Band 10 - Aufbruch ins Gestern

 

 

Söhne der Erde

von S. U. Wiemer

ISBN: 9783832851996

© 2013 by readersplanet

 

Inhalt

I.      4

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

 

I.

 

Der Regierungs-Jet glänzte silbern im Licht der beiden Marsmonde.

Simon Jessardin, Präsident der Vereinigten Planeten, blickte aufmerksam geradeaus. Ein gespenstisches Bild. Rote Ruinen mitten in der endlosen Wüste, eine tote Stadt - umgeben von einem mörderischen Ring aus Polizeijets, Schockstrahlern und schweren Laserkanonen, die langsam und schwerfällig vorrückten gleich stählernen Monstern.

»Der Angriff beginnt«, sagte Jessardin leise.

Neben ihm presste Conal Nord die Lippen zusammen. Der schlanke Mann mit dem schulterlangen blonden Haar und der grauen Tunika war Gouverneur der Venus und Generalbevollmächtigter des Rats der Vereinigten Planeten. Aber nicht einmal seine Stellung hatte es ihm möglich gemacht, diesen Angriff zu verhindern. Wilde Barbarenstämme, die dem wohlgeordneten, straff organisierten Staatswesen ihren Anspruch auf Freiheit entgegenstellten, wurden auf dem Mars nicht geduldet. Die Nachkommen der Terraner mussten eliminiert werden.

Conal Nord dachte an seine Tochter, die sich in der Sonnenstadt aufhielt. Freiwillig...

Simon Jessardin starrte immer noch geradeaus. Ein merkwürdiges Flimmern entstand plötzlich in der Luft, als überziehe sich die Umgebung der Ruinenstadt mit einem opalisierenden Schleier. Simon Jessardin blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und glaubte zu träumen.

Nur noch leere Wüste dehnte sich um die Sonnenstadt.

Die marsianische Armee war verschwunden, als habe der Boden des roten Planeten sie verschlungen.

 

*

Leuchtwände tauchten den Raum in kühles, gleichmäßiges Licht.

Stumm stand der Priester in der Halle der Liquidationszentrale. Zwei Vollzugspolizisten in schwarzen Uniformen und zinnoberroten Helmen flankierten ihn. Hinter dem weißen Pult tippte eine Bürgerin in der mattgelben Tunika der Abteilung Liquidation Angaben in den Datenspeicher des Computers.

Name: Lyrrios. Alter: unbekannt. Besondere Bemerkungen: Angehöriger der Barbarenstämme aus der Welt unter dem Mondstein.

Mit einem scheuen Seitenblick musterte die Frau den Gefangenen, der hingerichtet werden sollte.

Sein Blick ging ins Leere. Er begriff nicht, was vor ihm lag. Sein Geist war schon immer gestört gewesen, schon unter der Kuppel aus Mondstein, wo die Forscher des Mars jahrhundertelang Menschen als Anschauungsmaterial gehalten hatten: Nachkommen der alten Erdenrassen, mit wissenschaftlichen Mitteln zur Winzigkeit verkleinert. Lebendiges Spielzeug...

Der Priester betrat gehorsam das leise surrende Transportband.

Er dachte nicht daran, dass vielleicht in diesen Sekunden die Sonnenstadt im Beschuss der Laserkanonen verglühen würde: jene Ruinenstadt in der Wüste, die den Söhnen der Erde zur Zuflucht geworden war. Die Marsianer hatten lange mit dem Angriff gezögert. Eine Quelle unbekannter, gefährlicher Strahlung existierte in der Sonnenstadt, man wagte nicht, Laser dort einzusetzen. Bis Bar Nergal, der Oberpriester, Lyrrios ausschickte, um den Marsianern zu verraten, dass die Sonnenstadt ohne Gefahr anzugreifen war. Die Sonnenstadt - und das unterirdische Labyrinth, von den Herren der Zeit errichtet, unsichtbaren Wesen aus einem fernen Sternenreich, die sich in der vierten Dimension bewegen konnten.

Davon jedoch hatte Bar Nergal nicht gesprochen.

Der Oberpriester wollte die Vernichtung der Tiefland-Stämme, wollte den Tod des Fürsten von Mornag, dem auch die Tempeltal-Leute folgten, seit er den Weg aus der gespenstischen Spielzeugwelt ihres gemeinsamen Gefängnisses gefunden hatte. Bar Nergal wollte seine Macht erneuern, die mit der Kuppel aus Mondstein zerbrochen war, und er ahnte nicht, dass die Marsianer keinesfalls daran dachten, auch nur einen der Barbaren am Leben zu lassen.

Lyrrios hatte getan, was ihm aufgetragen war.

Sein kranker Geist erfasste nicht, dass er damit mehr als hundert Menschen zum Tode verurteilte. Sowenig, wie er verstand, dass auch er selbst dem Tod entgegenging. Das Transportband trug ihn in eine luftdicht abgeschottete Schleuse. Die beiden Vollzugspolizisten blieben hinter der Tür zurück. Lautlos schloss sie sich, und ein unsichtbares, geruchloses Gas strömte in den Raum, um den Willen des Delinquenten zu lähmen.

Widerstandslos durchlief der irre Priester die Stationen des Weges, der in einem Operationssaal der Klinik von Kadnos endete.

Ärzte übernahmen die Aufgabe der Liquidation, wie überall innerhalb der Vereinigten Planeten. Und wie überall würde von dem Verurteilten nichts übrigbleiben außer einer Reihe von Daten in einem Computer - und neuem Nachschub für die Organbank.

Lyrrios lag mit geschlossenen Augen auf dem fahrbaren Tisch, reglos wie eine Puppe.

Er glaubte, wieder in der Tempelpyramide unter dem Mondstein zu sein. Er sah den Widerschein der Flammenwände, an denen die Welt endete, und er dachte an die schwarzen Götter, von denen er immer noch nicht wusste, dass sie nur verkleidete marsianische Wachmänner gewesen waren.

Bar Nergal hatte versprochen, dass alles wieder wie früher werden würde. Bar Nergal war der Oberpriester, ihm musste man gehorchen.

Und der Fürst von Mornag würde sterben.

Lyrrios spürte kaum den Stich der Injektionsnadel, der sein Leben beendete.

Die Erinnerungen verschwammen. Wie in einem letzten Aufbäumen formte sein Hirn noch einmal jenes schreckliche Bild, als der Strahl einer Laserwaffe in den Mondstein schnitt und die Kuppel zusammenbrach. Dann verblasste auch das, und die Dunkelheit senkte sich über Lyrrios' Geist wie ein Mantel.

 

*

Mehr als hundert Menschen drängten sich zwischen den roten Felsen der Senke.

Dort, wo die wenigen erbeuteten Fahrzeuge standen, drei Jets und ein plumper Spiralschlitten, hatte eben noch die Luft geflimmert, hatte jenes geheimnisvolle Feld existiert, das die Zeit veränderte, Mensch und Maschine um wenige Sekunden in die Zukunft versetzte und damit den Blicken der Gegenwart entzog. Jetzt war der Zeitkanal zusammengebrochen, denn die unsichtbaren Fremden aus der Sonnenstadt brauchten alle Energie, um die marsianische Armee in einem Feld fernster Vergangenheit zu fangen und den gejagten Terranern noch einmal die Flucht zu ermöglichen.

Charru von Mornag kauerte geduckt auf einem Felsblock und suchte die Umgebung ab.

In dem harten bronzefarbenen Gesicht hatten die zusammengekniffenen Augen das durchdringende Blau von Saphiren. Die Anspannung ließ seinen Körper an federnden Stahl erinnern. Er wusste, die Menschen warteten auf seine Entscheidung. Eine Entscheidung, die schnell fallen musste, die keine Zeit ließ für lange Beratungen. Das alte Raumschiff, mit dem sie den Mars verlassen wollten, stand startklar am Rande der Garrathon-Berge. Aber jetzt, da der Zeitkanal sie nicht mehr schützte, konnten sie nicht ungesehen den Ring der Wachen durchbrechen. Sofort handeln? Die »Terra« im Kampf erobern? Nein, nicht mit all den Frauen, Kindern und Alten!

Charru presste die Lippen zusammen.

Sekundenlang drohten Bitterkeit und Zorn ihn zu überwältigen. Warum ließ man sie nicht ziehen? Was kümmerte es die Marsianer, wenn sein Volk mit der »Terra« zur Erde flog - einer zerstörten, von Wilden bewohnten Welt, auf die niemand Anspruch erhob? Sie wollten nur leben. In Freiheit und Frieden leben - nicht in dem gespenstischen Staat der Vereinigten Planeten, der dem Abgott Sicherheit und Ordnung jede Menschlichkeit geopfert hatte.

Mit einer heftigen Bewegung warf Charru das lange schwarze Haar zurück und glitt wieder von dem Felsen.

Ein paar Krieger warteten am Fuß des Steinblocks, die Fäuste an den Griffen der gegürteten Schwerter. Camelo von Landre, sein Blutsbruder. Gillon und Erein mit den roten Schöpfen und den grünen Augen der Tareth-Sippe. Karstein, der Nordmann, Gerinth, der weißhaarige Älteste der Stämme, Scollon, der für die Tempeltal-Leute sprach. Charrus Blick streifte Lara Nord, die Venusierin, die sich dafür entschieden hatte, mit ihnen zur Erde zu fliegen. Sie stand drüben bei den anderen Frauen, einen Arm um die Schultern des kleinen blinden Robin gelegt. Und noch ein Bürger der Vereinigten Planeten war hier: Helder Kerr, der stellvertretende Raumhafen-Kommandant von Kadnos, den sie entführt hatten, weil sie seine Hilfe brauchten, um die »Terra« zu reparieren.

Jetzt stand er freiwillig auf ihrer Seite.

Viel war geschehen, bis er begriffen hatte, dass kein Staat das Recht besaß, ein ganzes Volk auszurotten: Menschen, die nichts verbrochen hatten und nichts anderes taten, als um ihr Leben und ihre Freiheit zu kämpfen. Kerr hatte die Terraner mit der Technik des alten Raumschiffs vertraut gemacht, hatte Charru und Camelo zu Piloten ausgebildet, hatte die Gesetze seiner Welt gebrochen. Er würde in diese Welt zurückkehren, wenn alles vorbei war - aber er würde nicht mehr der gleiche Mensch sein.

»Was wollen Sie tun, Charru?« fragte er halblaut. »Sie können nicht die »Terra« stürmen...«

»Nicht jetzt, ich weiß. Aber wir dürfen auch nicht zu lange in der Wüste bleiben. Es wird bald hell. Und die Herren der Zeit können die marsianische Armee nicht ewig in der Sonnenstadt festhalten.«

»Also brauchen wir ein Versteck, eine Basis«, stellte der drahtige, hellhaarige Beryl von Schun fest.

»Wieder einmal«, sagte Charru bitter. »Es hilft nichts. Mit den Energiewerfern der »Terra« können wir die Marsianer notfalls in Schach halten, aber in das Schiff hineinzukommen - das ist eine Aufgabe für ein Stoßtrupp-Unternehmen, das der Rücken freihalten muss.« Er stockte und zog die Brauen zusammen. »Helder, haben die Wachmänner nicht davon gesprochen, dass die Forschungsstation im Sirius-Krater aufgelöst worden ist, nachdem wir dort waren?«

Kerr nickte beklommen.

Er dachte ungern an die Forschungen, die in jenem Krater betrieben worden waren. Tierversuche. Experimente mit Mutationen und Nachzüchtungen längst ausgestorbener Arten. Züchtungen, deren monströse Ergebnisse Schrecken weckten vor einer Wissenschaft, die keine Grenzen mehr anerkannte.

Den gleichen Schrecken, den Helder Kerr angesichts der Bilder aus der Zukunft des Mars empfunden hatte, die ihm die Herren der Zeit zeigten.

Diese Zukunftsvision war es gewesen, die Kerr endgültig dazu bestimmt hatte, auf dem Mars zu bleiben und nicht mit zur Erde zu fliegen. Denn die Zukunft, sagten die Herren der Zeit, ließ sich verändern, beeinflussen. Was sie ihm gezeigt hatten, war nur ein Strahl im Fächer der Möglichkeiten, war der Weg, auf dem sich die Menschen des Mars jetzt bewegten. Kerr ahnte, dass er als einsamer Rufer in der Wüste keine Chance haben würde, das Ruder herumzuwerfen. Aber der Mars war seine Heimat. Er musste es versuchen.

»Die Forschungsstation ist ganz bestimmt aufgelöst worden«, sagte er. »Nur dürfte der Krater alles andere als ein sicherer Ort sein. Vergessen Sie nicht die zerstörten Gehege, die ausgebrochenen Tiere.«

Charru zuckte die Achseln. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es den Marsianern nicht gelungen war, die Bestien restlos wieder einzufangen. Mit einem Schauer erinnerte er sich an den Überfall der riesigen Flugechse.

»Haben Sie eine bessere Idee?« fragte er.

»Nein, aber...«

»Als ob wir nicht mit ein paar Tieren fertig werden würden«, sagte Karstein grimmig. »Der Krater ist ideal. Die Marsianer werden nie darauf kommen, uns dort zu suchen. «

»Also gut, beeilen wir uns! Camelo, Jarlon, Karstein - wir fliegen voraus, um die Lage auszukundschaften. Gerinth, du führst die anderen. Macht euch so unsichtbar wie möglich.«

»Aye«, sagte der alte Mann ruhig.

Charru hatte sich bereits abgewandt und ging auf den silbernen Polizeijet zu.

Er dachte an die Sonnenstadt. An die marsianische Armee, die in die Vergangenheit versetzt werden und Menschen begegnen würde, von denen sie in Wahrheit ein Abgrund von Jahrtausenden trennte. Auch Charru hatte schon einmal jene alten Marsstämme gesehen, in einer bewohnten, mächtigen Stadt, über der Banner flatterten. Ein stolzes Volk, dessen Nachkommen heute, von Drogen betäubt, wie Tiere in Reservaten vegetierten. Sie waren untergegangen. Und sie würden von neuem untergehen, in einer grausamen Wiederholung der Geschichte. Charru wusste, dass all das nicht wirklich geschah, dass es länger als zweitausend Jahre zurücklag, und doch konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, als vollziehe sich dieser Untergang hier und jetzt, in der Gegenwart.

Sein Gesicht glich einer Maske, als er die Kuppel des Jets hochschwingen ließ und auf die anderen wartete.

 

*

»Mein Präsident!«

Die Stimme des Verwaltungsdieners, der den Jet flog, hatte einen schrillen Unterton. Simon Jessardin richtete sich kerzengerade auf. Unter dem kurzgeschorenen silbernen Haar war sein Gesicht schlagartig weiß geworden. Neben ihm sog Conal Nord scharf die Luft durch die Zähne.

»Das ist doch nicht möglich!« flüsterte er. »Simon - was kann da geschehen sein?«

Jessardin fasste sich.

Er war ein schlanker, asketischer Mann mit messerscharfem Verstand und einer erstaunlichen Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. Nur noch der Ausdruck der grauen Augen verriet, dass ihn ein Teil seiner kühlen, überlegenen Ruhe verlassen hatte. Ungläubig blickte er in die rote Wüste hinunter. Der Pilot hatte die Geschwindigkeit des Jets verringert, ohne den entsprechenden Befehl abzuwarten. Jessardin fuhr sich mit der Hand über die Augen, als hoffe er, das gespenstische Bild auf diese Weise ändern zu können.

»In der Wüste kommen Luftspiegelungen vor«, sagte der Venusier neben ihm heiser.

»Nicht in der Nacht, Conal. Außerdem pflegen Luftspiegelungen nicht ringförmige Flächen völlig abzudecken. Die Ruinen selbst sind klar und deutlich zu erkennen. «

Nord biss sich auf die Lippen. »Die Morgendämmerung könnte... Nein, unmöglich! Aber was ist es dann? Was? Eine ganze Armee samt schwerer Waffen und mobiler Basis kann doch nicht einfach verschwinden, als habe sie sich in Luft aufgelöst.«

Jessardin machte eine warnende Handbewegung. Conal Nord warf einen Blick auf den Piloten, der den Jet jetzt bewegungslos in der Luft hielt. Über dem Horizont im Westen zeigte sich bereits ein schwacher karmesinfarbener Schimmer und tauchte die Ruinenstadt in dunkle Glut. Aber auch das war keine Erklärung. Es gab keine Erklärung für ein solches Phänomen, das ließ sich vor dem Verwaltungsdiener ohnehin nicht mehr verbergen.

»Simon«, sagte der Venusier leise.

»Ja?«

»Erinnern Sie sich an den Zwischenfall mit dem Vollzugspolizisten, der angeblich vor den Augen seines Begleiters spurlos verschwand und später wieder auftauchte?«

»Die beiden Männer, die wegen Drogen-Missbrauchs verhaftet wurden?«

»Richtig. Und ein weiterer Zwischenfall, bei dem angeblich jemand verschwand, wurde von einem Offizier beobachtet - einem glaubwürdigen Zeugen. «

»Larsen Kane«, bestätigte Jessardin. »Ein sehr fähiger Offizier, mit General Manès Kane verwandt. Aber, Conal, diese Dinge können nur Halluzinationen gewesen sein.«

»Ist die leere Wüste eine Halluzination? Ich pflege meinen Augen zu trauen, Simon. Denken Sie daran, dass es den Wissenschaftlern nie gelungen ist, das Rätsel der Strahlung in der Sonnenstadt zu lösen.«

Jessardin berührte flüchtig seine Schläfen mit den Fingerkuppen.

»Wir überfliegen die Stadt«, entschied er. »Weiter, Sechzehn! Bleiben Sie bitte auf dieser Höhe.«

»Ja, mein Präsident.«

Der Verwaltungsdiener Nummer sechzehn hatte Schweißperlen auf der Stirn.

Gehorsam brachte er den Jet wieder in Bewegung. Jessardin beugte sich zur Seite und blickte durch die Kuppel nach unten. Das Fahrzeug glitt langsam über die Sonnenstadt hinweg. Deutlich waren die roten Ruinen zu sehen, die tiefen Schatten in Türen und leeren Fensterhöhlen, sogar der Staub, den der ewige Wind über den Platz mit dem Sonnensymbol wehte. - Und keine Spur von der marsianischen Armee.

»Haben wir Nachtsicht-Geräte an Bord?« fragte Conal Nord.

»Gute Idee. Sechzehn?«

»Sofort, mein Präsident.«

Sekunden später hielten die beiden Männer auf den Rücksitzen des Fahrzeugs die gewünschten Geräte in Händen.

Perfekte Technik. Taghell breitete sich die Landschaft unter ihnen aus. Selbst die Wendeltreppe war zu erkennen, die in den gemauerten Schacht in der Mitte des Platzes hinunterführte.

»Und das soll der Eingang zu dem unterirdischen Labyrinth sein?« fragte Conal Nord zweifelnd.

»Wenn dieser Priester die Wahrheit sagt - ja. Und er sagt die Wahrheit, wie die Vernehmung unter Drogen ergeben hat.«

»Er sagt, was er für die Wahrheit hält, weil Bar Nergal es ihm aufgetragen hat«, verbesserte der Venusier. »Eine hochtechnisierte Anlage unterhalb der Sonnenstadt, Simon! Sie müsste dort seit Jahrtausenden existieren. Das ist unmöglich.«

Jessardins Blick glitt über die nach wie vor leere Wüste.

»Hochtechnisiert nach den Begriffen der Barbaren, Conal«, sagte er.

»Nein. Lara ist bei ihnen. Sie kann diese Frage beurteilen.«

Jessardin nickte. »Sie haben Recht, Conal. Und trotzdem muss dieses Labyrinth existieren. Eine Frage der Logik. Es bietet die Erklärung für alles, was bisher rätselhaft war, von dem spurlosen Verschwinden der Barbaren bis hin zu der unbekannten Strahlung, deren Geheimnis die Wissenschaft nie lösen konnte.« Er machte eine Pause und holte tief Luft. »Ich fürchte, wir werden uns damit abfinden müssen, dass uns die Sonnenstadt ein paar Überraschungen bietet, von denen sich unsere Wissenschaftler nichts träumen lassen.«

Conal Nord warf dem anderen einen Blick zu.

Begann jetzt auch der Präsident, an der Unfehlbarkeit der Wissenschaft zu zweifeln? Und wusste er, dass er damit zugleich die Grundlagen des Systems erschütterte? Denn Zweifel an der Unfehlbarkeit der Wissenschaft waren zugleich Zweifel an der Berechtigung des Staates, im Namen der Vernunft unbedingten Gehorsam zu verlangen - und notfalls zu erzwingen.

Zum zweiten Mal überflog der Jet langsam die Sonnenstadt.

Weder Conal Nord noch Simon Jessardin ahnten, dass sie ein Zeitfeld überflogen, in dessen Schutz sich in diesen Minuten ein Drama abspielte.

 

 

II

 

Der Kommando-Jet der marsianischen Armee befand sich innerhalb des Zeitfeldes.

Bewegungslos hing er über der roten Wüste. Die aufgehende Sonne tauchte die Stadt in Glut. Eine gespenstisch verwandelte Stadt, die nicht mehr aus Ruinen bestand, sondern aus festen, wehrhaften Mauern, über deren Türmen Banner flatterten, hinter deren Zinnen sich kampfbereite Krieger in Helmen und Kettenhemden aufrichteten.

Jom Kirrand, der Chef des marsianischen Vollzugs, hatte das Gefühl, einen entsetzlichen Alptraum zu erleben.

Er war genauso versteinert wie der Pilot und die anderen Offiziere. Jeder der Männer wusste, es war unmöglich, dass um diese Zeit die Sonne aufging, nachdem die Ruinen der Stadt eben noch im Licht der beiden Monde gelegen hatten. Jeder wusste, dass über den Zinnen und Türmen keine Banner wehen konnten, jeder sah, dass es sich bei den gerüsteten Kriegern nicht um die Barbaren aus der Mondstein-Welt handelte. In Kirrands Gedächtnis zuckten Bilder auf, die er in Filmen gesehen hatte, Bilder von Kriegszügen, die vor mehr als zweitausend Jahren die Flüchtlinge von der zerstörten Erde gegen die alten Marsstämme unternommen hatten. Aber der Vollzugschef brachte es einfach nicht fertig., aus dem, was er sah, Schlüsse zu ziehen. Er war nur noch fähig, blindlings den vorbestimmten Verhaltensmustern zu folgen, die seiner Ausbildung entsprachen.

»Angreifen!« hatte er befohlen. »Angreifen! Sofort!«

Gigantischen Untieren gleich rollten die schweren Laserkanonen weiter.

Unter dem schimmernden Schutzzelt der mobilen Basis stierte der weißhaarige General Manès Kane mit vorquellenden Augen auf die Vision. Es musste eine Vision sein. Die Sonnenstadt mochte vor Jahrtausenden so ausgesehen haben, nicht heute. Und die Menschen - woher kamen sie? Die Barbaren aus der Mondstein-Welt besaßen keine Kettenhemden, keine Helme und Schilde.

Alte Marsianer.

Jenes stolze Volk, das die Sonnenstadt erbaut hatte und von den irdischen Flüchtlingen besiegt und versklavt worden war. Heute lebten sie in Reservaten, unter Drogen, die sie willenlos machten, nur am Leben erhalten aufgrund eines uralten Gesetzes, zu ihrem Schutz, das niemand mehr ernst nahm. Und dort drüben machten sich ihre Vorfahren bereit, mit Feuer und Schwert gegen den neuen Mars zu kämpfen... Dort drüben erhoben sich die alten Marsianer aus ihren Gräbern, um Rache zu nehmen...

Manès Kane presste die Handflächen gegen die Schläfen.

Nein, dachte er. Unsinn, Unsinn... Schwindel packte ihn. Sekundenlang fürchtete er, den Verstand zu verlieren. Und dann war es eine neue, unvermutete Wendung der Dinge, die jäh das Grauen zerriss und seine Gedanken klärte.

Ein hohes, anschwellendes Heulen.

Jenseits der Sonnenstadt stieg etwas wie ein gigantischer Silberpfeil in den Himmel, senkte sich über die Türme und Zinnen und detonierte mit schmetterndem Krach mitten in der Stadt.

Eine Rauchwolke stieg auf.

Selbst aus der Entfernung konnte Kane den Aufschrei zahlloser Stimmen hören. Seine Hand zuckte zum Kommunikator wie eine zustoßende Raubvogelkralle.

»Kirrand!« schrie er. »Kirrand!«

»Das war ein Lenkgeschoß! Sagen Sie mir um alles in der Welt, woher hier ein Lenkgeschoß kommen kann! Die letzten wurden vor dreihundert Jahren verschrottet!«

Jom Kirrand antwortete nicht.

Die Ereignisse waren einfach zu viel für ihn. Schon hörte er das Heulen der nächsten ferngelenkten Raketen. Woher kam sie? Woher kamen die Krieger auf den Zinnen der Stadt? Woher kam die Sonne, die eigentlich erst in einer halben Stunde hätte aufgehen dürfen? Der Vollzugschef hatte das Gefühl, als breche etwas in seinem Innern - eine unsichtbare Schranke der Vernunft, das kategorische »Unmöglich« des gesunden Menschenverstandes. Unmöglich oder nicht - die Dinge geschahen. Und wenn sich ein unvorstellbares Chaos überhaupt noch vermeiden ließ, dann nur durch klare Befehle.

»Kirrand!« hörte er Kanes eigentümlich matte Stimme aus dem Kommunikator. »Kirrand, ich bekomme gerade eine Meldung aus der Sektion Nord. Da hat ein Bataillon eine mobile Abschussrampe in Stellung gebracht.«

»Ein Bataillon?« echote der Vollzugschef tonlos.

»Ja! Ein Bataillon in marsianischen Uniformen! Aber wir haben dort kein Bataillon stehen. Und wir setzen keine Lenkgeschosse ein, also auch keine Abschussrampen!«

Jom Kirrand schloss die Augen und öffnete sie wieder.

»Das ist mir gleich«, flüsterte er. »Die Laserkanonen sollen weiter vorrücken. Geben Sie den Feuerbefehl, sobald...«

Er stockte. Denn im gleichen Moment schlug das dritte Lenkgeschoß zwischen die Häuser der Sonnenstadt, und die Krieger auf den Wehrgängen begriffen offenbar, dass ihre Lage innerhalb der Mauern unhaltbar wurde.

So, wie sie es vor Jahrtausenden in dem heroischen Abwehrkampf gegen die Eindringlinge von der Erde begriffen hatten...

Jom Kirrand ahnte nicht, dass ihn eine Manipulation mit der Zeit über einen Abgrund hinweg in die Vergangenheit versetzt hatte. Er sah nur, dass sich die massiven Tore der Stadt öffneten, dass sich die fremdartigen Krieger in ihren schimmernden Rüstungen wie eine silbrige Flutwelle auf die Ebene ergossen, um sich auf ihre Gegner zu stürzen. Sie konnten den überlegenen Waffen nicht trotzen. Weder den veralteten - aus der Sicht der Gegenwart veralteten - Lenkgeschossen noch den Laserkanonen oder den Schockstrahlern. Sie suchten den Kampf Mann gegen Mann, sie wollten sich nicht wie Vieh abschlachten lassen, und der Vollzugschef spürte, wie ihm kaltes Entsetzen den Magen zusammenkrampfte.

»Kirrand«, drang General Kanes Stimme an sein Ohr. »Ich gebe jetzt den Feuerbefehl und...«

Er kam nicht mehr dazu.

Der Befehl, der den keilförmigen Vorstoß der alten Marsstämme jählings stoppte, wurde von einem anderen gegeben. Von einem Mann, dessen Name längst Geschichte war - auch wenn dieser Teil der Geschichten von den Menschen der Vereinigten Planeten als Makel empfunden wurde.

Fassungslos sah Jom Kirrand die Männer in den Kettenhemden und Helmen zusammenbrechen.

»General«, flüsterte er. »Haben Sie die Schockstrahler feuern lassen?«

»Nein«, kam es zurück. »Kein einziger Schockstrahler hat gefeuert.«

»Energiewerfer«, sagte Kirrand tonlos.