Band 26 - Neue Heimat Terra

 

Söhne der Erde

von S. U. Wiemer

ISBN: 9783832852153

© 2013 by readersplanet


 

 

 

Inhalt

I      4

II

III

IV

V

VI

VII

I

Das Patrouillenschiff bewegte sich auf der Bahnhöhe des Pluto.

Ortungsstrahlen griffen ins All hinaus. Hochempfindliche Detektoren lauschten, registrierten, lieferten Daten an den Bordrechner. Der Widerschein der Instrumentenbeleuchtung erfüllte die Kanzel. Gelangweilt lehnte der wachhabende marsianische Offizier im Andrucksitz und beobachtete die Kontrollen.

Er tat es, weil es seine Pflicht war, nicht weil er auch nur träumte, dass sich Dunkelheit und Leere ringsum jemals verändern würden.

Die Plutobahn markierte die äußerste Grenze des Sonnensystems, auf das sich die Raumfahrt der Vereinigten Planeten strikt beschränkte. Draußen gab es nur noch das absolute Nichts. Die Patrouillen richteten sich gegen eine hypothetische Bedrohung, gegen einen Angriff aus dem All. Jene vage, unwahrscheinliche Möglichkeit, der auch die Kriegsflotte der Föderation ihre Existenz verdankte.

Der Wachhabende verfolgte mit müden Augen die Daten auf den Schirmen.

Und so bemerkte er auch nicht sofort, dass die Tiefenortung ansprach. Erst das aufgeregte Flackern roter Kontrollleuchten ließ ihn zusammenfahren. Heftig blinzelte er, um den Schleier vor seinen überanstrengten Augen zu vertreiben.

- unbekanntes fliegendes objekt in der tiefenortung - analyse: überlichtschiff nach transit aus dem hyperraum - entfernung...

Ungläubig starrte der Marsianer auf die Informationen, die auf dem Schirm erschienen.

Unmöglich, dachte er. Kein Überlichtraumer flog je über die Plutobahn hinaus. Der Computer musste sich irren...

Aber Computer irrten nicht!

Der marsianische Offizier sog scharf die Luft ein. Sein Blick zuckte zum Ortungsschirm, erfasste den winzigen leuchtenden Punkt, der sich scheinbar unendlich langsam bewegte. Vor einer halben Minute war er noch nicht dort gewesen.

Das Objekt musste aus dem Hyperraum in den Normalraum gestürzt sein. Also musste es sich auch um ein Schiff handeln und nicht um einen Meteoriten oder was sich sonst unter dem Begriff »unbekanntes fliegendes Objekt« verbergen konnte.

Und doch gab es keine Schiffe jenseits der Plutobahn!

Der Marsianer grub die Zähne in die Unterlippe, bis er scharfen Schmerz spürte. Sein Gehirn war nicht daran gewöhnt, mit Widersprüchen und Unmöglichkeiten fertig zu werden. Er dachte an den Fall X, den Angriff einer fremden Rasse. Aber auch diese Vorstellung war so phantastisch, dass sie ihn nicht einmal wirklich erschreckte.

Er starrte immer noch ungläubig auf das Objekt in der Ortung, während er mechanisch den Bordkommunikator einschaltete, um den Kommandanten des Patrouillenschiffs zu alarmieren.

 

*

Sol...

Ein kleiner weißer Ball auf dem Außenschirm, sehr fern. Schwach leuchtende Planeten, denen die Sonne ihr Licht lieh. Pluto unsichtbar, Neptun ein Schemen, der gigantische Uranus nicht größer als die Spitze einer Nadel. Saturn, Jupiter und das innere System lagen zu weit entfernt, um optisch erfasst zu werden. Die Schwärze des Alls verbarg sie. Mars mit seinen endlosen roten Wüsten, den Gartenplaneten Venus, Merkur, hitzedurchglüht und frostzerfressen - und die blaue Erde, die ursprüngliche Heimat der Menschheit, die von ihren eigenen Bewohnern vor mehr als zweitausend Jahren in einem weltumspannenden Krieg zerstört worden war.

In der Kanzel der »Kadnos X« herrschte tiefes Schweigen.

Reglos kauerte Charru von Mornag im Andrucksitz und blickte durch die Sichtkuppel nach draußen. In dem harten bronzenen Gesicht des jungen Barbaren lag ein selbstvergessener Zug, die saphirfarbenen Augen hatten sich verdunkelt. Sol... Eine endlose Irrfahrt durch die Tiefen der Galaxis, und jetzt - ihre Heimatwelt. Fünfzehn Menschen waren ins Unbekannte vorgestoßen, vierzehn kehrten zurück. Zwei ihrer Gefährten lebten nicht mehr. Dafür flog jetzt ein Fremder mit ihnen, der kein Mensch war, obwohl er ihnen ähnelte. Und ihrer aller Gesichter zeigten in diesen Sekunden den gleichen Ausdruck tiefen, erleichterten Staunens.

Zwei Techniker und Maik Varesco, der Pilot, gehörten zur Besatzung des Schiffs, das vor einer Ewigkeit in der Hauptstadt des Mars gekapert worden war.

Ein schwerer Überlichtraumer - letzte und einzige Fluchtchance für die Menschen, die das marsianische Hochgericht als Rädelsführer der Rebellion auf Merkur verurteilt hatte. Mark Nord, der Venusier, Dane Farr, Ken Jarel und der alte Raul Madsen sollten nach zwanzig Jahren Haft in den Luna-Bergwerken und ihrer endlichen Befreiung zum zweiten Mal für den Versuch bezahlen, auf dem sonnennächsten Planeten eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung zu errichten. Charru von Mornag und die Seinen stammten aus einer anderen Welt - einer Miniatur-Welt in einem Museumssaal, wo marsianische Wissenschaftler die Nachkommen neuer irdischer Rassen skrupellos als Versuchsobjekte missbraucht hatten. Sie waren Barbaren, aufgewachsen in einer Oase künstlicher Vergangenheit. Als ihnen die Flucht gelang, hatte man sie wie wilde Tiere gejagt. Aber sie kämpften um ihre Freiheit, behaupteten sich gegen die Übermacht, erreichten schließlich mit einem uralten Raumschiff die Erde, ihre eigentliche Heimat. Von dort waren sie, als Terra die Vernichtung drohte, zum Merkur geflogen. Und dann, als die Kriegsflotte der Vereinigten Planeten Merkur besetzte und den Großteil der Rebellen in ein Internierungslager auf dem Uranus verschleppte, gelang es denen, die als Rädelsführer angeklagt wurden, die »Kadnos« zu entführen, die marsianische Besatzung zum Start zu zwingen und vor den Verfolgerschiffen blindlings in den Hyperraum zu fliehen.

Eine lange Odyssee lag hinter ihnen.

Verirrt im All, unendlich weit von ihrer Heimat entfernt, suchten sie verzweifelt einen Weg zur Rückkehr. Jiri Abako, den letzten Überlebenden einer fremden Rasse, hatten sie auf dem Robot-Planeten aus seinem jahrhundertelangen Kälteschlaf geweckt. Doch die unbemannten Raumsonden, die von der Maschinenwelt aus ins All vorgestoßen waren, hatten das Sol-System nie angeflogen. Dafür fand sich eine andere, entscheidende Information in den Datenspeichern des Robot-Planeten, ein Hinweis auf jene geheimnisvolle Rasse von Zeitreisenden, denen Charru und seine Gefährten schon einmal auf dem Mars begegnet waren.

In einem anderen Universum hatten sie Hilfe gefunden.

Jetzt kehrten sie zurück. Zurück in eine Welt, in der sich nichts geändert hatte, in der immer noch eine erdrückende Übermacht wartete, in der man sie von neuem jagen würde. Aber jetzt gab es Hoffnung; denn sie wussten, dass die Herren der Zeit nicht fern waren.

»Ich habe nicht geglaubt, dass wir es schaffen würden«, sagte Camelo von Landre leise.

Charru warf seinem Blutsbruder einen Blick zu. Der Sänger mit dem lockigen schwarzen Haar und den dunkelblauen Augen hatte die Gurte abgestreift und sich aufgerichtet, um besser zu sehen. Der Transit und damit der kritischste Punkt des Fluges lag hinter ihnen. Dass die Herren der Zeit die Koordinaten eines Systems kannten, das sie selbst schon einmal besucht hatten, war nicht verwunderlich, war der eigentliche Anlass dafür gewesen, dass die Menschen der »Kadnos« das Äußerste riskierten, um Kontakt zu der fremden Rasse aufzunehmen. Und dennoch hatten sie bis zuletzt gezweifelt - nicht nur Camelo, der sich jetzt mit einem atemlosen Lächeln in den Sitz zurückfallen ließ.

»Wir werden landen«, sagte er. »Ktaramon wird da sein, wird die Zeit manipulieren und uns helfen. Wir werden die anderen wiedersehen! Beryl, Jarlon, Kormak, die Nordmänner...«

»Hoffentlich«, sagte der rothaarige, grünäugige Gillon von Tareth fast unhörbar.

Ein Schatten fiel über Charrus Gesicht.

Hoffentlich, wiederholte er in Gedanken. Er kannte die Hölle einer marsianischen Strafkolonie, hatte sie auf Luna gesehen, wo die Terraner auf dem Weg zur Erde Mark Nord und seine Rebellen befreiten. Zudem waren viele von den Deportierten bei dem verzweifelten Kampf um Merkur schwer verletzt worden. Lebten sie noch? Und wenn - wie lange konnten Männer wie Beryl, Kormak oder Charrus junger, hitzköpfiger Bruder Jarlon die Demütigungen der Gefangenschaft ertragen, ohne zu rebellieren?

Die Gesichter der anderen verrieten, dass sie die gleichen Befürchtungen hegten.

Charru wandte den Kopf, als er eine leichte Berührung spürte. Gerinth, der weißhaarige Älteste der Tiefland-Stämme, hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. In dem zerfurchten Gesicht wirkten die Augen grau wie Nebel.

»Du hast keine Zeit zum Grübeln«, sagte der alte Mann ruhig. »Sprich mit Ktaramon, Charru. Was immer geschehen ist - wir müssen an die Zukunft denken.«

 

*

Auf dem Raumhafen von Indri, der Hauptstadt der Venus, herrschte Routinebetrieb.

Das Startfeld, auf dem sich silbern glänzend die »Felipe Perez« erhob, war abgesperrt worden. Das Schiff trug den Namen des Wissenschaftlers, der - noch bevor sich die Planeten des Sonnensystems zu einer Föderation zusammenschlossen - die Universität Indri gegründet hatte. Ein Forschungsschiff, ausgerüstet mit Laboratorien, massivem Strahlenschutz, einem perfekten wissenschaftlichen Instrumentarium. Seine Aufgabe: ein großangelegtes Klimaexperiment auf der vom Hitzetod bedrohten Erde.

David Jorden, der erstaunlich junge Leiter der Expedition, war schon einmal zu Forschungszwecken nach Terra geflogen - damals, als auf Präsident Jessardins Anweisung eine Containerflotte die irdische Atmosphäre gezielt mit Kohlendioxyd angereichert hatte, um das Leben auf dem Planeten zu vernichten. Jorden stammte vom Jupiter, und dort interessierte man sich im Hinblick auf die kalten, unwirtlichen Monde für die Möglichkeit von Klimaveränderungen. Kontrollierte Klimaveränderungen - darin lag das Problem, da man die Monde erwärmen, aber nicht in Wüsten verwandeln wollte. Professor Jorden und Doktor Lara Nord hatten an der Universität die theoretischen Grundlagen einer Methode erarbeitet, mit der sich Katastrophen wie die auf Terra auffangen und notfalls rückgängig machen ließen. Jetzt sollten die Methoden auf der Erde im praktischen Experiment überprüft werden. Ein ganz normaler Vorgang - das glaubten jedenfalls die übrigen Teilnehmer der Expedition.

David und Lara wussten es besser.

Die junge Frau mit der blonden Helmfrisur und der knappen venusischen Tunika stand in der kleinen Abfertigungshalle und blickte durch die Filterstäbe des Fensters auf die Startbahn hinaus. Ihre Hände waren eiskalt. Sie hatte Angst - Angst davor, dass noch in letzter Minute etwas den Start verhindern könne. Denn für sie ging es nicht um ein wissenschaftliches Experiment, sondern um den verzweifelten Versuch, Terra zu retten.

Terra - die eigentliche Heimat der Barbaren aus der Mondstein-Welt.

Lara dachte an das Kind, das bereits in einer Kabine des Schiffs schlief und das sie allen Widerständen zum Trotz mitnehmen würde. Charru von Mornags Kind. Sie war seine Frau, sie gehörte zu ihm, auch wenn man sie damals auf der Erde mit Gewalt entführt und nach Kadnos zurückgeschleppt hatte. Die Zeit danach war ein Alptraum für sie gewesen: Merkur besetzt, die Rebellen auf den Uranus deportiert, Charru zum Tode verurteilt...

Ohne David Jorden, der sie hoffnungslos liebte, wäre es ihr nie gelungen, den zehn sogenannten Rädelsführern zur Flucht zu verhelfen.

Aber die Flucht war schiefgegangen. Die »Kadnos« sollte zur Venus fliegen und hatte dann ohne Zielkoordinaten blind in den Hyperraum fliehen müssen, weil der Präsident die Kriegsflotte einsetzte, um zu verhindern, dass Laras Vater den Rebellen Asyl gewährte. Der Generalgouverneur hatte von Anfang an auf ihrer Seite gestanden. Nicht nur, weil sein Bruder Mark dazugehörte; nicht nur, weil seine Tochter unlösbar in die Ereignisse verstrickt war. Die Gründe lagen tiefer, lagen in jenem Tag, als Conal Nord zum ersten Mal einen Blick in den Mondstein geworfen und begriffen hatte, dass der Staat nicht das Recht besaß, über menschliche Wesen wie über Spielzeug zu verfügen.

»Lara?«

Die junge Frau zuckte zusammen, als ihr Vater und David Jorden neben sie traten. Nords Gesicht sah besorgt aus, spiegelte die gleichen ungewissen Befürchtungen, die auch seine Tochter empfand. Er wusste, dass David und Lara auf der Erde mehr planten als ein Experiment. Er wusste vor allem, dass sich auch der Präsident darüber klar war. Trotzdem hatte Simon Jessardin die Genehmigung der Expedition empfohlen - zweifellos in der kühl kalkulierten Absicht, die Probleme mit einer Art Beschäftigungstherapie zu lösen. Conal Nords Lächeln wirkte bitter. Die Erkenntnis tat weh, dass Lara immer noch hoffte und dass sie am unvermeidlichen Scheitern dieser Hoffnung vermutlich zerbrechen würde.

»Ich bin fertig«, sagte die junge Frau. Und nach einer Pause: »Ich möchte dir noch einmal danken, Vater.«

»Du weißt, dass ich nicht viel dazu getan habe.«

»Du hast es versucht.« Laras Augen brannten. »Mir ist klar, dass Jessardin uns nur aus dem Weg haben will. Aber er irrt sich, wenn er glaubt, dass wir keine Chance haben.«

Ihr Vater zuckte die Achseln.

Er glaubt nicht, dass ihr keine Chance habt, wollte er sagen. Er weiß lediglich, dass er alles, was ihr erreicht, mit einem Fingerschnippen wieder zerstören kann, wenn es ihm notwendig erscheint...

Nord sprach die Worte nicht aus.

Lara kannte die Situation, auch wenn sie sich die Wahrheit nicht eingestehen wollte. Sie klammerte sich an ihre Hoffnung, weil sie sonst nicht hätte weiterleben können. Aber wie lange würde diese Hoffnung reichen?

Schweigend verabschiedeten sie sich, beide in dem Wissen, dass die wesentlichen Dinge unausgesprochen geblieben waren.

Dem jungen Wissenschaftler schüttelte Nord ebenfalls schweigend die Hand. Er wusste nicht, was er ihm hätte sagen sollen. Passen Sie auf meine Tochter auf? Ich würde sie nicht gehen lassen, wenn ich Ihnen nicht vertraute? Lara wäre so oder so gegangen. Und Jorden würde überhaupt keine Chance haben, auf sie aufzupassen, wenn sie es nicht zuließ.

Eine halbe Stunde später startete die »Felipe Perez« mit donnernden Triebwerken.

Conal Nord sah dem Schiff lange nach. Er grübelte. Und er ahnte noch nicht, dass die Dinge inzwischen eine entscheidende Wendung genommen hatten.

 

*

Lautlos glitt die Tür der Kabine auseinander.

Die »Kadnos« flog im Normalraum und hatte die Bahnhöhe des Pluto hinter sich. Charru wusste, dass sie inzwischen vermutlich geortet worden waren. Dane Farr, der hagere Militärexperte, kannte sich sehr gut mit dem Aufbau der Systemverteidigung aus. Damals, vor zwanzig Jahren, hatte er als einziger von Mark Nords Freunden nicht zu den Merkur-Siedlern gehört, sondern war zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden, weil er sich als Kommandant eines Kriegsschiffes weigerte, Gebäude zu bombardieren, in denen er noch Frauen und Kinder vermutete.

In der Kabine flammte automatisch die Beleuchtung auf.

Charru kniff die Augen zusammen, als er das leichte Flimmern der Luft sah. Ein Zeitfeld! Ktaramon hatte es errichtet, denn nur innerhalb eines solchen Feldes funktionierte der Kommunikator, den die Fremden aus der anderen Dimension Zeitkristall nannten.

Schon einmal hatte Charru ein ähnliches Zeugnis unbekannter Technik benutzt, damals auf dem Mars, wo die Herren der Zeit in ihrer Basis unter der Sonnenstadt forschten, beobachteten, die Geschicke der Menschheit verfolgten. Ktaramon und seine Gefährten waren zu ihrem Volk heimgekehrt. Und jetzt kamen sie noch einmal zurück ins Sol-System - auf ihre eigene geheimnisvolle Art des Reisens, die kein Schiff brauchte, sondern das Mittel der Ent- und Rematerialisierung benutzte.

Charru presste die Lippen zusammen, während er nach dem Schmuckstück griff, das an einer dünnen Kette um seinen Hals hing.

Eine schwarze, von einem Strahlenkranz umgebene Scheibe. In der Mitte eine schimmernde Perle, die aus zahllosen, unendlich fein gearbeiteten Kristallringen bestand - Symbolen jener rätselhaften Strukturen, die Ktaramon »Zeitschalen« nannte. Hier innerhalb des Feldes leuchtete der Kristall von innen heraus, glomm in einem klaren, sanften Licht, das das Erwachen der Energie anzeigte. Vorsichtig nahm Charru die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie um ihre Achse.

»Ktaramon«, rief er halblaut. »Ktaramon! Kannst du mich hören?«

»Ich höre dich«, kam es nach einer Weile.

»Wir haben das Sol-System erreicht und befinden uns auf der Höhe der Pluto-Bahn. Wo seid ihr?«

»Frage nicht, wo wir sind.« Die Stimme klang ruhig und emotionslos wie immer - eine unmenschliche Stimme. »Unser augenblicklicher Aufenthaltsort liegt auf einer Ebene, die du nicht verstehst. Seid ihr immer noch entschlossen, den Planeten Venus anzufliegen?«

Charru runzelte unwillkürlich die Stirn. Er hatte lange darüber nachgedacht, lange mit den anderen debattiert, doch er war sich seiner Entscheidung immer noch nicht sicher.

»Nein«, sagte er langsam. »Wir können uns nicht darauf verlassen, dass wir unbemerkt bleiben. Und die Venus ist genau das Ziel, von dem unsere Gegner annehmen werden, dass wir es ansteuern.«

Ktaramon schwieg, und Charru biss sich auf die Lippen.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Bestätigung? Einen Rat? Ktaramon konnte ihnen nicht raten, dafür waren sein Wesen, seine Gedankengänge und Beweggründe zu fremd. Charru verstand nicht einmal genau, warum sich die Herren der Zeit überhaupt entschlossen hatten, den Terranern zu helfen.

»Wir wollen versuchen, auf Uranus zu landen«, sagte er. »Aber das können wir nicht allein, nicht ohne Schutz. Die »Kadnos« ist nicht gut genug bewaffnet, um einem Angriff standzuhalten. Unsere Gegner haben ein Straflager voller Geiseln, mit denen sie uns erpressen können.«

»Werden sie das nicht so oder so tun? Werden sie ihre Gefangenen nicht lieber töten als freizulassen - falls es möglich ist, eine Freilassung zu erzwingen?«

Charru spürte einen kalten Stich der Angst.

Er wusste, dass Ktaramon auch in die Zukunft zu reisen vermochte. Er konnte sie nicht voraussagen, denn sie war veränderbar. Aber er konnte die verschiedenen Zeitstrahlen erforschen, den Fächer der Möglichkeiten, die Verkettungen von Ursache und Wirkung. Charru scheute instinktiv davor zurück, Fragen in dieser Richtung zu stellen. Er wollte es nicht wissen. Die Versuchung war groß, doch er wusste, dass es eine gefährliche, eine unmenschliche Versuchung war. Und er ahnte, dass er so oder so keine Antwort erhalten hätte.

»Nein«, sagte er rau. »So einfach ist das nicht. Auch die Marsianer können nicht willkürlich Menschen umbringen - nicht mehr, seit das Hochgericht einmal entschieden hat, dass wir nicht außerhalb der Gesetze stehen. Sie müssten das Kriegsrecht verhängen. Und ich hoffe, die Gefangenen werden klug genug sein, ihnen dafür keinen Vorwand zu liefern.«

»Also wollt ihr, dass wir die »Kadnos« in einem Zeitfeld verbergen?«

»Würdet ihr das schaffen?«

»Wenn das Schiff gelandet ist - ja. Aber man wird euren Anflug bemerken. Glaubst du nicht, dass eure Gegner dann die Wahrheit erraten?«

»Bevor die Marsianer an die Möglichkeit der Zeitmanipulation glauben, werden sie jeden, der uns geortet hat, in die Psychiatrie schicken«, sagte Charru sarkastisch. »Oder tagelang nach dem Defekt suchen, der für die Falschinformation verantwortlich ist. Nein, die eigentliche Gefahr besteht allein während des Anflugs. Wir können nur hoffen, dass uns niemand ausgerechnet auf Uranus erwartet.«

Sekundenlang blieb es still. Ein Schweigen, das in Charru von neuem kaltes Unbehagen weckte bei dem Gedanken, dass die Herren der Zeit vielleicht längst mehr wussten als er. Seine Haarwurzeln prickelten.

»Wir werden dort sein«, sagte Ktaramon schließlich. Und nach einer Pause: »Ich glaube, ihr habt den richtigen Weg gewählt...«

Seine Stimme verklang.

Mechanisch drehte Charru den Kristall wieder in die Ausgangsstellung und ließ ihn unter die weiße marsianische Tunika gleiten. Er wusste, dass die anderen ungeduldig auf ihn warteten. Doch er blieb minutenlang reglos stehen und starrte durch die flimmernde Luft einen Punkt auf der Wand an.

Ihr habt den richtigen Weg gewählt, hatte Ktaramon gesagt. Wusste er es? Hatte er die Zukunft erforscht? Und kannte er vielleicht auch den Preis, den sie zahlen mussten?

Sinnlos, darüber zu grübeln.

Aber als sich Charru abwandte und die Kabine verließ, kämpfte er vergeblich gegen die Kälte einer Furcht, die er sich selbst nicht erklären konnte.

 

*

Der Konferenzraum schien zu summen vor unterdrückter Erregung.

Simon Jessardin, Präsident der Vereinigten Planeten, lehnte reglos am Kopfende des Tisches. Sein kurzes silbernes Haar glitzerte im Licht der Leuchtwände, die grauen Augen wirkten beherrscht. Um Beherrschung bemühte sich auch sein Stellvertreter Horvat Cann, der amtierende Vorsitzende des Sicherheitsausschusses.

»Meine Damen und Herren, ich bitte Sie!« Cann war ein schmaler, ätherisch wirkender Mann, dessen kultivierte Stimme es schwer hatte, sich Gehör zu verschaffen. »Ich wiederhole: Das geortete Schiff konnte noch nicht identifiziert werden. Es besteht keinerlei Grund zur Beunruhigung.«

Beschwörend blickte er die Ausschussmitglieder an. Sie wirkten übernächtigt, waren aus dem Schlaf gerissen worden. Unnötigerweise nach Simon Jessardins Meinung. Aber das Verfahren war für einen Fall wie diesen nun einmal vorgesehen.

Der Präsident hatte seine eigene Meinung über die Ereignisse.

Jom Kirrand, Chef der allmächtigen Vollzugspolizei, atmete hörbar aus: »Kein Grund zur Beunruhigung? Und wenn es sich um einen Angriff aus dem All handelt?«

»Ein Angriff mit einem einzigen Schiff?« fragte der weißhaarige alte General Manès Kane mit hochgezogenen Brauen.

»Es könnte ein Aufklärer sein oder...«

»Dafür ist das Objekt zu groß«, sagte Kane kategorisch. Sein Wort besaß Gewicht. Er hatte erst kürzlich bei der Aktion gegen Merkur seine militärische Qualifikation bewiesen. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, muss es sich um die zurückkehrende »Kadnos« handeln.«

Sekundenlang herrschte Schweigen.