Die 12 Häuser der Magie

Die 12 Häuser der Magie

Schicksalskämpfer

Andreas Suchanek

Drachenmond Verlag

Inhalt

Prolog

I. Der Verlust des Schicksals

1. Hoffnungslos

2. Spurensuche

3. Mit ein wenig Verspätung

4. 1744

5. Die Schattentänzerin

6. Von Leib zu Leib

7. Zerstörung

8. Die Apparatur

9. Ein Gespräch unter Freunden

10. Des Schicksals grausame Wahrheit

II. Die Gnadenlosigkeit des Schicksals

11. Tränen der Endgültigkeit

12. Ein Brief aus der Vergangenheit

13. Echo aus dem Gestern

14. Europa, wir kommen

15. Wo Trauer ihren Anfang nahm

16. Tote Zone

17. Durch den Spiegel

18. Im Zentrum der Dunkelheit

19. Vereint ohne Hoffnung

20. Die endgültige Entscheidung

III. Der Tod des Schicksals

21. Dunkle Zeiten

22. Heimkehr

23. Der Schlüssel

24. Siebenmal Hoffnung

25. Schicksal in Aufruhr

26. Letzte Vorbereitungen

27. Alles oder nichts

28. Die Apparatur

29. Zwischen Gestern und Heute

30. Ein Schritt, ein letzter Augenblick

31. Die ganze Wahrheit

32. Schatten und Gold

Glossar

Nachwort

Prolog

Statuen aus schwarzem Glas standen dicht an dicht. Ihre Glieder waren detailreich ausgearbeitet, die Oberfläche glatt. Bei ihrer Fertigung war Magie zum Einsatz gekommen, sie umgab die Kunstwerke wie eine zweite Haut. Nichts anderes hätte etwas derart Kunstvolles erschaffen können.

Er schwebte in der Mitte des Raumes, obwohl er eigentlich fiel, und fragte sich, wie all das hatte passieren können. Die Wahrheit, nur wenige Worte, nicht mehr, doch mit der Durchschlagskraft einer entgleisten Lokomotive.

Die ersten Risse erschienen auf den Oberflächen. Sich verästelnde Linien, die zu Netzstrukturen anwuchsen. So fein, hauchdünn, doch von solcher Zerstörungskraft.

Er sah, was geschehen würde, war jedoch machtlos.

Wie sollte er es auch aufhalten?

Ein Plan, gewoben aus purer Boshaftigkeit, wurde Wirklichkeit. Und selbst das Schicksal musste sich geschlagen geben.

Zwischen den kantigen Felsen der Höhle ging eine Ära zu Ende.

Das Glas zerbrach.

Ein Regen aus Scherben wirbelte durch die Luft, zerschnitt Haut und hinterließ Rinnsale aus Blut. Dunkelrote Flüsse in einem pulsierenden Flussbett.

Die Glasscherben verloren sich im Nichts.

Jede Hoffnung starb.

Teil I

Der Verlust des Schicksals

Kapitel 1

Hoffnungslos

Nic trat aus dem schwarzen Spiegel im sicheren Haus, nur um einer verwirrten Liz von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

»Wo ist Matt?«, fragte sie.

Im ersten Augenblick starrte er sie lediglich ungläubig an. Sein bester Freund war vor ihm durch die Passage gegangen, hatte das schwarze Glas des Spiegels durchschritten.

Wieso war er nicht hier?

Liz blickte mit geweiteten Augen zwischen ihm und dem Portal hin und her. Ihr schulterlanges blondes Haar war noch immer zerzaust von dem langen Flug nach Spanien, wo sie die Spiegelpassage kurz vor ihren Gegnern gefunden hatten. Die Oberfläche bestand wieder aus fester Substanz, die Verbindung hatte sich geschlossen.

Nic warf sich herum, packte den Spiegelrahmen und entfesselte seine Gabe, auf die schwarzen Linien zuzugreifen. Vor seinem inneren Auge sah er den Ausgang in Spanien, tief unter dem Mausoleum. Vor dem Spiegel standen die Jäger von Inés, dazu bereit, jeden zu erledigen, der aus der Verbindung trat.

»Er ist nicht wieder zurückgetaumelt«, flüsterte Nic.

»Kann er durch einen anderen Ausgang gestürzt sein?«, fragte Liz.

»Er ist tot«, brachte sich Nox in Erinnerung. »Spar dir die Suche.«

Am liebsten hätte Nic den verdammten Familiaris in der Luft zer­­fetzt. Doch die gargoyleartige Kreatur besaß keinerlei feste Substanz und war lediglich für ihn sicht- und hörbar. Inés hatte ein Band geschmiedet, das keiner von beiden auflösen konnte. Sobald er das geheime Herrenhaus von Chavale verließ, würde Nox seinen Aufenthaltsort der neuen Obersten des 13. Hauses mitteilen. »Halt die Schnauze!«

»Du hast deine Rolle als Sklave noch nicht akzeptiert.« Mit einem Grinsen verschränkte der Familiaris die krallenbewehrten Klauen. »Aber das kommt noch. Sobald du den Tod dieses Versagers akzeptiert hast.«

»Er kann doch nicht einfach verschwunden sein.« Liz bebte vor Tatendrang.

»Ich kann sie nicht beide verloren haben«, flüsterte Nic. »Zuerst verschwindet Jane, während sie gegen einen Fatumaris kämpft, irgendwo im Schatten, dann ist Matt fort.«

Die Erkenntnis kam über ihn wie eine Welle. Sein Vater saß in einer Zelle des magischen Gefängnisses Akantor, der ehemalige Oberste des 13. Hauses, Jeremiah, war tot. Die übrigen Häuser hielten Liz, Jane, Angelo, Matt und ihn für Jünger des Dämons. Seine beiden Freunde waren verschwunden und das, kurz nachdem Matt erfahren hatte, dass sein Bruder Mikael gestorben war. Ach ja, Gabriel war dagegen noch am Leben.

Für einen Augenblick wurde Nics Brust eng, er konnte nicht mehr atmen. Keuchend stützte er sich an der Wand ab.

»Hey, ganz ruhig.«

Liz zog ihn in ihre Arme. Ihre Nähe gab ihm Kraft, sein Atem beruhigte sich. Ihre Herzschläge glichen sich an, sanft legte sie ihre Stirn an seine.

»Es ist alles zerstört«, hauchte Nic. »Wie konnte das passieren?«

»Wir gehen ein Problem nach dem anderen an«, gab sie ebenso leise zurück. »Aber langsam. Atme tief durch. Wir schaffen das.«

»Berühmte letzte Worte«, krächzte Nox.

Nic stöhnte frustriert auf. »Ich kann nicht mal nach ihm suchen. Sobald ich gehe, verrät mich dieses verschuppte Ding.«

»Nox«, schloss Liz. »Wir finden auch für ihn eine Lösung. In Chavales Bibliothek gibt es so viele Bücher, in einem davon steht bestimmt ein passender Zauber.«

Doch einstweilen saß er hier fest. Und da er der Einzige zu sein schien, der die schwarze Spiegelverbindung öffnen konnte, würden weder Matt noch Jane hierher zurückkehren können.

»Ich will, dass alles wieder so ist wie vorher.« Selbst diese wenigen Worte kosteten ihn mehr Kraft, als sie es tun sollten.

Unweigerlich erinnerte er sich an das Skydive. Irgendwo sprang das Café von einem Ort zum nächsten. Lachende Schüler saßen darin und tranken, Pärchen küssten sich … damals war ihm alles schwer erschienen, aber in Wahrheit so leicht gewesen. All das war vorbei, gehörte zu einem anderen Leben. Vergangen in niedergemetzelten Freunden und zerstörter Hoffnung.

»Niemand konnte wissen, dass es Inés ist.« Liz strich ihm über die Wange. »Nicht einmal Jeremiah wusste es und er hat täglich mit ihr zusammengearbeitet.« Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück. »Du bist nicht allein, okay?«

Er nickte, wenn auch zögerlich. Falls Inés die Wahrheit gesagt hatte, hätte Nic niemals ins 13. Haus kommen sollen. Sein eigener Vater hatte durch eine Änderung des Schicksals dafür gesorgt.

Doch darüber nachzudenken brachte nichts. Er schob das Knäuel aus Fragen beiseite.

»Gehen wir nach oben«, schlug Liz vor. »Was wir auch tun, es muss gut durchdacht sein.«

Sie stiegen die Stufen empor, der Keller des Chavale-Hauses blieb hinter ihnen zurück. Es stand irgendwo in London, mit einem so starken magischen Schutz versehen, dass es auf normalen Weg nicht betreten werden konnte. Mit dem schwarzen Spiegel als einzigen Ausgang.

Da Nic nicht wusste, wo es sich in der realen Welt befand, konnte auch Nox die Position lediglich erahnen. Inés musste folglich erst einmal suchen.

Sie traten in den Salon, wo Nic sich in den Sessel fallen ließ. Liz verschwand in die Küche und kehrte mit zwei Tassen Tee zurück. Sofort fühlte Nic sich an Matt erinnert, der ständig etwas aus der Küche gebracht hatte, bevor er wieder darin verschwunden war. Meist die nach Unkraut schmeckende Pflanzenpaste.

Vor dem Fenster war dichte Nacht heraufgezogen, die Straßenlaternen warfen ihren Schein herein. Bei ihrem Eintreten waren die Glühbirnen in den Wandlampen zum Leben erwacht, der Kristallleuchter an der Decke hatte aufgeleuchtet. Chavales Haus besaß überall kleine Tricks, er war seiner Zeit weit voraus gewesen. Im ganzen Gebäude gab es Mechanismen, die selbst in der Gegenwart im alltäglichen Gebrauch erst seit wenigen Jahren Anwendung fanden.

Der aromatische Duft von Schwarztee stieg Nic in die Nase. »Wenigstens ein bisschen Koffein.«

Liz schmunzelte. »Du bekommst bald wieder einen Kaffee. Irgendwie.«

Schritte erklangen, als jemand die Treppe benutzte.

Nic sprang auf, stieß dabei die Tasse um und blickte hoffnungsvoll zur Tür. Liz berührte ihren Animastein im Silberring, fast als glaubte sie, Inés habe einen Weg hierher gefunden.

»Sie sollte einen tödlichen Zauber anwenden«, schlug Nox vor. »Sag ihr das. Es könnte alles sein, was gleich durch diese Tür hereinkommt.«

Doch es war weder Matt noch einer ihrer Feinde.

»Angelo.« Nic starrte auf seinen ehemaligen Trainer, den er mittler­weile als Freund bezeichnete.

Dieser trug einen dichten Bart, das T-Shirt spannte über die breiten Schultern und das schwarze Haar war zerzaust.

»Wo wart ihr?!«, rief er. »Ich bin aufgewacht und das ganze Haus war verlassen.«

Die Infiltration der Träume von Jeremiah hatte für Angelo fatale Folgen gehabt. Während Liz, Nic und Matt wieder erwacht waren, hatte er es nicht zurückgeschafft. Seit jenem Zeitpunkt hatte er geschlafen.

Liz rannte zu ihm und zog ihn in eine Umarmung. »Seit wann bist du wach?«

»Einige Stunden«, erwiderte er.

»Das muss mit Jeremiahs Tod zu tun haben.« Liz wandte sich Nic zu. »Angelo war noch mit den Träumen verbunden, vermutlich auf halber Strecke gefangen. Aber als der Oberste starb, ist die Verbindung vollständig kollabiert.«

»Er ist … tot?« Angelo wurde bleich. »Was ist passiert?«

»Vielleicht setzt du dich besser.« Liz schob ihm ihre Teetasse zu, nachdem er auf dem Sofa Platz genommen hatte.

Nic griff nach der Seidendecke der Vitrine, zog sie herunter und wischte sich damit den Schwarztee notdürftig von seiner Hose. Erst danach setzte er sich neben Liz.

Abwechselnd berichteten sie von den Ereignissen auf dem Schloss in Österreich, der Versammlung des Rates und Inés Coup, mit dem sie ein perfektes Märchen erzählt hatte. Durch die Abspaltung ihrer Fatumaris-Wesen hatten alle geglaubt, dass Liz, Jane, Matt und Nic in Wahrheit den Rat angriffen. Sie hatte Nics Vater als Verräter hingestellt, worauf dieser seinen Platz im Rat verloren hatte und im Gefängnis gelandet war.

Schließlich kamen sie zu jenem Teil, der Angelo unmittelbar betraf.

»Es war nicht Gabriel, der in Brasilien gestorben ist«, berichtete Liz. »Inés hat Matts Bruder umgebracht und deinen Freund gefangen genommen. Alle dachten, dass Gabriel tot ist, aber es war Mikael. Somit konnte ein neuer Schicksalswächter ernannt werden und niemand bemerkte, dass es Inés war, die ihr Talent verloren hat. Sie ging einen Pakt mit dem Dämon ein.«

»Sie dachten, ich sei ein Ersatz für Gabriel, verstehst du?«, hakte Nic noch einmal nach. »Doch in Wahrheit wurde ich ernannt, weil Inés ihre Kraft verlor.«

Angelo starrte ihn an, als hätte Nic sich in den Dämon persönlich verwandelt. Zögerlich öffnete er den Mund. »Gabriel lebt?«

»Er ist von der langsamen Sorte, was?«, fragte Nox.

»Er lebt«, bestätigte Liz.

Für ein paar Sekunden lag allumfassende Stille wie ein Leichentuch auf dem Salon.

Angelo sprang auf. »Wir müssen ihn finden!«

»Was die Frage aufwirft, wie.« Liz bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. »Wir sind ab sofort Gejagte. Und da ist noch Nox.«

Sie berichtete von der Allianz zwischen Inés und dem Familiaris sowie dem Verschwinden von Jane und Matt.

Mit jedem Satz fiel Angelos Gesicht weiter in sich zusammen. »Ich habe ihn allein gelassen. Seit Monaten ist er gefangen.« In seinen Worten schwang so viel Schuld mit, dass es Nic das Herz zerriss. »Er liegt irgendwo in einem Verlies und wartet darauf, dass ich ihm helfe.«

»Du kannst nichts dafür«, redete Nic beschwörend auf ihn ein, wohl wissend, dass es keine Rolle spielte. »Sie hat uns hereingelegt, uns alle. Es gab eine Leiche.«

»Matts Bruder.« Angelo schluckte. »Mikael musste sterben, damit Gabriel leben kann. Und ich war mit beiden zusammen … hatte mit beiden …« Sein Gesicht wurde bleich.

Angelo sprang auf und rannte in die Küche. Nic wollte ihm folgen, doch Liz hielt ihn zurück. Sekunden später waren Würgegeräusche zu hören, gefolgt von einem kurzen Schluchzen. Als er zurückkehrte, war sein Gesicht eine einzige Maske, die Augen geschwollen.

Perfider hätte das Schicksal selbst sich die Sache nicht ausdenken können. Angelo würde alles tun, um Gabriel zu befreien. Seine Nähe zu Matt war vorbei. Der hatte wiederum seinen Bruder Mikael verloren und benötigte nichts mehr als genau das: Nähe.

»Inés steht jetzt an der Spitze der Schicksalswächter.« Nic versuchte, die ganze Sache logisch zu betrachten, wie Liz es auch irgendwie gelang. »Alle Augen sind auf sie gerichtet. Ich glaube kaum, dass sie das Risiko eingehen wird, meinen Dad oder Gabriel zu töten. Das würde bemerkt werden.« Vorsichtig nippte er an seinem Tee. »Aber sie wird uns jagen. Mit allem, was die 12 Häuser ihr bieten können.«

»Die Wächter werden ihr helfen«, ergänzte Liz. »Wir müssen damit rechnen, dass wir zukünftig aus verschiedenen Richtungen angegriffen werden. Über Träume, Schatten, durch Leibwandler oder Zeitseher.« Sie seufzte schwer. »Persönliche Gegenstände dürfte es genug von uns allen geben. Die meisten Talente können damit aktiv werden.«

Jeder Magier würde sich darauf konzentrieren, sie in die Finger zu bekommen. Normalerweise hätten sie keine Chance gehabt.

»Dieses Haus ist so ziemlich der einzige Ort, an dem wir sicher sind.« Liz machte eine ausladende Bewegung, die Chavales Anwesen einschloss. »Du hast gesagt, hier drinnen gibt es kein Schicksal, richtig?«

Nic verfiel in die Schicksalssicht und nickte. »Genau, hier ist alles leer. Sie können uns hier nicht erreichen oder beeinflussen. Durch den Schild kommt auch niemand sonst hier herein. Vermutlich ist das hier der sicherste Ort auf der ganzen Welt.«

Nachdenklich trat Nic an das Fenster und blickte hinaus. Das Schicksal schien eine perfide Freude daran zu haben, ihnen Dinge zu nehmen, auf der anderen Seite aber noch genug zu lassen, damit sie überlebten.

Im Licht der Straßenlaternen schlenderten Menschen vorbei, Silhouetten aus Schattenspielen und Dunkelheit. Es waren nicht viele, die Gegend war um diese Zeit verlassen.

»Sie wird euch finden«, zischte es neben ihm. »Inés wird euch töten. Und du wirst mir dienen, wie es mir zusteht.« Nox lachte. »Du solltest wissen, dass mich kleine Geschenke besänftigen, wenn du mal wieder unzureichend gedient hast. So können ganz leicht aus hundert Peitschenhieben neunundneunzig werden. Aber ein bisschen kreativ musst du schon sein.«

Nic strich über seinen Anima, der als blauer Stein in einem Ring aus geflochtenem Stahl saß. Er stellte sich vor, Magie zu einem Höllen­wirbel zu formen, um Nox darin zu verbrennen.

»Wir sollten schlafen gehen«, sagte Liz.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich jetzt schlafen kann?!« Nic kehrte zurück zum Tisch.

»Was wir auch tun, wir müssen uns darauf vorbereiten. Du kannst deine Kräfte morgen nutzen, um die Spiegel erneut abzusuchen. Angelo und ich werden uns durch die Bibliothek wühlen.«

Nic wollte rundheraus ablehnen, doch mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie lange er bereits auf den Beinen war. Schrammen und Wunden bedeckten seinen Oberkörper, jeder Muskel schmerzte. Von den Hämatomen und blauen Flecken ganz zu schweigen. Der Kampf hatte seine Spuren hinterlassen.

Liz sah nicht viel besser aus.

»Ich habe seit Tagen geschlafen«, erklärte Angelo. »Geht ihr nur.«

»Was hast du vor?« Nic konnte das Funkeln in den Augen seines Freundes sofort deuten.

»Ich finde einen Weg aus diesem verdammten Haus!«

Womit sichergestellt war, dass nichts passieren konnte. Sie hatten die magische Barriere tagelang untersucht, kein noch so starker Zauber vermochte sie zu durchstoßen. Wie auch immer Chavale einen derart allumfassenden Schutz errichtet hatte, er wirkte auch noch Jahrhunderte nach dessen Tod.

»Viel Glück.« Nic schlurfte die Treppen hinauf.

In seinem Zimmer streifte er die Kleidungsfetzen ab und fiel in Unterwäsche auf das Bett. Die Bettdecke bot nicht annähernd genug Wärme. Liz schmiegte sich eng an ihn, spendete ihm allein durch ihre Anwesenheit Kraft und eine Art der Geborgenheit, die er dringender benötigte als alles andere.

Er berührte seinen Anima, wob Nightingales Lampe und ließ das verwobene Licht auf sie herabgleiten. Schrammen verschwanden, blaue Flecke verblassten, Wunden heilten. Liz tat das Gleiche und für eine paar wunderschöne Minuten waren sie beide von Wärme und Magie umhüllt.

Sie blieben einfach liegen, ermattet, in eine enge Umarmung verschlungen.

Doch obwohl Nic müde war, wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Irgendwo dort draußen waren Matt und Jane, streiften einsam oder verletzt umher, möglicherweise waren sie tot. Nic wollte ihnen helfen, stattdessen lag er hier in einem weichen Bett.

»Hör auf damit.« Liz streichelte ihn sanft. »Auf diese Art machst du dich kaputt.«

»Ich kann doch nicht einfach …«

»Du musst.« Ein Seufzen folgte. »Ich habe dir doch erzählt, dass meine Eltern gestorben sind.«

Bei einem Anschlag in Irland, erinnerte sich Nic. Jahre später hatte Liz ihre Fähigkeit entdeckt, ihren Geist in der Zeit zurückzuversetzen. Dadurch hatte sie sich in der Vergangenheit verloren, war ständig bei ihren Eltern gewesen. Weit zurückliegende Erinnerungen waren zu ihrer Realität geworden.

»Ja«, sagte er sanft.

»Ich wollte nicht loslassen, habe mich an die Hoffnung festgeklammert, irgendwie für immer in der Vergangenheit zu bleiben. Zu einem Teil der Erinnerungen meiner Eltern zu werden.« Sie lachte bitter auf. »Ich wollte in der Zeit zurückreisen, körperlich, nicht mehr nur geistig. Es hätte mich beinahe zerstört.«

»Was hat dich gerettet?«

Stille.

»Das ist eine lange Geschichte. Aber ich habe gelernt loszulassen. Letztlich hast du die Wahl. Du wirst deine Kraft brauchen, sobald wir etwas tun können.«

Sanft strich sie Nic über die Schläfe, den Hals, hauchte einen Kuss auf seinen Hinterkopf.

Am Ende konnte er nicht sagen, wann es passiert war oder wie, aber seine Atemzüge wurden gleichmäßiger. Wärme breitete sich in seiner Brust aus, kroch in seine Glieder und umhüllte ihn wohlig.

Sein Bewusstsein erlosch.

Kapitel 2

Spurensuche

Am nächsten Morgen hatte Angelo einen Entschluss gefasst. Gemeinsam stiegen sie hinab in den Keller, wo Nic seine Hände auf den Rahmen des Spiegels legte. Wie zuvor musste er sich lediglich ausreichend konzentrieren, schon sah er die Ausgangs­portale vor sich.

»Solange du das Haus nicht verlässt, kann Nox Inés auch nicht mitteilen, wo du bist, richtig?« Angelo deutete auf das Portal. »Du suchst mir einfach eines, das sie noch nicht kennen.«

»Dir ist klar, dass sie uns alle suchen«, gab Liz zu bedenken. »Du bist genauso ein Gejagter wie wir.«

Unbeirrt schüttelte Angelo den Kopf. »Ich bin seit vielen Jahren Schicksalswächter. So einfach lasse ich mich nicht erwischen.«

»Was glaubst du denn zu erreichen?«, fragte Nic und schielte dabei auf Nox.

Doch der Familiaris hatte sich auf die Seite gelegt, die Fratze auf die Kralle gestützt und schwieg. Jedes Wort, das sie wechselten, würde er sich merken. Sollte eine Verbindung zwischen ihm und Inés zustande kommen, würde er sofort alles weitergeben.

»Ich habe Freunde«, erklärte Angelo. »Die werde ich um Informationen bitten. Wo immer sie Gabriel auch gefangen hält, jemand muss davon wissen. Außerdem benötigen wir Ausrüstung.«

Nic ließ seinen Geist davontreiben. Die Ausgangsportale erschienen vor seinem inneren Auge. Da gab es jenes in Brasilien, durch das sie erstmalig in das Haus gekommen waren, ein weiteres in Frankreich, das dritte in Spanien. Alle drei waren Inés bekannt und auch wenn er niemanden in der nahen Umgebung sah, hatte das nichts zu bedeuten. Die neue Oberste der Schicksalswächter war clever genug, ihre Streiter in Deckung gehen zu lassen. Weitere Ausgänge erschienen.

»Da, ich habe eines in einer Düne.« Er betrachtete die Umgebung, soweit seine Gabe es zuließ. Der Boden war mit weißem Sand bedeckt, dazwischen Geröll. Vereinzelt wuchsen Büsche empor. Zwischen den Hügeln schimmerte das Blau des Meeres.

»Ich gehe durch und schaue mich kurz um«, erklärte Angelo. »Halte die Verbindung offen.«

Ohne abzuwarten, warf er sich gegen das schwarze Glas. Als bestünde dieses lediglich aus Wasser, glitt er hinein. Einige Sekunden vergingen, dann verließ Angelo den Ausgangsspiegel.

»Und?«, fragte Liz.

»Er ist angekommen.« Nur Nic konnte den Ausgang sehen, für Liz war es noch immer schwarzes Glas.

Schon verschwanden die breiten Schultern des Freundes zwischen den Dünen, seine Finger schwebten über dem Anima. Kurz darauf kehrte er zurück und trat durch den Spiegel.

»Zypern«, erklärte Angelo. »In direkter Nähe zu einem beliebten Strand. Vermutlich werde ich Engelsschwingen nehmen, bis ich Zivilisation erreiche. Soweit ich mich erinnere, gibt es dort auch einen Zugang zum normalen Spiegelnetzwerk.«

Während die schwarzen Spiegel aus irgendeinem Grund lediglich von Nic genutzt werden konnten, stand das gewöhnliche Netzwerk allen offen. Natürlich waren die Ein- und Ausgänge meist belebt.

»Inés hält doch bestimmt jeden Zugang unter Bewachung«, gab Liz zu bedenken.

»Keine Sorge, ich lasse mir was einfallen.« Er trat vor die Passage. »Nic, du öffnest das Portal nach Zypern jeden Abend um sechs Uhr, in Ordnung? Ich schicke euch Nachrichten und, sobald ich kann, frische Verpflegung.«

»Geht klar.«

»Ich finde Gabriel.«

Entschlossen trat Angelo durch die Passage.

Nic wartete noch, bis er auf der anderen Seite des Portals hervorkam, dann nahm er die Hände vom Spiegelrahmen. Die Verbindung brach ab.

»Da waren wir noch zu zweit.« Liz sah sich in dem leeren Keller um.

»Zu dritt.« Er deutete auf den Familiaris am Boden. »Vergiss diesen Parasiten nicht.«

»Komplimente besänftigen mich nicht, du Schleimer«, sagte Nox.

Sie kehrten zurück in den Salon, tranken Tee und berieten sich über das weitere Vorgehen. Es stand außer Frage, dass Nic einstweilen nicht das Haus verlassen konnte. Glücklicherweise gab es in der Bibliothek allerlei zu entdecken. Egmont Chavale war ein Erfinder gewesen und als solcher hatte er selbst zahlreiche Schriften verfasst, aber auch magische Bücher der damaligen Zeit besessen. Sie mochten nicht dem aktuellen Stand entsprechen, doch womöglich war genau das ein Vorteil.

»Die Wächter haben alle Informationen über das Regnum entfernt, auch alle Arten von Magie, die damit in Verbindung stehen«, überlegte Liz, während sie energisch durch den Salon stapfte. »Chavale lebte etwa einhundert Jahre vor dem Dämon. Zwar kann er selbst nichts über diese Dinge gewusst haben, aber wir wissen, dass er zum schwarzen Glas recherchiert hat. Irgendwann muss er in den Besitz des Spiegels gelangt sein, hat das Haus aus irgendeinem Grund gegen Eindringlinge abgeschirmt und hat sich hier versteckt. Für die Welt verschwunden, da niemand von diesem Ort wusste.«

»Vergiss nicht die Apparatur«, warf Nic ein. »Damals gab es noch keine Schicksalswächter. Doch er hat die Maschine gebaut, um das Schicksal zu verändern, dafür muss es einen Grund gegeben haben. Dieser Kerl muss ein kleines Genie gewesen sein, immerhin hat er auch die Kontaktoren gebaut.«

»Weißt du, so toll war er gar nicht«, gab Nox zu bedenken. »Ich kannte mal einen Familiaris …«

Nic verdrehte die Augen. »Er erzählt wieder von einem seiner Freunde.«

»… der war zu dieser Zeit einem Freund von Chavale zugeteilt. Hat ihn in den Wahnsinn getrieben, den Freund, nicht Chavale. Aber die beiden hatten öfter Kontakt. War ein vergesslicher Zausel, der kaum etwas auf die Reihe brachte. Wie das so ist, verklärt ihr Magier im Rückblick so ziemlich alles.«

»Was Wichtiges?«, fragte Liz.

»Beleidigungen, sinnloses Zeug, das Übliche.«

»Ich werde dich foltern«, erklärte Nox mit frischem Elan. »Eine Ewigkeit lang.«

»Tust du schon«, blaffte Nic. »Ich muss deinen Anblick ertragen.«

»Wirkt es?«, fragte der Familiaris hoffnungsvoll.

Nic stöhnte frustriert auf.

Sie verließen den Salon und vergruben sich zwischen den Büchern in der Bibliothek. Immerhin hatten sie nach der Recherche vor einigen Tagen bereits ein gewisses System entwickelt und für Ordnung gesorgt. Trotzdem mussten sie sich erst eine detaillierte Übersicht verschaffen, bevor sie Nutzen aus den Schriften ziehen konnten.

»Ein paar der Bücher hat er eindeutig aus zweiter Hand«, erklärte Liz. »Der Stapel dort. Aus manchen wurden Seiten herausgerissen, andere sind leer.«

Sie beschlossen, nach Schriften zu dem schwarzen Glas zu suchen, aber auch die Augen zu den Themen Fatumaris, Familiaris und Dämonen offen zu halten.

Nic wollte seinerseits Informationen zum magischen Gefängnis ausgraben, in dem sein Vater gefangen gehalten wurde. Es war lange vor dem Regnum erschaffen worden, doch nur wenig war darüber bekannt. Wie es seinem Vater dort wohl erging? Inés hatte ihn effektiv ausgeschaltet, endgültig. Der Rat und die Wächter beschäftigten sich mit ihm.

Sie teilten die Ergebnisse ihrer Suche in weitere Stapel ein. Da gab es Bücher mit abstrusen Theorien zur Magie, die aussortiert wurden. Nic musste oft laut lachen. Ein Magier namens Adubrint Rochel hatte in seinem Werk geschrieben, dass man Animas einfach zerstören und in feinen Glasstaub zermahlen sollte. Diesen könne man dann in Wasser geben und trinken, was ewiges Leben gewährte. Bei einem seiner Versuche hatte die Restmagie einen Zauber ausgelöst, allerdings erst, nachdem die Animapartikel im Bauch angelangt waren. Das Ergebnis war eine ziemlich unschöne Sauerei.

Das Nachwort war von einem Freund Rochels geschrieben worden, der dessen Ableben bedauerte, aber grundsätzlich an der Theorie festhielt.

Und das waren nicht einmal die abwegigsten Schriften und Versuche. Es gab Zauber für Golem-Bänder, Wasserspeier-Geister und Nixen-Transformationen.

»Was die damals für Ideen hatten.« Nic schüttelte den Kopf.

»Ich bewundere das.« Liz schlug ein Buch zu und legte es auf den Stapel ›potenziell wichtig‹. »Schau da mal rein, jemand hat Theorien zur Verbesserung eines Gefängnisses für Magier entwickelt. Weißt du, die Menschen damals haben noch in alle Richtungen gedacht, verfolgten Ideen, besaßen einen freien Geist. Heute glauben wir, alles zu wissen. Niemand macht sich mehr intensiv Gedanken.«

»Mein Vater hat ständig von irgendwelchen Ideen gesprochen.« Nic nahm das Buch auf, das Liz abgelegt hatte. »Und forschen die nicht ständig daran, die Animas zu verbessern? Oder die Magie durch bestimmte angepflanzte Kräuter schneller zu regenerieren?«

Liz nickte. »Aber das sind alles nur Erweiterungen von Ideen. Vertiefungen. Was ist mit völlig neuen Denkansätzen? Weißt du, dank meiner Gabe habe ich auch schon Stunden mit Albert Einstein, Nicola Tesla oder Edison verbracht.«

»Wirklich?« Das Buch war vergessen.

»Ich bin öfter in ein Museum geschlichen, habe mir dort etwas herausgesucht, was sie selbst gebaut oder geschrieben hatten, und mich dann daran entlang in die Vergangenheit vorgetastet.«

Ursprünglich hatte Nic die Zeitseher immer für einen verschrobenen Haufen besserer Historiker gehalten. Liz hatte ihm gezeigt, dass das ein Trugschluss war.

Bei dem Gespräch über Wissenschaftler und deren Errungenschaften hatten ihre Augen einen verklärten Blick angenommen, ihre Wangen waren gerötet.

»Klingt auf jeden Fall besser als Golem-Bänder.« Er betrachtete abschätzig das Buch. »Kannst du eigentlich jemanden mitnehmen?«

»Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann das, was ich gesehen habe, danach magisch übertragen. Aber jemanden mit mir nehmen ist unmöglich.«

Erneut vertieften sie sich in die Bücher und die Zeit verstrich. Nic öffnete die Spiegelpassage pünktlich, doch weder war eine Nachricht eingegangen noch tauchte Angelo auf. Falls ihm etwas geschehen war, würden sie es natürlich nicht erfahren, besaßen sie doch keinerlei Informationsverbindung zur Außenwelt. Er hatte schon darüber nachgedacht, durch magische Levitation etwas aus der nahen Stadt herbeizurufen, aber jede Art von Magie konnte Inés auf den Plan rufen.

Sie aßen gemeinsam zu Abend (Matts Pflanzenpaste), unterhielten sich über Politik, Fernsehserien, die Schulzeit und schliefen eng aneinandergekuschelt ein.

Stunden verstrichen, Tage vergingen.

Die Sorge um Matt und Jane nahm zu, die über Angelo kam hinzu. Am vierten Tag öffnete Nic das Portal nach Zypern und eine Seemöwe glitt hindurch.

Im Haus angekommen, zerfiel sie in sonnengelbe Partikel, die von einem feinen Gespinst zusammengehalten wurden. Die Silhouette Angelos entstand.

»Hey, ihr beide. Sorry, ich konnte mich nicht früher melden«, hallte seine Stimme. »In den ersten Tagen wurde ich tatsächlich verfolgt. Sie waren hartnäckig und ich glaube, Ultinova hat öfter Schicksalsänderungen vorgenommen, damit ich es schwer habe. Aber so leicht kriegt sie mich nicht klein. Ich konnte entkommen und habe einen sicheren Unterschlupf gefunden. Einer meiner Freunde hat sich gemeldet. Es scheint, dass die Wächter, Schicksalswächter und der Rat alles daransetzen, uns zu finden. Angeblich betreiben wir Vorbereitungen, um das Gefängnis des Dämons aufzulösen. Inés macht Stimmung gegen uns. Der Rat hat dem 13. Haus tatsächlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt. Wenn alles klappt, kann ich euch in den kommenden Tagen Ausrüstung schicken. Von Matt, Jane oder Gabriel weiß ich noch nichts. Bleibt im Haus.«

Die Nachricht erreichte ihr Ende, die Silhouette verging.

»Wenn das mal nicht gute Laune macht«, kommentierte Nic.

»Immerhin geht es Angelo gut.« Liz strich sanft über seinen Nacken.

»Hoffentlich denkt er daran, ein paar Kekse und Kaffee mitzu­schicken«, überlegte Nic. »Ich habe langsam genug von diesem Pflanzen­pastenkram.«

»Immerhin weißt du, wo deine Prioritäten liegen.«

Er lachte auf. »Du weißt, wie ich das meine.«

Die Zeit kroch dahin und Nic kam sich immer mehr vor wie in einem Gefängnis. Er wäre gern dort draußen gewesen, um nach Jane und Matt zu suchen und sich Inés direkt in den Weg zu stellen. Er wollte der Welt zurufen, dass nicht sie es waren, die einen Pakt mit dem Dämon eingegangen waren. Der wahre Feind saß im 13. Haus und nutzte die Macht der Schicksalswächter, um seinem Ziel näher zu kommen. Wieso sah das niemand?

»Wie öffnet man das Gefängnis eigentlich?«, fragte Nic.

Ihm wurde bewusst, dass er fernab von den Informationen des Einführungstages kaum etwas über die Ereignisse wusste, die das Regnum beendet hatten.

»Keine Ahnung.«

Sie saßen einmal mehr in der Bibliothek, die aus Buchhügeln zu bestehen schien. Der Stapel mit potenziell wichtiger Literatur war überraschend klein, der Ausschuss recht gewaltig. Im Verlauf der Recherche hatten sie ergänzende Informationen gefunden, die eigene Berge erhalten hatten.

Und immerhin, mittlerweile besaßen sie einen Index mit Detail­angaben und einer groben Übersicht aller Themen. Nur noch wenige Werke waren übrig, die sie durchsehen mussten.

»Ich weiß sowieso nur das, was du erzählt hast.« Liz blätterte in einem der Bücher. »Die wenigstens dürften etwas über die Schicksalsmagie und das Gefängnis wissen, das zum Ende des Regnums geführt hat.«

Was einmal mehr verdeutlichte, wo ihr Problem lag. Sie wussten gar nichts. Inés arbeitete daran, die Mauern des Käfigs einzureißen, doch wie sie das anzustellen gedachte, blieb ihr Geheimnis.

»Schau mal«, lenkte Liz seine Aufmerksamkeit auf sich. »Hier steht etwas zu Fatumaris.«

Sofort war Nic bei ihr und auch Nox, der sich in den letzten Tagen überraschend still verhalten hatte, machte einen Satz.

»Hier steht, dass es sich um dunkelste Magie handelt, die es dem Magier ermöglicht, Talente zu wecken und zu vereinen. Doch nur die Stärksten wachsen, die Schwachen sterben bei dem Versuch.«

Auf dem vergilbten Pergament gab es eine Skizze, die zwei Magier zeigte, die verschmolzen. Dabei waren ihre Gesichter in Agonie verzerrt.

»Anscheinend war dieser Magier«, Liz warf einen Blick auf den Bucheinband, »Albrecht Werhausen, ein Deutscher, der bei einem Duell 1704 zugegen war.«

»Ein Duell?«

»Früher scheint es öfter vorgekommen zu sein, dass Magier sich ein Fatumaris-Duell geliefert haben. Der Gewinner hat dann den anderen konsumiert.« Sie blätterte schneller. »Ah, hier. Einige Jahre waren diese Duelle sogar recht häufig, auch wenn in achtzig Prozent aller Fälle beide Magier starben. Hatte Nox nicht davon berichtet, dass zur Zeit des Regnums Versuche unternommen wurden, sich auf diese Art dem Dämon ebenbürtig zu machen?«

»Aber der Rat hat es verboten«, bestätigte Nic. »Was ist mit den übrigen zwanzig?«

»Sie starben.« Liz ließ das Buch sinken. »Wie es scheint, führt eine Verschmelzung zum Tode, weil die Magie, die in einen Leib gezwängt wird, sich gegenseitig angreift.«

»Das ist so typisch für euch Magier«, brüllte Nox Nic ins Ohr. »Nichts bekommt ihr richtig hin. Wieso verschmelzt ihr nicht einfach alle, das würde die Welt von euch befreien.«

»Aber wie hat Inés es dann geschafft?« Verwirrt nahm Nic das Buch auf und überflog die Zeilen. »Fatumaris-Duelle wurden geächtet, die Anleitung dazu aus den Schriften getilgt und unter Todesstrafe verboten. Wer doch eines durchführte – und als Sieger daraus hervorging –, wurde umgehend exekutiert. Erst gut einhundert Jahre später wurde die Idee dann beim Regnum wieder aufgegriffen, aber auch direkt wieder verworfen.« Er fixierte Liz. »So viel zu freiem Denken in alle Richtungen.«

»Wenn ich das richtig lese, haben die Duelle vor langer Zeit durchaus funktioniert, wenn auch mit fatalen Nebenwirkungen. Aber die Machtgier hat sie immer weiter getrieben. Mal ehrlich, wer ist so dämlich? Inés muss einen Weg gefunden haben, die Verschmelzung ohne Nebenwirkungen zu ermöglichen. Aber wie?«

»Der Dämon?«

»Sie hat ihm ihre Seele verschrieben, aber das heißt nicht, dass sie mit ihm kommunizieren kann«, gab Nic zu bedenken. »Das Gefängnis ist versiegelt.«

Nox kicherte.

Nic schaute zu dem wandelnden Monstrum hinüber. »Gibt es ausnahmsweise etwas Sinnvolles, was du beitragen möchtest?«

»Nur, dass du mal wieder total danebenliegst.« Triumphierend malte er Kringel mit seinem Schwanz in die Luft. »Inés kann mit seiner Herrlichkeit sprechen. Sie hat einen Weg gefunden.«

»Und welchen?«

»Das sage ich dir natürlich nicht, für wie blöd hältst du mich?«

»Willst du darauf eine ehrliche Antwort?«, patzte Nic.

»Ich kannte mal einen Familiaris, der wurde von seinem Magier ständig geärgert.«

Nic verdrehte die Augen. »Lass mich raten: Der Magier wurde ewig gefoltert und starb eines qualvollen Todes?«

»Darüber solltest du nachdenken.«

»Es mag ja lustig aussehen, wenn du die Luft anbrüllst«, warf Liz ein, »aber so geht das nicht weiter. Wir müssen einen Weg finden, Nox loszuwerden. Ich nehme an, er hat dir keine hilfreichen Tipps zukommen lassen.«

»Nur, dass Inés tatsächlich mit dem Dämon sprechen kann«, erklärte er. »Leider habe ich keine Ahnung, ob das gelogen ist.«

Liz schlug das Buch zu.

Vor dem Fenster brannten die Laternen, Dunkelheit legte sich wie ein dicht gewobenes Tuch über London. Angelo hatte sich heute nicht gemeldet.

»Vielleicht sollten wir für heute einfach Schluss machen«, schlug sie vor.

Eine Idee, der Nic nur zustimmen konnte.

Gerade wollte er vorschlagen, dass sie die Pflanzenpaste mit den seltsamen roten Körnern würzen sollten, die sie in der Küche entdeckt hatten, da spürte er es.

Ein Vibrieren erfasste das Haus.

»Was ist das?« Liz sah sich hektisch um.

Eine alte Öllampe fiel aus dem Regal, das Glas zerbarst. Eine Vase folgte.

Ein Schrei erklang, so voller Grauen und Panik, dass sich Nics Magen zusammenzog.

»Jane«, hauchte er.

Sie sprangen auf.

Kapitel 3

Mit ein wenig Verspätung

Matt

Die Schwärze klebte an ihm wie flüssiger Teer, als er aus dem Spiegel taumelte. Keuchend brach er in die Knie. Mit Mühe brachte er seinen rebellierenden Magen unter Kontrolle. Nicht dass nach dem langen Flug von Österreich nach Spanien durch die Nacht noch etwas darin gewesen wäre.

Nachdem Matt sich beruhigt hatte, kam er vorsichtig in die Höhe.

»Nic? Liz?«

Von den beiden gab es keine Spur.

Panisch warf er sich herum, streckte die Hand aus und betastete das schwarze Glas. Es war wieder fest, undurchdringlich. Hatten die Angreifer Nic und Liz durch die Passage zurückgezogen? Aber er war doch zwischen den beiden durch den Spiegel gegangen!

»Nic!«, rief er erneut. »Liz!«

Niemand antwortete.

Erst jetzt bemerkte Matt, dass die Spinnweben verschwunden waren, ebenso der Staub. An der Wand hingen seltsame Eisenarme, in deren Aussparung Glaskugeln ruhten. Anstelle des Gerümpels gab es verschiedene Tische mit kleineren Apparaturen.

»Was ist hier los?«, flüsterte er.

Sicherheitshalber hielt er seinen linken Arm mit der Leder­manschette leicht erhoben. Instinktiv verfiel er in die zweite Sicht. Überall ringsum war Magie, schwebte wie blauer Feenstaub umher. Testweise saugte er einen Teil davon in seinen Anima und bereitete sich gedanklich darauf vor, einen Mystischer Wall auszuführen.

Vorsichtig blickte er aus der Tür heraus auf den Gang, schlich zur Treppe, wartete ab. Nichts geschah. Niemand griff ihn an. Doch auch hier bemerkte er die Veränderung. Die Luft roch anders. Als hätte jemand ein Lagerfeuer angezündet – rußig. Stufe für Stufe stieg Matt ins Erdgeschoss hinauf, öffnete die Tür und betrat den Flur.

Das Erste, was er vernahm, war eine fremde Stimme. Sie gehörte zu einem Mann und kam aus dem Salon. Jemand war hier! Hatte Inés es tatsächlich geschafft und ihre Schicksalswächter oder gar Fatumaris-Abspaltungen die Barriere um das Herrenhaus durchdrungen? Antworteten Nic und Liz deshalb nicht?

Matt schlich zum Salon.

Ein Unbekannter ging darin auf und ab, die Arme vor der Brust verschränkt. Es schien, als führte er Selbstgespräche, brabbelte vor sich hin wie ein Verwirrter. Auf dem Tisch lag eine ausgerollte Konstruktionszeichnung. Von seiner Position aus konnte Matt nicht erkennen, was darauf gezeichnet war, doch der Unbekannte schien sich über etwas zu ärgern. Immer wieder blickte er auf das Papier und schüttelte den Kopf, fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar. Der Backenbart war gepflegt – und völlig aus der Mode. Instinktiv betastete Matt seinen eigenen Bart. Die grünen Augen des Fremden waren klar und durchdringend, jedoch in weite Ferne gerichtet, als beschäftigte er sich mit einem unlösbaren Problem.

»Es muss möglich sein«, flüsterte er. »Die Zahl ist entscheidend. Und das Glas.«

Stille entstand.

Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass der Fremde ihn anblickte. Sein Spiegelbild war in der Vitrine zu erkennen, der Unbekannte hatte es entdeckt.

»Entschuldigung«, haspelte Matt. »Ich …«

»Schickt Euch der Bund?«, blaffte der Mann. »Wie Ihr meine Sicherungen auch durchdrungen haben mögt, hinaus mit Euch.«

»Welcher Bund?«

»Dieser Bart.« Der Fremde kam mit zusammengekniffenen Augen näher, fasziniert von Matts Anblick. »Kommt Ihr aus der Gosse?« Ein analytischer Blick tastete ihn von oben bis unten ab. »Und diese Lumpen. Seid Ihr ein wilder Magier?«

»Ich …« Wieder strich sich Matt über die struppigen Wangen. »Hatte über Nacht keine Zeit … wir waren auf der Flucht … Wer sind Sie? Und wie kommen Sie ins Haus?!«

»Es ist meines«, gab der Fremde zurück. »Der Eindringling seid Ihr. Mein Name ist Egmont Chavale.«

Instinktiv lachte Matt auf. »Das ist lächerlich. Egmont Chavale ist schon lange tot.«

»Das hättet Ihr wohl gern.«

Erst jetzt registrierte Matt, dass der Fremde während des Gesprächs langsam in Richtung Tisch getreten war, wo ein Spazierstock lag. Im Knauf funkelte ein bernsteinfarbener Anima.

»Lasst es besser bleiben!«, fauchte er.

Sicherheitshalber ließ er ein paar Funken aus seinem eigenen Anima in die Luft steigen. Wie feuerrote Glühwürmchen flirrten sie zu Boden.

»Also schön, Ihr wollt mich in meinem Haus bedrängen. Doch ich werde dem Bund keinesfalls meine Forschungsergebnisse übergeben. Die Wahrheit ist für alle gedacht. Den Kontaktor habt Ihr auch nicht bekommen.«

»Sie sind echt gut«, musste Matt gestehen. »Ist das alles hier magisch erschaffen, um mich zu verwirren? Wo sind Liz und Nic?«

»Das sind seltsame Namen, ich habe sie noch nie gehört. Wie habt Ihr den Schutz überwunden?«

Matt seufzte. »Sie wissen genau, dass ich durch den Spiegel gekommen bin. Also lassen Sie …«

»Den Spiegel?!«, unterbrach ihn der angebliche Egmont Chavale. »Aber das …« Seine Augen blickten hektisch hin und her. »Natürlich. Der wirre Blick, das verwahrloste Äußere … Ihr kommt aus einem anderen Reich.«

Ohne auf Matts Anima zu achten, raste Chavale davon, nur um kurz darauf mit einer Lupe zurückzukehren. Das ovale Glas war von einem Rahmen eingefasst, der mit seltsamen Zeichen bedeckt war.

»Hm. Hm.« Der wirre Alte begutachtete Matt wie einen seltenen Schmetterling. »Wie hoch die Intelligenz wohl ausgeprägt ist.«

»Lassen Sie den Unsinn. Ich komme nicht aus irgendeinem Reich, sondern aus Irland. Na ja, da bin ich geboren. Eigentlich bin ich in Spanien durch den Spiegel getreten.«

Der Kerl ließ das Glas sinken. »Spanien? Gibt es dort auch eine alte Stätte?«

»Im Mausoleum von Franko.«

»Davon habe ich noch nie gehört. Seid Ihr ein Archäologe?«

»Ich bin Matt. Und nein, wir waren … das ist eine lange Geschichte.« Es wurde immer ominöser. »Was ist mit dem Haus passiert? Als wir aufgebrochen sind, war alles verlassen und leer.«

Der Unbekannte wich zurück. Auf seinem Gesicht erschien ein seltsamer Ausdruck, eine Mischung aus Faszination und Erschrecken. »Verlassen«, echote er. »Sagt mir, welches Jahr schreiben wir?«

»Das Jahr?« Matt runzelte die Stirn und nannte es ihm.

»Ich wusste es! Die Spiegel der alten Stätten können so viel mehr.« Auf seinen nach wie vor verwirrten Blick ergänzte Chavale: »Es tut mir leid, mein junger Freund, aber Ihr befindet euch nicht nur weit entfernt von Spanien, Ihr seid auch in der Zeit gereist. Das hier ist das Jahr 1744.«

Eine Gänsehaut überzog Matts Körper, als er die Worte langsam begriff. Dicht gefolgt von eiskaltem Schrecken. »Aber wie ist das möglich?«

»Sagt Ihr es mir. Ich ahnte ja, dass die Spiegel zu mächtigen Dingen fähig sind, aber Zeitreise …« Chavale nahm erneut seinen Gang auf. »Sie müssen irgendwie auf ähnliche Art wie die normalen Spiegel die Kraftlinien der Erde anzapfen. Doch wie durchstoßen sie das Zeitgefüge?«

»Hallo?«

»Hm? Oh, natürlich.« Chavale flitzte davon, öffnete die Kellertür und polterte nach unten.

Matt folgte ihm gezwungenermaßen.

Vor dem Spiegel schnappte sich der Wissenschaftler weitere Apparaturen von seiner Werkbank und untersuchte das schwarze Glas. »Ja! Da sind Restspuren.« Es hätte nicht viel gefehlt und Chavale wäre auf und ab gehüpft wie ein Kind am Weihnachtsmorgen.

»Das ist toll«, erklärte Matt trocken. »Könnten Sie jetzt bitte die Passage wieder öffnen?«