Über das Buch:
Vor langer Zeit kehrte Kathleen ihrem Zuhause den Rücken zu – fest entschlossen, niemals zurückzuschauen. Fernab ihrer Heimat hoffte sie, ihre Scham über die Armut und die kriminellen Machenschaften ihrer Familie abschütteln zu können. Als Kathleen 35 Jahre später eine unerwartete Einladung ihrer Schwester erhält, nimmt sie zögernd an. Mit ihrer Tochter Joelle im Schlepptau macht sie sich auf den Weg in ihre verschlafene Heimatstadt. Eigentlich soll dieser Ausflug die zerrüttete Beziehung zwischen Mutter und Tochter kitten. Doch die beiden tauchen ein in die bewegte Vergangenheit ihrer Familie und stoßen auf dunkle Geheimnisse.
Da ist Eleanor, Kathleens Mutter, die einmal so lebensfroh war. Kann ihre herzzerreißende Geschichte Licht in das Dunkel bringen?
Und da ist Fiona, ihre Großmutter. Was hat es mit dieser rätselumwobenen Person auf sich? Schließlich muss Kathleen sich entscheiden: Vergeben oder Vergessen?
Eine Geschichte voller Wärme, die zeigt, wie die Verarbeitung der Vergangenheit und das Wissen über die Lebenswege der Vorfahren dazu führen kann, dass Beziehungen gekittet und alte Verletzungen geheilt werden.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist ebenso Aufgabe wie Inspiration für sie. Wenn ihr nach dem Tagesgeschäft noch Zeit bleibt, ist sie als Vortragsreisende unterwegs und widmet sich der Schriftstellerei.

Kapitel 5

Die nächste Gelegenheit, bei der ich May Elizabeth wieder sah, war der erste Schultag im Herbst. Ich ging gerne zur Schule und war immer eine gute Schülerin. Ich genoss sogar den langen Fußmarsch zur Grundschule von Riverside, der über die Brücke, durch die winzige Innenstadt und den Hügel hinauf bis zur Schule führte. Das moderne einstöckige Gebäude war nach dem Krieg erbaut worden, um die Babyboomer-Generation zu beherbergen, und es hatte einen langen Hauptflur und riesige Fenster in jedem Klassenzimmer, die bis auf den Boden reichten und von denen man den Rasen des Schulgrundstücks und den Spielplatz überblicken konnte.

Nachdem ich mich den ganzen Sommer über um meine Geschwister gekümmert hatte, war ich froh, aus dem Haus zu kommen und ihnen zu entfliehen – obwohl ich in diesem Herbst Mütze an der Hand nehmen und zum Kindergarten bringen musste. Er ging zudem noch aufreizend langsam und sah sich nach allem um, als wäre er gerade erst aus dem Ei gekrochen und hätte nie zuvor die Welt gesehen. Seine Arme müssen an diesem ersten Tag mehrere Zentimeter länger geworden sein, so wie ich ihn hinter mir her zerrte. Als wir schließlich ankamen, schob ich ihn durch die Tür in den Kindergartenraum und floh dann, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Mütze alles vernichtete.

Der Klassenraum für die vierte Klasse, in die ich ging, lag ein Stück den Gang hinunter, und die Handvoll Kinder, die vor mir angekommen waren, liefen herum und sahen sich alles an. Ich fand einen Tisch, auf dem mein Name angebracht war – Kathleen G. – und rutschte auf den Sitz, um dann ein paar Mal damit zu kippeln und die Klappe meines Schreibtischs auf und zu zu klappen. Der Deckel quietschte. Ich mochte das Geräusch, das nach einem unheimlichen Spukhaus klang, deshalb hob ich die Klappe noch einige Male hoch. Dann segelte May Elizabeth ins Klassenzimmer.

Selbst im zarten Alter von neun Jahren beherrschte sie schon die Kunst eines großen Auftritts. Sie winkte mit der Hand wie die Präsidentengattin und rief: „Hallo-o, ich bin hi-ier“, als hätten wir alle die Luft angehalten und nur darauf gewartet, dass sie kam. Und so wie die anderen Mädchen sich um sie scharten, hätte man meinen können, sie wäre Elvis Presley. May und ich waren noch nie zuvor in derselben Klasse gewesen, aber die anderen Kinder wussten bereits, dass sie mit einer Wagenladung Süßigkeiten und fantastischen Kinderfesten rechnen konnten, wenn sie eine Hayworth zu ihren Klassenkameradinnen zählten. Die Hayworths waren die reichste Familie in der Stadt. Mays Bruder Ron, der zwei Jahre älter war als May, herrschte auf dem Schulhof, wie Jimmy Hoffa bei der Transportarbeitergewerkschaft.

„Das ist also mein Klassenzimmer!“, sagte May atemlos. Ihre blonden Locken hüpften, als sie sich umsah. „Ich hatte gehofft, ich würde in Miss Powells Klasse auf der anderen Seite des Flures kommen. Sie ist jung und hübsch und macht furchtbar lustige Sachen mit ihrer Klasse. Na ja. Ich muss wohl das Beste draus machen, nehme ich an.“

Sie war wie aufgedreht, redete ununterbrochen, war der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die anderen Mädchen, die vor Mays Ankunft gelacht und geredet hatten, waren vor Ehrfurcht verstummt. Die Jungen lagen ihr praktisch zu Füßen. Ich beobachtete ihren Auftritt aus der Ferne, froh darüber, eine unbeteiligte Zuschauerin zu sein, als May Elizabeth Hayworth sich zu meinem Entsetzen plötzlich mir zuwandte.

„Dich kenne ich“, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf mich. „Du bist das Mädchen, dem wir alle unsere alten Kleider gegeben haben, nicht wahr?“

Ich versteckte meinen Kopf hinter der Schreibtischklappe wie eine Schildkröte, die versucht, sich in ihren Panzer zurückzuziehen, und klammerte mich an die aussichtslose Hoffnung, dass niemand sie gehört hatte. May kam näher, und unbewusst zog ich die Beine unter meinem Stuhl an, um kleiner zu wirken – oder vielleicht sogar zu verschwinden. Doch beides war mir nicht vergönnt.

„Das Kleid war mal meins“, verkündete sie der gesamten Klasse. „Ich wollte es nicht mehr, weil es hässlich ist und ich Grün hasse. Die Kniestrümpfe haben mir auch gehört.“

Ich spürte, wie sich meine Wangen vor Scham und Wut röteten. Jedes Jahr, seit ich in den Kindergarten ging, war jedes Kind außer mir mit einer neuen Garderobe zum ersten Schultag erschienen. Diesmal konnte ich endlich neue Kleider tragen – oder wenigstens waren sie so gut wie neu – und dann musste May Elizabeth kommen und alles kaputt machen. Niemand hätte gewusst, dass mein Kleid abgelegt war, wenn sie nicht so dumm gewesen wäre und lieber den Mund gehalten hätte. Warum musste sie alles verderben?

„Dieses Kleid kannst du auch haben, wenn ich es leid bin“, sagte sie und hob den Stoff mit spitzen Fingern an, um ihn dann fallen zu lassen, als wäre er Dreck.

Ich biss die Zähne zusammen und wünschte, sie würde nach China ziehen – oder wenigstens in die „lustige“ Klasse von Miss Powell wechseln. Aber nein, May fand den Tisch mit ihrem Namen darauf und ließ ihren pummeligen Hintern genau neben mir auf den Stuhl fallen. Ich wäre in meinen Schreibtisch gekrochen und hätte die Klappe geschlossen, wenn ich nicht Angst gehabt hätte, darin stecken zu bleiben. Es würde meine Demütigung nur noch verschlimmern, wenn die Freiwillige Feuerwehr von Riverside geholt werden musste, um mich zu befreien.

„Wollt ihr meine neuen Schulsachen sehen?“, fragte May ihre Anhänger, die sich um sie versammelt hatten. Ich schielte hinüber, als sie eine wunderschöne rot karierte Schultasche mit Lederecken und Messingschnallen öffnete. Der Ranzen war voll mit neuen Dingen: Scheren, Radiergummis, bunten Bleistiften, einem geblümten Federmäppchen mit Reißverschluss, Lineal, einem Set aus Winkelmesser und Kompass und einer nagelneuen Schachtel mit Buntstiften – die Sorte, die es in vierundsechzig Farben gab und einen Anspitzer in der Packung hatte. Ich liebte die Farben, aber ich musste immer die Stifte benutzen, die der Schule gehörten – dreckige, abgebrochene Wachsmalstifte, deren Papier abgerissen war. Wenn ich damit gemalt hatte, fühlten meine Hände sich immer ganz schmierig an.

Ich sah zu, wie May ihr Materiallager einrichtete, und bemerkte, dass die Klappe ihres Schreibtischs sich geräuschlos öffnen ließ. Ich musste mich abwenden, weil meine Wangen nicht mehr rot waren, sondern grün vor Neid. Ich hob meine eigene Klappe an, aber das Quietschen machte keinen Spaß mehr; jetzt klang es nur noch alt und kaputt. Ich hielt die Klappe mit meinem Kopf auf und schob schnell meinen „neuen“ Stiftekasten – eine von Onkel Leonards abgelegten Zigarrenkisten – hinein, damit niemand ihn sah.

Dann kam unsere Lehrerin zur Tür herein. „Guten Morgen“, sagte sie in ihrer heiseren Raucherstimme. „Ich bin Mrs Wayne.“ Sie war so groß und stämmig, dass Generationen von Schülern vor mir schon vermutet hatten, dass sie die Zwillingsschwester von John Wayne war. Gebaut war sie allemal wie er. Ältere, klügere Kinder wie Ron Hayworth ließen verlauten, dass sie früher der Zwillingsbruder des Duke gewesen sei, aber dann nach Skandinavien gegangen sei, um eine Geschlechtsumwandlung vornehmen zu lassen wie Christine Jorgensen.

Mrs Wayne hatte einen Busen so groß wie der Mount Everest, und es schien ein ständiges Problem mit den Trägern ihres Büstenhalters zu geben. Sie verbrachte im Unterricht Stunden damit, in ihre Bluse zu greifen und die auf Abwegen befindlichen Träger wieder über ihre Schultern zu streifen. Bei ihr sah es wie eine lästige Tätigkeit aus – so aussichtslos, als würde man Sand gegen die Wellen anschaufeln –, dass ich froh war, dass ich mir in den nächsten paar Jahren noch keine Sorgen über so etwas Kompliziertes wie Büstenhalter machen musste. Als ich irgendwann meinen ersten BH bekam, dachte ich immer an Mrs Waynes Probleme und achtete sorgfältig darauf, in der Öffentlichkeit keine peinlichen Korrekturen vorzunehmen. Natürlich verbrannten kluge Frauen zu diesem Zeitpunkt sowieso ihre Büstenhalter aus Protest – und ich könnte wetten, dass Mrs Wayne eine der Ersten war, die ein Streichholz an ihr Exemplar gehalten hat.

Aber ich mochte Mrs Wayne trotz ihrer BH-Sorgen. Sie war eine warmherzige, mütterliche Person, und das gefiel mir. Sie führte ihre Klasse mit gleichem Recht für alle, ob reich oder arm, Junge oder Mädchen, und sie geizte nie mit Lob, wo es verdient war. Ich lächelte, wenn ich die knappen Bemerkungen unter meinen Arbeiten las – Gute Arbeit, Hervorragend –, und in Gedanken stellte ich mir vor, wie sie mich mit ihrer rauen Männerstimme lobte.

Der erste Morgen in der Schule verging schnell und ohne weitere peinliche Bekanntmachungen von May Elizabeth über meine Garderobe, und mittags gingen wir den Flur entlang in den Speisesaal. May war so reich, dass sie die Schulmahlzeiten für einen ganzen Monat im Voraus bezahlen konnte. Ich stellte mich an, um meine Milch abzuholen, die von einem öffentlichen Hilfsprogramm gespendet wurde, dann setzte ich mich allein an einen leeren Tisch in der Ecke. Wenig später setzte May sich mit einem grauen Plastiktablett mit Essen neben mich: ein klebriges Nudelgericht mit Tomatensauce mit dem Namen „Ferien in Rom“, ein Brötchen, roter Wackelpudding mit Früchtecocktail und Schokoladenpudding mit einem knopfgroßen Klecks Sahne obendrauf.

Ich hielt meine zerknitterte Brottüte auf meinem Schoß und spielte mit meiner Milchtüte herum, während May zu mir herübersah. Ich schämte mich, mein Essen vor jemand anderem auszupacken, geschweige denn vor einer Hayworth. Ich hatte die Brote selbst geschmiert mit den einzigen Zutaten, die ich an diesem Morgen im Schrank gefunden hatte – zwei übrig gebliebene Enden eines Weißbrots und eine Schicht Erdnussbutter von der Fürsorge, und das Ganze in gebrauchte Alufolie gewickelt. Ich aß mit gesenktem Kopf, das Brot auf meinem Schoß vor Mays Blicken verborgen, und biss heimlich davon ab, während May gabelweise „Ferien in Rom“ in sich hineinschaufelte. Als ich fertig war, faltete ich die Folie und die Papiertüte sorgfältig zusammen, damit ich sie wieder benutzen konnte.

„Willst du den?“, fragte May und zeigte auf ihren Schokoladenpudding. „Ich kann nicht mehr.“ Sie blähte die Backen auf, als könnte sie all das, was sie gegessen hatte, kaum bei sich behalten. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern und versuchte mein Verlangen zu verbergen. Ich liebte Schokoladenpudding. May stach einen Löffel durch die gummiartige Oberfläche des Puddings und schob das Schälchen vor mich hin. „Hier. Meine Mutter mag es nicht, wenn ich Lebensmittel verschwende. Sie sagt: ‚Denk an all die Kinder auf der Welt, die hungern.‘“

Ich ignorierte die logische Schlussfolgerung, dass ich zu den hungernden Kindern auf der Welt zählte, in dem Wissen, dass es wahrscheinlich der Wahrheit entsprach. Ich verschlang den Pudding mitsamt Haut, dann leckte ich das Schälchen und den Löffel ab. Ich glaube, es war May Elizabeths mittägliche Wohltätigkeitsgeste, die mich später dazu bewog, ihr zu helfen, als Danny Reeves in der Pause auf dem Schulhof versuchte, sie herumzuschubsen.

Danny war ein Schlägertyp, der schon auf eine weiterführende Schule hätte gehen sollen, aber eine oder zwei Ehrenrunden gedreht hatte. Er streunte durch die Viertel mit heruntergekommenen Häusern, als gehörte ihm die ganze Welt, und nahm sich, was immer er wollte, wann immer ihm danach war. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, betrachtete er als sein Eigentum – und es hätte mich nicht gewundert, wenn er einen Bolzenschneider mit sich herumgetragen hätte, nur für den Fall. Ich hatte mich schon einmal gegen ihn zur Wehr gesetzt, als er versucht hatte, Mütze das Feuerwehrauto wegzunehmen, und dabei hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Danny im tiefsten Innern seines Herzens eigentlich ein Feigling war. Auch diesmal bot ich ihm die Stirn, als er die Kette von Mays Schaukel mitten im Flug anhielt, sodass sie beinahe in den Sand geschleudert worden wäre.

„Ich bin dran“, knurrte Danny. „Runter da!“ May hatte ganz offensichtlich Angst, nicht nur, weil sie beinahe gestürzt wäre, sondern auch, weil Danny ein angsteinflößendes Sträflingsgesicht hatte und eine drahtige, bulldoggenartige Haltung an den Tag legte, so als würde er Stacheldraht frühstücken und zu Mittag Landminen essen. Sein Lieblingssatz war: „Willst du dich mit mir anlegen?“ In der Schulhofhierarchie stand Danny eine Stufe tiefer als Mays Bruder Ron, und ich fragte mich, ob er beschlossen hatte, seinen Frust an Rons pummeliger kleiner Schwester auszulassen.

Ich ging zu den Schaukeln hinüber und knöpfte mir Danny ohne zu zögern vor. „Verschwinde, Danny Reeves, und lass sie in Ruhe. Du bist hier nicht der Boss.“

„Willst du dich mit mir anlegen?“

„Mrs Wayne vielleicht. Sie ist unsere Lehrerin.“

„Und? Wen interessiert’s?“, höhnte er. Aber er machte sich trotzdem davon. Offensichtlich kannte er Mrs Waynes Ruf in Sachen Recht und Gerechtigkeit – von ihrer kräftigen Statur ganz zu schweigen. Ich zitterte in meinen Schuhen, aber es war ein gutes Zittern, das von einem Adrenalinanstieg herrührte und nicht von Angst. May starrte mich bewundernd an.

„Wow! Du hast mir das Leben gerettet!“, sagte sie in ihrer übermäßig theatralischen Art. „Danke!“

„Gern geschehen.“ Ich drehte mich um und ging, während sie versuchte, mit dem Schwung ihrer Beine wieder luftige Höhen zu erreichen. „Ihr Leben gerettet“ war vielleicht eine Übertreibung, aber ich war trotzdem stolz auf das, was ich getan hatte. Meiner Meinung nach hatte ich mich revanchiert und damit das Stigma der Wohltätigkeit ausgelöscht, sodass die abgelegten Kleider jetzt wirklich mir gehörten. Ich hatte sie mir verdient. Ausgerechnet Danny Reeves hatte ich die Stirn geboten. Meine Schuld hatte ich beglichen.

Später an diesem Nachmittag, als Mrs Wayne sagte, wir sollten uns für ein Kunstprojekt zu zweit zusammenfinden, drehte sich May gleich zu mir um und sagte: „Ich nehme Kathleen G.“ Normalerweise landete ich bei Kindern wie Charlie Grout, der neben uns wohnte und beinahe so arm war wie wir. Charlie hatte sich bereits in der ersten Klasse zum Gespött seiner Mitschüler gemacht, als er ein halbes Glas Kleister hinuntergeschlungen hatte, bevor die Lehrerin ihn erwischte. Aber ich musste heute nicht Charlies Partnerin sein. Die Klassenkönigin hatte mich erwählt.

„Meine beste Freundin war Suzanne Clerk“, ließ May mich wissen, „aber sie ist im letzten Sommer nach New Jersey gezogen. Du kannst meine neue beste Freundin sein.“

Ich zögerte, weil ich nicht sicher war, ob ich die Nachfolgerin sein wollte. Ich kam mir vor wie das Mädchen in der Miss-Amerika-Wahl, das neben der Siegerin stehen und zusehen muss, wie eine andere Freudentränen vergießt, wenn man ihr die Krone auf den Kopf setzt. Dann dachte ich an meinen Zusammenstoß mit Danny Reeves, und ich wusste, dass Mays Freundschaftsangebot kein Almosen war; ich hatte es mir verdient. Ich schob meinen Tisch über den Gang zu ihrem, bis die beiden Tische sich berührten. Wir waren Partner.

„Braucht jemand Stifte?“, fragte Mrs Wayne. Sie kam zu meinem Tisch und schwenkte eine Schachtel mit abgebrochenen Stiften, die einmal neu gewesen sein mochten, als George Washington Präsident war. Unsere Stadt war klein, und Mrs Wayne wusste, dass ich zu den Kindern gehörte, die immer die Schulstifte ausleihen mussten. Sie blieb neben mir stehen, die abgewetzte Schachtel in einer Hand, während sie mit der anderen nach dem Träger ihres Büstenhalters fahndete. Diesmal rettete May mich.

„Hier“, sagte sie und holte ihre wundervolle, nagelneue Vierundsechzig-Stifte-Packung hervor. „Du kannst meine mitbenutzen.“

Ich beschloss, dass es ein wunderbares Jahr werden würde.

* * *

May Elizabeths neue beste Freundin zu sein, brachte eine Kette von Problemen mit sich, die begann, als meine Mutter von unserer Freundschaft erfuhr. „Hayworth!“, knurrte sie, und so wie sie den Namen aussprach, klang er wie ein Schimpfwort. „Ich will nicht, dass du dich mit diesen hochnäsigen reichen Leuten abgibst. Halt dich von ihr fern.“

Mein Onkel Leonard – Präsident, Gründer und einziges Mitglied der Kommunistischen Partei der Drei Bezirke – sah die Sache besonders düster. „Nur weil die Hayworths eine Fabrik besitzen, glauben sie, die ganze Stadt gehörte ihnen, samt allen Leuten darin. So eine Verbindung kann zu nichts Gutem führen, Kathleen. Wenn das Proletariat versucht, sich mit der Bourgeoisie anzufreunden, wird am Ende immer der arme Arbeiter ausgebeutet. Solche Beziehungen begünstigen die Reichen und nützen nur ihnen. Weißt du, daran wird nur deutlich, dass wir eine Gesellschaft brauchen, in der die Ressourcen gleichmäßig verteilt und gemeinschaftlich genutzt werden anstatt –“

„May Elizabeth lässt mich ihre Buntstifte mit benutzen“, sagte ich zu ihrer Verteidigung.

„Eine solche Pseudo-Großzügigkeit beeindruckt mich nicht. In einer wahrhaft kommunistischen Gesellschaft würde das Hayworth-Mädchen ihre Stifte weggeben und sie gleichmäßig unter allen Schülern aufteilen.“

Ich rechnete das schnell im Kopf aus: In der Schachtel waren vierundsechzig Stifte und in meiner Klasse sechsundzwanzig Kinder, was bedeutete, dass jeder zweieinhalb Stifte bekäme. In Onkel Leonards kommunistischer Gesellschaft wäre ich genauso schlecht dran, als wenn ich die abgebrochenen Wachsmalkreiden der Schule benutzte. Nein, ich fand es schön so, wie es war. Ich saß in der Schule neben May Elizabeth, und sie teilte alle ihre Schulsachen mit mir – ihrer neuen besten Freundin. Auf dem Schulhof war ich ihre Beschützerin, die Rüpel wie Danny Reeves in Schach hielt.

Als ich eine Einladung zu Mays Geburtstagsfeier im Oktober nach Hause brachte, war meine Mutter außer sich vor Wut. „Kommt nicht in Frage, Kathleen! Du hast bei diesen Leuten nichts verloren.“

Zum Glück war mein Vater ausnahmsweise einmal zu Hause, als ich ihn brauchte. Er eilte mir zu Hilfe, wie Superman, der seine Lois Lane rettet. „Komm schon, sie sind doch noch Kinder, Eleanor. Gib der kleinen Hayworth nicht die Schuld für die Fehler ihrer Eltern. Gönn ihnen ihren Spaß.“ Er wandte sich an mich und grinste. „Möchtest du zu ihrer Feier gehen, Kathleen?“

Ich war noch nie in meinem Leben bei einer Geburtstagsparty gewesen – noch nicht einmal bei meiner eigenen oder der meiner Geschwister. Manchmal backte Mama Kuchen aus einer Backmischung, wenn sie daran dachte, was für ein Tag es war – und wenn sie genug Trockenei von der Fürsorge bekommen hatte. Ich schielte zu meiner Mutter hinüber und sah, dass sie kochte.

„Ja“, erwiderte ich leise, in der Hoffnung, dass meine Mutter mich nicht hörte. „Ich möchte gerne gehen.“

„Dann sollst du auch hingehen!“ Papa lachte und zog mich in seine mit Sommersprossen übersäten Arme. Ich liebte ihn. Niemand konnte mich so umarmen, wie Papa es tat. Immer wenn Mama mich in den Arm nahm, war es schnell und sachlich, nicht warm und lang wie Papas Umarmungen. Während der wunderbaren Tage, an denen mein Vater da war, war ich sein Mädchen, seine Prinzessin.

Mein Vater war der freundlichste, sanfteste Mann auf der ganzen Welt und so unbekümmert wie ein Zirkusclown. Er setzte sich auf den Fußboden und spielte mit den Jungen und mir, und wir kitzelten einander durch und lachten, bis uns die Tränen übers Gesicht liefen. Papa verlor nie die Beherrschung mit uns oder schlug uns, selbst wenn die Jungs es verdient hatten. Und selbst dann nicht, wenn Papa getrunken hatte. Und meine Mutter behandelte er wie die Königin der Welt. Schade nur, dass er viel mehr fort war als zu Hause.

Als ich alt genug war, um Mama zu fragen, warum Papa so oft weg war, erzählte sie mir, er sei Fernfahrer. Später wandelte sie die Geschichte ab und sagte, er sei Vertreter. Ich fragte nie, was Papa transportierte oder verkaufte. Mein melancholischer Kommunistenonkel wohnte bei uns, wenn Papa nicht zu Hause war, manchmal mehrere Monate am Stück, sodass wenigstens ein Mann im Hause war.

Onkel Leonard war Mutters älterer Bruder und Papas bester Freund. Er war sehr groß, hatte hängende Schultern, ein schlaffes Bluthundgesicht und zurückgekämmte schwarze Haare. Er schlief auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer, und seine Kleidung bewahrte er in Kartons dahinter auf. Er hatte Hunderte von Büchern, die sich in jedem Zimmer unseres Hauses stapelten. Die Jungs benutzten sie als Steine, wenn sie eine Festung bauten. Onkel Leonard saß abends immer an unserem metallenen Esstisch und verfasste Manifeste auf einem Notizblock mit gelblichem Papier. Die Stapel mit seinen kommunistischen Ergüssen ließen uns keinen Platz zum Sitzen und Essen, aber das machte nichts, denn wir setzten uns zum Essen sowieso nie an den Tisch.

Unser Auto gehörte Onkel Leonard und unser Fernseher auch. Er hatte das Gerät gebraucht gekauft, sagte Mama, damit er die Mc-Carthy-Anhörungen verfolgen konnte. Jeden Abend sah er die Nachrichten an, und ich bin sicher, dass selbst unsere Nachbarn zwei Blocks weiter noch hören konnten, wie Onkel Leonard mit dem Nachrichtensprecher stritt. Ich hatte mich an meinen Onkel und seine qualmenden Zigarren als Teil der Einrichtung gewöhnt, aber an dem Tag, als er seinen Senf zu May Elizabeths Geburtstagsfeier gab, machte er mich wütend.

„Und was ist mit einem Geschenk?“, fragte er. „Ein verwöhntes, bourgeoises Kind wie sie wird ein Geschenk erwarten – und zwar ein schönes.“

Papas Grinsen war unverändert. „Na, dann gehen wir wohl besser mal einkaufen, nicht wahr, Kathy?“

„Einkaufen!“, sagte Mama verächtlich. „Meinst du, die Hayworths sind noch einmal sechs Monate wert, Donald?“

Es schien mir, als lasse sein Lächeln bei ihrer Frage ein wenig nach, aber er erholte sich schnell von dem Schlag. „Meine Kathy ist es ganz sicher wert.“

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen, aber einige Tage vor der Feier lud Papa Mütze, JT und mich in Onkel Leonards klapprigen Ford aus dem Jahr 1950 und fuhr mit uns zum Einkaufen. Und zwar nicht zu Brinkleys Drugstore im Zentrum von Riverside, sondern wir fuhren den ganzen Weg nach Bensenville, um bei Woolworth einzukaufen. Papa trug JT auf dem Arm, während wir durch die Gänge streiften und nach etwas suchten, was May Elizabeth gefallen könnte. Er hatte Annies unförmige Wickeltasche über seine Schulter gehängt, was ein wenig merkwürdig schien, da die kleine Annie zu Hause geblieben war und der dreijährige JT keine Windeln mehr trug. Abgesehen davon hätte Papa nie freiwillig eine Windel gewechselt, selbst wenn JT welche getragen hätte. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Fragen zu stellen. Und von der großen Auswahl wurde ich schnell abgelenkt.

„Ich weiß nicht, was ich ihr kaufen soll“, jammerte ich.

„Überleg mal, sie ist deine beste Freundin“, ermunterte Papa mich. „Such dir einfach etwas aus, was du gerne hättest, dann mag sie es bestimmt auch.“

Es gab viele Dinge, die mir gefielen. Papa sah zu, wie ich Päckchen mit Haarspangen anstarrte, eine Zaubertafel, auf der man etwas zeichnen und anschließend mit einer Bewegung löschen konnte, eine Puppenflasche aus Plastik, die sich auf magische Weise zu leeren schien, wenn man sie auf den Kopf stellte, und vieles mehr. Mütze trieb sich in der Nähe der Lederstrumpf-Utensilien herum: Waschbärfellmützen, Gummi-Tomahawks und Revolver aus Plastik mit passendem Halfter. Ich entschied mich schließlich für einen Karton mit Knete in vier verschiedenen Farben als Geschenk für May Elizabeth.

Nachdem ich meine Wahl getroffen hatte, führte Papa uns zu dem Regal mit den Kleinigkeiten und sagte, wir dürften jeder einen Vierteldollar ausgeben. „Ich muss noch etwas für eure Mutter suchen“, sagte er und setzte JT neben Mütze und mir ab. Papa verschwand und überließ uns dem Vergnügen, die bunten Auslagen mit Spielsachen für zehn Cent zu bestaunen.

Es gab so viel Auswahl! Natürlich wollten meine Brüder alles haben, was sie sahen. Sie verstanden nicht, wie viel fünfundzwanzig Cent waren, und holten mit ihren schmierigen kleinen Händen ständig neue Dinge aus den Kisten, so als hätte Papa gesagt, sie sollten von jedem eins kaufen. Ich war schließlich ganz erschöpft, weil ich ihnen immer wieder irgendwelches Spielzeug entreißen und ihnen erklären musste, dass all die Trillerpfeifen und Gummisoldaten und Spielzeugautos, die sie in ihre Taschen stecken wollten, viel mehr Geld kosteten, als sie zur Verfügung hatten, woraufhin ich mir ihr Protestgeschrei anhören durfte. Der Ladenbesitzer blieb immer in unserer Nähe, und ich sah, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, während er versuchte sich zu vergewissern, dass alles, was die Jungs in ihre Taschen steckten, auch wieder heraus kam.

Schließlich kam mein Vater wieder und schritt ein, indem er JT half, eine Gummischlange auszusuchen und Mütze dazu brachte, sich für einen Plastikdolch zu entscheiden. Ich hatte für mich eine Kette mit aufgefädelten Plastikperlen ausgesucht. Papa hob JT auf die Ladentheke, während er für unsere Sache und für eine Dose Puder bezahlte, die er für Mama ausgesucht hatte. Wir waren wieder im Auto und auf dem Heimweg, als mir schlagartig bewusst wurde, dass wir ausgerechnet das vergessen hatten, weswegen wir gekommen waren: May Elizabeths Geschenk.

„Halt, Papa! Wir haben das Geschenk vergessen! Wir müssen zurückfahren!“

„Das habe ich nicht vergessen, Schatz“, sagte er lachend. „Es ist dort in der Tasche.“

„Wo? In welcher Tasche?“ Ich lugte über den Vordersitz und suchte alles ab. In der Woolworthtüte war nur Mamas Puder. Ich sah nirgendwo eine Schachtel mit Knetgummi. „Wo, Papa? Wo ist es denn?“

„Es ist hier …“ Papa fuhr ein bisschen langsamer, eine Hand am Steuer, während er mit der anderen Annies Wickeltasche vom Boden hob und auf den Sitz stellte. Und siehe da, May Elizabeths Geschenk war in der Tasche – und außerdem die Zaubertafel und die Plastikpuppenflasche, die ich so bewundert hatte, dazu eine Waschbärfellmütze für jeden der Jungen. Außerdem sah ich eine Flasche Parfüm für Mama, passend zu dem Puder, und ein glänzendes dreiteiliges Schraubenzieherset, von dem ich annahm, dass Papa es für sich selbst gekauft hatte.

„Gehören alle diese Sachen uns?“, fragte ich erstaunt.

„Darauf kannst du wetten. Warum sollte die kleine Hayworth die Einzige sein, die Geschenke bekommt?“

Es war ein Gefühl wie Weihnachten, als ich den Jungen ihre neuen Mützen gab und mich mit meiner Zaubertafel zurücklehnte. JT und Mütze wechselten sich dabei ab, mich mit ihren buschigen Waschbärschwänzen zu ärgern. Erst später an diesem Nachmittag fragte ich mich, wann genau Papa für all diese Überraschungen bezahlt hatte. Er hatte sie nicht auf die Theke gelegt, als er an der Kasse stand. Und warum hatte der Angestellte alles in die Wickeltasche getan anstatt in eine Woolworthtüte? Ich hätte ein paar zusätzliche Tüten für meine Schulbrote brauchen können.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto komischer wurde das Gefühl in meinem Magen, sodass ich schließlich an etwas anderes denken musste.

Kapitel 6

Verglichen mit unserem Haus, lebten die Hayworths in einer herrschaftlichen Villa. Onkel Leonard fuhr mich am Tag von May Elizabeths Feier hin, und er schüttelte mit betrübter Miene den Kopf, als er den Wagen in die lange, gebogene Auffahrt lenkte. „Weißt du, wie viele Wohnungen für Proletarier man aus diesem bourgeoisen Palast machen könnte?“, fragte er.

Ich wartete nicht, bis er zu Ende gerechnet hatte, sondern schlug die Tür kräftig zu – das musste man, damit sie sich nicht wieder öffnete – und rannte die Stufen hinauf, um die Klingel zu betätigen. Als Mrs Hayworth mich hereinbat, sah ich als Erstes, dass alle Gäste schicke Kleider trugen. Ich kam mir ganz hässlich vor. Die anderen Mädchen hatten raschelnde Petticoats unter ihren Festtagskleidern und Schleifen in ihren Shirley-Temple-Locken. Mein stumpfbraunes Haar hing in schlaffen Strähnen herunter, und ich war die Einzige, die Stoffschuhe trug anstatt Lacklederschühchen. Mein Geschenk, das ich in buntes Billigpapier gewickelt hatte, sah neben all den anderen mit Glitzer und gekräuselten Bändern und glänzenden Schleifen versehenen Päckchen regelrecht trostlos aus. Mehrmals sah ich, wie die Erwachsenen mir Blicke zuwarfen, und ich wusste, dass sie hinter vorgehaltener Hand über mich sprachen.

Das Essen war wunderbar. Mr Hayworth briet Hotdogs auf seinem Holzkohlegrill neben dem Swimmingpool, und ich durfte so viele essen, wie ich wollte. Ich aß vier Stück, in weichen weißen Brötchen mit Senf, Ketchup und Zwiebeln. An diesem Tag aß ich zum ersten Mal in meinem Leben Kartoffelsalat und hartgekochte Eier, von denen May sagte, es seien „teuflische“ Eier. Außerdem gab es ein himmlisches Dessert, das sie Göttersalat nannte, eine riesige Schüssel voller Wackelpudding in bunten Schichten und Pepsi-Cola zu trinken. Der Kuchen war aus einer Konditorei und war mit riesigen Zuckergussblumen und zehn Kerzen verziert, die May ausblies. Sie gab jedem Gast eine Tüte voll mit Süßigkeiten und einen nagelneuen Hula-Hoop-Reifen, den wir nach Hause mitnehmen durften.

Das Haus war ganz modern und sauber, mit dicken Teppichen und einem abgesenkten Wohnzimmer mit dänischen Möbeln. Das einzige andere Haus, das ich jemals betreten hatte, war das von Charlie Grout nebenan, und so kam mir Mays Haus vor wie aus einem Traum oder einer Fernsehsendung. Sie hatte ihr eigenes Zimmer mit einem Himmelbett, eine weiche Bettdecke, Hunderte von Plüschtieren und mehrere Dutzend Puppen. Selbst ihr Bad war voller Rüschen und ganz sauber, mit einem glänzenden türkisfarbenen Waschbecken und passender Toilettenschüssel und einem Mosaikfußboden, der so makellos sauber war, dass man davon hätte essen können. Ich spähte unter die Prinzessinnenpuppe, die auf dem Spülkasten saß, und sah, dass unter ihrem Rüschenrock eine Ersatzrolle Toilettenpapier versteckt war.

Später spielten wir Topfschlagen und Reise nach Jerusalem, aber ich gewann keine Preise. Ich lief den ganzen Nachmittag über wie in Trance herum, so wie Mütze es immer tat, während ich versuchte, alles zu erfassen. Die Party ging wie im Flug vorbei, und ehe ich mich’s versah, fuhr Mrs Hayworth mich nach Hause.

„Hast du Lust, morgen mit May und unserer Familie mit in den Gottesdienst zu kommen?“, fragte sie, als der Cadillac vor unserem Haus hielt.

„Ich glaube schon …“ Das war meine Standardantwort, wenn ich verlegen war und nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Entweder das, oder: „Ich weiß nicht …“

„Warum fragst du nicht deine Eltern? Die Sonntagsschule fängt um halb zehn an. Wir warten dann am Sonntagmorgen vor der Kirche auf dich. Du weißt doch, wo die Kirche in der Park Street ist, nicht wahr, Liebes?“

„Mhm.“ Mama und Onkel Leonard würden sagen, Religion sei eine Krücke für die willensschwachen Massen, aber ich wollte wirklich mitgehen. Ich wollte überall lieber sein als zu Hause. „Danke für die Einladung zu der Party“, fiel mir gerade noch ein, als ich aus dem Auto stieg.

„Gern geschehen, Liebes. Ich hoffe, du besuchst uns mal wieder.“

Es ist immer eine gewisse Ernüchterung, nach einer Feier nach Hause zurückzukehren, aber was ich an diesem Nachmittag empfand, als ich die ausgetretenen Stufen zu unserer Veranda hinaufstieg, war viel, viel schlimmer. Ich sah mein Zuhause mit neuen Augen und bemerkte zum ersten Mal, wie sehr es stank – nach dreckigen Windeln und zu vielen Katzen. Der Boden in unserem Wohnzimmer bestand aus nacktem Sperrholz; das Linoleum in der Küche war fleckig und eingerissen; der Badezimmerfußboden faulte unter unserer undichten Toilette weg. Alle unsere Möbel waren durchgesessen und rochen muffig, und das Bild unseres Schwarz-Weiß-Fernsehers wackelte so sehr, dass man die ganze Zeit mit dem Kopf nicken musste, um überhaupt etwas sehen zu können. In unseren Zimmern gab es noch nicht einmal Betten, sondern nur Matratzen auf dem Boden. Wir vier Kinder schliefen alle im selben Zimmer, Mütze und JT auf einer Matratze, Annie und ich auf der anderen.

Als ich an jenem Nachmittag durch die Haustür trat, lag Papa ausgestreckt auf dem Sofa und nickte sich durch ein Baseballspiel. Er hatte die Lautstärke ganz aufgedreht, damit er trotz Annies Geheul etwas hören konnte. „Wie war die Feier?“, fragte er.

„Gut.“

„Gut? Das ist alles – nur ‚gut‘? Hat ihr das Geschenk gefallen, das wir besorgt haben?“

„Ja, ich glaube schon. Es hat Spaß gemacht“, sagte ich ohne jede Begeisterung. „Sieh mal, was ich alles bekommen habe.“

Ich trug den Hula-Hoop-Reifen um den Hals und die Tüte mit Süßigkeiten hielt ich hoch über meinen Kopf, damit meine Brüder sie nicht erreichen konnten. Sie rochen Süßes, wie Haie Blut riechen, und sie hatten sich sofort auf mich gestürzt und umkreisten mich, um ihre Beute zu erlegen. Ich wünschte, ich hätte ein geheimes Versteck, wo ich die Sachen aufbewahren konnte. Die Jungen nahmen mir ständig etwas weg und machten es kaputt. Sie hatten bereits meine Puppenflasche zerstört, weil sie sehen wollten, wie sie funktionierte, und von der Zaubertafel hatten sie die Folie abgerissen, um sie auf den Fernseher zu kleben und auf ihren Lieblingstrickfilmfiguren herumzukritzeln. Meine Puppen hatten so umfangreiche Misshandlungen von Mütze und JT erlitten, dass sie mehr den Opfern einer Naturkatastrophe glichen als einem Baby. Wenn ich nicht alle meine Süßigkeiten vor Sonnenuntergang aufaß, war ich sie los.

„Ich wette, die Hayworths haben ein großes Haus, oder?“, fragte Papa. „Und viele tolle Sachen wie einen Farbfernseher?“

„Ja, das ist wirklich nett.“ Ich setzte mich neben ihn aufs Sofa und stopfte mir Bonbons in die Backen wie ein Eichhörnchen. Er jagte Mütze und JT fort und stellte mir eine Menge Fragen über das Haus der Hayworths, die er mit einer merkwürdigen Frage beschloss: „Haben sie einen Hund?“

Ich wollte nicht mehr an Mays Haus denken, aber Papa schien der Einzige zu sein, der etwas von der Feier hören wollte, also kuschelte ich mich an ihn und erzählte ihm alle Einzelheiten. Ich traute mich sogar, ihn zu fragen, ob ich am nächsten Tag mit May Elizabeth und ihrer Familie zur Kirche gehen dürfe.

„Es sind also religiöse Leute?“, wollte Papa wissen. „Zu welcher Kirche gehören sie denn? Gehen sie alle, auch Mr Hayworth? Jeden Sonntag? Um wie viel Uhr?“

Er klang so interessiert, dass ich mich fragte, ob er vielleicht auch mitkommen wollte. Sein Lächeln wurde immer breiter, während ich alle seine Fragen beantwortete. Dann drückte er mich und sagte: „Sicher, mein Schatz. Ich finde, es ist eine sehr gute Idee, wenn du mit in die Kirche gehst.“ Er stellte den Fernseher aus und eilte zum Haus der Nachbarn, um deren Telefon zu benutzen. Wir hatten kein Telefon, weil Onkel Leonard nicht wollte, dass das FBI seine Gespräche belauschte.

Ich war von der Aufregung der Party ganz erschöpft, und von den vielen Süßigkeiten war mir schlecht. Ich ging in unser Zimmer, den Hula-Hoop-Reifen noch immer fest umklammert, und überlegte krampfhaft, wo um alles in der Welt ich ihn verstecken konnte. Aber als ich meine muffige Matratze sah, über die nie ein Laken gespannt war, und mich an May Elizabeths bauschiges Himmelbett erinnerte, rannte ich in den Garten hinaus und weinte.

Am nächsten Tag ging ich allein zur Kirche in der Park Street und stand lange vor dem Eingang, von wo aus ich Ausschau nach dem Cadillac der Hayworths hielt. „Kathleen, du bist gekommen“, sagte Mays Mutter, als sie mich sah. Sie klang überglücklich. May Elizabeth schien weniger erbaut, als sie mich von oben bis unten begutachtete. Ihre Mutter nahm mich bei der Hand und führte mich hinein, als gehörte ich zur Familie. Die Sonntagsschule sollte gleich beginnen.

Schüler aller Altersklassen trafen sich in einer Gruppe im Souterrain der Kirche. Wir sangen Lieder mit vielen Bewegungen, und die Kinder warfen Zehn- und Fünfundzwanzig-Cent-Münzen in einen Kollektenkorb. Als es Zeit war, sich für den Unterricht in kleinere Gruppen aufzuteilen, herrschte Chaos im Raum, denn Kinder zogen Stühle über den Betonfußboden, und die Lehrer stellten Paravents auf, um den Raum zu unterteilen.

„Wir sind in einer Gruppe mit den Viert- bis Sechstklässlern“, erklärte May mir und versuchte, den Lärm zu übertönen. „Wir treffen uns oben im Heiligtum.“

Ich starrte sie entgeistert an. Ich dachte an Mamas Heiligtum, und da war mir klar, dass ich irgendetwas missverstanden haben musste. „Was? Im Heiligtum?“

„Ja“, nickte sie. „Oben, in der Sakristei.“

Ich stellte mir vor, wie sich alle in einen stinkenden Schuppen hinter der Kirche quetschten, und wich zurück. „Ich setze mich auf keinen Fall ins Heiligtum!“, sagte ich, während ich auf die Tür zulief. May rannte hinter mir her.

„Warte … warte … wo willst du hin?“

„Im Heiligtum stinkt es entsetzlich und es gibt Spinnen und Fliegen.“

„Was erzählst du denn da? Es gibt keine Spinnen. Und es riecht wirklich gut. Komm mit, dann wirst du es ja sehen.“

Ich dachte daran, wie sehr sich Mays Haus von meinem unterschied, und überlegte, dass die Heiligtümer reicher Leute wahrscheinlich auch schöner waren. Deshalb folgte ich ihr nach oben. Die Sakristei der Kirche war wunderschön, hatte Bleiglasfenster und polierte hölzerne Bänke. Es roch nach Blumen und Kerzenwachs. Ich sah keine Spinnen – und auch kein Loch, in das man sein Geschäft machen konnte. Aber ich war immer noch verwirrt von dem Wort „Heiligtum“, und jahrelang dachte ich, dass Gott einen ziemlich schönen Schuppen hatte.

Der Unterricht an diesem ersten Morgen handelte von Jesus und den Aussätzigen. Zuerst dachte ich, die Lehrerin spreche von „Aufsässigen“, und fragte mich, was die Leute denn wohl gegen Jesus gehabt haben mochten. Dann erklärte sie aber, dass die Aussätzigen Menschen waren, die eine schreckliche Krankheit hatten, durch die ihre Gliedmaßen verfaulten und abfielen. Diese grausige Beschreibung fand großen Anklang bei allen Jungen, und Ron Hayworth begann zu singen: „Der Aussatz folgt mir auf dem Absatz … und mein Auge fällt in die Lauge …“

Die weißhaarige Lehrerin, Miss Trimble, musste mit ihrer zittrigen Stimme immer wieder „Kinder … Kinder …“ rufen, bis endlich wieder Ruhe einkehrte. Als ich einige Jahre später die Früchte des Geistes kennenlernte, beschloss ich, dass Miss Trimble Geduld von der Größe einer Wassermelone gehabt haben musste.

Als sich schließlich alle wieder beruhigt hatten, erklärte sie, dass die Krankheit sehr ansteckend war und jeder, der einen Aussätzigen berührte, wahrscheinlich auch einen Daumen oder die Nase verlieren würde. Um eine Katastrophe zu verhindern, mussten die Aussätzigen schon von weitem rufen: „Unrein … unrein!“, damit die Leute wussten, dass sie ihnen nicht zu nahe kommen durften.

„Aber Jesus ging einfach zu den Aussätzigen und berührte sie“, erzählte Miss Trimble uns fröhlich. Ron und die anderen Jungen verstummten sofort, beeindruckt davon, wie mutig Jesus war. Dann erzählte die Lehrerin uns, dass Jesus nicht nur alle seine Finger und Zehen behielt, sondern dass der Aussatz wie durch Zauberhand aus dem Körper der Kranken verschwand, wenn Jesus sie berührte, so wie die Bilder auf meiner Zaubertafel verschwanden, wenn ich die Folie anhob.

Ich verstand die tiefen geistlichen Prinzipien, die die Lehrerin an diesem Tag zu vermitteln versuchte, nicht, aber ich verstand gut, dass es zwei Klassen von Menschen gab – Aussätzige und Nichtaussätzige. Onkel Leonard hatte mir die Wahrheit über die Klassengesellschaft von klein auf eingebläut, und ich wusste, dass die herrschende Elite immer auf den Verlierern herumhackte – den Aussätzigen. Wenn ich die Sonntagsschulstunde aus dieser Perspektive betrachtete, mochte ich Jesus. Er war auf der Seite des kleinen Mannes – wie eine Art freundlicher, magischer Gewerkschaftsführer.

Die Lehrerin gab jedem von uns ein buntes achtseitiges Heft, das wir mit nach Hause nehmen durften, und ermahnte uns, den Bibelvers für die nächste Woche auswendig zu lernen. Dann betete sie in ihrer zittrigen Stimme für uns und entließ uns. Kaum war die Stunde beendet, falteten die Jungs aus ihrer Kinderzeitung Flugzeuge und veranstalteten einen Wettkampf, um auszuprobieren, wessen Papierflieger als Erstes auf den Orgelpfeifen landete. May Elizabeth und ich gingen auf den Gang hinaus, wo Mr und Mrs Hayworth auf uns warteten.

„Hast du Lust, noch zu bleiben und mit in den Gottesdienst für Erwachsene zu kommen, Kathleen?“, fragte sie.

Der Flur und die Sakristei füllten sich mit Familien und ich konnte sehen, dass ich wieder einmal anders angezogen war als alle anderen. Zum Beispiel trug jedes Mädchen, das ich sah, schwarze Lackschuhe, die mit Vaseline poliert waren, und ich hatte meine Leinenschuhe ohne Socken an, weil ich an diesem Morgen keine sauberen gefunden hatte. Die Frauen und Mädchen trugen alle Hüte und weiße Handschuhe, auch May Elizabeth und ihre Mutter. Das schien hier die gewünschte Ausstattung zu sein. Eine Familie mit drei Töchtern hatte Hüte, die wie ein ganzes Essservice aussahen: Die Mutter trug den Essteller, die älteste Tochter die Suppenschüssel, die mittlere das Salatschälchen und die jüngste die Teetasse.

„Nein, danke“, murmelte ich. „Ich muss nach Hause.“

„Bist du sicher?“, fragte Mrs Hayworth und lächelte. „Wir würden uns freuen, wenn du mitkämst.“ Ich schüttelte den Kopf und schob mich zum Ausgang. „Vielleicht kannst du nächste Woche mit uns Gottesdienst feiern“, rief sie mir nach, als ich davoneilte.

Ich verbrachte den ganzen Sonntagnachmittag damit, einen Ort zu finden, an dem ich meine Zeitung verstecken konnte, damit die Jungen sie nicht zerstören konnten. Ich wollte den Vers für nächste Woche auswendig lernen, damit ich einen Preis gewann. Mir fiel nur ein Ort ein, an dem meine Brüder niemals suchen würden: Mamas Heiligtum. Irgendwie schien es mir ein angemessener Platz.

Am Montagmorgen kam May Elizabeth mit einer schockierenden Nachricht in unser Klassenzimmer gestürzt. „Bei uns wurde gestern eingebrochen!“, erzählte sie uns aufgeregt. „Die Diebe haben Rons Transistorradio und sein Tonbandgerät gestohlen und Papas neuen Farbfernseher und etwas Geld und ein paar Küchengeräte und eine ganze Menge von Mamas Schmuck und ihren Pelzmantel …“ Sie hielt inne, um Luft zu holen. „Sie haben sogar die Whiskyflaschen aus Papas Bar geklaut!“

Wir starrten sie mit vor Schrecken offenen Mündern an. Das war wie eine von diesen Fernsehsendungen. Wenn nur Perry Mason in der Nähe wäre, um dieses schreckliche Verbrechen aufzuklären. Uns allen tat die Familie leid, die so viel verloren hatte, aber ich merkte, dass May Elizabeth das ganze Drama so richtig genoss.

„Sie sind eingebrochen, während wir in der Kirche waren!“, sagte sie voller Verachtung, als wäre das der übelste Schlag von allen. Alle hingen an ihren Lippen, als sie ihren Bericht mit den Worten schloss: „Papa sagt, wir kriegen einen Wachhund!“

Plötzlich hatte ich wieder dasselbe komische Gefühl im Magen, das ich auch an dem Tag gehabt hatte, als wir Mays Geburtstagsgeschenk besorgt hatten. Ich konnte einfach nicht anders, als mir Gedanken über die genauen Fragen meines Vaters nach der Party zu machen und warum er ausdrücklich nach einem Hund gefragt hatte. Ich wollte mit ihm darüber reden, damit das komische Gefühl verschwand, aber als ich von der Schule nach Hause kam, war Papa nicht da.

„Er musste gestern Morgen zur Arbeit, als du in der Kirche warst“, sagte Mama. „Er wird die ganze Woche unterwegs sein. Warum?“