Band 15 - Die Rache des Mars

 

Die Söhne der Erde

von S. U. Wiemer

ISBN: 9783832852047

© 2013 by readersplanet

 

Inhalt

I      4

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

 

I

Der erste Schnee bedeckte die Ruinen von New York wie ein Leichentuch.

Einzelne Flocken tanzten in der klaren Luft, senkten sich auf tote Straßen und zerstörte Gebäude, aus denen Schutt hervorquoll wie die Eingeweide eines aufgerissenen Körpers. Dichte grauweiße Wolken trieben über einen Himmel, dessen durchsichtiges Blau die Weite ahnen ließ, die dahinter lag: die Unendlichkeit des Alls, wo Millionen von Meilen entfernt auf dem Mars die Kriegsflotte eines übermächtigen Staatswesens immer noch darauf lauerte, die letzten Terraner auf ihrem Heimatplaneten zu vernichten.

Am Rande des ehemaligen Raumhafens überragte der schlanke Metallzylinder der »Terra I« die wenigen unzerstörten Gebäude.

In der Kanzel des alten Ionen-Raumschiffs standen zwei Männer, die in der kühlen technischen Umgebung an Geister der Vergangenheit erinnerten. Karstein, der Nordmann, hatte seine Hünengestalt in Felle gehüllt und umspannte mit der Faust den Griff des mächtigen Langschwertes an seinem Gürtel. Neben ihm starrte Jarlon von Mornag durch den gläsernen Sichtschirm. Jarlon war erst sechzehn Jahre alt, der Bruder des letzten Tiefland-Fürsten: ein schlanker schwarzhaariger Junge mit bronzener Haut, saphirblauen Augen und einem schmalen, harten Gesicht, dem der Überlebenskampf der letzten Monate alle Spuren von Kindlichkeit genommen hatte. Reglos lehnte er an dem weißen Andruck-Sitz und lauschte. Irgendwo außerhalb seines Blickfeldes, auf einem Teil des Raumhafens, den er nicht übersehen konnte, erklang ein dumpfes, orgelndes Geräusch, steigerte sich zum schrillen Heulen, das wie ein Stich ins Hirn fuhr und die Nerven bloßlegte.

»Verdammt«, knirschte Karstein. »Was ist das?«

Jarlon zuckte stumm die Achseln.

Bar Nergal, dachte er. Der Oberpriester aus der Spielzeug-Welt unter dem Mondstein hatte sich nach der Landung auf der Erde mit wenigen fanatischen Anhängern von den übrigen Terranern getrennt. Er fürchtete die Rache des Mars, und er betrachtete den Fürsten von Mornag als seinen Todfeind. Als die »Terra« startete, hatte er nicht zurückbleiben wollen, weil er wusste, dass er allein auf dem toten Planeten verloren war. Als dann die Beiboote der marsianischen Kampfschiffe den ehemaligen Raumhafen von New York anflogen, hatten sich die Priester den Invasoren zu Füßen geworfen. Die Marsianer waren wieder verschwunden - ohne einen Versuch, das Schiff anzugreifen, das mit seinen Energiewerfern über gefährliche Waffen verfügte. Jarlon biss sich auf die Lippen. Er glaubte nicht daran, dass ihre Gegner den Flug vom Mars zur Erde nur unternommen hatten, um Lara Nord, der Tochter des Generalgouverneurs der Venus, die Chance zur Rückkehr zu geben. Aber er wusste auch, dass diese Frage im Augenblick nicht das wichtigste Problem war.

Die Priester hatten Waffen. Schreckliche Waffen aus der Vergangenheit der Erde, zufällig in Kellern und Gewölben unter dem Gebäude entdeckt, das ihnen als Schlupfwinkel diente. Sie konnten nicht damit umgehen, genauso wenig wie die fremdartigen Wesen, die in der toten Stadt lebten und Bar Nergal als Gott von den Sternen verehrten. Bis jetzt jedenfalls hatten sie nicht damit umgehen können, wenn man von den Sprenggranaten absah, deren verheerende Wirkung bereits Menschenleben gekostet hatte. Aber die Marsianer kannten die Waffen, mit denen die Erde vor mehr als zweitausend Jahren von ihren eigenen Bewohnern vernichtet worden war. Die Marsianer mochten ihr Wissen weitergegeben haben - und vielleicht waren sie nicht alle zu ihren Schiffen zurückgekehrt, nachdem Lara Nord sich endgültig geweigert hatte, sie zu begleiten.

Das durchdringende Heulen schwoll an.

Aus dem Schatten eines Gebäudes schoss etwas Silbernes, Langgestrecktes hervor, ein pfeilartiger Umriss. Jetzt löste es sich von dem grauen, teilweise geborstenen Betonboden und stieg wie auf einer Feuersäule reitend in den Himmel. Ein Flugkörper, kleiner als ein Raumschiff oder ein Beiboot, größer als die Jets und Gleiter, die es auf dem Mars gab. Ein bedrohlich glitzerndes Geschoß, wie es Jarlon und Karstein noch nie gesehen hatten.

Der Nordmann schlug mit der Hand auf die Sensortaste des Kommunikators.

»Hardan! Leif!« stieß er hervor. »Aktiviert die Energiewerfer und...«

»Schon geschehen!«

Hardans kantiges, ruhiges Gesicht erschien auf dem Monitor. Der Bildschirm der Überwachungsanlage, von Jarlon hastig eingeschaltet, zeigte die beiden Männer in der Gefechtsstation, jeder an einem kleinen, kompakten Instrumentenblock, aus dem ein kurzer Hebel mit geriffeltem Griffstück ragte. Leifs Gesicht wirkte hart und gespannt unter der dichten blonden Mähne. Hardan biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln hervortraten. Schon einmal hatten sie sich mit den Energiewerfern eines Angriffs erwehren müssen - eines sinnlosen Angriffs, bei dem die Priester einige der fremdartigen, katzenhaften Bewohnerinnen der Ruinenstadt in den Tod gehetzt hatten.

Jarlon atmete auf, als der silberne Flugkörper nach Westen davonzog.

Auch Karstein ließ die Schultern sinken. Aber seine grauen Augen spiegelten mehr Sorge als Erleichterung. Er wusste nicht, wer das seltsame Ding dort oben lenkte und was er vorhatte. Aber er wusste sein ganzes Volk bei den Fischern in der grünen Oase am Meer - ohne Waffen wie die Energiewerfer, mit denen sie sich hätten verteidigen können.

Mit einer zornigen Geste fuhr sich der Nordmann durch das blonde Bartgestrüpp. »Ruf das Beiboot über Funk«, sagte er gepresst. »Wir müssen die anderen warnen. Und dann werden wir herauszufinden versuchen, was da vorgeht.«

 

*

Kräftige Balken stützten die Decke des kleinen, massiven Holzhauses.

An den Fenstern, mit dünner Fischhaut bespannt, tanzten Schneeflocken vorbei. Draußen riefen Stimmen durcheinander: Derek, der kleine, blinde Robin, die Kinder der Fischer. Keiner der Terraner hatte je im Leben Schnee gesehen. Die verwandelte Landschaft war ihnen so fremd, wie es bis vor kurzem auch Ozeane, Urwälder und die Ruinen der großen Städte gewesen waren.

Charru von Mornag lehnte mit dem Rücken an der Tür und beobachtete, wie Lara Nord jedem der Kinder die Kleidung aus leichten Fellen überzog, die sie während des Winters brauchten.

Der Widerschein des Feuers in dem großen, aus Ziegeln gemauerten Kamin erfüllte den Raum mit rötlichen Lichtreflexen. Überall ringsum waren in den letzten, friedlichen Wochen Hütten aus dem Boden geschossen: einfache Unterkünfte, die an die Häuser von Mornag erinnerten, an die Steppen des Mondsteins - jener zerbrochenen Miniatur-Welt, in der die Wissenschaftler des Mars zur Winzigkeit verkleinerte Erdenmenschen wie Tiere in einem Zoo hielten, um sie zu studieren. Einen Augenblick verloren sich Charrus Gedanken in Erinnerungen. Wie wenig Zeit war vergangen seit jenem Tag, als er - von den Priestern gehetzt und in die Enge getrieben - in das schwarze Wasser des Todesflusses gewatet war, um sich in die Flammenwände am Ende der Welt tragen zu lassen. Er hatte sterben wollen und stattdessen eine andere, größere Welt entdeckt. Er hatte sein Volk befreit, der erdrückenden Übermacht der Marsianer getrotzt. Sie waren am Leben geblieben und einen endlosen, verzweifelten Weg gegangen, bei dem sie sich jeden Schritt erkämpfen, jede Atempause mit Blut bezahlen mussten. Und jetzt hatten sie die Erde erreicht, den blauen Planeten, von dem ihre Vorfahren stammten, ihre eigentliche Heimat.

Würden sie endlich in Frieden leben können?

Trotz der Priester, die in den Kellerlöchern der toten Stadt Unheil brüteten? Trotz des Heers mutierter Ratten, der fremdartigen Katzenwesen und ihrer Königin? Trotz der Marsianer, die jederzeit zurückkommen konnten und die Möglichkeit besaßen, die Erde ein zweites Mal zu zerstören?

Die es vielleicht tun würden, weil sie alles fürchteten, was sich nicht der Sklaverei ihrer Wissenschaft, ihres verabsolutierten Staatswesens, ihres Zerrbildes von Sicherheit und Ordnung unterwarf?

Charru biss die Zähne zusammen.

Es war sinnlos zu grübeln. Sie hatten immer mit der Gefahr leben müssen, schon unter dem Mondstein, wo die marsianischen Wissenschaftler Kriege und Katastrophen manipulierten. Sie konnten nichts weiter tun, als aller Bedrohung zum Trotz daranzugehen, ihre eigene Welt zu bauen. Eine Welt, in der ihre Kinder frei geboren werden würden. Auch das Kind, das Lara erwartete, Charrus Sohn, der Erbe der Mornag.

Ein hohes, anschwellendes Heulen riss ihn aus seinen Gedanken.

Rasch wandte er sich um und öffnete die Tür. Lara glitt neben ihn. Draußen auf dem Dorfplatz standen Camelo von Landre und Gerinth, der weißhaarige Älteste, mit ein paar Fischern zusammen. Yattur, der sein Volk anführte, seit sein Vater Yarsol bei dem Angriff der Katzenfrauen umgekommen war. Seine Brüder Yurrai und Yabu, der kaum zwölfjährige Yannay. Gebannt starrten sie zum Himmel, wo ein silbrig glänzender Pfeil immer größer wurde.

Lara zuckte spürbar zusammen.

Als sich Charru umsah, war ihr schmales Gesicht unter dem blonden, helmartig geschnittenen Haar blass geworden. Sie blickte dem Flugkörper nach, der eine lange Schleife über dem Dorf beschrieb und sich dann nach Norden entfernte.

»Ein Flugzeug«, sagte sie tonlos. »Ein Kampfflugzeug aus der Vergangenheit - ich habe Filme und Abbildungen davon gesehen.«

»Und - kann es uns gefährlich werden?«

Sie nickte. Ihre Stimme zitterte.

»Es kann Bomben abwerfen, Charru. Es könnte das ganze Dorf und vielleicht auch die »Terra« zerstören.«

 

*

In die schallisolierte Pilotenkanzel drang das Heulen der Triebwerke nur als dünnes, hohes Vibrieren.

Marius Carrisser kämpfte gegen das Gefühl, in einem fliegenden Sarg zu sitzen. Sein Blick wanderte zu dem jungen Mann, der die Instrumente bediente. Wie hieß er noch? Cris, richtig. Einer der wenigen Bewohner der Ruinenstadt, die menschlich wirkten - Ergebnis eines genetischen Experiments, das marsianische Wissenschaftler vor Jahren bei einer ihrer Forschungsexpeditionen auf die Erde begonnen hatten. Die degenerierte Rasse der Katzenwesen sollte sich aus sich selbst erneuern. Charilan-Chi, menschlich genug, um als Königin über ihren gespenstischen Bienenstaat zu herrschen, paarte sich im Auftrag der »Götter« mit Exemplaren fremder Völker - Männern, die als Sklaven entführt und umgebracht wurden, wenn ihre Aufgabe erfüllt war. Cris hatte das hellblonde Haar seiner Mutter, auffallend schlanke Glieder und schräge topasfarbene Augen. Er und seine Brüder waren intelligent genug, um den Umgang mit Waffen und Flugzeugen zu lernen. Sie waren vor allem gehorsam und wagten nicht, ihre Angst zu zeigen. Die Priester selbst dachten nicht daran, sich der Gefahr auszusetzen. Obwohl es ihr Kampf, ihr Vernichtungsfeldzug war, der hier vorbereitet wurde.

Marius Carrisser wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Es würde gut gehen. Die Maschine flog sich fast von selbst - im Grunde nicht erstaunlich, denn eine Menschheit, die ihre Welt vernichtete, musste über eine sehr fortgeschrittene Technik verfügt haben. Der Junge hatte nicht die Nerven verloren, wie es eigentlich zu erwarten gewesen war, nachdem sich seine Ausbildung bisher ausschließlich am Boden abgespielt hatte. Carrissers verkrampfte Muskeln lockerten sich etwas. Er war sich bewusst, dass er sein Leben riskierte, doch das durfte keine Rolle spielen. Das Leben des einzelnen zählte nicht. Wie jeder Bürger der Vereinigten Planeten war Carrisser verpflichtet, ohne Rücksicht auf seine eigene Person Staat und Gemeinschaft zu dienen. Und er hatte doppelten Grund, diese Pflicht zu erfüllen, da er sich rehabilitieren musste.

Sein kantiges, blasses Gesicht verdüsterte sich bei dem Gedanken an das Fiasko auf Luna.

Als Kommandant der Strafkolonie hatte er es weder geschafft, die Landung der »Terra I« zu verhindern, noch die Rebellion der Häftlinge niederzuschlagen, die in den Bergwerken schufteten. Er war überrumpelt worden, war sich auch heute noch keiner Schuld bewusst. Aber das änderte nichts an der niederschmetternden Tatsache, dass die gesamte marsianische Besatzung samt den Gefangenen, die sich ein Leben in Freiheit nicht vorstellen konnten, den Mond hatte verlassen müssen - davongejagt von einer Horde Barbaren.

Carrisser trug die Verantwortung.

Nach marsianischem Recht hätte er entweder in den unerbittlichen Mühlen der Justiz oder in einer psychiatrischen Klinik stecken müssen, je nachdem, ob man sein Versagen als strafbare Handlung oder Folge einer psychischen Schwäche einstufte. Er musste dankbar sein, dass er stattdessen hier auf der Erde war, im persönlichen Auftrag des Präsidenten der Vereinigten Planeten.

Sein Blick wanderte über das riesige Ruinenfeld, das jetzt wieder näher kam.

Das Gelände des ehemaligen Raumhafens war weitläufig, und doch erfüllte die stumme Gegenwart der »Terra« Marius Carrisser mit Unbehagen. Er wusste sehr genau über die Wirkung der Energiewerfer Bescheid. Damals auf dem Mars war es nicht gelungen, das Schiff am Start zu hindern. Und bei dem Versuch, es zu verfolgen und abzuschießen, hatte die marsianische Kriegsflotte drei Robot-Kampfschiffe verloren - ein Rätsel, das nie völlig geklärt worden war. Carrisser spürte ein leises Frösteln im Nacken. Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf den jungen Mann im Pilotensitz zu richten.

Cris schmales Gesicht hatte sich mit einem dünnen Schweißfilm überzogen.

Unsicher sah er zu seinem Begleiter hinüber. Der ehemalige Luna-Kommandant lächelte beruhigend. Er stammte vom Uranus, doch mit der untersetzten Figur und den kantigen Zügen besaß er nur wenig von der ätherischen Eleganz, die den Menschen seines sonnenfernen Heimatplaneten eigen war.

»Kein Problem«, meinte er. »Eine computergesteuerte Landung ist nicht schwieriger als der Start. Du brauchst nur die Kontrollen zu beobachten und im richtigen Moment den Steuerknüppel zu bewegen.«

»Ja, Herr...«

Der Junge biss sich auf die Lippen und verbarg seine Furcht.

Für ihn hatte dies alles die Dimension des Phantastischen: Er saß an der Seite eines Abgesandten seiner Götter in einer fliegenden Maschine, die ihn wie Zauberei anmutete. Die Maschine gehorchte seinen Händen, und er hatte gelernt, wie man damit Bomben abwerfen konnte - schreckliche Waffen, für den Kampf gegen Fremde bestimmt, die ebenfalls von den Sternen kamen. Waren auch sie Götter? Andere, feindliche Götter? Seinem Volk hatten sie nichts getan - nicht, bevor Bar Nergal befahl, sie anzugreifen. Oder doch: sie hatten Yattur und Yurrai befreit, die Sklaven der Königin. Also mussten sie den Göttern wohl feindlich gesonnen sein, denen das Volk der toten Stadt gehorchte.

Der Junge bemühte sich, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken.

Das weite, schneebedeckte Betonfeld raste auf ihn zu. Jetzt musste er den Steuerknüppel nach vorn drücken, dann das Bremstriebwerk zünden. Die fremden Wörter klangen unheimlich in seinen Ohren. Er verstand die Sprache der Götter, genau wie seine Mutter Charilan-Chi und seine Geschwister. Seit vielen Jahren wurden in der Ruinenstadt die Gesetze befolgt, die die Götter damals bei ihrem letzten Besuch erlassen hatten. Die Katzenfrauen pflanzten sich nicht mehr fort, dienten nur noch der Königin und würden eines Tages aussterben. Die Männer seines Volks waren umgebracht worden, noch bevor Cris zur Welt kam. Er begriff die Gesetze der Götter nicht, aber er hatte nie daran gezweifelt. Bis jetzt. Denn jetzt erschienen ihm diese Götter selbst zu menschlich, um allmächtig und unfehlbar zu sein.

Sekundenlang verkrampften sich seine Muskeln, als das Flugzeug aufsetzte.

Schnee wirbelte hoch, die Räder des Fahrwerks kreischten auf dem Beton. Das Heulen der Triebwerke klang noch in den Ohren, als es längst verstummt war. Der Junge wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er konnte nicht verhindern, dass er am ganzen Körper bebte, doch zugleich erfüllte ihn ein jähes, wildes Gefühl des Triumphes.

»Gut«, sagte Marius Carrisser lächelnd. »Jetzt noch dein Bruder, und dann ist es genug für heute.«

 

*

Innerhalb des letzten intakten Beibootes, das auf einem kleinen Plateau am Rand des Fischerdorfs stand, hielt die Klimaanlage die Temperatur konstant.

Charru hatte die Felljacke über einen Sitz geworfen, während er das Funkgerät bediente. Camelo, Gerinth und Lara kauerten neben ihm. Aus dem Lautsprecher drang ein gedämpftes Summen, dann Karsteins rauer Bass:

»Hier »Terra«! Ich nehme an, ihr habt dieses - dieses Ding ebenfalls gesehen. Wisst ihr, was es ist?«

»Ein Kampfflugzeug.« Charrus Stimme klang beherrscht.

»Ihr dürft es nicht an euch herankommen lassen, Karstein. Zerstört es, wenn es sich der »Terra« nähert! Man kann Bomben damit abwerfen. Wirkungsvollere als die Granaten bei dem letzten Angriff.«

Einen Moment blieb es still.

»Augenblick!« stieß der Nordmann durch die Zähne. Charru wusste, dass er jetzt die Nachricht an die Gefechtsstation weitergab. Nach einer Weile erklang wieder seine Stimme: »Das gibt's doch nicht! Wer, bei den schwarzen Göttern, soll denn diesen Vogel lenken? Bar Nergal etwa?«

»Das weiß ich nicht. Seid ihr ganz sicher, dass das Flugzeug vom Raumhafen aus gestartet ist?«

»Ziemlich sicher«, sagte Karstein zögernd. »Ich habe eine Gruppe losgeschickt, um nachzusehen. Es kam aus einer Ecke, die wir nicht überblicken können.«

Charru grub die Zähne in die Unterlippe.

Die Wachen in der »Terra« waren seit der Landung der marsianischen Beiboote verstärkt worden. Marius Carrisser, der ehemalige Kommandant der Luna-Basis, hatte Lara Nord die Chance bieten wollen, zur Venus zurückzukehren. Eine durchaus glaubhafte Version - glaubhafter, als es auf den ersten Blick aussah. Laras Vater war Generalgouverneur der Venus, und er hatte durch sein Verhalten gezeigt, dass es politische Schwierigkeiten geben würde, wenn seiner Tochter etwas zustieß. Conal Nord gehörte zu den wenigen Bürgern der Vereinigten Planeten, die es von Anfang an nicht selbstverständlich gefunden hatten, ein ganzes Volk einfach auszurotten wie Ungeziefer.

Aber wenn er seine Tochter in Sicherheit wusste, wenn man seinen Bruder auf dem Merkur in Ruhe ließ, sah die Sache vielleicht auch für ihn anders aus. Das jedenfalls mochten Präsident Jessardins Beweggründe gewesen sein, als er Marius Carrisser auf die Erde schickte.

War er wirklich unverrichteter Dinge zum Mars zurückgekehrt?

Hatte es Bar Nergal dann geschafft, die Priester so weit zu bringen, sich einer der Maschinen anzuvertrauen, vor denen sie abergläubische Furcht hegten?

Charru warf mit einem Ruck das lange schwarze Haar zurück. Seine saphirfarbenen Augen verengten sich.

»Wir kommen mit dem Beiboot hinüber«, entschied er. »Ich will wissen...«

Das anschwellende Heulen unterbrach ihn, das plötzlich wieder in der Luft hing.

Durch die Kuppel des Beibootes konnte er den silbernen Pfeil sehen, der zum zweiten Mal über den Himmel zog. Schnell. So schnell, dass die Insassen von dort oben vielleicht gar nicht erkannten, was unter ihnen hinwegglitt. Es mochte Zufall sein, dass sie das Dorf überflogen. Aber das konnte sich schon beim nächsten Mal ändern. Und gegen einen Angriff aus solcher Höhe halfen vielleicht die Energiewerfer der »Terra«, aber bestimmt nicht die Lasergewehre.

Mit einer hölzernen Bewegung hakte Charru das Mikrophon zurück in die Halterung.

Er starrte dem Flugzeug nach. Bar Nergal, dachte er. Eine neue Teufelei... Die Priester würden niemals Ruhe geben. Deutlich glaubte er, das fahle Totengesicht unter dem kahlen Schädel vor sich zu sehen, die strichdünnen Lippen, die fanatisch glühenden Augen, und er brauchte Sekunden, um den Zorn zu bezwingen, der ihn packte.

»Wir starten sofort«, sagte er knapp. »Camelo, du benachrichtigst Gillon, Beryl und Brass. Und nehmt Lasergewehre mit - ich möchte keine böse Überraschung erleben.«

 

 

II

Sie hatten den neuerlichen Start des Flugzeugs abgewartet, bevor sie die »Terra« verließen.

Der schwarzhaarige, schweigsame Kanon übernahm die Führung. Erein, mit dem feuerroten Haar und den grünen Augen der Tareth-Sippe seinem Vetter Gillon fast zum Verwechseln ähnlich, trug das zweite Lasergewehr an der Schulter. Jarlon von Mornags Gesicht spiegelte die Wut, die es empfand. Er war jung und hitzköpfig, ihm fiel es am schwersten, den Hass gegen die Priester zu bezähmen. Und den Hass auf diese ganz unheimliche Totenstadt, deren mutierte Ratten vor seinen Augen das Mädchen zerrissen hatten, dem seine erste, stürmische Zuneigung galt.

Kormak, einer der hünenhaften Nordmänner, ließ den Blick beständig über die Trümmerlandschaft gleiten, die das weite Areal des Raumhafens begrenzte.

Keiner der Terraner hielt sich gern hier auf. Die Ratten - wolfsgroße Bestien, die den Kriegerinnen der toten Stadt gehorchten - waren nicht die einzige Gefahr, die in zerstörten Gebäuden und stinkenden Kellerlöchern lauerte. Zwei Jahrtausende hatten fremdartige, bedrohliche Mutationen hervorgebracht: Riesenspinnen, giftige Insekten - und sicher manches mehr, wovon die Söhne der Erde im Moment noch nichts ahnten.

Sie wussten sich zu wehren.

In der Oase am Meer waren Tier- und Pflanzenwelt überraschend vertraut. Hier in den Ruinen beschränkten sich die Wachen meist auf die unmittelbare Umgebung der »Terra». Sie wollten keine Auseinandersetzung mit den Katzenwesen, mit der goldhaarigen Königin Charilan-Chi oder ihren Söhnen und Töchtern, die alle gleichermaßen von Bar Nergal als Werkzeuge missbraucht wurden. Aber sie wussten, dass sie den Priestern nicht trauen durften. Zweimal hatte Bar Nergal in blinder Rachsucht zugeschlagen. Erst ein Angriff auf das Dorf, der Fürst Yarsol das Leben kostete. Dann der Versuch, die »Terra« in die Luft zu sprengen, den sie mit den Energiewerfern abwehren mussten. Kormak schauerte, als er an das schreckliche Ende jenes Angriffs dachte. Zum hundertsten Mal fragte er sich, was den Oberpriester so unversöhnlich machte. Niemand hatte ihm etwas getan, niemand hatte Rache genommen für die Jahre des Terrors. Nur Bar Nergals Macht war zerbrochen - damals, als Charrus Schwert den Marsianer in der Maske des Schwarzen Gottes tötete und ein Lasergewehr die Welt unter dem Mondstein, ihre Welt, in einen Scherbenhaufen auf dem Boden eines Museumssaals verwandelte.

»Das Flugzeug ist von dort gekommen«, stellte Erein mit einer Kopfbewegung fest. »Wahrscheinlich hat es in einer der Hallen da drüben gestanden.«

»Oder in einem unterirdischen Gewölbe«, verbesserte Konan. »Wir haben die Gebäude gründlich genug durchsucht, um ein Ding von dieser Größe nicht zu übersehen.«

Erein zuckte die Achseln. »Wir haben noch ganz andere Dinge übersehen.«

»Und wir hätten besser daran getan, den Schlupfwinkel der Priester in Trümmer zu legen und sie gefangen zu nehmen«, knurrte Jarlon. »Oder umzubringen!« Er presste die Lippen zusammen und warf den anderen einen trotzigen Blick zu.

»Wir wollen Frieden«, sagte Konan mit einem Unterton von Müdigkeit.

»Und haben wir Frieden? Hat Charilan-Chis Volk Frieden? Oder Yatturs Volk? Die Priester werden uns bedrohen, solange sie leben.«

»Das gleiche behaupten die Marsianer von uns. So einfach ist das nicht, Jarlon... Passt auf! Ratten!«

Konan war stehengeblieben.

Die drei anderen spähten aufmerksam in den Schatten zwischen ganz oder teilweise zerstörten Gebäuden. Vor dem Glitzern des Schnees waren die lauernden, grauen Umrisse deutlicher als sonst zu erkennen. Bisher hatten die mutierten Ratten nur den Schlupfwinkel der Priester bewacht, doch der lag in einiger Entfernung, auf der anderen Seite der breiten Betonbahn, wo sie das Flugzeug zuerst gesehen hatten. Sie mussten wissen, ob es tatsächlich hier gestartet war oder vielleicht von einer marsianischen Basis irgendwo außerhalb ihres Gesichtskreises. Die Ratten sprachen für die erste Möglichkeit. Erein ließ entschlossen das Lasergewehr von der Schulter gleiten und nickte den anderen zu.

»Vorsicht«, warnte Konan. »Vergesst nicht, dass sie uns mit Sprenggranaten bewerfen können.«

»Das werden sie nicht wagen. Weil sie nämlich genau wissen, dass Charru sie dann mit allem angreifen würde, was wir haben.«