Band 12 - Inferno Erde

 

 

Söhne der Erde

von S. U. Wiemer

ISBN: 9783832852016

© 2013 by readersplanet


 

Inhalt

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

 

I.

Flammen über Luna...

Ein gigantischer Feuerball dort, wo einmal eine Stadt gewesen war. Ein loderndes Fanal, selbst noch an Bord jenes Raumschiffs zu sehen, das dem Merkur entgegenraste - einem freien Merkur.

Lunaport war tot.

Es gab keine Strafkolonie mehr, keine unterirdischen Kerker, keine Bergwerke, in denen Menschen wie Sklaven schufteten, weil sie in einer anderen Welt keine Sklaven hatten sein wollen. Das Schiff, das »Luna II« geheißen hatte und jetzt den Namen »Freier Merkur« trug, brachte einen Teil der Gefangenen zu dem Planeten, den sie als ihre Heimat betrachteten. Und zwei andere Schiffe flogen dem Mars entgegen. Stumme Schiffe mit zerstörten Funkeinrichtungen, mit einer Fracht verwirrter, verängstigter Menschen. Das Gefängnis Luna existierte nicht mehr. Zweitausend Jahre marsianischer Technik, zweitausend Jahre Macht hatten nicht standgehalten gegen die Rebellion derer, die wieder wie Menschen leben wollten und die das Erbe der alten Erde bewahrten.

In Kadnos, der Hauptstadt des Mars, starrte der Präsident der Vereinigten Planeten auf den Monitor, der leer blieb, weil die Mondbasis nicht mehr antwortete.

An Bord der »Luna III« lief Marius Carrisser, Kommandant der zerstörten Strafkolonie, wie ein gefangenes Tier in seiner Kabine auf und ab. Er versuchte zu begreifen, was geschehen war. Barbaren, die ein uraltes Schiff aus der Vergangenheit der Erde auf Luna gelandet und sich mit den Häftlingen verbündet hatten... Kampfschiffe, die in die Luft flogen, ein unterirdischer Kerker, der von einer Stunde zu anderen nicht mehr sicher war... Ein Teil der Gefangenen, jene rebellischen Merkur-Siedler, musste lange auf diesen Augenblick gewartet haben. Carrisser glaubte, die hagere Gestalt Mark Nords vor sich zu sehen: Bruder des Generalgouverneurs der Venus, zu lebenslanger Haft verurteilt, seit zwanzig Jahren in den Katakomben von Luna lebendig begraben. Ein anderes Gesicht schob sich dazwischen. Das harte bronzefarbene Gesicht des jungen Barbarenfürsten, der mit dem Schwert in der Faust in der Schaltzentrale von Lunaport erschien, als sei jäh die Vergangenheit lebendig geworden, als habe sich der verfolgte, verleugnete Geist der alten Erde gegen die neue Menschheit erhoben.

Carrisser schauerte, als er an die Miniaturwelt im Museum von Kadnos dachte, wo die Nachkommen der Terraner seit Jahrhunderten den Experimenten der Friedensforschung gedient hatten.

Anschauungsmaterial waren sie gewesen. Lebendiges Spielzeug. Ein Volk von Wilden, die Kriege führten und ihr Blut vergossen, damit Wissenschaftler die Verhältnisse studieren konnten, die damals zu der großen Katastrophe auf der Erde geführt hatten. Und nun? Der Mondstein war zerbrochen. Das Spielzeug hatte seine natürliche Größe zurückerlangt: Menschen, die um ihre Freiheit kämpften, Männer, Frauen und Kinder, die einen Platz zum Leben beanspruchten, die zur Erde zurückkehren wollten, die der gewaltigen Übermacht der Vereinigten Planeten erbittert trotzten. Carrisser wusste nicht, wie es ihnen hatte gelingen können, die alte »Terra I« instand zu setzen und den Start vom Mars zu erzwingen. Er wusste nicht, warum es der marsianischen Kriegsflotte nicht möglich gewesen war, eine halb wracke Ionen-Rakete zu zerstören, und er wusste nicht, wieso es diese Wilden gewagt hatten, auf Luna zu landen. Carrisser wusste nur, dass man eine Erklärung für das Fiasko von ihm fordern würde - und dass es nichts gab, womit er sich rechtfertigen konnte.

Auf dem Erdenmond fielen die Flammen von Lunaport in sich zusammen.

Nur noch schwach glommen Trümmer in der Dunkelheit und tauchten den düster aufragenden Metallkörper der »Terra I« in Glut. Charru von Mornag wandte dem Schiff den Rücken.

Sein Blick hing an der blauen Kugel im All, deren Schatten über Luna fiel. Die Erde... Ein zerstörter, geplünderter Planet, Schauplatz vernichtender Kriege und einer kosmischen Katastrophe. Für die Marsianer war »Terra« ein Synonym für Unheil, der Name all dessen, was sie in ihrem eigenen Staatswesen unnachsichtig bekämpften. Für die Söhne der Erde bedeutete der blaue Planet die einzige Hoffnung, denn in dem gespenstischen Sklavenstaat ihrer Gegner, in jener Welt eiskalter Vernunft, die im Namen von Sicherheit und Ordnung alles Menschliche erstickte, hätten sie nicht atmen können.

Charrus Blick wanderte über schwarze Felsen, über die zahllosen Kraterringe und die dunkle, zerklüftete Ebene, unter der sich das Labyrinth von Stollen und Schächten hinzog.

Würden die Marsianer Luna endgültig aufgeben? Oder würden sie zurückkommen, irgendwann, um dieses gigantische Gefängnis wieder aufzubauen, neue Kampfschiffe zu stationieren und von hier aus die Erde zu bedrohen? Zwei Raumfähren waren zum Mars unterwegs, mit dem Kommandanten, den Wachmannschaften und jenen Gefangenen, die nur noch kurze Strafen zu verbüßen hatten, auf Begnadigung hofften oder ein neues Gefängnis der ungewissen, bedrohten Zukunft in Freiheit vorzogen. Die Funkgeräte der Fähren arbeiteten nicht mehr, sie konnten sich nicht mit Kadnos in Verbindung setzen. Selbst wenn die marsianische Kriegsflotte zum vernichtenden Gegenschlag ausholte - den Terranern blieb noch eine kurze Frist. Zeit, ihr Schiff zu starten und die Erde zu erreichen. Zeit, einen Platz zu finden, der für eine Weile Sicherheit versprach.

Gab es diese Sicherheit?

Charru fröstelte in der kalten, dünnen Luft, die noch atembar war, seit die kosmische Katastrophe mit ihren vielfältigen Veränderungen auch Luna eine Atmosphäre beschert hatte. Wie still, wie friedlich der blaue Planet aus der Ferne wirkte; eine Oase in der endlosen, abgründigen Schwärze des Alls. Aber die Söhne der Erde wussten um die Gefahren, die unter der dichten Wolkendecke lauerten. Wüsten und verseuchte Wildnis.

Gefährliche Strahlen. Fremdartige Lebensformen, eine mutierte Pflanzen- und Tierwelt, weite Bereiche des absolut Unbekannten, die nicht einmal die Marsianer je erforscht hatten.

Aber auch neue Menschen.

Rassen, von denen die Forschungsschiffe der Vereinigten Planeten einzelne Exemplare wie Tiere eingefangen und auf den Mars entführt hatten, um sie ihren grausamen wissenschaftlichen Experimenten zu unterwerfen. Vorfahren der Terraner, die unter dem Mondstein jahrhundertelang als Spielzeug in einer Spielzeug-Welt leben mussten.

Die Tiefland-Stämme auf ihrer kargen Ebene.

Die Menschen des Tempeltals unter der Terror-Herrschaft der Priester, deren Wille von falschen Göttern gelenkt wurde.

Krieg und Gewalt. Hunger, Naturkatastrophen, ein gnadenloser Überlebenskampf. Immer wieder Blut und Tränen, denn die marsianischen Wissenschaftler wollten eine wilde, barbarische, keine friedliche Welt studieren...

Das Geräusch von Schritten riss Charru aus seinen Gedanken.

Wie Schatten tauchten Gestalten aus der Dunkelheit: sein Blutsbruder Camelo von Landre, Karstein, der Nordmann, Gerinth, der Älteste der Stämme mit dem langen weißen Haar und den nebelgrauen Augen. Lara Nord blieb ein Stück hinter ihnen zurück, das schmale, schöne Gesicht unter dem blonden Haarhelm gedankenverloren. Die knappe venusische Tunika leuchtete als hellgrüner Flecken im schwachen Sternenlicht. Laras Vater war Conal Nord, der Gouverneur der Venus und Generalbevollmächtigte des Rats der Vereinigten Planeten. Zufall hatte seine Tochter in die Ereignisse nach der Flucht der Terraner verstrickt. Ein Zufall, der ihr Leben veränderte, der sie aus ihrer vertrauten, wohlgeordneten Welt riss und sie schließlich an Charrus Seite mit der »Terra« bis hierher geführt hatte.

»Wir sollten sofort starten«, sagte Camelo von Landre gedämpft. »Wir haben zwei Landefähren, um Erkundungsflüge zu unternehmen, Vorräte, Medikamente und ein Dutzend Lasergewehre. Genug...« Er zögerte, und seine Fingerkuppen strichen mechanisch über die dreieckige Grasharfe, die er am Gürtel trug. »Oder willst du das Waffendepot von Lunaport ausplündern? Vielmehr das, was davon noch übriggeblieben ist?«

»Nein«, sagte Charru gedehnt.

»Dann erkläre es den Priestern. Bar Nergal ist erstaunlich unternehmungslustig, seit die Marsianer den Mond verlassen haben.«

»Er will Waffen?« Charrus saphirblaue Augen wurden schmal.

»Er hat Angst, Charru«, schaltete sich Gerinth ein. »Und nicht nur er, auch ein Teil der Tempeltal-Leute. Sie fürchten, was ihnen bei der Landung auf der Erde begegnen mag. Der Oberpriester hetzt sie auf, und sie hören ihm zu. Er redet ihnen ein, mit all den Energiegranaten und Gewehren und Schockstrahlern könnten sie genauso mächtig sein wie die Marsianer.«

So mächtig wie die Marsianer...

Charru presste bitter die Lippen zusammen. Es lag noch nicht lange zurück, da hatte der Oberpriester die Marsianer als Götter betrachtet. Als wahre Götter, als Herren jener schwarzen, blitzeschleudernden Ungeheuer, die von den Wissenschaftlern der Universität in die Welt unter dem Mondstein geschickt wurden. Aber Bar Nergal verlangte nicht nach Göttern, weil er den Glauben an höhere Wesen, an ihre Weisheit und Gerechtigkeit brauchte. Die schwarzen Götzen der Mondstein-Welt waren nie weise, nie gerecht gewesen. Bar Nergal wollte nur die Macht, die ihm die Götter verliehen hatten. Und jetzt wollte er die Macht, die in den überlegenen marsianischen Waffen beschlossen lag.

Charru von Mornag schüttelte langsam den Kopf.

»Nein«, sagte er hart. »Die Erde ist unsere Heimat. Wir wollen dort in Frieden leben, und wir werden nicht als waffenstarrende Armee landen.«

 

*

Jenseits des riesigen Kraterwalls, der Lunaport und das Areal des Raumhafens umschloss, glommen immer noch Trümmer.

Die Explosionen hatten die Kommandantur zerstört und die weißen Baustoff-Wände des Depots eingerissen. Aber einzelne Trakte waren fast unversehrt geblieben: Schimmernde Würfel und Quader, vom Widerschein zuckender Flämmchen gespenstisch angestrahlt.

Die Priester hatten einen weiten Weg zurückgelegt, um von der »Terra I« hierher zu gelangen.

Bar Nergals staubige, zerfetzte Robe wirkte rot wie Blut im ungewissen Licht. Seine dürren Greisenhände umspannten ein Lasergewehr, das er irgendwo gefunden hatte. Priester und Akolythen umdrängten ihn, Männer aus dem Tempeltal; auch der graubärtige Scollon, den sie zu ihrem Sprecher gewählt hatten. Charrus Blick glitt über die Gruppe der Tiefland-Krieger, die in zornigem Schweigen verharrte. Niemand hatte eingegriffen. Die Priester waren keine Gefangenen. Sie waren Opfer wie alle anderen, Flüchtlinge wie sie, mit der gleichen Stimme und den gleichen Rechten. Der Hass saß tief. Vielleicht würde die Kluft nie überwunden werden. Aber die Tiefland-Stämme hatten nicht gegen die Tyrannei gekämpft, um eine neue Tyrannei aufzurichten.

Bar Nergals dunkle, tiefliegende Augen glommen.

Charru blieb ruhig vor ihm stehen, die Arme über der Brust verschränkt. Er wusste, dass nicht einmal dieser fanatische Greis es wagen würde, das Lasergewehr auf ihn zu richten.

Scollon war es, der sprach. Mit leiser, unsicherer Stimme.

»Sollen wir das alles wirklich hier zurücklassen, Fürst? Es könnte uns helfen. Wir wissen nichts über die Erde. Nichts!«

Charrus Blick wanderte von einem zum anderen.

Über Bar Nergals Totenkopf-Gesicht schien sich die pergamentgelbe Haut straffer zu spannen als sonst. In Zai-Carocs scharfgeschnittenen Zügen und den düsteren, brütenden Augen Shamalas stand ein Ausdruck lauernder Wachsamkeit. Die Gesichter der Tempeltal-Leute spiegelten Furcht. Scollon sprach für sie, aber es war der Oberpriester, der ihre Furcht geweckt und geschürt hatte.

»Wir wissen, dass uns auf der Erde weder Strahlenwaffen noch eine überlegene Technik erwarten«, sagte Charru ruhig. »Wir kommen in Frieden. Als Flüchtlinge, die eine Heimat suchen - nicht, um jemanden zu unterjochen.«

»Und die Marsianer?« fragte Scollon rau.

»Wenn wir uns nicht mit den Energiewerfern des Schiffs gegen sie wehren können, dann auch nicht mit anderen Mitteln. Das weißt du genau.«

»Aber es kann wilde Tiere geben, feindliche Rassen...«

»Wir haben genug Lasergewehre an Bord, um für den Notfall gerüstet zu sein.« Charrus Schultern spannten sich, sein schmales, hartes Gesicht schien wie aus Bronze gegossen. »Wir haben gegen die Waffen der Marsianer gekämpft mit nichts als Schwertern in der Hand. Wir haben die Waffen hassen gelernt, die heimtückisch aus der Ferne töten. Und wir werden diese Waffen nicht auf Menschen richten, die sich nicht mit gleichen Mitteln wehren können.«

»Menschen?« zischte Zai-Caroc. »Wer sagt, dass es Menschen sind, denen wir begegnen werden?«

Charru fuhr herum. Von einer Sekunde zur anderen loderte in seinen Augen ein kaltes blaues Feuer.

»Weißt du, was du für die Marsianer bist, Zai-Caroc?« fragte er beherrscht. »Ich kann es dir sagen. Als ich aus dem Mondstein floh und ihnen zum ersten Mal gegenüberstand, habe ich ihre Blicke gesehen. Blicke, die einem wilden Tier galten, einer gefährlichen Bestie. Sie wollten uns vernichten wie Ungeziefer. Willst du dir das gleiche Recht anmaßen?«

Einen Augenblick blieb es still.

Zai-Caroc war unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen. Bar Nergals Lippen zuckten. Die Knöchel der dürren Finger am Griff des Lasergewehrs traten weiß und spitz hervor, doch er schwieg.

»Aber all die Waffen! Energie-Granaten, die ganze Städte zerstören können! Strahlen, die alles in weitem Umkreis töten! Wir wären sicher! Wir wären unbesiegbar! Wir brauchen Waffen.«

Eine junge Stimme.

Charrus Blick traf ein schmales, von Erregung gerötetes Gesicht. Ein Mann aus dem Tempeltal, kaum dem Knabenalter entwachsen. Sein Leben lang hatte er sich unter dem Terror der Priester geduckt. Jetzt funkelte ein jähes, fiebriges Verlangen in seinen Augen. Unbesiegbarkeit! Macht über Leben und Tod! Die Saat, die Bar Nergal gesät hatte...

»Nein«, sagte Charru hart.

»Aber es ist doch möglich, dass wir die Waffen wirklich brauchen«, beharrte Scollon. »Viele von uns glauben es. Was hindert uns denn, dies alles mitzunehmen und...«

»Nein!« Charrus Stimme klirrte.

Scollon schluckte und senkte die Augen. Er sprach leise und schnell: »Du kannst es nicht allein entscheiden. Nicht für alle.«

»Aber für die Tiefland-Stämme«, knurrte Karstein in die Stille. »Mir sind zwölf von den verdammten Lasergewehren ohnehin schon zwölf zu viel. Ich spucke darauf. Und du wirst von jedem Nordmann das gleiche hören.«

»Nicht nur von jedem Nordmann«, bekräftigte Gillon von Tareth, der rotschopfige, grünäugige Anführer der Tareth-Sippen.

»Und das Volk des Tempeltals?« stieß Zai-Caroc hervor. »Wir alle wollen...«

»Entscheidet euch«, sagte Gerinth ruhig. »Aber es wird auch die Entscheidung darüber sein, ob sich unsere Wege trennen, wenn wir die Erde erreicht haben.«

Schweigen.

Scollon biss sich auf die Lippen. Er spürte die Blicke der Tempeltal-Männer in seinem Rücken, und er wusste, dass es jetzt keine entschlossenen Blicke mehr waren. Sie hatten auf die Einflüsterungen der Priester gehört. Aber sich von neuem in ihre Hand geben? Bar Nergals Macht erneuern in einer fremden, vielleicht feindlichen Welt, in der er führen musste statt nur zu herrschen?

»Wer das will, soll es sagen«, murmelte Scollon. »Ich - will es nicht.«

Niemand sprach.

Nicht einmal Zai-Caroc, Shamala oder Beliar, die zu Bar Nergals fanatischsten Gefolgsleuten zählten. Der Oberpriester stand sekundenlang starr da, die Augen brennend vor Hass. Dann ließ er mit einem scharfen Atemzug das Lasergewehr fallen, raffte seine Robe und hastete über die schwarzen Felsen dem Schiff zu.

»Und jetzt?« Camelo lächelte verhalten. »Bereiten wir den Start vor? Je weniger Zeit wir verlieren, desto besser. »

»Richtig. Beeilen wir uns.«

Charru wandte sich ab.

Fast stieß er mit Lara zusammen, die nachdenklich zu dem halb zerstörten Depot hinübersah. Einen Augenblick blieb er stehen und hob fragend die Brauen.

»Ich weiß nicht...«, murmelte sie vage.

»Was weißt du nicht?«

»Ob sie nicht diesmal recht haben«, sagte sie leise. »Bar Nergal, Scollon, die anderen. Die Erde ist gefährlich. Vielleicht würden wir eines Tages froh sein, wenn wir...«

»Nein!«

Ihre Blicke kreuzten sich.

Lara schrak fast zusammen beim Klang von Charrus Stimme und dem Ausdruck seiner angespannten Züge. Eine fremde, unnachgiebige Maske. Augen, in denen sich der Abglanz von Erinnerungen spiegelte, die sie nicht teilte, die sie nicht einmal erahnen konnte, weil sie die Welt unter dem Mondstein mit ihren blutigen Kriegen nur aus Filmen kannte.

»Nein«, wiederholte Charru leiser. »Gegen die Gefahren der Erde werden wir uns zu wehren wissen. Aber solange die Stämme auf mich hören, werden wir nicht wie Eroberer mit einem Schiff voller schrecklicher Waffen auf einem fremden Planeten landen!«

 

*

Das grünliche Licht in der Pilotenkanzel war vertraut.

Charru spürte die breiten Gurte des Andrucksitzes auf der nackten Haut. Flüchtig dachte er daran, dass Besatzung und Passagiere der »»Terra«» damals, als das Schiff gebaut worden war, bei Start und Landung Raumanzüge getragen hatten. Eine der zahllosen Sicherheitsvorschriften, die sie nicht befolgten, weil sie es nicht konnten. Es war unmöglich gewesen, aus den Magazinen des Raumhafens von Kadnos neben den notwendigsten Ersatzteilen und Energiezellen auch noch Schutzanzüge für mehr als hundert Menschen herauszuholen. So unmöglich wie eine ausreichende, umfassende Pilotenausbildung. Der Computer speicherte Informationen für Notfälle. Charrus Hände hatten sich in endlosen Übungen daran gewöhnt, Tasten und Schalter zu finden, während seine Augen Kontrollen ablasen; seine Nerven und Sinne hatten gelernt, mit dem Heulen der Triebwerke, dem Rütteln des Schiffskörpers und den Gigantenkräften des Andrucks fertigzuwerden. Neben ihm lehnte Camelo von Landre im Co-Piloten-Sitz. Der drahtige, hellhaarige Beryl von Schun hatte die Aufgabe des Bordingenieurs übernommen. Sie kannten jede Phase des Starts, jeden Handgriff, jede Einzelheit. Sie hatten es einmal geschafft, und sie würden es auch diesmal schaffen.

In Charrus Kopf begleitete den Ablauf immer noch die Stimme von Helder Kerr, dem Marsianer, der ihnen geholfen hatte und später im Laserfeuer seiner eigenen Leute gestorben war.

Hier im vagen grünen Widerschein der Instrumentenbeleuchtung schien die Erinnerung seltsam lebendig und gegenwärtig. Auch auf dem Mars und seinen Nachbarwelten lebten nicht nur blinde Marionetten. Simon Jessardin, der Präsident der Vereinigten Planeten, war ein unerbittlicher Gegner, aber ein Mann, dessen Mut und persönliche Integrität außer Zweifel standen. Conal Nord, der Venusier, hatte mehr als einmal seinen Einfluss als Generalgouverneur in die Waagschale geworfen, um ein Massaker zu verhindern. Vielleicht würden irgendwann auch andere begreifen, dass die Terraner keine blutrünstigen Wilden waren. Vielleicht würden sie aufhören, das Erbe der Erde wie eine tödliche Seuche zu fürchten...

Charru straffte sich, als eine Reihe aufflammender Kontroll-Lampen verriet, dass alle Schleusen geschlossen waren.

Camelos ruhige Stimme ging Punkt für Punkt den Startcheck durch, den sie auswendig kannten. Beryl von Schun kontrollierte jeden Punkt auf seiner handgeschriebenen Liste, über die Helder Kerr damals immer gelächelt hatte, wenn er sie sah. Eine halbe Stunde verstrich. Sämtliche Skalen und Instrumente zeigten normale Werte. Camelo lächelte.

»Antriebsvorstufe eins - zünden!«

Ein Zittern durchlief das Schiff.

Ein hohes Singen, das sich durch alle Nervenfasern fortzusetzen schien und den metallenen Giganten in ein lebendes Wesen verwandelte. Charrus Rechte lag locker auf dem Schaltfeld, sein Blick verfolgte anhand der Zahlen die Zunahme des Energieschubs, den er zugleich mit Muskeln, Knochen und allen Sinnen wahrnahm. Zehn Minuten vergingen, bis er die Vorstufe zwei dazu schaltete, und nach weiteren zehn Minuten zündete er das Haupttriebwerk.

Schon einmal hatten sie alle das Erwachen der schlummernden Gigantenkräfte gespürt, das apokalyptische Donnern gehört, den Widerschein der Feuersäule gesehen, der die »Terra« emportrug.

Zur Ewigkeit gedehnte Sekunden, in denen der mörderische Andruck die Knochen zu zermalmen schien. Schrilles Heulen, das die Nerven bloßlegte und das Hirn marterte. Pfeilgerade schoss die »Terra« in den sternengespickten Himmel, in die Schwärze des Vakuums, und dann, als der Druck nachließ und das Kreischen der Triebwerke zum leisen Vibrieren wurde, schien die Zeit stillzustehen, wie schon einmal auf jenem langen Weg durch den Abgrund zwischen den Sternen.

Es war still.

Eine atemlose, erwartungsvolle Stille, denn sie alle wussten, dass jetzt nur noch ein Sprung vor ihnen lag, eine Winzigkeit gemessen an der gewaltigen Entfernung zwischen Mars und Erde. Charru biss die Zähne zusammen, in Gedanken schon dabei, das alte Schiff in eine Umlaufbahn zu zwingen. Der Computer hatte den Kurs ausgerechnet, aber der Computer konnte nicht erspüren, welche Belastung die eisernen Eingeweide der »Terra« auszuhalten vermochten, ohne in Stücke zu brechen. Ein guter Pilot spürte es in den Knochen, in seinen eigenen Eingeweiden, hatte Helder Kerr gesagt. Kerr war ein guter Pilot gewesen. Er, Charru, konnte es nicht sein - nicht mit dem bisschen Wissen, den paar wichtigsten, hundertmal geübten Handgriffen, die er beherrschte.

Die Bremstriebwerke zünden...

Jetzt!

Wieder das urwelthafte Heulen. Brutale Schläge und Stöße, die das alte Schiff beutelten. Die Steuerung gehorchte Charrus Händen. Camelos Messwerte klangen wie Gebete, Beschwörungen. Jetzt! Noch einmal die brutale Faust des Bremsschubs, die nach ihnen schlug - und die »Terra« schwenkte in die voraus berechnete Umlaufbahn.

Kerr hatte die automatische Steuerung so programmiert, dass sie die Geschwindigkeit nach ein paar Umkreisungen der Erdrotation anpassen und das Schiff in einen stabilen Parkorbit bringen würde.

Aber auch Kerr hatte nicht gewusst, wo auf dem blauen Planeten eine sichere Landung möglich war. Es gab keine Sicherheit. Nicht ohne Erkundungsflüge, Beobachtungen, Untersuchungen. Und vor allem nicht ohne die Landefähren, die sie so dringend gebraucht und auf Luna vorgefunden hatten.

»Jetzt!« sagte Camelo atemlos.

Charrus Hand fiel auf den Schalter, der die Handsteuerung auf den Computer umstellte.

Nichts schien sich zu ändern. Und doch fand die »Terra« jetzt ihren Weg allein. Charru lockerte die Gurte, die seinen Rücken gegen den Sitz pressten, und starrte gebannt durch den Sichtschirm nach vorn, wo sich in der Dunkelheit plötzlich ein schwacher opalisierender Schleier bildete.

Minuten später tauchte das Schiff aus dem Erdschatten und ließ die Dämmerungszone hinter sich. Der blaue Planet schien wie ein leuchtendes Juwel in einem Meer aus Glanz zu schwimmen.

 

*

Auf der Nachtseite der Erde wogte das Gras einer endlosen Steppe im Wind, vom Mondlicht wie mit Silber übergossen.

Einzelne Bäume reckten kahle, knorrige Zweige in den Himmel. Zwischen Felsen, die wie glasierter Ton glitzerten, gähnten schwarze Höhleneingänge. Tief in Spalten und schützenden Winkeln nistete die Wärme rauchloser Feuer. Die Steppenbewohner drängten sich dicht zusammen.

Vor Jahrhunderten hatte sich hier Wüste gedehnt, und die Felsen waren schwarze, zerbröckelnde Türme gewesen.

Die Steppenbewohner hatten die Erinnerung daran verloren. Andere Erinnerungen lebten weiter - in ihren Legenden, ihren Ängsten, ihren Träumen. Das Licht, das über den Himmel wanderte, war unveränderliche Wahrheit, wenn auch niemand voraussagen konnte, wann es erscheinen würde. Das Licht kündete die Götter an, die von den Sternen kamen. Es wanderte oft über den nächtlichen Himmel. Aber die Götter brachte es nur ein- oder zweimal in jedem Menschenalter mit, manchmal seltener, oft so lange nicht, dass sie vergessen wurden.

Die Legenden kannten viele Götter, freundliche und feindliche.