Johannes Mario Simmel

Der Stoff aus dem die Träume sind

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Johannes Mario Simmel

Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, gehörte mit seinen brillant erzählten zeit- und gesellschaftskritischen Romanen und Kinderbüchern zu den international erfolgreichsten Autoren der Gegenwarts.

Seine Bücher erscheinen in 40 Ländern, ihre Auflage nähert sich der 73-Millionen-Grenze. Der Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse wurde 1991 von den Vereinten Nationen mit dem Award of Excellence der Society of Writers ausgezeichnet.

»Simmel hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor einen fabelhaften Blick für Themen, Probleme, Motive«, sagte Marcel Reich-Ranicki über den Schriftsteller.

Johannes Mario Simmel verstarb am 1. Januar 2009 84-jährig in der Schweiz.

Impressum

eBook-Ausgabe November 2012

© 2012 Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Fritz Blankenhorn

ISBN 978-3-426-41920-5

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Wir freuen uns auf Sie!

Gewidmet dem Mann,

der in diesem Roman

den Namen Bertie erhielt

Man wollte nicht,

daß dieses Buch erscheint.

Das Manuskript wurde dem Autor in der ersten Niederschrift gestohlen und vernichtet, da eine Veröffentlichung unter allen Umständen verhindert werden sollte.

Der Autor – ein Journalist – ging daraufhin nach Übersee. Von dort erreichten mich Tonbänder, auf denen der Ausgewanderte seine Erlebnisse im Detail geschildert hatte. Ich wurde autorisiert, über diese Erlebnisse zu berichten. Das habe ich getan und dabei jede denkbare Methode benützt, die geeignet erschien, jenen Journalisten sowie Unschuldige zu schützen.

In der Tat ist es unmöglich, mit den völlig verschlüsselten Tatsachen, die ich noch dazu in Romanform vorlege, auch nur einem einzigen Menschen zu schaden, und zwar wegen der vielen Veränderungen, die ich vorgenommen habe.

Es entspricht dem Wunsch des Ausgewanderten (der seit Jahren unter einem anderen Namen lebt), daß ich die Geschichte so geschrieben habe, wie er selber sie einst geschrieben hat – in der Ich-Form.

Das schöne Gedicht, das Fräulein Luise spricht, stammt aus dem 1948 produzierten amerikanischen Film ›Ein Bildnis von Jenny ab‹ nach dem gleichnamigen Roman von Robert Nathan.

J. M. S.

Ich will einfach sagen, daß es fruchtbarer ist, an das Unbekannte zu glauben, als an den uns bekannten Dingen zu verzweifeln. Laßt uns ein gutes Wort einlegen für Glauben, Liebe und dergleichen unlogische Dinge, und werfen wir einen etwas mißtrauischen Blick auf die Realität und ähnliche Produkte der Vernunft.

 

PADDY CHAYEFSKY

Recherche

   

1

Jetzt also werden meine Freunde diesen Menschen töten«, sagte Fräulein Luise zu mir. Das war gestern. Vor den Fenstern ihres Zimmers standen alte, kahle Kastanienbäume. Es regnete heftig, und die Stämme und Äste der Bäume glänzten. »Auf jeden Fall töten«, sagte Fräulein Luise. »Unter allen Umständen.« Sie lächelte glücklich.

»Haben Sie ihn jetzt endlich gefunden?« fragte ich.

»Nein, das noch immer nicht«, sagte Fräulein Luise.

»Ach so«, sagte ich.

»No ja«, sagte sie. »Kann also nach wie vor Mann oder Frau sein, dieser Mensch.« Gottschalk heißt Fräulein Luise mit dem Familiennamen. Ihr Gesicht war erfüllt von einem Ausdruck grenzenloser Zuversicht. »Junger Mensch, alter Mensch. Ausländer, Deutscher.« (»Deitscher«, sagte sie. Fräulein Gottschalk stammt aus Reichenberg, jetzt Liberec, im ehemaligen Sudetenland, und ihre Sprache ist leicht tschechisch-österreichisch gefärbt.) »Hat er Bruder, Schwester, Vater, Mutter? Irgendwelche Verwandte? Vielleicht. Vielleicht, kann sein, er hat niemanden, der Mensch. Beruf? Was für Beruf? Jeden. Keinen. Beides möglich.« (»meglich«)

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Wo ist sein Zuhause? Ist er gerade beim Flüchten?« (»Flichten?«)

»Wie heißt er? Oder sie, wenn es eine Sie ist? Wissen das alles noch nicht, meine Freund. Wissen überhaupt nichts von diesem Menschen. Haben ihn doch nie gesehen, gelt?«

»Nie, nein«, sagte ich. »Und trotzdem sind Sie ganz sicher …«

»Bin ich, ja! Denn warum? Deshalb, weil ich sie hab überlistet.«

»Überlistet?«

»Hab debattiert mit ihnen, bis sie selber so aufgeregt gewesen sind wie ich. Dürfen doch nicht zulassen, daß einer, der Böses getan hat, weiter Böses tut. Seinetwegen nicht! Seinetwegen – Sie verstehen, Herr Roland?«

»Ja«, sagte ich.

»War schlau von mir, was?«

»Ja«, sagte ich.

»Und so habens es mir versprochen, meine Freund. Sehens, darum! Meine Freund können alles tun, es gibt nichts, das sie nicht tun können. Und so weiß ich also bestimmt, sie werden ihn finden, den Menschen, von dem sie noch nichts wissen, und sie werden ihn erlösen, meine Freund«, sagte Fräulein Luise Gottschalk. Sie hat schneeweißes Haar, ist 62 Jahre alt und seit 44 Jahren Jugendfürsorgerin. »Können sich vorstellen, wie froh daß ich bin, Herr Roland?«

»Ja«, sagte ich.

»Alsdern, meiner Seel, wenn sie ihn erwischt haben und er erlöst ist, das wird der schönste Tag sein in meinem ganzen Leben«, sagte das Fräulein und lachte wie ein Kind, das sich auf Weihnachten freut. Der Regen prasselte jetzt mit solcher ’Wucht gegen die Scheiben, daß man die Kastanienbäume kaum mehr erkennen konnte.

Niemals habe ich jemanden getroffen, der gütiger gewesen wäre als Luise Gottschalk. Erst seit ich sie kenne, weiß ich, was sie wirklich bedeuten, alle diese durch skrupellosen Mißbrauch sinnentleerten oder pervertierten Begriffe: Toleranz, Glauben an das Gute, Treue, Zuverlässigkeit, Liebe, Mut und unermüdliche Arbeit für das Glück, die Sicherheit und den Frieden anderer.

Fräulein Luises Freunde sind: ein amerikanischer Werbefachmann aus New Yorks Madison Avenue; ein holländischer Schulbuchverleger aus Groningen; ein deutscher Mayonnaise-Fabrikant aus Seelze bei Hannover; ein russischer Zirkusclown aus Leningrad; ein tschechischer Architekt aus Brünn; ein polnischer Professor für Mathematik von der Universität Warschau; ein deutscher Sparkassenangestellter aus Bad Homburg; ein ukrainischer Bauer aus Petrikowa nahe dem Strom Dnjepr und der Stadt Dnjeprodserschinsk; ein französischer Gerichtssaalreporter aus Lyon; ein norwegischer Koch aus Kristiansand, im äußersten Süden des Landes, bei Kap Lindesnes; und ein deutscher Student der Philosophie aus Rondorf bei Köln.

Fräulein Luises Freunde sind ihrer Herkunft nach völlig verschieden. Und sie haben völlig verschiedene Charaktere, Erfahrungen, Vorlieben, Abneigungen, Ansichten und Grade der Bildung. Es gibt nur eines, das sie gemeinsam haben: Sie sind alle seit Jahrzehnten tot.

2

Er hörte sieben Schüsse. Danach hörte er die Stimme seines Vaters. Sie schien von weither zu kommen. Die Schüsse erschreckten ihn nicht, er hatte schon zu viele gehört, seit er hier war, und außerdem wurde in seinem Traum auch gerade geschossen, aber die Stimme des Vaters weckte ihn.

»Was ist?« fragte er und rieb sich die Augen. Sein Herz klopfte stürmisch, und seine Lippen waren trocken.

»Du mußt aufstehen, Karel«, sagte der Vater. Er stand über das Bett gebeugt, in dem der Junge geschlafen hatte, und lächelte zuversichtlich. Der Vater war ein schlanker, großer Mann mit einer breiten, hohen Stirn und schönen Händen. An diesem Abend hatte sein müdes Gesicht die Farbe von stumpfem Blei angenommen. »Ich habe mit Leuten aus dem Dorf gesprochen«, sagte er. »Um Mitternacht wechseln die Posten. Dann ist der Wassergraben fünf Minuten lang unbewacht. Dann können wir hinüber.«

»Und wenn die Posten nicht wechseln?« fragte Karel.

»Sie wechseln jede Nacht«, sagte der Vater. »Jede Nacht gehen Menschen hinüber. Hast du ausgeschlafen?«

»Ja.« Karel streckte die Arme über den Kopf und dehnte sich. Vor fast fünfzig Stunden hatte er mit dem Vater Prag verlassen. Seit fast fünfzig Stunden befanden sie sich auf der Flucht. Es war schwer gewesen, aus der Stadt herauszukommen. In überfüllten Straßenbahnen, auf einem Lastwagen und zu Fuß hatten sie komplizierte Umwege gemacht, um den fremden Soldaten und ihren Panzersperren und Kontrollen zu entgehen. Zuletzt waren sie mit der Eisenbahn gefahren, lange, in einem leeren Viehwaggon.

Der Vater wußte, daß sie ihn suchten. Er hatte es schon gewußt, bevor er gewarnt worden war. Alles, was geschehen würde, was kommen mußte, hatte er bereits in den ersten Morgenstunden des 21. August klar erkannt, sobald ihn die Nachricht erreichte. Sie suchten ihn, um ihn zu verhaften, und das erschien dem Vater nur logisch und unumgänglich. Er war denen, die ihn jagten, nicht böse, sie mußten nun so handeln, wie er zuvor hatte handeln müssen. Sein Tun hatte das ihre provoziert, wie er und die Freunde provoziert worden waren zum Handeln durch das Verhalten anderer.

Daß sie den Vater suchten, machte ihn sehr vorsichtig. Genau hatte er jeden Schritt überlegt. Alles war gutgegangen bisher, die bayerische Grenze beinahe erreicht. Zwei Kilometer noch – dann hatten sie es geschafft Aber diese letzten beiden Kilometer waren die gefährlichsten, und darum hatte der Vater darauf bestanden, daß Karel sich gründlich ausschlief hier in dem kleinen Haus der Großmutter, die des Vaters Mutter war. Nur Freunde wußten, wo diese Mutter lebte, und sie würden es nicht verraten.

Die alte Frau wohnte allein, nahe dem Ausgang des Dorfes. Sie besaß ein Papier- und Schreibwarengeschäft. Wenn es Zeitungen gab, verkaufte sie auch Zeitungen. Seit zwei Tagen gab es keine. Die kleine Großmutter ging gebückt, denn sie litt an Ischias. Der Vater und Karel waren zu ihr gekommen, weil sie an einem Abschnitt der Grenze lebte, der, so hieß es, noch nicht ganz abgeriegelt war, über den man also leichter fliehen konnte. Und deshalb vermochten Sohn und Enkel von der Großmutter auch noch Abschied zu nehmen, bevor sie hinübergingen in das andere Land.

»Wie spät ist es?« fragte Karel.

»Zehn«, sagte der Vater und legte dem Kind eine Hand auf die Stirn. »Du bist ja ganz heiß! Hast du Fieber?«

»Bestimmt nicht«, sagte Karel. Er sprach sehr reines Tschechisch. Deutsch verstand er, im Gegensatz zu seinem Vater, wenig. Das war eine schwere Sprache, da fiel ihm Englisch noch leichter. Er lernte Englisch und Deutsch in der Schule. »Das Heiße kommt bloß von den Löwen«, sagte er.

»Was für Löwen?«

»Auf dem Wenzelsplatz. In meinem Traum. Da waren viele Löwen. Und noch viel mehr Hasen. Die Löwen haben Gewehre gehabt, und sie waren einfach überall, und die Hasen haben ihnen nicht entkommen können. Alle Löwen hatten Gewehre. Mit ihnen haben sie auf die Hasen geschossen. Und jedesmal, wenn einer geschossen hat, ist einer umgefallen.«

»Arme Hasen.«

»Aber nein! Den Hasen ist gar nichts passiert! Jedesmal, wenn ein Löwe geschossen hat, ist der Löwe umgefallen! Sofort. Und hat sich nicht mehr gerührt. Das ist doch sehr sonderbar, nicht?«

»Ja«, sagte der Vater. »Das ist sehr sonderbar.«

»Sieben Löwen haben nacheinander geschossen, und alle sieben sind umgefallen«, sagte Karel. »In dem Moment hast du mich geweckt.« Er streifte die karierte Decke zurück und sprang nackt aus dem hohen, knarrenden Bett der Großmutter, in dem er geschlafen hatte. Karel war elf Jahre alt. Er hatte einen kräftigen, braungebrannten Körper mit langen Beinen. Die Augen waren groß und so schwarz wie das kurzgeschnittene Haar. Es glänzte im Licht der elektrischen Lampe. Karel war ein nachdenklicher Junge, der sehr viel las. Seine Lehrer lobten ihn. Er hatte mit dem Vater in der großen Wohnung eines alten Hauses an der Jerusalemski-Straße gelebt. Wenn man sich aus einem Fenster lehnte, konnte man die schönen Bäume, die blühenden Sträucher und Blumen des großen Parks Vrchlického sady und den See in seiner Mitte erblicken.

Als ganz kleiner Junge war Karel dort jeden Tag mit seiner Mutter spazieren gegangen. Daran erinnerte er sich noch deutlich. Seine Mutter hatte sich scheiden lassen und war nach Westdeutschland gezogen zu einem anderen Mann, als Karel gerade vor seinem fünften Geburtstag stand. Niemals war ein Brief von ihr gekommen Durch all die Jahre hatte Karel fast täglich aus dem Fenster seines Zimmers hinüber zum Vrchlického sady gesehen, ihn bei Schnee und Eis und Kälte und dann wieder bei Sonnenglut und im Hochsommer und seiner ganzen Blütenpracht forschend und versunken betrachtet – ihn und die vielen jungen Frauen, die, Kinder an der Hand, über die Parkwege gingen oder mit ihren kleinen Söhnen und Töchtern spielten. Karel sah aus dem Fenster, gedachte der eigenen Spaziergänge und hoffte stets, sich an seine Mutter zu erinnern. Aber das war ein vergebliches Unterfangen. Schon lange, lange konnte er nicht einmal mehr sagen, wie seine Mutter auch nur ausgesehen hatte.

Als der Vater Karel in den Morgenstunden des 21. August aus dem Bett holte, zwei Koffer packte und danach eilig mit dem Jungen das Haus verließ, um zunächst bei Freunden unterzutauchen, erblickte Karel zwischen Rosen, Nelken, Goldregenbüschen und Dahlienbeeten Panzerspähwagen mit Maschinengewehren, spielzeughaft und verloren in der Dämmerung und dem Dunst dieses frühen Beginns eines heißen Sommertages. Auf den Panzerspähwagen saßen Männer in fremden Uniformen, ratlos und traurig. Karel winkte ihnen zu, und viele Soldaten winkten zurück …

»Ich habe dir schon deine Sachen herausgesucht«, sagte der Vater und wies auf einen Sessel, der neben dem Bett stand. Hier lag Karels blauer Anzug, der feine, den er sonst immer nur am Sonntag hatte tragen dürfen. »Wir müssen die besten Sachen anziehen, die wir haben«, sagte der Vater. Auch er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte mit vielen sehr kleinen gestickten silbernen Elefanten. In der Sommernacht draußen fielen zwei Schüsse, schnell nacheinander. »Vielleicht verlieren wir unsere Koffer, oder wir müssen sie liegenlassen«, sagte der Vater.

»Ja, darum die feinen Sachen«, sagte Karel. »Ich verstehe«. Er setzte sich auf den Boden, um in die Strümpfe zu schlüpfen. Es war ein glühend heißer Tag gewesen, aber im Zimmer der Großmutter blieb es kühl. Hier blieb es immer kühl, die Luft war ewig feucht, und alle Dinge griffen sich feucht an. Im ganzen Haus roch es ein wenig nach Moder und alten Tüchern. Ob Karel die Großmutter in den Ferien oder zu Weihnachten besuchte – es roch nach Moder in dem gelben Haus mit dem Schindeldach und dem winzigen Papierladen, über dessen Eingang ein Heiliger in einer kleinen Nische stand. Das Schaufenster schmückten seit vielen Jahren zwei große Glaskugeln, gefüllt mit sehr bunten Seidenbonbons, denn die Großmutter verkaufte auch billige Süßigkeiten. Nur die Kugeln standen in der Auslage, sonst nichts.

Während Karel sein Hemd über den Kopf zog, trat der Vater an das schmale Fenster, schob den Kattunvorhang ein wenig zur Seite und sah auf die Dorfstraße hinaus, die verlassen im Mondlicht lag.

»Verfluchter Mond«, sagte der Vater und blickte zu der honigfarbenen Scheibe empor, die in einem samtdunklen Himmel voller Sterne schwamm. »Ich habe so sehr gehofft, es kommen noch Wolken.«

»Ja, Wolken wären gut gewesen«, sagte Karel. »Bindest du mir bitte meine Krawatte?« Er sprach stets äußerst höflich. Als der Vater den Knoten der roten Krawatte schlang, bog Karel den Kopf zurück. »Aber deine Trompete nehmen wir doch auch mit?« fragte er aufgeregt. »Die brauchst du doch in dem anderen Land!«

»Natürlich«, sagte der Vater, der sich tief zu ihm hinabbeugte und ungeschickt an der Krawatte zupfte. »Wir nehmen die beiden Koffer und meine Trompete.«

Der Vater war Musiker. Auf dieser Trompete, die er nun aus seinem Vaterland, der Tschechoslowakischen Volksrepublik, hinübertragen wollte in die Bundesrepublik Deutschland, spielte er seit drei Jahren. Es war eine ganz wundervolle Trompete, auch Karel hatte schon oft auf ihr gespielt. Er war sehr musikalisch. Der Vater hatte in den letzten drei Jahren, bis zur Nacht des 20. August, in der ›EST-Bar‹ gearbeitet. Das war eines der vornehmsten Nachtlokale Prags und untergebracht im Luxushotel ›Esplanade‹. Das ›Esplanade‹ lag in der Washingtonová-Straße, direkt am Park Vrchlického sady, sehr nahe der Wohnung in der Jerusalémská-Straße.

»Ich trage die Koffer, und du trägst das Futteral mit der Trompete«, sagte der Vater.

»O ja!« Karel strahlte ihn an. Er verehrte den Vater, weil der so ein großer Künstler war und so wundervoll Trompete blasen konnte. Wenn Karel einmal erwachsen war, dann wollte auch er Musiker werden, da gab es gar kein überlegen! Sooft der Vater zu Hause übte, als sie noch ein Zuhause hatten, saß Karel stets zu seinen Füßen und lauschte hingerissen. Sein Vater war ganz gewiß der beste Trompeter der Welt! Das war er ganz gewiß nicht, aber er war ein sehr guter, und darum auch seit langem Vorstand seiner Sektion im ›Svaz skladatelů‹, dem Musikerverband. Als der ›Prager Frühling‹ begann, konnte Karel den Vater nicht mehr üben hören. Da erschienen viele fremde und bekannte Männer und Frauen in der großen Wohnung und redeten mit seinem Vater und miteinander, Nachmittage lang. Karel hörte zu. Alle sprachen von einer ›Freiheit‹ und einer ›Neuen Zeit‹ und einer ›Zukunft‹. All das mußten sehr schöne Dinge sein, dachte der Junge damals ergriffen.

Und dann kam der Abend, an dem Karel unendlich stolz auf seinen Vater war! Der ›Svaz špisovatelů, der Schriftstellerverband, hatte die anderen Kulturverbände zu einer Diskussion im Fernsehen eingeladen. Die Diskussion dauerte viele Stunden, und neben berühmten Männern und Frauen, deren Bilder und Namen der Junge aus der Zeitung kannte, sah er auf dem Fernsehschirm im Wohnzimmer immer wieder seinen Vater und hörte, was der sagte, und der Vater hatte viel zu sagen. Karel verstand nur sehr wenig davon; aber er war sicher, daß es sich nur um kluge und gute Dinge handelte, und er konnte sich einfach nicht sattsehen. Die Diskussion dauerte bis halb vier Uhr früh, das Fernsehen gab jede zeitliche Beschränkung auf, und es ist keine Lüge, zu schreiben, daß Millionen, fast alle Erwachsenen im Lande, diese Sendung verfolgten und dabei vor Freude weinten und ihre Apparate anklatschten, um den Männern und Frauen Beifall zu zollen, die das sagten, was die Millionen sagen wollten und erträumt hatten, so lange, lange vergebens.

Karel schlief in seinem Sessel ein, und als der Vater endlich heimkam (es war schon heller Tag), da lag sein Sohn zusammengerollt wie eine Katze vor der weiß flimmernden Scheibe des eingeschalteten Gerätes. Es gehörte zu den vielen Dingen, die Karel noch nicht begriff, daß sie wegen dieses Fernsehauftritts seines Vaters dann später, als die fremden Soldaten kamen, ihr Haus verlassen, einige Tage versteckt bei Freunden leben und nun gar mitten in der Nacht flüchten mußten, doch so war es, der Vater hatte es ihm als Grund genannt.

»Ich wäre gern in Prag geblieben«, sagte der Junge, die Senkel der Schuhe knüpfend.

»Ich auch«, sagte der Vater.

»Aber es geht nicht«, sagte Karel und nickte ernsthaft.

»Nein. Leider geht es nicht.«

»Weil sie dich einsperren würden und mich in ein Heim geben.«

»Ja, Karel.«

Und da er das alles nicht verstand, fing der Junge noch einmal mit seinen Fragen an.

»Wenn ihr nicht soviel von der Zukunft und von der Freiheit und von der neuen Zeit gesprochen hättet im Fernsehen, wären die fremden Soldaten dann nicht zu uns gekommen?«

»Nein, dann wären sie wohl zu Hause geblieben.«

»Und wir könnten weiter in der Jerusalémská-Straße leben?«

»Ja, Karel.«

Der Junge überlegte lange.

»Es war trotzdem sehr schön, was du im Fernsehen gesagt hast«, erklärte er dann. »Am andern Tag, in der Schule, haben mich alle um so einen Vater beneidet.« Wieder überlegte Karel. »Sie beneiden mich gewiß noch immer«, setzte er hinzu, »und es ist noch immer schön, was du und die anderen gesagt haben. Ich habe nie so etwas Schönes im Fernsehen gehört. Ehrlich. Die Eltern von meinen Freunden und alle anderen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, auch nicht. Und es kann doch nicht etwas sehr schön sein und auf einmal nicht mehr sehr schön – oder?«

»Nein.«

»Ja, und deshalb«, sagte Karel grübelnd, »verstehe ich nicht, weshalb du jetzt dafür flüchten mußt mit mir und warum sie dich einsperren wollen. Warum wollen sie denn das?«

»Weil es eben doch nicht allen Leuten gefallen hat«, sagte der Vater zu Karel.

»Den fremden Soldaten hat es nicht gefallen, wie?«

»Ach, die fremden Soldaten«, sagte der Vater.

»Was ist mit ihnen?«

»Die tun nur, was man ihnen befiehlt.«

»Also denen, die befehlen, hat es nicht gefallen?«

»Es darf ihnen nicht gefallen haben«, sagte der Vater.

»Das ist aber kompliziert«, sagte sein Sohn. »Sind sie sehr mächtig, die Leute, die über die Soldaten befehlen?«

»Sehr mächtig, ja. Und auch wiederum sehr machtlos.«

»Das verstehe ich nun aber wirklich nicht«, sagte Karel.

»Siehst du«, sagte der Vater, »in ihrem Herzen hat es vielen von denen, die über die Soldaten befehlen, genauso gefallen wie dir und deinen Freunden und den Menschen in unserem Land. Den meisten ist es so gegangen, sicherlich. Und sie werden jetzt so traurig sein, wie es die Soldaten im Park waren.«

»Dann sind sie also nicht böse?«

»Nein, sie sind nicht böse«, sagte der Vater. »Aber sie dürfen nicht zugeben, daß es ihnen gefallen hat. Und sie dürfen nicht zugeben, daß man bei uns solche Sachen sagt und denkt und schreibt, denn es könnte ihnen sonst ein Unglück geschehen.«

»Was für ein Unglück?« fragte Karel.

»Ihre Völker könnten sie davonjagen, so wie wir unsere Mächtigen davongejagt haben«, sagte der Vater. »Deshalb sind diese Leute so mächtig und doch so machtlos. Verstehst du?«

»Nein«, sagte Karel. Und als wäre es eine Entschuldigung, setzte er stirnrunzelnd hinzu: »Das ist Politik, nicht wahr?«

»Ja«, sagte der Vater.

»Natürlich«, sagte Karel. »Darum kann ich es nicht verstehen.«

Irgendwo hinter den mondbeschienenen kleinen Häusern, draußen in den Feldern, auf denen hoch die Ernte stand, ertönte schnell und ohne Hall das Geratter einer Maschinenpistole.

»Jetzt schießen sie wieder«, sagte Karel.

»Aber nicht mehr soviel wie am Nachmittag«, sagte der Vater. »Komm, Großmutter wartet in der Küche.«

Sie verließen das düstere, altmodische Schlafzimmer mit den Möbeln aus dem vorigen Jahrhundert. Der Vater warf einen kurzen Blick auf das Bild über dem Bett. Es war ein großer Öldruck und zeigte Jesus und die Jünger im Garten von Gethsemane. Die Jünger schliefen, doch Jesus stand vor ihnen, wach als einziger. Mit erhobener Hand sprach Er. Am unteren Bildrand standen, in tschechischer Sprache, die Worte: WACHET UND BETET, AUF DASS IHR NICHT IN ANFECHTUNG FALLET! DENN DER GEIST IST WILLIG, ABER DAS FLEISCH IST SCHWACH. Links, in der Ecke, stand in sehr kleiner Schrift: Printed by Samuel Levy & Sons, Charlottenburg (Berlin), 1909.

Draußen in der unwirklichen Mondnacht hämmerte weiter die Maschinenpistole. Hunde heulten. Dann war es wieder still. Im Jahre 1909 von Samuel Levy und Söhnen in Berlin-Charlottenburg auf Öldruckpapier gebannt, sprach der Erlöser der Welt noch immer zu Seinen schlafenden Jüngern.

Es war 22 Uhr 14 am 27. August 1968, einem Dienstag.

3

»… hier spricht ›Radio Freiheit für Europa‹. Wir brachten Nachrichten für unsere tschechoslowakischen Hörer. Die Sendung ist beendet«, ertönte die Ansagerstimme Aus einem Studio in München übertrug ›Radio Freedom for Europe‹, ein Sender, der in vielen Sprachen und Programmen für Ostblockstaaten operierte, eine Schallplattenaufnahme der ›Fidelio‹-Ouvertüre.

Der alte Radioapparat stand in einer Ecke der verräucherten, niedrigen Küche. Das Ohr dicht am Lautsprecher, hatte die Großmutter der Sendung gelauscht. Nun verstellte sie den Skalenzeiger genau auf die Marke für den Prager Rundfunk und schaltete den Apparat ab. Gebückt ging sie zum Herd, auf dem ein großer Topf stand. Ihr Gesicht war, je älter sie wurde, immer kleiner geworden. Und immer mehr hatte sie die Fähigkeit verloren, auch nur halbwegs aufrecht zu gehen. Gegen den Ischias gab der Arzt ihr Injektionen, aber die Spritzen halfen nicht sehr. Die Großmutter wünschte oft den Tod herbei. Doch der Tod ließ auf sich warten.

»Da seid ihr ja«, sagte die Großmutter, als der Vater mit Karel in die Küche kam. Sie ergriff einen Schöpflöffel und füllte drei Teller. »Es gibt Bohnensuppe«, sagte sie. »Ich habe ein paar Scheiben Selchfleisch hineingeschnitten.«

»Fettes?« fragte Karel und blinzelte ängstlich, während er sich an den gedeckten Tisch neben dem Herd setzte.

»Mageres. Ganz mageres, mein Herzel«, sagte die Großmutter. Sie sagte immer ›Herzel‹ zu Karel.

»Gott sei Dank, mageres!« Der kleine Junge lachte sie an und beleckte einen großen Löffel. In der Ferne hallte wieder ein Schuß durch die Nacht. Karel band sich eine riesige Serviette um den Hals, wartete, bis die anderen zu essen begonnen hatten, und tauchte den Löffel dann auch in die Suppe. »Prima, Großmutter«, sagte er. »Wirklich. Magerer geht es nicht!«

Über dem Tisch hingen leuchtend gelbe Maiskolben an ausgespannten Schnüren. Das Herdfeuer knisterte laut. Trotzdem wurde es auch in der Küche nie richtig warm, und immer roch es auch hier ein bißchen nach Moder.

Nachdem die Großmutter den Löffel viermal zum Mund geführt hatte, erzählte sie: »Der Radio Freiheit für Europa hat gerade gesagt, daß die UNO ohne Unterbrechung tagt unseretwegen.«

»Das ist aber rührend von der UNO«, sagte der Vater.

»Und daß die Amerikaner außer sich sind vor Empörung!«

»Ja, natürlich sind sie das«, sagte der Vater. »Und nach den Nachrichten haben sie Beethoven gespielt, was?«

»Ich weiß nicht. Es hat so geklungen.«

»Ganz sicher war es Beethoven«, sagte der Vater.

»Woher weißt du das?« fragte Karel.

»Wenn so etwas passiert ist wie bei uns, spielen alle Rundfunkstationen nach den Nachrichten immer Beethoven«, sagte der Vater. »Die Fünfte oder die Ouvertüre zu ›Fidelio‹.«

»Fidelio ist sehr schön«, sagte Karel. »Die Fünfte auch. Alles von Beethoven ist schön, nicht wahr?«

»Ja«, sagte der Vater. Er strich Karel über das schwarze Haar.

»Wir sollen Widerstand leisten und tapfer bleiben. Wir sind ein heroisches Volk, hat der Radio gesagt.«

»Jaja«, sagte der Vater und löffelte Suppe.

»Und sie werden uns zu Hilfe kommen.«

»Natürlich werden sie das tun. Wie sie den Ungarn damals zu Hilfe gekommen sind«, sagte der Vater.

»Nein, diesmal wirklich! Hat der Radio gesagt! Alle erwarten, daß die Amerikaner die Russen auffordern, sofort wieder aus unserem Land abzuziehen. Und alle die anderen Staaten auch.«

»Einen Dreck werden sie tun«, sagte der Vater. »Die Amerikaner am wenigsten. Denen haben die Russen es doch vorher eigens mitgeteilt, daß sie uns besetzen müssen. Damit die Amerikaner keinen Schreck kriegen und glauben, der Dritte Weltkrieg geht los. Die Russen haben den Amerikanern gesagt, daß sie unser Land besetzen müssen, aber sonst werden sie nichts tun. Die Amerikaner haben gesagt, schön, wenn ihr sonst nichts tut, ist es okay.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte die Großmutter erschrocken.

»Politik«, sagte Karel.

»Woher weißt du das denn?« fragte die Großmutter ihren Sohn.

»Unsere Leute haben es inzwischen herausgekriegt in Prag. Ist eine verabredete Sache zwischen den Großen. Nach außen hin müssen die im Westen nun empört tun. Und dieser Sender macht unserem Volk noch Hoffnung und ruft zum Widerstand! Genauso, wie er es bei dem Ungarnaufstand getan hat und vorher bei dem Aufstand in Ostdeutschland und bei dem Polenaufstand!«

Es folgte Schweigen.

»Die Amerikaner und die Russen sind die Größten und die Stärksten auf der Welt?« fragte Karel endlich.

»Ja«, sagte der Vater. »Und wir gehören zu den Kleinsten und Schwächsten.«

»Man muß sehr froh darüber sein«, sagte Karel, nachdem er überlegt hatte.

»Froh? Weshalb?«

»Ich finde. Wenn wir auch so stark wären, dann müßten wir jetzt lügen wie die mächtigen Amerikaner, oder wir würden so traurig sein und Angst haben wie die mächtigen Russen. Ich meine … Vorhin hast du gesagt, daß sie traurig sind, aber befehlen haben müssen aus Angst …« Karel verwirrte sich. »Oder ist das nicht richtig, was ich denke?«

»Es ist schon richtig«, sagte der Vater. »Und nun iß deine Suppe auf.«

»Du bist sehr klug, Herzel«, sagte die Großmutter.

»Nein, gar nicht. Aber ich möchte es gerne sein«, sagte Karel. Er saß aufrecht am Tisch, die linke Hand über dem linken Knie. Die rechte Hand mit dem Löffel führte er sicher und wohlerzogen zum Mund.

Die Großmutter fragte: »Wie werde ich wissen, daß ihr gut hinübergekommen seid? Wie werde ich wissen, daß euch nichts zugestoßen ist?«

»Uns stößt schon nichts zu«, sagte der Vater.

»Trotzdem. Ich muß es genau wissen. Du bist mein letzter Sohn. Und Karel ist mein einziger Enkel. Außer euch beiden habe ich niemanden mehr.«

»Wir nehmen die Trompete mit«, sagte der Vater. »Wenn wir drüben sind, spiele ich ein Lied, das du kennst. Die Grenze ist so nah, du wirst es bestimmt hören.«

»Ich kann auch schon Trompete blasen, Großmutter!«

»Wirklich, Herzel?«

»Ja!« Karel nickte stolz. »Ich kann ›Škoda lásky‹ und ›Kde domoův můj‹ und ›Plují lodi do Triany‹ und ›Strangers in the Night‹ … und noch andere … Aber die kann ich am besten!«

›Kde domov můj‹ heißt auf deutsch ›Wo meine Heimat ist‹ und ist die Nationalhymne, die anderen Melodien sind Schlager.

»Bitte, spiel ›Strangers in the Night‹«, sagte die Großmutter zu ihrem Sohn. »Das ist doch ein ganz altes Lied, das sie jetzt wieder ausgegraben haben.«

»Ja, Frankie-Boy«, sagte Karel.

»Es war das Lieblingslied von meinem Andrej. Gott hab ihn selig. Und ich habe es auch so gerne. Wirst du dieses Lied spielen, Sohn?«

»Ja, Mutter«, sagte der Vater.

Plötzlich ließ die Großmutter ihren Löffel sinken und bedeckte das kleine Gesicht mit den roten, abgearbeiteten Händen.

Karel starrte sie erschrocken an. Der Vater senkte den Kopf.

»Ist sie so traurig, weil wir hinübergehen in das andere Land?« fragte Karel leise.

Der Vater nickte.

»Aber hier können wir doch nicht bleiben«, flüsterte Karel.

»Darum ist sie ja so traurig«, flüsterte der Vater noch leiser.

4

Um 23 Uhr 15 brachen sie auf.

Die Großmutter hatte sich beruhigt. Sie küßte Karel und ihren Sohn. Und beiden machte sie das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn.

»Leb wohl, Mutter«, sagte der Vater und küßte ihre Hand. Dann hob er die Koffer auf, einen großen und einen kleineren. Karel ergriff das schwarze Futteral, in dem die Jazz-Trompete lag.

Sie verließen das Haus durch den Ausgang zu dem kleinen Gemüse- und Obstgarten hinter dem Haus, denn es erschien dem Vater gefährlich, sich auf der leeren Dorfstraße sehen zu lassen. Seite an Seite ging er mit seinem Sohn in den Mondschein hinaus, der die ganze Landschaft, Bäume, Hecken, Häuser und Felder geisterhaft erscheinen ließ. Sie wanderten durch den Garten, an den Beeten vorbei, unter den Obstbäumen hindurch, und stiegen zuletzt über einen kleinen Zaun, der das Grundstück gegen einen Feldweg abgrenzte.

Die Großmutter war in der Tür stehengeblieben, krumm und lahm, und ihre Greisenlippen formten lautlose Worte: Allmächtiger Gott im Himmel, beschütze bitte meinen Sohn und den Buben, laß sie gut hinüberkommen, und mach, daß ich die Trompete höre. Ich tu alles, was Du willst, lieber Gott, alles, alles, aber bitte laß mich die Trompete hören …

Als der Vater und Karel ihren Blicken entschwunden waren, schloß die Großmutter die Gartentür und eilte in die Küche zurück. Ein Fenster öffnete sie weit, um besser hören zu können, was draußen vorging. Das Licht hatte sie vorher gelöscht. So saß sie nun im Dunkeln, reglos …

Inzwischen hatten der Vater und Karel das Dorf schon hinter sich gelassen und gingen vorsichtig, immer wieder lauschend, hintereinander querfeldein. Hier war noch nirgends gemäht worden. Das Getreide verdeckte Karel fast ganz, dem Vater reichte es bis zur Brust. Die Nacht war sehr warm. Als sie einen Feldweg kreuzten, konnte Karel in der Ferne Lichter leuchten sehen.

»Ist das schon drüben?« flüsterte er.

»Ja«, flüsterte der Vater. »Wir sind gleich am Wassergraben.« Das wesenlose Mondlicht machte ihn plötzlich rasend. Er dachte: Ich muß mich zusammennehmen. Ich darf nicht zuletzt noch die Nerven verlieren. Er flüsterte: »Wenn sie uns entdecken, wirfst du dich sofort hin und rührst dich nicht mehr. Wenn sie dann schreien, du sollst aufstehen und die Hände heben, tust du es. Du tust alles, was sie sagen, verstanden?«

»Ja.«

»Aber wenn ich sage ›Lauf!‹, dann läufst du, egal, was geschieht und was sie schreien. Immer auf die Lichter da drüben zu. Du läufst auf alle Fälle, ganz gleich, was ich noch tue. Wenn ich ›Lauf!‹ sage, dann läufst du!«

»Ja«, sagte Karel wieder. Sein Gesicht leuchtete hell im Mondschein. Das Getreidefeld war nun zu Ende. Ein schmaler Waldstreifen folgte. Fichten standen hier dicht nebeneinander. Der Boden war bedeckt von einer Nadelschicht, die ihre Schritte unhörbar werden ließ. Über die weichen Polster schlichen sie dahin. Immer wieder nach allen Seiten blickend, suchte der Vater von Stamm zu Stamm seinen Weg. Einmal knackte ein Ast unter seinen Schuhen. Da standen sie ein paar Sekunden lang reglos. Dann bewegten sie sich vorsichtig weiter.

Hinter den Bäumen tauchte die Silhouette eines primitiv zusammengezimmerten Wachtturms auf. Das hohe Gerüst mit dem viereckigen Verschlag sah sehr häßlich aus. Nichts regte sich dort oben, kein Licht drang durch die Ritzen des Verschlags. Der Wachtturm stand etwa einen halben Kilometer entfernt. Sie hatten den Waldrand erreicht.

Der Vater legte sich auf den Nadelboden, Karel legte sich dicht neben ihn. Der Boden war warm, die Nadeln rochen stark und würzig. Karel flüsterte in das Ohr des Vaters: »Die Posten – sind die da auf dem Turm?«

»Nein«, flüsterte der Vater in Karels Ohr. »Die Leute im Dorf haben gesagt, auf dem Turm ist niemand. Die Posten stehen bei ihren Panzern, weit verstreut. Und die Panzer haben sie getarnt.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Noch elf Minuten bis Mitternacht«, sagte er leise. »Wir müssen warten.«

Karel nickte. Er lag gegen die Erde gepreßt und atmete tief den Geruch des Nadelbodens ein. Wie einfach alles geht, dachte er. Nun haben wir auch schon den Wald hinter uns, und da ist das Wasser.

Das Wasser lag schwarz vor ihnen. Träge floß es in einem schnurgeraden Graben von Norden nach Süden. An manchen Stellen blitzte es auf und reflektierte das Mondlicht. Der ’Wassergraben war etwa fünf Meter breit. Die ersten Flüchtlinge hatten ihn noch durchschwommen. Nun lag ein Fichtenstamm quer über dem künstlichen Flußbett, und in einer Höhe von etwa einem Meter lief ein dünner Draht, an dem man sich festhalten konnte, wenn man auf dem Stamm balancierte. Die Fichte mußte im Wäldchen gefällt und über den etwa zehn Meter breiten Wiesengrund zum Wasser hinuntergeschleppt worden sein. Das Gelände fiel hier zum Graben hin ab.

»Du gehst zuerst hinüber«, flüsterte der Vater. »Der Stamm trägt nur einen Menschen auf einmal, und ich muß außerdem aufpassen, daß er nicht ins Rollen kommt.«

»Wenn ich aber ins Wasser falle … Ich kann nicht schwimmen …«

»Du wirst nicht ins Wasser fallen. Siehst du den Draht?« Der Draht blinkte im Mondlicht. »Daran hältst du dich fest. Wenn du willst, laß die Trompete da. Ich schaffe auch die noch.«

»Mit zwei Koffern? Nein, die Trompete nehme ich!« Karels kleine Faust klammerte sich fest um den Ledergriff des schwarzen Futterals. Danach schwiegen sie. Der Vater nahm den Blick nicht mehr von der Armbanduhr. Die Minuten schienen zu Stunden zu werden, zur ersten Sekunde der Ewigkeit.

Dann, endlich, hörte man den Motor eines Autos.

Weit weg arbeitete der Motor, leise zuerst, wurde etwas lauter, verstummte. Im gleichen Moment begann die Glocke der Dorfkirche Mitternacht zu schlagen.

»Pünktlich«, flüsterte der Vater.

»Jetzt lösen sie sich ab?«

»Ja.« Der Vater sah noch einmal nach allen Seiten, dann gab er Karel einen Klaps. »Los, lauf jetzt. Lauf!«

Gebückt rannte Karel über den feuchten Wiesengrund hinab zum Wasser und dem Fichtenstamm. Zwei Herzschläge später rannte der Vater mit den beiden Koffern hinter ihm her. Während Karel schon auf den Stamm kletterte, stellte der Vater die Koffer ab und setzte sich auf das dicke Baumende.

Mit der linken Hand hielt Karel das Trompetenfutteral fest, mit der rechten packte er den kalten, glatten Draht. Langsam balancierte er auf dem Stamm über dem Wasser hinaus.

»So ist es recht«, flüsterte der Vater.

Der Draht schwankte plötzlich. Karel knickte ein. Einen Moment lang sah es aus, als glitte er ab, dann hatte er sich gefangen. Der Schweiß rann ihm jetzt über das kleine Gesicht, und seine Zähne schlugen vor Aufregung gegeneinander. Jetzt hatte er die Mitte des Wassergrabens erreicht. Er dachte: Nicht hinunterschauen. Wenn ich bloß nicht hinunterschaue, geht alles gut. Das einzige, was ich nicht darf, ist hinunterschauen …

Noch ein Schritt. Noch einer.

Karel keuchte. Der Fichtenstamm wurde dünner, bog sich durch. Krampfhaft sah Karel geradeaus.

Nicht hinunterschauen!

Nun trennten ihn noch eineinhalb Meter vom anderen Ufer. Nun war es noch ein Meter. Nicht hinunterschauen … Nicht hinunterschauen … Der Stamm drehte sich ein wenig. Wieder glitt Karel aus, wieder fing er sich. Noch zwei Schritte …

Er sprang und war an Land. Den Lederbügel des Futterals umklammernd, rannte er gebückt über einen Wiesengrund, der so breit und naß und weich war wie der auf der anderen Seite, bis zum Beginn eines Waldrandes und hinter die ersten Bäume. Dort kauerte er sich nieder. Auch lauter Nadeln, dachte er. Auch lauter Fichten. Alles fast so wie drüben, nur der Wald kleiner.

Er sah, daß der Vater nun auf den Stamm kletterte. Der Vater hielt einen Koffer in der linken Hand, den zweiten, kleineren, hatte er unter den linken Arm geklemmt, und mit der rechten Hand suchte er am Draht Halt, wie Karel es getan hatte. Der Vater kam viel schneller vorwärts. Karel bewunderte seine Geschicklichkeit. Mit so schweren Koffern! Nach wenigen großen Schritten hatte der Vater die Mitte des Stammes erreicht. Als er den ersten Schritt über die Mitte machte, flammten auf dem Wachtturm zwei Scheinwerfer auf, irrten mit rasender Geschwindigkeit den Wassergraben entlang, und dann packten ihre Lichtkegel den Vater, der wie gelähmt in der Bewegung erstarrt war.

Karel schrie unterdrückt auf.

Die grellen Scheinwerfer trafen den Vater und blendeten ihn. Er schwankte auf dem Stamm hin und her und versuchte, den Kopf so zu halten, daß er ins Dunkel blicken konnte.

Entsetzt dachte Karel: Also sind doch Menschen auf dem Turm! Also ist er doch nicht verlassen! Haben die Leute im Dorf den Vater angelogen? Nein, bestimmt nicht. Das waren lauter gute Landsleute. Sie hatten nicht gewußt, daß der Turm wieder besetzt ist – vielleicht erst seit heute nacht. Also eine Falle? Also stimmt das alles nicht mit den Posten bei ihren Panzern, die sich um Mitternacht ablösen?

Karels Gedanken jagten einander in rasender Eile. Eine verzerrte Megaphonstimme dröhnte: »Kommen Sie zurück, oder wir schießen!«

Karel hatte sich auf den Bauch geworfen. Er starrte zum Vater hinüber, als abermals hallend die heisere Stimme ertönte: »Zurück, oder wir schießen!«

Der Vater machte eine groteske Bewegung, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sein ganzer Körper bog sich dabei zusammen, er ließ die beiden Koffer los. Klatschend flogen sie ins Wasser. Und dann begannen zwei Maschinenpistolen auf den Mann im Scheinwerferlicht zu feuern.

»Lauf!« schrie der Vater gellend. »Lauf, Karel, lauf!«

Die Geschosse, die seinen Körper trafen, rissen ihn herum. Schwer stürzte er in die Tiefe. Die Maschinenpistolen bellten weiter, ihre Kugeln klatschten jetzt auch ins Wasser, ließen sprühend Fontänen aufsteigen, und dann trafen sie wieder den Vater, der, mit dem Gesicht nach unten, langsam abtrieb.

Der erste Scheinwerfer folgte dem Vater, der zweite hob sich zum anderen Ufer, zum Waldrand, an dem Karel lag. In der gleichen Sekunde kam Leben in den Jungen. Er sprang auf und rannte los. Er rannte, so schnell er konnte, über den Nadelboden, so schnell, wie er noch nie im Leben gerannt war. Er stürzte bei einer Wurzel, erhob sich sofort wieder, um weiterzurennen, sein Herz klopfte rasend, er bekam kaum Luft, aber immer noch lief er.

Mondschein erleuchtete den weichen Boden zwischen den Bäumen, hellbraun, dunkelbraun, grün. Auf dem glatten Teppich der Nadeln schlidderte Karel wild dahin in rasendem Zickzack zwischen den Baumstämmen hindurch. Er sah ein Feld. Er stürzte zweimal, als er über nun harte Erde rannte. Er erreichte einen Feldweg, an dessen Rändern viele Obstbäume standen. Hinter sich, beim Wassergraben, hörte er undeutliche Männerstimmen. Die Stimmen brachten ihn ein wenig zu sich. Er sank auf dem staubigen Weg zusammen Keuchend sah er zum Mond empor. Das Futteral mit der Trompete lag hinter ihm. Sein Vater fiel ihm ein. Er hatte ihn völlig vergessen gehabt. Jetzt schrie er, so laut er konnte: »Vater!«

Und noch einmal: »Vater!« Und wieder: »Vater!«

Es kam keine Antwort.

Ein furchtbares Schluchzen erstickte Karels Stimme Wie ein Tier begann er auf allen vieren im Staub herumzukriechen, und dabei kam seine Stimme wieder, und er schrie von neuem: »Vater! … Vater! … Vater!«

Er stand taumelnd auf und preßte die Hände gegen die Augen, weil er so weinen mußte. Um ihn drehte sich alles. Er dachte immer dasselbe: Vater ist tot. Sie haben Vater erschossen. Vater ist tot. Mein Vater. Sie haben ihn erschossen. Trotzdem schrie er mit dünner, verzweifelter Kinderstimme: »Vater! Hier bin ich, Vater! Vater! Komm zu mir!«

Der Vater antwortete nicht. Drüben kläfften Hunde, fluchten Soldaten. Wieder schrie Karel. Dann drehte sich sein Magen um, und er übergab sich würgend. Nun wimmerte er: »Vater … Vater … Vater …« Und verstummte jäh.

Vielleicht war der Vater gar nicht tot? Vielleicht war er an Land geschwommen und suchte seinen Karel nun irgendwo in dieser silbernen Finsternis? Vielleicht hörte er Karel nicht?

Das Kind fuhr auf.

Ein Gedanke war ihm gekommen Wenn man seine Stimme schon nicht hörte – die Trompete hörte man bestimmt ganz weit! Vater selber hatte es gesagt. Er wollte doch für die Großmutter dieses Lied spielen … Wenn Karel es nun spielte, dann mußte der Vater ihn hören. Mußte! Mußte! Mußte!

Karel lachte und weinte jetzt durcheinander Ihm war so schwindlig, daß er dauernd umfiel, als er zu dem schwarzen Futteral zurücklief, das am Wegrand lag. Mit zitternden Händen öffnete er es. Nun würde der Vater zu ihm finden! Wenn er nur lange genug Trompete spielte, würde der Vater wieder bei ihm sein. Karel weinte und lachte und lachte und weinte. Er hob die schwere, goldglänzende Trompete mit beiden Händen zum Mund. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel um. Sofort erhob er sich.

»Vater …«, flüsterte er, »warte, Vater, warte, gleich …«

Danach fiel er wieder in sich zusammen.

Vor dem nächsten Versuch, die Trompete an die Lippen zu setzen, lehnte Karel sich vorsichtshalber gegen einen Apfelbaum, dessen Äste, dicht mit Früchten beladen, tief herabhingen. Die kleinen Schuhe hakten sich im Erdreich fest. So stand Karel da, das Instrument erhoben.

Und nun begann er zu blasen. Laut und sehnsuchtsvoll ertönte die alte Melodie. Nicht jeder Ton, den Karel der Trompete entlockte, war ein richtiger, klangreiner Ton, aber deutlich war das Lied zu erkennen.

›Strangers in the Night‹ blies der kleine Junge im Niemandsland der Grenze. Er dachte: Vater wird es hören. Er wird mich finden. Er ist nicht tot. Es war alles ein Trick von ihm. Er ist klug. Er hat so getan, als wäre er getroffen, und dann hat er sich ins Wasser fallen lassen und ist an das Ufer auf dieser Seite geschwommen. Ja, ganz bestimmt war es so. So war es, ganz bestimmt …

 

»Hör mal«, sagte der Oberwachtmeister Heinz Subireit, der in einem Geländewagen des Bundesgrenzschutzes etwa zwei Kilometer von Karel entfernt über den Feldweg Patrouille fuhr, zu seinem Freund, dem Truppjäger Heinrich Felden.

»Strangers in the Night«, sagte Felden, am Steuer des Wagens. »Ein Verrückter«, sagte Subireit. »Ein Verrückter, der hier Trompete bläst.«

»… exchanging glances, wond’ring in the night«, sang Felden leise mit.

›… what were the chances we’d be sharing love before the night was through‹, blies Karel. Komm zu mir, Vater. Bitte, komm. Ich habe solche Angst. Vater, bitte, lieber Vater.

»… something in your eyes was so inviting«, sang der Truppjäger Felden am Steuer.

»Hör auf«, sagte der Oberwachtmeister Subireit. »Mach schon. Da vorne muß das sein. Wollen mal sehen, was da los ist.«

›… something in your smile was so exciting‹, blies Karel, und dicke Tränen rannen über seine Kinderwangen. Vater lebt. Vater lebt. Er kommt zu mir. Jetzt hört er mich. Ja, ja, jetzt hört er mich …

›… little did we know that love was just a glance away …‹ Das Lied der Trompete hob sich von der alten gleichgültigen Erde empor zu dem alten gleichgültigen Himmel mit seinem Mond und seinen unendlich fernen, kalten Sternen. Es flog über das Land. Die Soldaten, die den Toten aus dem Wassergraben zogen, hörten es ebenso wie die Großmutter in ihrer niedrigen Küche.