Band 25 - Das Reich der Zeitlosen

 

Söhne der Erde

von S. U. Wiemer

ISBN: 9783832852146

© 2013 by readersplanet


 

 

Inhalt

I      4

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

 

I

In der Tiefe des Berges erklang ein metallischer Laut. Von den Tunnelwänden kam das singende Vibrieren als Echo zurück. Laufräder surrten. Emsig klickten Gelenke, summten Drähte und Leitungen. Detektoren nahmen Impulse auf. Der programmierte Tod setzte sich in Bewegung...

Jenseits des Tors, das den Tunnel verschloss, begann eine andere Welt.

Wie eine Oase in der Wüste lag das Tal inmitten der endlosen, von abgestorbener Vegetation bedeckten Hügel. Ein Gleiter glänzte silbern im harten weißen Licht der Sonne. Die beiden Menschen - Fremde auf dem verwüsteten Planeten und zahllose Lichtjahre von ihrer Heimatwelt entfernt - hatten sich in den Schatten wuchernder grüner Pflanzen zurückgezogen, die sie an die Bäume von Terra erinnerten.

»Wir müssen zurück«, murmelte Katalin. »Die anderen werden uns vermissen.«

Mark Nord lächelte und strich über ihr langes blondes Haar.

Ihm gefiel der Platz. Verrückt, dachte er. Ein Barbarenmädchen und ein venusischer Rebell auf einem Planeten, wer weiß wo. Im All verirrt, von den Behörden des Sol-Systems gejagt, ohne Zukunft. Und glücklich...

»Glaubst du wirklich, dass wir je wieder nach Hause finden?« fragte Katalin, als habe sie seine Gedanken gelesen.

Er zuckte mit den Achseln. »Die Robot-Sonden der Maschinenwelt haben seit Jahrhunderten alle möglichen Systeme angeflogen, um auf Spuren von Leben zu stoßen. Vielleicht war Sol dabei. Vielleicht finden wir die Koordinaten in den Datenspeichern der Computer oder...«

Er unterbrach sich.

Deutlich hatte er das Knirschen gehört, das durch die friedliche Geräuschkulisse aus plätschernden Quellen, summenden Insekten und leisem Wind in den Grashalmen schnitt. Ein Knirschen, das er kannte. Überall an den wenigen Plätzen regenerierter Natur gab es Tore in das unterirdische Tunnelsystem. Jenseits des Buschgürtels hatte sich eins dieser Tore geöffnet.

»Wir bekommen Besuch«, sagte Mark gedämpft.

Katalin richtete sich auf und strich ihre Tunika glatt. Sie rechnete damit, den einen oder anderen ihrer Gefährten zu sehen, die wie sie und Mark mit der beschädigten »Kadnos« auf dem Robot-Planeten gelandet waren. Die Maschinenwelt bot keine Gefahr mehr, seit Jiri Abako, der letzte Überlebende einer untergegangenen Zivilisation, in seinem eisigen Sarg aus dem Kälteschlaf erweckt worden war.

Wirklich keine Gefahr?

Katalin runzelte die Stirn beim Anblick der Maschine, die mit rollenbewehrten Säulenbeinen Gras und Buschwerk niederwalzte. Sie war kein Roboter wie die anderen, die überall auf dem Planeten rastlos arbeiteten. Auch keiner der Kyborgs, die Jiri Abako aus den Gehirnen seiner todgeweihten Freunde geschaffen hatte und die vernichtet worden waren. Wozu dienten die gekrümmten Messer, die wie Finger an den kräftigen, beweglichen Armen mit den sechs Kugelgelenken saßen? Wozu die Metallrohre rings um den quadratischen Kopf? Wozu die stachelartigen Auswüchse, die böse sirrenden Tentakel, die gleißenden Scheiben, die an die Blätter von Kreissägen erinnerten?

Mark hatte sich aufgerichtet.

»Verdammt«, knirschte er. »Das sieht gefährlich aus.«

Katalin biss sich auf die Lippen. »Aber es gibt keine Kampfroboter mehr auf dem Planeten! Die wenigen, die der Verräter-Kyborg konstruiert hat, wurden zerstört. Und die Düsen mit dem Giftnebel, die uns im Anfang gefährlich geworden sind, waren keine Waffen, sondern nur dafür bestimmt, die Killermikroben zu vernichten.«

Die junge Frau verstummte, weil der unaufhaltsam näher rückende Roboter sie an ihren eigenen Worten zweifeln ließ.

Mark sprang auf die Beine und tastete mit der Hand zum Gürtel. Ein unterdrückter Fluch kam über seine Lippen. Natürlich, er hatte den Laser nicht bei sich. Wozu auch Waffen auf dieser Welt, die sie seit dem Tod des Verräter-Kyborgs für sicher und friedlich hielten?

Jetzt brach der Roboter durch die letzten Sträucher.

Wie ein drohender Gigant stand er da, Symbol pervertierter Technik - eine sinnlose Kampfmaschine in einer summenden, blühenden Brutstätte des Lebens, die ebenfalls sinnlos geworden war. Das Leben auf diesem Planeten besaß keine Zukunft mehr. Nur Roboter konnten hier auf Dauer existieren, und sekundenlang hatte Mark das irrsinnige Gefühl, als stehe dort im Licht der weißen Sonne die Verkörperung all der Tausende von Maschinen, um Anspruch auf eine Welt zu erheben, die durch ihre eigenen Bewohner zerstört worden war...

»Mark! Vorsicht!«

Katalins Stimme gellte. Um eine Winzigkeit früher als er hatte sie bemerkt, wie eine der fingerlangen Rohrmündungen in ihrer Verankerung geschwenkt wurde. Blaugleißende Blitze zuckten. Mark warf sich zur Seite, riss Katalin mit, stieß sie instinktiv in die Deckung eines Felsens.

Deckung?

Mit einem Schauer erinnerte sich der Venusier an die geschmolzenen Metallklumpen und die verwüsteten Räume, als der Verräter-Kyborg zugeschlagen hatte - jenes kranke, besessene Gehirn, der Messias der Maschinen. Dampf zischte, wo die blauen Blitze auf Gras und Gestein trafen. Mark packte Katalins Arm und schob sie hinter sich.

»Lauf!« flüsterte er.

»Nein, Mark, ich...«

»Lauf! In den Tunnel! Nimm einen Stein und zertrümmere das nächstbeste Schaltfeld. Du musst Alarm auslösen.«

Katalins bernsteinfarbene Augen schimmerten.

Einen Herzschlag lang zögerte sie, dann wandte sie sich rasch ab. Leichtfüßig turnte sie über die Felsen hinweg, rannte quer über den grasbewachsenen Hang, um die Steilwand hinter der Buschkette zu erreichen. Mark richtete sich auf. Sein Herz hämmerte hoch in der Kehle. Er sah, wie die Maschine gleichsam unschlüssig den kantigen Metallschädel drehte. Er musste sie aufhalten.

Langsam glitt er nach links, die Augen starr auf die fingerlangen Rohre gerichtet. Aber jetzt rührten sie sich nicht mehr, wurden sogar lautlos ein Stück eingezogen. Mark wollte schon aufatmen, doch die nächste Sekunde bewies, dass er dazu keinen Grund hatte.

Surrend begannen sich die gleißenden Sägeblätter zu drehen.

Messer klickten. Dünne Tentakel peitschten, die stachelförmigen Auswüchse krümmten sich gegeneinander, klirrten, schnappten zu wie die Fänge von Raubtieren.

Mark Nord presste den Rücken gegen den Felsblock und suchte vergeblich nach einem Weg, das Verhängnis abzuwehren.

 

*

Die Computerzentrale lag tief unter dem Boden Die Infrarot-Augen der Kyborgs hatten kein Licht gebraucht. Trotzdem gab es eine Beleuchtungsanlage. Jiri Abako, der letzte Überlebende des Planeten, war kein Mensch, doch er war den Menschen in vielem ähnlich.

Genauso, wie sein Volk den Menschen geähnelt hatte.

Die Ureinwohner des Robot-Planeten hatten ihre Welt zerstört, wie die Menschen vor mehr als zweitausend Jahren die Erde zerstörten. Dort war es ein Krieg gewesen, hier die zufällige Freisetzung von Killer-Mikroben. Jiri Abako hatte ein Gegenmittel entwickelt, doch er konnte niemandem mehr helfen, als er nach dem entscheidenden Selbstversuch aus der Bewusstlosigkeit erwachte. Seine wenigen schon todgeweihten Freunde verwandelte er in Kyborgs. Sich selbst versetzte er in einen jahrhundertelangen Kälteschlaf. Und unterdessen versuchten Roboter, die Natur zu regenerieren und das Leben neu zu wecken, beherrschten Maschinen den Planeten, flogen unbemannte Raumschiffe ins All hinaus, um intelligente Wesen zu finden, die dem Herrn der Robot-Welt ähnelten.

Die Menschen der »Kadnos« waren von selbst gekommen, während ihrer Irrfahrt ins Nirgendwo zu dem zerstörten Planeten verschlagen. Sie hatten verhindert, dass sich ein krankes, verräterisches Gehirn zum Messias der Maschinen aufschwang. Sie konnten nichts daran ändern, dass die unglücklichen Kyborgs getötet wurden, doch sie weckten Jiri Abako aus dem Kälteschlaf. Nur er hatte die völlige Kontrolle über die Armee der Roboter, die einem einzigen Zweck diente: Die Voraussetzungen für neues Leben zu schaffen. Aber er wusste auch, dass ihm allein keine Chance blieb, dass sein Volk für immer verloren war. Jiri Abako hatte sich entschlossen, die Terraner auf ihrer Odyssee durch die Tiefen der Galaxis zu begleiten.

Sein weißes, fremdartiges Gesicht wirkte gespannt, während er sich in einem der Schalensitze zurücklehnte.

Neben ihm stützte sich Charru von Mornag auf die Kante des Computerterminals. Er trug eine marsianische Tunika, aber das Kleidungsstück konnte die geschmeidige Kraft seines Körpers nicht verbergen. Schwarzes Haar fiel ihm auf die Schultern, in dem harten bronzenen Gesicht hatten die Augen das durchdringende Blau von Saphiren.

Abako sah ihn an.

»Ich verstehe es nicht«, sagte er langsam. »Ihr seid vom gleichen Volk und seid es doch nicht? Und sie sperrten euch jahrhundertelang in einen Käfig, um euch zu studieren?«

Charru zuckte die Achseln. »Unsere Heimat, die Erde, wurde durch einen Krieg zerstört. Ein paar Überlebende retteten sich auf Nachbarplaneten und bauten eine neue Zivilisation auf. Sie wollten nie mehr Krieg, gründeten einen Staat der Gewaltlosigkeit - aber die Menschen mussten den Frieden mit absolutem Gehorsam bezahlen, mit Sklaverei. Mein Volk stammt von der Rasse ab, die sich zweitausend Jahre nach der Katastrophe wieder auf der Erde entwickelte. Die Marsianer wollten Krieg und Gewalt studieren, um in ihrer Welt den Anfängen wehren zu können. Also fingen sie auf Terra ein paar Menschen ein wie wilde Tiere, verkleinerten sie mit wissenschaftlichen Mitteln zur Winzigkeit und sperrten sie in eine Miniaturwelt unter einer Kuppel aus Mondstein.«

»Aber das ist - unmenschlich«, sagte Jiri Abako leise.

Charru lächelte matt. Er fand es erstaunlich, wie gut der Fremde in der kurzen Zeit die Sprache des Sol-Systems gelernt hatte.

»Unmenschlich, ja. Niemand von uns ahnte, dass wir nur Spielzeug waren, zu Versuchsobjekten erniedrigt. Eines Tages fanden wir den Weg in die Außenwelt. Aber wir waren Barbaren, Jiri, ein Volk, dem man keine Wahl gelassen hatte, als mit dem Schwert in der Faust um sein Überleben zu kämpfen.«

»Sie verfolgten euch?« fragte der Herr des Robot-Planeten hellsichtig.

»Sie verfolgten uns, als seien wir reißende Bestien, die ausgerottet werden mussten«, bestätigte Charru. »Sie haben eine perfekte Technik, genau wie Ihr Volk, und sie haben überlegene Waffen. Aber sie waren nicht mehr gewohnt zu kämpfen. Wir wollten unsere Freiheit. In Frieden - aber sie ließen uns diesen Frieden nicht.«

»Und wie kommt ein Volk von Barbaren zu einem Überlichtschiff?« fragte Jiri Abako mit einem leisen Lächeln.

Charru zog die Schultern hoch.

Sekundenlang überwältigte ihn die Erinnerung. Die uralte »Terra«, die sie vom Mars zur Erde gebracht hatte... Die Begegnung mit Mark Nord und seinen Rebellen in der Strafkolonie von Luna... Der Kampf um den Merkur, auf den sie geflohen waren, als die Marsianer einen tödlichen Kohlendioxydring in die Atmosphäre der Erde legten...

»Wir hatten keine Chance«, sagte der schwarzhaarige Barbarenfürst leise. »Die Kriegsflotte der Vereinigten Planeten besetzte Merkur. Unser Volk deportierte man in ein Straflager auf dem Uranus. Zehn sogenannte Rädelsführer stellte man vor Gericht...«

»Ihr seid mehr als zehn«, sagte Jiri Abako.

»Natürlich. Wir allein hätten kein Überlichtschiff fliegen können Wir haben die »Kadnos« auf dem Mars gekapert und die Besatzung gezwungen, blindlings in den Hyperraum zu fliehen, bevor man uns abschießen konnte. Seither irren wir durch die Galaxis. Und ob wir je den Weg zurück finden...«

»Was nützt es euch, wenn ihr ihn findet?«

Charru schwieg.

Sein Blick glitt über die grauen Terminals und Datenbänke. Nur das leise Summen der Geräte hing in der Luft. Hatten die anderen zugehört? Ein paar von Mark Nords Freunden konzentrierten sich auf die Sichtschirme mit den integrierten Sprachdecodern. Die ehemaligen Merkur-Siedler waren Rebellen, Ausgestoßene genau wie die Terraner. Aber sie waren auch Bürger der Vereinigten Planeten, hochqualifizierte Spezialisten, und die fremdartige Technik gab ihnen weniger Rätsel auf als den anderen.

»Ich weiß nicht, ob es uns nützt«, sagte Charru langsam. »Wenn wir zurückkehren, wird man uns genauso jagen wie vorher. Aber unsere Freunde vegetieren auf dem Uranus in einem Internierungslager. Haben nicht auch Sie das Unmögliche versucht, um Ihr Volk zu retten?«

Abakos Blick ging ins Leere. »Ja... Ich habe alles versucht... Vergeblich...«

»Charru?« sagte Raul Madsen leise.

Der Barbarenfürst wandte den Kopf.

Madsen hatte sich an einem der Sichtschirme aufgerichtet. Der alte Merkur-Siedler war fast siebzig Jahre. Zweimal hatte ihn das marsianische Hochgericht zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, und zwanzig Jahre Luna lagen hinter ihm. Aber in seinen hellen Augen brannte immer noch jugendliches Feuer.

Jetzt allerdings hatten sich diese Augen verdunkelt.

»Zwecklos«, sagte er. »Die Koordinaten des Sol-Systems sind nicht gespeichert.«

»Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Wir haben einen Sprachdecoder mit dem Computer verbunden. Es dauert nicht lange, Fragen zu programmieren und die entsprechenden Antworten zu bekommen.«

Charru biss die Zähne zusammen. »Also kein Irrtum möglich?«

»Kein Irrtum möglich. Du weißt von Jiri, dass es keinen Geheimcode oder etwas Ähnliches gibt. Die Robot-Sonden haben Tausende von Sonnen angeflogen, aber nicht Sol.«

Charru brauchte einen Moment, um sich mit der nackten, unumstößlichen Tatsache abzufinden.

Jiri Abako sah ihn zweifelnd an. »Ist es wirklich so schlimm für euch, nicht zurückzufinden?«

»Ja, das ist es. Wir können nicht für alle Ewigkeit durch die Galaxis irren, Jiri. Wir müssen...«

Charru verstummte.

Auf einem der Kontrollgeräte flackerte plötzlich ein rotes Licht. Dane Farr, der hagere marsianische Militärexperte, wirbelte auf dem Absatz herum.

»Alarm in Sektor 30«, stieß er hervor. »Sie haben zwar gesagt, es ist unmöglich, Jiri, aber ich glaube, dass da einer der Roboter verrücktspielt.«

 

*

Die Leuchtwände erfüllten das große Laboratorium mit sanftem, kühlem Licht.

Lara Nord kontrollierte die Zeituhr und blickte auf die Reagenzgläser im Brutofen. Noch zwanzig Minuten, stellte sie fest. Ein entscheidendes Experiment. Es würde erweisen, ob der chemische Stoff, den sie entwickelt hatten, tatsächlich in der Lage war, Biomasse zur verstärkten Bindung von Kohlendioxyd anzuregen.

Lara dachte an die Erde, die unter dem Einfluss der Kohlendioxyd-Anreicherung in der Atmosphäre langsam den Hitzetod starb.

Ein ganzer Planet! All die jungen intelligenten Rassen, die sich keines anderen Verbrechens schuldig gemacht hatten, als dass sie existierten und von den Bürgern der Vereinigten Planeten als Bedrohung betrachtet wurden. Nicht schon immer. Erst seit die Barbaren aus der Mondstein-Welt nach Terra geflohen waren, seit die verräterischen Priester in den Ruinen der Totenstadt New York ihre Terrorherrschaft errichteten und eine Atombombe aus der Vergangenheit der Erde explodierte. Lara schauerte. Sie hatte die Ereignisse miterlebt. Sie wusste, dass es Unschuldige waren, die getroffen wurden.

Noch vor ein paar Jahren, dachte sie, hätte die Tatsache sie kaum berührt.

Damals war sie eine normale Bürgerin der Vereinigten Planeten gewesen. Studentin in Kadnos, Tochter des Generalgouverneurs der Venus, durch ihren überragenden Intelligenzquotienten berechtigt, in die Elite der Gesellschaft aufzusteigen. Und heute? Offiziell besaß sie wieder alle ihre Rechte, doch der Bruch in ihrem Leben ließ sich nicht rückgängig machen. Sie war die Frau Charru von Mornags, hatte ein Kind von ihm und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu ihm zurückzukehren.

Einen Moment lang glaubte sie, das harte bronzene Gesicht mit dem schwarzen Haar und den saphirblauen Augen ganz deutlich vor sich zu sehen.

Fast zwei Jahre hatte sie mit ihm zusammengelebt, zuerst auf dem Mars in dem Labyrinth unter der Sonnenstadt, wo die Herren der Zeit ihre geheimnisvolle Existenz führten, dann an Bord der alten »Terra« und später auf der Erde. Der Kommandant eines von den Barbaren gekaperten marsianischen Schiffs hatte sie entführt und gegen ihren Willen zurück nach Kadnos gebracht. Dass man ihr nicht den Prozess machte, verdankte sie der Tatsache, dass ihr Vater Generalgouverneur der Venus war. Und jetzt beendete sie ihr Studium an der Universität von Indri, der Hauptstadt ihres Heimatplaneten.

Aber nicht, um wieder zu werden, was sie früher gewesen war.

Nur aus einem Grund hatte sie sich scheinbar angepasst und aufgehört, gegen ihr Geschick zu rebellieren: Weil sie hier die Chance hatte, künstlich erzeugte Klimaveränderungen zu erforschen - und vor allem die mögliche Umkehrung des Vorgangs. Lara konnte und wollte sich nicht damit abfinden, dass die Erde endgültig verloren war. Offiziell galt ihr Forschungsprogramm dem Ziel, die wissenschaftlichen Grundlagen für Klimaexperimente auf den kalten Jupiter-Monden zu erarbeiten. In Wahrheit hoffte sie immer noch auf ein Wunder, auf die Erfüllung des Traums, dass Terra eines Tages wieder zur Heimat für die Menschen aus der Mondstein-Welt werden würde.

»Lara?«

Die Stimme hinter ihr klang ruhig und nüchtern. Lara lächelte, als sie sich David Jorden zuwandte. Der junge Wissenschaftler vom Jupiter war an Bord des Forschungsschiffes gewesen, das sie zurückgebracht und ursprünglich die Aufgabe gehabt hatte, die Klimaveränderungen auf der Erde zu studieren. Sie wusste, dass er sie liebte. Nach dem Prozess gegen Charru, Mark und die anderen sogenannten Rädelsführer war es David Jorden gewesen, der Lara dabei geholfen hatte, den Gefangenen die Flucht zu ermöglichen. Nicht einmal ihr Vater hätte das getan, obwohl er Charru als Laras Mann akzeptierte, die Angeklagten persönlich verteidigt hatte, und obwohl Mark Nord, der Anführer der Merkur-Siedler, sein Bruder war.

Laras Lächeln wirkte ein wenig unsicher, als sie neben Jorden zu der Reihe großer Aquarien trat. Ihr Blick hing an den verschiedenen Wasserpflanzen, an den herumflitzenden Fischen, an den perlenden Sauerstoffbläschen.

»Ich hoffe, dass es klappt«, sagte sie leise. »Wir haben Fortschritte gemacht. Aber wenn ich daran denke, dass wir unsere Experimente auf die gigantischen Ausmaße der irdischen Ozeane übertragen müssen...«

»Eine Frage der Größenordnung.« Jorden zuckte die Achseln und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das dichte sandfarbene Haar. »Wenn wir den richtigen Stoff haben, wird es nicht schwer sein, ihn in entsprechenden Mengen herzustellen. Das Prinzip ist nicht neu. Die Menschen fürchteten schon vor der Großen Katastrophe, dass ihre Atmosphäre eines Tages zu viel Kohlendioxyd enthalten könnte. Und schon damals schwebte ihnen als Lösung eine gezielte Vermehrung der Biomasse in den Ozeanen vor. Das eigentliche Problem besteht darin, die Behörden zu überzeugen.«

Lara biss sich auf die Lippen. Sie wusste, die Behörden würden sich nie zu einem Rettungsversuch für die Erde bereitfinden.

»Oder die Behörden zu umgehen«, sagte sie leise.

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Ich weiß es nicht, David. Ich weiß nur, dass ich es versuchen muss, wenn es nicht anders geht. Charru wird zurückkommen. Die Terraner werden sich nicht für alle Ewigkeit auf dem Uranus einsperren lassen. Die Erde ist ihre Heimat. Unsere Heimat. Irgendwann werden wir wieder dort leben, David. Irgendwann...«

Er antwortete nicht.

Er wusste, dass es ein Traum bleiben würde, aber er brachte es nicht fertig, das auszusprechen. Abrupt wandte er sich ab - und dabei fiel sein Blick auf die offene Tür des Labors.

Der Mann, der im Rahmen stand, hieß Marek Koslow und gehörte zu den Professoren der Universität.

Stand er schon lange dort? Hatte er das Gespräch belauscht? David verbarg seinen Schrecken. Er lächelte höflich.

»Guten Tag, Professor Koslow. Sie sind an unseren Experimenten interessiert?«

Der hagere Mann mit der scharf gebogenen Nase nickte. Seine Augen verrieten nicht, was er dachte.

»Sehr interessiert«, bestätigte er. »Ökologie ist auch mein Fachgebiet. Ich würde gern etwas mehr über Ihr Programm erfahren.«

 

*

Das Tor!

Schließ das verdammte Tor!

Mark Nord schrie die Worte nur in Gedanken, weil er wusste, dass Katalin ihn nicht hören konnte. Immer noch presste er den Rücken gegen den sonnendurchglühten Felsen. Messer klickten, Sägeblätter rotierten mit hohem, bösartigem Pfeifen. Der Kampfroboter rückte näher, unaufhaltsam.

Mit einem verzweifelten Sprung warf sich Mark zur Seite. Er wollte rennen, fliehen, das metallene Monster von Katalin ablenken, doch er schaffte es nicht. Einer der dünnen Tentakel zischte durch die Luft. Wie eine Peitschenschnur wickelte er sich um das Bein des blonden Venusiers und brachte ihn zu Fall. Mark schrie leise auf und versuchte, sich auf den Rücken zu wälzen. Der zweite Tentakel traf ihn quer über der Brust, zerriss Kleidung und Haut, jagte eine Schmerzwelle durch seinen Körper. Schon funkelten die Messer dicht vor seinen Augen. Mit einer wilden Bewegung zog er die Beine an und rammte die Absätze gegen den Leib der Maschine.

Ein scharfes Knacken.

Für Sekunden stockten die rollenden Laufräder, wurden die Tentakel eingezogen. Mark sprang auf die Füße, und diesmal gelang es ihm, genug Abstand zwischen sich und den Roboter zu bringen.

Was jetzt?

Der Venusier überlegte fieberhaft, während er keuchend über den Hang stolperte. Den Gleiter nehmen? Nein, dann würde sich die Maschine an Katalin halten. Ein Schockstrahler hätte genügt, ein einziger kleiner Handlaser. Fluchend erreichte Mark den Hügelkamm, warf den Kopf herum und starrte auf das Wesen, das ihm inmitten einer wirbelnden Staubwolke nachkam.

Wie schnell konnte es werden?

Mark wusste es nicht, aber er wusste, dass er keine Wahl hatte. Mechanisch war er weitergelaufen, tiefer in die endlose gelbbraune Wüste. Unter seinen Füßen knirschte und raschelte das tote Gras, das rasch jeden Pflanzenwuchs erstickt hatte, als es nicht mehr von Bakterien zersetzt und in Humus verwandelt wurde. Die Bakterien waren dem Gift zum Opfer gefallen, das die Roboter im Kampf gegen die Killermikroben einsetzten. Nur einzelne sorgsam gehütete Stämme hatten in unterirdischen Laboratorien überlebt, dazu bestimmt, von wenigen kleinen Oasen ausgehend, die Natur des Planeten zu regenerieren.

Das alles schoss Mark durch den Kopf, während er verzweifelt sein Tempo steigerte.

Das Surren der Laufräder hinter ihm schien sich wie ein glühender Nagel in sein Gehirn zu bohren. Wieder warf er den Kopf herum. Der Roboter holte auf, kam unentrinnbar näher. Marks Muskeln verkrampften sich, als er begriff, dass er die Maschine nicht abhängen konnte.