Band 09 - Die letzten Marsianer

 

 

Söhne der Erde

von S. U. Wiemer

ISBN: 9783832851989

© 2013 by readersplanet

 


Inhalt

I.      4

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

 

I.

Flüsternde Stimmen.

In der tiefen Nische mit den goldfarbenen Wänden raschelte Stoff, schleiften die Säume langer, zerlumpter Kutten über den Boden. Die Priester der schwarzen Götter steckten die Köpfe zusammen. Ihre heftigen, erregten Atemzüge mischten sich mit verschwörerischem Wispern.

»Es ist wahr... Die Armee des Mars belagert die Sonnenstadt! Sie werden uns alle töten...«

Das Mädchen in der knappen hellgrünen Tunika blieb stehen.

Sie hatte die Stimme erkannt: Bar Nergal, der Oberpriester. Würde er nie aufhören, sein Netz aus Heimtücke und Verrat zu spinnen? Lara Nord fröstelte. Stets waren ihr die Priester unheimlich gewesen. In der Spielzeug-Welt unter dem Mondstein hatten sie im Namen der schwarzen Götter geherrscht, die nichts weiter als verkleidete marsianische Wachmänner gewesen waren. Als der Mondstein zerbrach und die versklavten Terraner flohen, hatten sich die Priester den Herren des Mars unterwerfen wollen. Und selbst hier, in dem unterirdischen Labyrinth, das eine fremde Rasse bewohnte, hörten sie nicht auf, nach neuen Göttern zu suchen.

Lara straffte sich, als sie an der Nische vorbeiging.

Drei, vier Männer fuhren herum. Bar Nergal, hoch aufgerichtet in seiner blutroten Robe, überragte die anderen. Unter dem kahlen Schädel glich das hagere Greisengesicht mit der pergamentdünnen Haut, den tiefliegenden Augen und den schmalen Lippen einem Totenkopf. Hass lag in seinem Blick. Ein dunkler, unversöhnlicher Hass, den Lara wie eine Berührung spürte. Sie hob das Kinn, verbarg ihre Furcht. Sie wusste, dass die Priester trotz dieses Hasses immer noch eine Art höheres Wesen in ihr sahen: Bürgerin der Vereinigten Planeten, Tochter des Generalgouverneurs der Venus - eine jener Mächtigen, die sich aus unerklärlichen Gründen entschlossen hatte, ihre perfekte, wohlgeordnete Wunderwelt zu verlassen, um das Leben der gejagten, von allen Seiten bedrohten Barbaren zu teilen.

»Hure!« zischte Bar Nergal, als sie außer Hörweite war. »Sie ist nichts weiter als die Hure des Fürsten von Mornag!«

»Sag' das nicht zu laut«, flüsterte Zai-Caroc. »Er würde dich umbringen.«

»Willst du mich belehren?«

Bar Nergals Stimme klang scharf wie ein Peitschenhieb, seine schwarzen Augen funkelten. Erschrocken zog der Priester den Kopf zwischen die Schultern.

»Nein, Herr, nein! Du hast wahr gesprochen...«

Bar Nergal nickte triumphierend.

Währenddessen schritt Lara Nord eilig durch den Tunnel mit den goldfarbenem Licht und Wärme abstrahlenden Wänden.

Immer noch erschien ihr das Labyrinth unbegreiflich und beklemmend. Sie dachte an die Fremden, die es errichtet hatten. Herren der Zeit... Unsichtbare aus einem fernen Sternenreich, die in Vergangenheit und Zukunft reisen und die Zeit verändern konnten. Gegen die Marsianer, deren Welt gefühlloser Logik sie ablehnten, schirmten sie sich seit Jahrhunderten mit einer unbekannten, gefährlichen Strahlung ab. Den Söhnen der Erde hatten sie die Sicherheit ihres unterirdischen Reiches geöffnet. Und jetzt? Würden die Unsichtbaren ihnen auch helfen können, mit der übermächtigen marsianischen Armee fertig zu werden?

Am Ausgang des Labyrinths traf Lara mit ein paar anderen zusammen. Gerinth, der weißhaarige Älteste der Tiefland-Stämme; Katalin mit dem langen blonden Haar und den bernsteinfarbenen Augen, Konan, Hakon und Brass. Gemeinsam schlüpften sie durch die Geheimtür in die Grotte mit der Quelle. Eine Wendeltreppe führte durch einen gemauerten Schacht nach oben. Und dort, schweigend und zeitlos unter der erbarmungslosen Wüstensonne, dehnten sich die roten Ruinen der Stadt, in der vor mehr als zweitausend Jahren die alten Marsstämme gelebt hatten.

Der ewige Wind sang zwischen Mauern und leeren Fensterhöhlen, flüsternd und raunend, als wolle er von der glorreichen Vergangenheit erzählen.

In der Luft lag der Geschmack des roten Staubes. Lara folgte den anderen, von der gleichen Unruhe getrieben wie sie, dem gleichen Gefühl aus Bitterkeit, Zorn und verborgener Furcht. Sie waren dem Ziel schon so nah! In den Ausläufern der Garrathon-Berge wartete das Schiff, mit dem sie den Mars verlassen wollten, die havarierte »Terra«. Sie war fast startbereit. Und jetzt...

Lara biss sich auf die Lippen, als sie die Treppe zu einem noch intakten Wehrgang hinaufstieg.

Stumm standen die Männer dort oben und starrten nach Süden. Laras Blick suchte Charru von Mornag. Sein hartes bronzenes Gesicht unter dem schulterlangen schwarzen Haar glich einer Maske, die saphirblauen Augen waren gegen die Sonne zusammengekniffen. Lara erschrak, als ihr bewusst wurde, wie fremd er ihr plötzlich erschien. Sie hatte seine Leidenschaft gespürt, seine geschmeidige, stählerne Kraft, die doch auch sanft sein konnte. Sie hatte die kalte Bitterkeit gesehen, mit der ihn der Tod eines Freundes erfüllte, und die barbarische Wildheit, mit der er kämpfte. Jetzt sah sie den Mann, der er unter dem Mondstein gewesen war: König von Mornag, Führer seines Volkes, Fürst einer fremden Welt, deren Gesetze und Geheimnisse sie nie ganz begreifen würde.

Seine Gefährten warteten schweigend.

Camelo von Landre, der Sänger mit der Grasharfe am Gürtel. Jarlon von Mornag, Charrus junger, hitzköpfiger Bruder. Gillon und Erein mit dem roten Haar und den grünen Augen der Tareth-Sippe. Der drahtige, hellhaarige Beryl von Schun, die hünenhaften Nordmänner. Lara kannte sie alle, doch jetzt spürte sie deutlich die Kluft, die sie von ihnen trennte. Selbst Camelos klare, schöne Züge wirkten verwandelt. Und in Gerinths zerfurchtem, sonst so gütigem Gesicht waren die grauen Augen steinhart geworden.

Lara wandte sich um, als sie eine Berührung an der Schulter spürte.

Helder Kerr war neben sie getreten, ernst und angespannt auch er, aber doch vertraut mit seinem skeptischen, kühl abwägenden Blick und der leicht verstaubten Marsianer-Kleidung. Er trug den enganliegenden, einteiligen Anzug im Blau des Raumhafens, dazu den grauen Gürtel, der ihn als stellvertretenden Kommandanten auswies. Die Terraner hatten ihn entführt, weil sie jemanden brauchten, der ihnen bei der Reparatur des alten Raumschiffes half. Inzwischen stand er freiwillig auf ihrer Seite: sein Gewissen sagte ihm, dass kein Staat das Recht besaß, ein ganzes Volk einfach auszurotten. Viel hatte geschehen müssen, um ihn soweit zu bringen. Helder Kerr war ein anderer Mensch geworden. Er würde es schwer haben, wieder in die perfekte, unmenschliche Ordnung zurückzukehren, die das Leben auf dem Mars bestimmte.

Sie, Lara Nord, hatte endgültig mit der Vergangenheit gebrochen.

Sie würde bleiben. Und mitfliegen, wenn die »Terra« zur Erde startete. Helder Kerr begriff das nicht, er glaubte, dass sie ihr Leben ruiniere. Sein Blick verriet, was er dachte: dass sie sich dies alles mit ein wenig Vernunft hätte ersparen können.

Einen Moment lang war er ihr inmitten all der wilden, kampfbereiten Gestalten wie ein Rettungsanker vorgekommen. Jetzt straffte sie sich und bezwang den Impuls, sich zu ihm zu flüchten.

Sie musste lernen, mit der Gefahr zu leben.

Und sie würde es lernen. Sie hatte gewusst, was es hieß, an der Seite eines Mannes wie Charru von Mornag zu leben. Sie hatte gewusst, dass er ihr nie ganz gehören konnte, dass ein Gutteil dieses Lebens Verzicht bedeutete, und sie wollte nichts anderes.

Als er sich umwandte und ihrem Blick begegnete, leuchteten seine saphirfarbenen Augen flüchtig auf.

Knapp und scharf gab er ein halbes Dutzend Befehle. Zwei Wachen blieben auf dem Südturm. Die anderen zogen sich wieder in das unterirdische Labyrinth zurück, um vorbereitet zu sein, falls Suchsonden über der Stadt erschienen. Diesmal brauchten sie nicht einmal ihre Fahrzeuge weit in die Wüste hinauszufliegen, um sie zu verbergen. Die vier Jets und der Spiralschlitten standen unsichtbar im Schutz jenes geheimnisvollen Zeitfeldes, das die Fremden aus der Sonnenstadt aufgebaut hatten und das in seinem Innern Menschen und Gegenstände um ein paar Sekunden in die Zukunft versetzte.

Ein Zeitfeld, das bis zu dem Platz reichte, wo das Raumschiff stand.

War es noch sicher? Selbst jetzt? Die Menschen versuchten, ihre Zweifel zu verbergen. Charrus Gesicht war unbewegt. Er blieb ein paar Schritte hinter seinen Gefährten zurück. Lara zögerte kurz, dann stieg auch sie wieder die Wendeltreppe hinunter. Charru spürte, dass sie ein wenig Ermunterung gebraucht hätte. Aber er hatte keine Zeit, nicht jetzt, nicht angesichts dieser neuen, übermächtigen Bedrohung.

Gerinth war der letzte, der in dem gemauerten Schacht verschwand.

Charru lehnte an einer der Säulen, deren prachtvolle Bildnisse in Jahrhunderten von Wind und Sand abgeschliffen worden waren. Er tastete nach dem Amulett auf seiner Brust. Ein Zeitkristall, hatte jener Fremde gesagt, der sich Ktaramon nannte. Ein Amulett, das nichts mit Zauberei zu tun hatte, sondern mit der überlegenen Technik der Unsichtbaren. Trotzdem sollte es auf Ktaramons Wunsch als Geheimnis behandelt werden. Deshalb war Charru hinter den anderen zurückgeblieben, und deshalb trug er die lockere Leinentunika über der einfachen knielangen Hose aus weichem Leder.

Der Anhänger funkelte in der Sonne, als er ihn hervorzog.

Eine schwarze Scheibe, von einem Kranz goldener Strahlen umgeben. In der Mitte war etwas eingelassen, das auf den ersten Blick wie eine hell schimmernde Perle aussah. Es war eine Art Perle. Doch sie bestand aus zahllosen dünnen, unbegreiflich fein gearbeiteten Kristall-Ringen, die sich zur Kugelform zusammenfügten, das Licht fingen und in rätselhaftem, sprühendem Feuer erstrahlten. Ringe, die ein Symbol jenes geheimnisvollen Phänomens bildeten, das die Unsichtbaren »Schalen der Zeit« nannten.

Vorsichtig nahm Charru die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger, drehte sie um ihre Achse und nannte leise das Code-Wort.

»Ayno...«

Der Name eines toten Freundes. Er hatte ihn gewählt aus dem spontanen Wunsch heraus, ihm so ein Denkmal zu setzen. Jetzt durchzuckte ihn ein schmerzhafter Stich, als er ihn aussprach.

»Du rufst mich, Erdensohn?« erklang Ktaramons Stimme - leise und fern wie das Singen des Windes zwischen den toten Mauern.

»Ja, Ktaramon.«

»Hast du eine Frage?«

»Mehr als eine«, murmelte Charru mit unbewusster Bitterkeit. »Die Marsianer rücken auf die Sonnenstadt vor. Mit einer Armee, die mindestens doppelt so groß ist wie beim letzten Mal.«

»Wir haben es bemerkt, Sohn der Erde. Wir haben Vorsorge getroffen, unseren Strahlenschirm aktiviert. Komm in die Halle und ich werde deine Fragen beantworten.«

Die Stimme verklang.

Charru hatte das Gefühl, als funkele der Kristall etwas weniger hell als vorher. Nachdenklich ließ er das Amulett wieder unter die Tunika gleiten und wandte sich der Wendeltreppe zu.

 

*

Die mobile Basis lag unter einem Schutzzelt und bot angenehm kühle Temperaturen.

Durch das große Sichtfenster schaute Jom Kirrand zu den Ruinen der Sonnenstadt hinüber. Das hagere, straffe Gesicht des Vollzugschefs spiegelte Konzentration. Sein Blick tastete sorgfältig die Zinnen und Türme ab. Dann nahm er das Fernglas zur Hand, doch auch damit konnte er nur zerbröckelnde Mauern, leere Fensterhöhlen und roten Staub erkennen.

Kirrand unterdrückte einen Seufzer.

Für ihn entwickelte sich die Jagd auf die entflohenen Barbaren allmählich zum Alptraum. Zweihundert Jahre lang hatten sie - beziehungsweise ihre Vorfahren - in einem Museumssaal der Universität von Kadnos unter der Halbkugel aus Mondstein gelebt: mit wissenschaftlichen Mitteln zur Winzigkeit verkleinert, Gefangene einer Miniatur-Welt. Sie stammten von der Erde: Nachkommen jener primitiven Rassen, die sich zweitausend Jahre nach der großen Katastrophe wieder entwickelt hatten. Nach Jom Kirrands Meinung hätte man besser daran getan, sie dort zu lassen. Aber die Menschen, die sich vor der Katastrophe mit Raumschiffen auf den Mars retteten und später die Föderation der Vereinigten Planeten gründeten, hatten von der zerstörten Erde ein Trauma mitgebracht. Nie wieder Krieg! Sicherheit und Ordnung um jeden Preis! Ein System strenger wissenschaftlicher Vernunft, in dem Gefühle als gefährliche Schwächen betrachtet wurden. Dazu gehörte auch, dass man den Anfängen wehrte, dass man die Mechanismen von Krieg und Gewalt genau studierte. Die Verhältnisse, die zu der Katastrophe auf der Erde geführt hatten, durften nicht vergessen werden. Und schließlich, als die Wissenschaftler das Medium der Mikro-Transzendenz, der Verkleinerung, entdeckten, wurde das Projekt Mondstein entwickelt.

Eine Spielzeug-Welt unter einer Kuppel, von Flammenwänden umschlossen.

Zwei verfeindete Volksstämme, Tiefland und Tempeltal, die nicht ahnten, dass es außer ihrer Welt noch etwas anderes gab, die Kriege führten, die man auf dem Weg über die schwarzen Götter nach Belieben manipulieren konnte. Aber irgendwann musste den Wissenschaftlern bei ihren Manipulationen ein Fehler unterlaufen sein. Einem der Barbaren gelang die Flucht aus der Spielzeug-Welt. Er brach aus, gewann dabei auch seine natürliche Größe zurück. Mitten in Kadnos war er aufgetaucht: ein halbnackter Wilder mit einem Schwert am Gürtel, Charru, Fürst des Tieflands, König von Mornag...

Der Vollzugschef schüttelte unbewusst mit dem Kopf.

Selbst jetzt noch kam es ihm unwahrscheinlich vor, dass es diesem einen Mann gelungen war, sein ganzes Volk zu befreien, aus Kadnos zu fliehen und der überlegenen Macht des Mars zu trotzen. Immer wieder hatte er das Unmögliche versucht - bis hin zu dem Wahnsinnsplan, die uralte havarierte »Terra I« wieder in ein flugfähiges Raumschiff zu verwandeln. Natürlich ein vollkommen aussichtsloses Unterfangen! Aber die Barbaren gaben nicht auf. Das bewies die Tatsache, dass sie noch vor wenigen Tagen in die Lagerräume des Raumhafens von Kadnos eingedrungen waren, um sich Energiezellen und Ersatzteile zu beschaffen. Obwohl sie wissen mussten, dass sie keine Chance hatten, da die »Terra« Tag und Nacht bewacht wurde...

Kirrand unterbrach seine Gedanken, weil draußen gerade eine Flottille Polizeijets startete.

Sie hatten die Aufgabe, erste Erkundungsflüge über der Sonnenstadt zu unternehmen. Eine Routinemaßnahme, von der sich der Vollzugschef wenig Erfolg versprach. Es war nicht die erste Suchaktion dieser Art, und bisher waren sie alle vergeblich gewesen.

Bis gestern hatte Jom Kirrand geglaubt, die Barbaren seien zusammen mit jener Horde Geisteskranker umgekommen: Opfer der rätselhaften Strahlung, Menschen, die in den Hügeln in der Nähe der Sonnenstadt ihr Leben gefristet hatten und in einer militärischen Aktion mit Bomben und Laserkanonen vernichtet worden waren.

Inzwischen wusste es der Vollzugschef besser. Die Terraner mussten in der Sonnenstadt sein, es gab Beweise dafür. Ein paar Angehörige der alten Marsstämme waren aus dem Reservat ausgebrochen. Während der Großteil der Gruppe schon wieder gefangengenommen wurde, hatten sich zwei von ihnen mit einem Spiralschlitten bis zu den Ruinen durchgeschlagen, weil sie hofften, hier in der Heimat ihrer Vorfahren ein Versteck zu finden. Einer der Männer war immer noch verschwunden. Den zweiten hatte der Vollzug erwischt und unter dem Einfluss von Wahrheitsdrogen vernommen. An seiner Aussage, dass sie in der Sonnenstadt mit den Barbaren aus der Mondstein-Welt zusammengetroffen waren, gab es nicht den geringsten Zweifel.

Jom Kirrand straffte sich.

Diesmal würde es keinen Misserfolg geben. Das Potential, das ihnen zur Verfügung stand, war wesentlich größer als damals bei der Belagerung der »Terra« oder bei dem Vergeltungsschlag gegen die Hügelbewohner. General Kanes Vollmachten waren erweitert worden. Kirrand selbst war ohnehin nur dem Präsidenten persönlich verantwortlich, außerdem stand ihnen Professor Girrild mit einem Team von Strahlen-Spezialisten zur Verfügung. Präsident Jessardin hatte sich endlich entschlossen, aufs Ganze zu gehen. Und dass in einer solchen Situation keine Rücksicht auf das Leben eines einzelnen genommen werden konnte, auch nicht auf die Tochter des Generalgouverneurs der Venus, verstand sich von selbst.

Die Flottille brauchte nur eine knappe halbe Stunde, um das Gebiet der Ruinenstadt abzufliegen.

In perfekter Formation kamen die Jets zurück und landeten. Die negativen Meldungen waren bereits über den Monitor der mobilen Kommunikation gelaufen. Jom Kirrand hatte ohnehin keinen schnellen Erfolg erwartet. Nach drei vergeblichen Suchtrupp-Unternehmen stand zumindest eins fest: dass die Barbaren in der Sonnenstadt über ein äußerst gut getarntes Versteck verfügen mussten.

Der Vollzugschef warf einen Blick zu Manès Kane hinüber, der auf dem Sichtschirm des Computers die Bewegungen der einzelnen Truppenteile verfolgte.

Der Ring um die Sonnenstadt schloss sich. Ein weiträumiger Ring aus kleineren, gut ausgerüsteten Einheiten, die auch auf eine längere Belagerung eingerichtet waren. Sie hatten Zeit, Sie konnten in Ruhe die Strahlen-Experimente durchführen und warten, bis die Wissenschaftler sicher waren, dass sich die Stadt gefahrlos mit den Laserkanonen vernichten ließ. Und falls sich die Barbaren wider Erwarten in die Wüste zurückgezogen hatten, würde ihre Lage ohnehin sehr rasch unhaltbar werden, da sie von dem lebensnotwendigen Wasser abgeschnitten waren.

Jom Kirrand straffte sich.

Als er seinen Platz am Sichtfenster verließ und sich den Kontrollpulten zuwandte, wirkte sein Lächeln zufrieden und siegessicher.

 

*

In der Halle unter der goldfarbenen Kuppel herrschte gespenstische Stille.

Die Terraner mieden diesen Teil des Labyrinths. Er blieb den Unsichtbaren vorbehalten, war das Zentrum ihrer Macht und das Herz des unterirdischen Reichs, das sie errichtet hatten. Auch Charru war nicht ungerufen gekommen. Ruhig stand er in der Halle und wartete. Er vermochte das Geheimnis der Zeitverschiebung immer noch nicht zu verstehen, aber er hatte sie jetzt schon so oft erlebt, dass sie ihn nicht mehr erschreckte.

Das Flimmern der Luft, der dunkle Schleier.

Dann die Verwandlung des Raums: silberne Wände voller fremdartiger Instrumente, kristallene Säulen, in denen Lichtströme pulsierten. Ein fast unhörbares Summen und Vibrieren hing in der Luft. Charru sah sich um. Bei seinem ersten Besuch hatte er nur eine körperlose Stimme gehört. Später war Ktaramon wie aus dem Nichts erschienen, jetzt wartete er bereits. Eine hohe Gestalt in einem grünlich irisierenden Umhang. Weiße, ebenmäßige Züge unter langem Haar, dessen Farbe eigentümlich unbestimmbar wirkte. Ein fremdartiges, altersloses Gesicht, schräge, mandelförmige Augen ohne Iris und Pupille, in klarem Gold schimmernd - Augen, die nicht menschlich waren...

»Ihr braucht nichts zu fürchten«, sagte Ktaramon ruhig. »Der Zeitkanal schützt euch immer noch. Wir haben ihn bis zum Eingang des Labyrinths geführt und auch das Zeitfeld um das Raumschiff aufrechterhalten. Die Marsianer haben keine Chance, das Geheimnis zu entdecken, Charru. Wir werden da sein. Wo wir die Zeit verändern, können wir die Veränderung auch kontrollieren.«

»Ich weiß.« Charru zögerte. »Aber wenn einer der Marsianer zufällig in ein Zeitfeld hineingeraten sollte - würde er es nicht spüren?«

»Nicht, wenn er das Geheimnis nicht kennt. Ein kurzes Schwindelgefühl wird alles sein, was er empfindet. Und dort, wo er etwas Verräterisches bemerken könnte, die Veränderungen an der »Terra« zum Beispiel, werden wir die Zeit von neuem biegen und ihn zurückversetzen in die Vergangenheit. «

»Und ihr könnt den Zeitkanal auch verlegen? Oder einfach erlöschen lassen - ganz oder nur zum Teil?«

»Ganz oder zum Teil - so wie es die Lage erfordert. Ihr könnt euch auf unser Wort verlassen, Erdensohn. Ihr braucht nichts anderes zu tun, als die Arbeit an eurem Schiff zu beenden.«

Charru nickte.

Sekundenlang hing er dieser faszinierenden und zugleich erschreckenden Vorstellung nach: dass sie unsichtbar für die Augen der Marsianer ihre Jets mitten durch die Linien der Armee steuern konnten und die »Terra« startklar machen, während ihre Gegner sie hoffnungslos in der Falle glaubten. Er wusste, dass es möglich war. Sie hatten das Raumschiff ja auch unter den Augen der marsianischen Wachen betreten, hatten die Reparaturarbeiten schon fast beendet.

Aber sie brauchten noch Zeit.

Und ob ihnen diese Zeit vergönnt sein würde...

»Wir wissen nicht, was die Marsianer tun werden, Ktaramon. Was ist, wenn sie die Sonnenstadt mit ihren Laserkanonen zerstören? Wenn sie Bomben werfen? Vielleicht euer Labyrinth zertrümmern?«

»Das werden sie nicht. Wir haben unseren Strahlenschirm aktiviert. Und sie fürchten diese Strahlen.«

Charru fühlte ein kaltes Prickeln zwischen den Schulterblättern.

Er wusste, was die geheimnisvolle Strahlung anrichten konnte, deren Rätsel die marsianische Wissenschaft trotz aller Bemühungen nicht gelöst hatte. Die Leute aus den Hügeln waren die ersten Opfer gewesen. Ausgestoßene des Mars, Menschen, die sich vor Jahren auf der Flucht vor Hinrichtung oder Deportation in die Sonnenstadt durchgeschlagen hatten. Als sie die Gefahr erkannten und sich in die Hügel zurückzogen, war es zu spät gewesen. Die Strahlung schädigte das Gehirn, führte zu unheilbarem Wahnsinn und schließlich zu Siechtum und Tod. Nur die Kinder der Hügelleute hatten in der Sicherheit abseits der Stadt ihre geistige Gesundheit behalten. Aber da die Strahlung auch das Erbgut schädigte, waren diese Kinder mit schweren Missbildungen geboren worden.

Charru dachte an seinen vergeblichen Versuch, die Strahlenopfer vor der Vernichtung durch die Marsianer zu retten.

Einzig die Kinder waren ihm gefolgt. Fünf Kinder, von denen heute nur noch zwei lebten. Robin, zwölf Jahre alt und blind, und die kleine einarmige Mariel. Kinder, die das nackte Grauen erlebt hatten, die den Schock wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang nicht verwinden würden.

»Wir fürchten diese Strahlung auch«, sagte Charru heiser.