ihrer Tante?“

Während der Soldat meine Angaben niederschrieb, betrachtete der Offizier Friedrich, als wäre dieser ein Tier auf dem Viehmarkt, das er kaufen wollte.

„Stehen Sie auf“, sagte er plötzlich.

Sie durchsuchten Friedrich vor den Augen aller Passagiere und zwangen ihn, die Arme und Beine auszustrecken, damit sie ihn abtasten konnten wie einen Verbrecher. Ich war über ihre Überheblichkeit empört. Einer von ihnen nahm Friedrichs Geldbörse an sich und zählte sein Geld durch, während der andere durch das Buch blätterte, in dem er gerade gelesen hatte. Das Lesezeichen flog im Wind davon.

„Wonach suchen Sie denn eigentlich?“, fragte ich wütend.

„Pssst. Das hat schon seine Richtigkeit, Luisa“, murmelte Friedrich.

„Wo sind Ihre Taschen?“, fragten sie, als sie mit ihm fertig waren. Friedrich griff unter seinen Stuhl und beförderte unsere Reisetasche zu Tage. Der Soldat durchwühlte sie und verstreute unsere Habseligkeiten auf dem Deck. Ich kämpfte mit den Tränen, als er mein Nachthemd beiseite warf, sodass jeder es sehen konnte.

„Ist das Ihr ganzes Gepäck?“, fragte der Offizier.

„Wir wollen doch nur ein Wochenende bleiben“, sagte ich mit mühsam unterdrückter Wut. „Aber hier ist noch die Tasche mit den Kindersachen, wenn Sie einen Haufen nasser Windeln sehen möchten.“ Ich schob ihm die Tasche mit dem Fuß zu, und sie durchsuchten sie wirklich sorgfältig, trotz der nassen Windeln und Wollhöschen.

Als sie fertig waren, stand ich auf und hob Sophie wieder an meine Schulter. „Wollen Sie mich etwa auch durchsuchen?“

Die blassen Augen des Offiziers bohrten sich einen Moment lang in meine. Mein Herz klopfte wie wild vor Wut und Angst. Ich fragte mich, ob ich wohl mit Friedrich ins Zuchthaus wandern würde, wenn sie das Päckchen fanden.

„Das wird nicht nötig sein“, sagte er schließlich. Die beiden Männer wandten sich gleichzeitig um und schritten das Deck weiter ab, als hätten sie sich nur nach der Uhrzeit erkundigt und uns nicht wie Diebe durchsucht.

Als sie außer Sicht waren, setzte ich mich wieder hin. Ich wagte nicht, Friedrich anzusehen, aus Angst, dass ich dann in Tränen ausbrechen würde. Er beugte sich vor, um unsere Siebensachen in der Tasche zu verstauen, dann setzte er sich wieder hin und schlug sein Buch auf. Es zitterte in seiner Hand.

Ich sah zu den friedlichen Hügeln hinüber, die an uns vorbeizogen, und zu den schon ein bisschen gelben Blättern, die verkündeten, dass es bald wieder Winter werden würde. Ich wiegte mein weinendes Kind in den Armen und verstand zum ersten Mal, dass Friedrich mit all seiner Macht, über mein Schicksal zu bestimmen, nicht zu beneiden war. Eine Entscheidung von solcher Reichweite war ein Drahtseilakt, wie ich ihn einmal in einem Wanderzirkus bestaunt hatte, wo ein Akrobat auf einem dünnen Seil zwischen zwei Platten hin und her getanzt war. Wenn man einmal einen Beschluss gefasst hatte, wenn man einmal den ersten Schritt gegangen war, musste man immer weitergehen, egal wie beängstigend die Reise sein mochte – bis man heil auf der anderen Seite ankam oder abstürzte. Man konnte nur hoffen, dass man die richtige Entscheidung gefällt hatte, und um die Kraft beten, den Entschluss bis zum Ende durchzuziehen.

Die Kleine hatte schließlich ihren Daumen gefunden und aufgehört zu weinen. Es wurde kühler, und die Hügel warfen lange Schatten auf unser Schiff. Friedrich klappte sein Buch zu und legte beide Hände darauf.

„Luisa ...“ Ich wandte mich zu ihm um und sah in seinen Augen Tränen glitzern. „Danke.“

* * *

Später am Nachmittag legte unser Schiff am Dorf meiner Tante an. Während der Sommermonate war es mit seinen Booten, mit denen man auf dem Rhein fahren konnte, und seinen kleinen Lokalen am Ufer ein beliebtes Ausflugsziel. Auch jetzt im Herbst war es hübsch anzusehen mit seinen holzverkleideten Häusern, den bemalten Blumentöpfen und einer großen Uhr auf dem Marktplatz, die zu jeder vollen Stunde ein Glockenspiel ertönen ließ. Es war hier aber auch sehr viel kühler als zu Hause, und ich war froh um den Schal, den ich mitgebracht hatte.

Ich war müde von der frischen Luft und der langen Reise, und als wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten, war ich ein bisschen wackelig auf den Beinen. Meine Haut fühlte sich rau an, mein Haar war vom Wind zerzaust, und ich sehnte mich nach nichts weiter als nach einem heißen Bad und einem dicken Federbett. Gegenüber der Anlegestelle standen einige Kutschen, die man anmieten konnte.

„Fritz, können wir es uns leisten, mit der Kutsche zu Tante Marta zu fahren? Ich bin zu müde zum Laufen.“

„Ja, aber ... ich denke gerade nach.“ Er betrachtete mich und schien nach Worten zu suchen. Würde er sich das mit der Auswanderung vielleicht doch noch einmal anders überlegen? Ich hielt den Atem an und wartete.

„Ich möchte deine Tante nicht mit hineinziehen, Luisa.“

„Was soll das heißen? Sie wartet doch auf uns ... und wir haben den Soldaten ihre Adresse gegeben.“

„Ich weiß. Genau da liegt das Problem. Ich muss ihr erklären, dass ich gegen das Gesetz verstoße, wenn ich heute Abend losziehe. Und dann muss sie möglicherweise lügen, wenn sie Ärger mit den Behörden bekommt, warum sie mich nicht aufgehalten oder angezeigt hat. Ich möchte sie dem nicht aussetzen, wenn es sich vermeiden lässt. Ich werde für dich und Sophie eine Kutsche anmieten, die euch dorthin bringt ... aber ich glaube, ich verabschiede mich hier besser von euch.“

„Nein, Fritz!“ Meine Enttäuschung ging innerhalb von Sekunden in blanke Panik über. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mir nie wirklich bewusst gemacht, was es bedeutete, dass er uns verließ. Jetzt hallte eine furchtbare Leere durch meine Seele – ich fühlte mich so hohl, dass ich Angst hatte, in dem Wind davonzufliegen. Ich dachte an Großmutters Worte zurück, dass sie nach Großvaters Tod das Gefühl hatte, ein Stück von ihr sei mit gestorben. Wie konnte ich so wütend auf Fritz sein, weil er mich hier zurückließ, und gleichzeitig so viel Verlust empfinden?

„Es ist wirklich das Beste für deine Tante, Luisa. Es ist ja schon schlimm genug, dass ich dich da mit hineingezogen habe.“

„Aber wir können doch nicht auf diese Weise Lebewohl sagen – hier am Kai.“

Eine ganze Reihe von Lädchen und Lokalen lag an der Uferstraße, und Friedrich führte mich über die Straße in ein Café. Wir setzten uns an einen Tisch ganz hinten und bestellten heiße Schokolade, aber wir rührten unsere Tassen nicht an. Zweimal öffnete Friedrich den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder, bevor er endlich die richtigen Worte fand.

„Wenn es irgendeine andere Möglichkeit gäbe ... wenn ich irgendeine Wahl gehabt hätte ... ich würde euch nie allein zurücklassen, Luisa.“

Ich nickte, aber ich sagte nichts, weil ich dann unweigerlich in Tränen ausgebrochen wäre.

„Wirst du mit Sophie zurechtkommen?“, fragte er unsicher. „Auf dem Rückweg und danach?“

Ich nickte wieder und biss mir auf die Lippen.

Er griff über den Tisch nach meiner Hand. „Warum hast du mir heute auf dem Schiff geholfen, Luisa? Ich weiß ja, dass du eigentlich nicht willst, dass ich gehe ... und trotzdem hast du es möglich gemacht.“

Ich hob den Kopf. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte ich ihm wehtun. „Ich habe es für Sophie getan. Was soll denn aus ihr werden, wenn ihr Vater ins Zuchthaus wandert?“ Als ich merkte, wie sehr ihn meine Worte verletzten, wurde ich ein bisschen sanfter. „Und außerdem habe ich mich über diese Soldaten geärgert. Sie waren so überheblich. Ich hatte Angst, was sie mit dir machen würden, wenn ... und dann wurde mir auch klar, dass du nie so werden könntest wie sie. Und das würden sie von dir erwarten, nicht? Ich meine, wenn du zum Heer gingst?“

„Das wird ihnen dort antrainiert ... Ordnung und Disziplin und absoluter Gehorsam. Tut dir dein Entschluss nun, da die Soldaten weg sind, leid?“

Ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. „Was für einen Unterschied macht das schon? Es lässt sich ja nicht mehr ändern.“

„In der Heiligen Schrift steht, dass ein Mann und seine Frau ein Fleisch werden. Was du gemacht hast ... hat mich so berührt, weil darin so viel Liebe lag. Du hast mein Wohl vor deine eigenen Wünsche gestellt.“ Er kämpfte offensichtlich mit seinen Gefühlen und fand es schwer zu sprechen. Ich merkte, dass ich auch einen Knoten im Hals hatte.

„Ich weiß, dass du früher, ganz am Anfang ... einmal etwas für mich empfunden hast“, fuhr er fort. „Und ich denke gerne zurück an unsere Zeit vor ... all dem hier. Ich bete, dass ich dir irgendwann wieder so viel bedeute.“ Er stützte einen Ellbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in seiner Hand, sodass ich seine Augen nicht mehr sehen konnte. „Ich weiß, dass du immer noch nicht verstehst, warum ich das hier tue ... warum ich gehen muss ... warum ich dich von allen Menschen wegreiße, die du liebst ...“ Er hielt inne und sah mich dann an. „Aber glaubst du, dass du es mir je vergeben kannst?“

Die Tränen, die ich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, rollten mir nun über die Wangen, eine nach der anderen. Ich konnte nicht antworten. Ich wusste die Antwort selbst nicht.

„Sag doch bitte etwas ... Luisa.“

Ich nahm Sophie langsam von meiner Schulter herunter und reichte ihm das ganze Bündel über den Tisch. „Möchtest du sie noch einmal halten?“

Er nahm sie ein bisschen ungeschickt, aber zärtlich hoch und bettete sie in seine Armbeuge. Er betrachtete ihr Gesichtchen einen Moment lang und fuhr ihr mit dem Finger über eine Wange. Sie dankte es ihm mit einem Lächeln. Als er die Augen schloss und den Kopf neigte, dachte ich, dass er weinte; und dann merkte ich, dass er für unsere Tochter betete. Als er fertig war, küsste er sie auf die Stirn. Wir standen beide gleichzeitig auf und Friedrich legte mir Sophie wieder in die Arme. Er nahm unsere Tasche.

Als sich die Tür des Cafés hinter uns schloss, merkten wir wieder, wie kalt es draußen war. Es wurde langsam dunkel, und vor allem am Fluss war der Wind beißend. Eine Kutsche mit Fahrer stand bereit, als würde sie auf uns warten. Ich sah zu, wie Friedrich dem Fahrer Anweisungen gab und ihn im Voraus bezahlte, und ich kam mir vor wie in einem bösen Traum. Friedrich hob unser Gepäck in den Wagen.

Unser Abschied hätte ein besonderes Ereignis sein sollen, das ein neues Kapitel in unser beider Leben ankündigte. Aber er war wie jeder andere Abschied – ein paar hastige Worte, eine flüchtige Umarmung und das unruhige Stampfen der Pferde.

„Alles wird gut werden, Luisa. Ich versprech’s dir.“ Er nahm Sophie und mich zum Abschied noch einmal in den Arm. „Es wird für uns alles gut werden in Amerika.“

Als dieses gefürchtete Wort fiel, entwischte mir noch eine Träne. Ich umklammerte mit beiden Armen Sophie und konnte seine Umarmung nicht erwidern. Er beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn – mehr war auf einer so belebten Straße nicht möglich. Es war der Kuss eines Fremden – höflich und unsicher, und ich musste an all die leidenschaftlichen Küsse denken, mit denen er mich früher fast erstickt hatte. Er war nicht mehr der sorgenfreie Mann, der mich mit spielerischem Übermut geküsst hatte, als wir frisch verheiratet gewesen waren und unsere Zukunft Freude und Zuversicht versprochen hatte.

„Ich liebe dich, Luisa“, flüsterte er zum ersten Mal. „Ich liebe dich so sehr.“

Ich hörte seine Worte, aber ich konnte sie nicht glauben. Nein, Fritz, dachte ich. Du liebst mich nicht. Wenn du mich liebtest, würdest du mir das hier nicht antun.

Kapitel 7

Drei Tage nachdem ich von Tante Marta zurückgekehrt war, erhielt ich Friedrichs ersten Brief. Er war kaum mehr als eine hastig hingeworfene Notiz, und seine Kürze verwunderte mich ein wenig, nachdem er mir seine Liebe gestanden hatte. Ich fragte mich, ob er nur so wenig geschrieben hatte, weil ich seine Liebesbezeugung nicht erwidert hatte.

23. September 1895

Luisa,

ich bin in Basel in der Schweiz angekommen. Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich voraussichtlich schon unterwegs, auf dem Landweg über Frankreich und Belgien nach Holland, zum Hafen in Rotterdam. Bitte veranlasse, dass mein Vater die Kiste mit meinen Sachen, die ich schon bereitgestellt habe, zum Büro der Schifffahrtsgesellschaft „White Star Lines“ in Rotterdam schickt.

Friedrich

Mutter und Emil halfen mir, unsere verbleibenden Habseligkeiten zusammenzupacken, und eine Woche nach Friedrichs Abschied zogen Sophie und ich wieder auf den Hof meiner Eltern. Ich richtete mich in meinem alten Zimmer unter dem Dach ein und stellte Sophies Wiege neben das große Bett mit den Federdecken, das ich früher mit meiner Schwester Marie geteilt hatte. Weil mein Bruder Kurt schon zum Heer gegangen war, suchte seine Frau Johanna mit ihren drei kleinen Söhnen auch gelegentlich auf dem Hof Zuflucht. Wir waren zwei „Strohwitwen“, deren Männer den Kriegsplänen des Kaisers zum Opfer gefallen waren und die ihre Kinder nun zeitweise allein aufziehen mussten. Johanna wollte den Winter noch in ihrem Häuschen verbringen, aber im Frühjahr musste sie dann ganz mit auf den Hof ziehen, damit Vater ihr Haus dem Landarbeiter zur Verfügung stellen konnte, den er als Ersatz für Kurt einstellen musste. Emil hatte sein Studium ein Jahr aufgeschoben, weil Vater niemanden gefunden hatte, der ihm mit dem Vieh und den Milchkühen helfen konnte. Mir tat das Herz weh, wenn ich daran dachte, wie unsere Träume und Hoffnungen zerstört worden waren.

Friedrichs nächster Brief erreichte mich schon auf dem Hof.

9. Oktober 1895

Liebe Luisa,

ich bin gut in Rotterdam angekommen und habe ein Ticket auf dem Zwischendeck des „White Star Lines“-Schiffs gekauft. In drei Tagen reise ich nach Liverpool ab, und von dort geht es weiter nach New York. Man hat mir gesagt, dass die Fahrt über den Atlantik zehn Tage dauert. Meine Kiste ist auch angekommen. Danke, dass Du sie hast schicken lassen. Ich hoffe, dass es Dir und Sophie gut geht und dass ihr auf dem Hof gut versorgt werdet. Ich schreibe Dir wieder, sobald ich in Amerika angekommen bin. Ich vermisse Dich jetzt schon.

Friedrich

Ich versuchte mir Friedrich vorzustellen, wie er aufs Schiff ging und über den Atlantik fuhr, wie er es beschrieben hatte, aber es gelang mir nicht. Die einzigen Schifffahrten, die ich in meinem Leben unternommen hatte, waren Bootsfahrten auf dem Rhein gewesen, und schon der bloße Gedanke, dass man auf so viel Wasser schwamm, dass man das Ufer nicht mehr sah, machte mir Angst. In meinem Denken war Friedrich schon in dem Moment, als er über die Grenze des Deutschen Reichs ging – des einzigen Landes, das ich kannte – von der Erde heruntergefallen in eine unbekannte Welt, die ihn wie eine riesige graue Wolke umfing, kalt und undurchdringlich wie der Nebel, der im Spätherbst morgens über unseren Wiesen hing.

Sein nächster Brief trug schon einen Stempel mit New York.

24. Oktober 1895

Liebe Luisa,

ich bin endlich in New York angekommen. Gestern Morgen hat mein Schiff angelegt, und ich bin zusammen mit den anderen Passagieren auf einer Fähre nach Ellis Island gefahren worden, wo Einwanderer abgefertigt werden. Ich bin gut durchgekommen, weil ich gesund und gebildet bin und über Geld sowie einen Bürgen verfüge. Viele meiner Mitreisenden haben es sehr viel schlechter angetroffen. Morgen werde ich mit dem Zug zu meinem Vetter in Pennsylvania fahren, aber heute schreibe ich Dir aus einem sehr netten Gasthaus, das von einem deutschen Ehepaar aus Bonn geführt wird. Die Deutschen hier in Amerika helfen ihren Landsleuten sehr, vor allem denen unter uns, die noch nicht gut Englisch sprechen. Wenn Du das Essen hier im Gasthaus sehen und unseren Gesprächen lauschen könntest, würdest Du wahrscheinlich nicht einmal glauben können, dass ich hier nicht in Deutschland bin.
Von New York selbst habe ich noch nicht viel gesehen, aber immerhin habe ich auf der Fahrt mit der Fähre schon von Weitem die große Freiheitsstatue gesehen. Als wir anlegten, war es sehr neblig, und auch heute war es trübe und hat die ganze Zeit genieselt. Es ist recht kalt. Ich beginne mich schon nach einem wärmeren Mantel und dickeren Handschuhen zu sehnen.
Luisa, ich bin Gott so dankbar, dass er mich zuerst hierher kommen ließ und Du mit Sophie nachkommen kannst. Ich glaube, dass er Dir damit die Überfahrt auf dem Zwischendeck ersparen wollte. Ich hatte schon allerhand Geschichten gehört, dass das nicht sehr angenehm ist, aber nachdem ich es jetzt selbst erlebt habe, ist mir klar geworden, dass ich für Dich auf eine Fahrt in der Zweiten Klasse sparen muss. Die meisten der anderen Passagiere waren unvorstellbar arm und hatten nicht die grundlegendsten Vorstellungen von Reinlichkeit. Ich kann von Glück sagen, dass ich mir auf der Überfahrt nur Läuse eingefangen habe und nicht die Schwindsucht oder Cholera oder noch etwas Schlimmeres. Dass Deine Überfahrt mehr kosten wird, bedeutet allerdings auch, dass wir noch ein wenig länger getrennt sein müssen, als ich das ursprünglich vorgesehen hatte. Ich werde rund um die Uhr hart arbeiten, wenn es sein muss, und ich verspreche Dir, dass ich Dich nachhole, sobald es irgend geht. Ich bete, dass die Zeit für uns beide schnell vorbeigeht.
Du kannst Briefe für mich an die Adresse meines Vetters senden. Bis Dein erster Brief hier ankommt, werde ich schon dort leben. Bitte schreib bald. Ich vermisse euch beide so sehr.

Dein Friedrich

Auch wenn ich Friedrichs Briefe las, in denen er Amerika beschrieb, schien es mir unwirklich, dass ich ihm je dorthin nachfolgen würde. Ich hatte mich schon wieder an das Leben auf dem Hof meiner Eltern gewöhnt und hegte den heimlichen Traum, dass sich mein Leben doch nicht ändern musste. Friedrich würde bestimmt zu uns zurückkehren, sobald er zu alt war, um im Heer zu dienen.

Aber schließlich erreichte der Klatsch und Tratsch über meinen Mann auch unseren Hof. Man schimpfte über Friedrich als Verräter und Fahnenflüchtigen, der sich feige seinen Pflichten gegenüber dem Vaterland entzog. Er würde in Deutschland nun keine Aufnahme mehr finden – selbst wenn er zurückgewollt hätte. Ich wurde von den Dorfbewohnern, deren Ehemänner und Söhne nun ihren Dienst im Heer leisteten, teils bemitleidet und teils gemieden. Ich war dankbar für den vielen Schnee in diesem Winter, der uns vom Dorf und all den ungnädigen Blicken abschnitt.

* * *

10. November 1895

Liebe Luisa,

gestern ist Dein erster Brief hier angekommen, und ich kann Dir gar nicht sagen, wie dankbar ich war, endlich von Dir zu hören.
Die Landschaft in diesem Teil von Pennsylvania erinnert mich mit ihren Höfen und Dörfern und sanften Hügeln sehr an Deutschland. In der Tat haben sich hier auch vorwiegend Deutsche angesiedelt. Du wirst Dich hier wie zu Hause fühlen. Ich lebe nicht gerne in der Stadt, aber dort gibt es die besten Arbeitsmöglichkeiten. Ein Abschluss von einem deutschen Seminar gilt hier nicht viel, und eine Tätigkeit als Lehrer kommt nicht einmal in Privatschulen in Frage, bis mein Englisch sich nicht verbessert hat.
Ich habe zunächst Arbeit in einem Kohlebergwerk gefunden. Die nehmen da fast jeden, der sich meldet. Die Bezahlung ist recht gut, aber die Arbeit ist sehr anstrengend – zehn Stunden täglich, sechs Tage die Woche. Du würdest mich am Ende eines Arbeitstages kaum wiedererkennen, weil ich so von Kohle verschmiert bin. Wenn der Winter fortschreitet, werde ich jeden Tag zwei Stunden früher aufstehen, um Eis zu schneiden und damit etwas zusätzliches Geld zu verdienen. Der Fluss friert im Winter vollständig zu, und so werden wir das Eis in Blöcke schneiden und für den nächsten Sommer in Sägemehl aufbewahren.
Bitte schreib mir bald wieder – und oft. Es hat mir so viel bedeutet, gestern nach einem langen Arbeitstag einen Brief von Dir vorzufinden. Gib Sophie einen Kuss von mir.

Dein Friedrich

Friedrich war mir so fremd, dass seine Briefe mir immer wie die eines Fremden vorkamen. Ich kannte diesen Mann nicht, der Eisblöcke aus gefrorenen Flüssen schnitt und in einem Kohlebergwerk schuftete, bis er schwarz wurde. Er lebte sein Leben dort drüben, ich lebte meins hier.

Die Briefe, die ich in Gedanken an Friedrich schrieb, unterschieden sich sehr von denen, die ich schließlich zu Papier brachte. Innerlich schimpfte ich auf ihn, weil er trotz seines Studiums einfacher Arbeiter in einem Kohlebergwerk geworden war, und ich hielt ihm vor, wie glücklich er als Schulmeister gewesen war und wie zufrieden wir in unserem kleinen Häuschen im Dorf gelebt hatten. Sophie wuchs nun ohne ihn auf, schalt ich ihn. Sie würde ihn nicht einmal wiedererkennen. War es denn wirklich besser, in einem dunklen Bergwerk zu schuften, als zwei Jahre im Heer zu dienen? Hatte er wirklich mehr gewonnen, als er verloren hatte?

Die Briefe, die ich ihm schließlich schickte, waren kaum mehr als Wetterberichte und eine lieblose Auflistung von Sophies Entwicklung: ihr fröhliches Lächeln, ihr Haar, das genauso hellbraun war wie seins, ihre Versuche, sich zu drehen und von einem Löffel zu essen. Falls ihm auffiel, wie kühl meine Briefe waren, ging er darauf jedenfalls nie ein.

5. Dezember 1895

Liebe Luisa,

ich besuche seit einiger Zeit eine kleine Missionskirche, die besonders um der Arbeiter im Kohlebergwerk und deren Familien willen eingerichtet wurde. Die Gottesdienste sind in Englisch, weil der Pfarrer und auch viele der Arbeiter ursprünglich aus Wales stammen, aber es gibt in dieser Gegend auch viele Deutsche. Als der Pfarrer merkte, dass ich mich für die Arbeit dieser kleinen Gemeinde interessiere, bat er mich, zusammen mit ihm Gottesdienste in deutscher Sprache zu gestalten. Am letzten Sonntag habe ich meine erste Predigt gehalten ...

Friedrich – ein Prediger? Das war nicht der Mann, den ich zu heiraten eingewilligt hatte! Er war eine halbe Welt entfernt und veränderte sich, er wurde ein Mensch, den ich nicht mehr kannte. Ich begann mich vor dem Tag zu fürchten, an dem er mich nachholen würde.

In all dem fröhlichen Durcheinander, das die Weihnachtszeit auf dem Bauernhof mit sich brachte, hatte ich kaum Zeit, an Friedrich zu denken. Erst als Mutter mich in die Stube schickte, um die Christbaumkerzen anzuzünden, erinnerte ich mich wieder an unser letztes Weihnachten und an all die Dinge, die mein Leben seither durcheinandergebracht hatten. Auch hier auf dem Hof war die Stimmung eine ganz andere als noch vor einem Jahr. Friedrich und Kurt waren weg, Vater und Emil sahen müde aus, weil ihr Leben so anders verlief als geplant, und Ernst und Konrad waren nervös, weil auch sie jeden Moment damit rechneten, eingezogen zu werden. Als ich mich fragte, was das nächste Jahr wohl bringen würde, und überlegte, ob ich das nächste Weihnachten wohl noch in Deutschland verbringen konnte, überfiel mich die Angst, und ich konnte kaum atmen.

Als wir uns später alle um den Christbaum versammelten und unsere Geschenke öffneten, hörten wir draußen die Glöckchen eines Schlittens. Weil ich am nächsten an der Tür saß, ging ich nachsehen, wer gekommen war. Ich brauchte eine Weile, bis ich den Fremden erkannte, der da im Türrahmen stand und sich die Schneeflocken von der Uniform bürstete.

„Frohe Weihnachten, Luisa.“

„Kurt! Du liebe Zeit! Warum hast du uns denn nicht gesagt, dass du nach Hause kommst?“ Die Wolle seiner Uniform kratzte an meiner Wange, als er mich umarmte. Er roch ein bisschen nach Haarwasser, und ich musste an Friedrich denken.

„Sie haben mir über Weihnachten zwei Tage freigegeben. Ich wollte Johanna überraschen. Ist sie hier?“

„Sie sind alle in der Stube und packen ihre Geschenke aus.“

Ich folgte ihm nach drinnen und sah, wie sich die Überraschung auf Johannas Gesicht abzeichnete und in blanke Freude überging. Kurt konnte das Verlangen in seinen Augen nicht verbergen, als er sie in die Arme nahm und fest an sich zog. Dann begannen alle gleichzeitig zu rufen und zu jubeln. Die drei Söhne von Kurt hängten sich an sein Hosenbein und machten eine Menge Lärm, damit ihr Vater sie beachtete. Mutter zog ein Spitzentüchlein aus der Tasche und tupfte sich die Augen. Vater machte eine Flasche Wein auf. „Das muss gefeiert werden“, rief er.

Zum ersten Mal, seit Friedrich gegangen war, vermisste ich seine herzhaften Umarmungen und leidenschaftlichen Küsse. Ich stellte mir vor, wie sich Johanna heute Nacht an ihren Mann kuscheln konnte, und mir wurde bewusst, wie leer mein Bett ohne Friedrich war. Wie konnte ich nur so wütend auf ihn sein und ihn gleichzeitig so sehr vermissen?

Ich wurde von meinen Gefühlen so überwältigt, dass ich nach oben flüchtete. Der silberne Spiegel, den Friedrich mir letztes Jahr geschenkt hatte, lag auf der Kommode. Ich fuhr mit dem Finger die Initialen nach – L. S. – und drehte den Spiegel dann um, um mich betrachten zu können. Durch die Tränen in meinen Augen konnte ich mich nur undeutlich sehen. Ich wusste gar nicht, wer diese Frau war. Mein Name war nicht mehr Luisa Fischer – ein Blick auf meine neuen Initialen machte mir das unmissverständlich deutlich. Ich war jetzt Luisa Schröder, aber wer war diese Frau? Wo gehörte sie hin? Vaters Hof war nicht mehr mein „Zuhause“, und das Schulmeisterhäuschen im Dorf war es auch nicht. Und eins war mir klar – nach Amerika gehörte ich auch nicht.

Ich hörte Schritte auf der Treppe und dann Mutters leise Stimme hinter mir: „Du vermisst deinen Friedrich auch, hmm, Liebchen?“

„Ja“, flüsterte ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Mutter nahm mich in den Arm.

„Es dauert jetzt nicht mehr lange. Er wird dich bald nachholen.“

Ich hob meinen Kopf von ihrer Schulter. „Aber ich will nicht nach Amerika gehen. Ich will, dass Friedrich nach Hause zurückkommt, so wie Kurt. Ich möchte, dass alles wieder so wird, wie es war.“

„Ich weiß, Liebchen, ich weiß“, seufzte Mutter. „Aber das wird nicht passieren.“

* * *

2. März 1896

Liebe Luisa,

ich habe großartige Neuigkeiten! Ich habe schon lange gebetet, dass ich einen geeigneten Wohnort für uns finde, weil ich natürlich weiß, dass Du in der Stadt nie glücklich sein würdest. Gott hat mein Gebet auf ganz erstaunliche Weise erhört. Ich habe das Angebot erhalten, Pfarrer in einer kleinen Dorfkirche in Bremenville zu werden, einem Dorf ungefähr 150 Kilometer von hier, das vorwiegend von Deutschen bewohnt wird. Zum Pfarrhaus neben der Kirche gehören sogar bescheidene zweieinhalb Hektar Land. Ich war zunächst ein wenig besorgt, dass wir von dem Einkommen der Gemeinde nicht würden leben können, aber in Kürze beginnt der Bau einer großen Spinnerei außerhalb von Bremenville, die Hunderte neuer Arbeiter herbringen wird. Wie gut Gott das alles eingerichtet hat!
Weil der Fluss kein Eis mehr trägt, habe ich eine neue Arbeit aufgenommen – ich liefere Zeitungen von der Druckerei zu den Zeitungsständen überall in der Stadt. Die Bezahlung ist nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass sie nur drei Stunden dauert, und ich kann es immer noch bis 6 Uhr 30 zum Kohlebergwerk schaffen – wenn das Pferd mitspielt!
Ich habe nun fast genug Geld, um Deine Überfahrt bezahlen zu können, Luisa. Wir können Sophies ersten Geburtstag im August zusammen feiern. Ich weiß natürlich, dass sie nicht mehr das winzige Neugeborene ist, von dem ich mich im Herbst verabschiedet habe, aber so habe ich sie immer noch vor Augen. Immer wenn ich die anderen Männer sehe, wie sie den Sonntagnachmittag mit ihrer Familie verbringen, wird meine Sehnsucht nach euch fast unerträglich.
Bald, Luisa. Schon bald werden wir wieder zusammen sein.

In Liebe,
Dein Friedrich