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Standpunkte: unbequeme Einsichten, provokante Ansichten, weitsichtige Vorschläge. Die sich in der Essayreihe »Standpunkte« zu Wort melden, wollen die Debatte über grundsätzliche und aktuelle Fragen der Politik vertiefen und in die Breite tragen. Die Klarheit der Argumentation lädt den Leser ein, die eigene Meinung zu schärfen – und sie ebenso energisch zu vertreten.

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Vorwort

Als »weißer Jahrgang« – vor dem Zweiten Weltkrieg zu jung für die Wehrmacht, nach dem Krieg zu alt für die Bundeswehr – habe ich nie Uniform getragen. Aber den Fragen der Verteidigung und Vergeltung, den Spitzfindigkeiten der nuklearen Strategie und den endlos wiederkehrenden Auseinandersetzungen innerhalb der Atlantischen Allianz habe ich in dem halben Jahrhundert meines Journalistenlebens ein Gutteil meines professionellen Interesses gewidmet. Anfang der 1960er Jahre studierte ich an der Harvard-Universität bei einem jungen Assistenzprofessor namens Henry Kissinger Internationale Beziehungen im Kernwaffenzeitalter; zu Beginn der 1970er Jahre war ich unter dem Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt Leiter des Planungsstabes auf der Hardthöhe; danach gehörte ich zwei Wehrstrukturkommissionen an, 1970–72 in Bonn und ein weiteres Mal, als Vizevorsitzender der Weizsäcker-Kommission, 1999–2000 in Berlin. Gut zwanzig Jahre war ich Council-Mitglied des Londoner International Institute of Strategic Studies; und als ZEIT-Redakteur habe ich mehr Leitartikel über den Ost-West-Konflikt und das Gleichgewicht des Schreckens, über Rüstung und Abrüstung und die NATO geschrieben, als in zwei dicke Leitz-Ordner passen. Und das Thema hat mich auch seitdem nicht losgelassen.

Für meine Generation war die NATO von zentraler Bedeutung; sie war die Lebensversicherung der Westdeutschen. Auch in der Rückschau leidet es keinen Zweifel: Ohne das westliche Bündnis flatterte heute die rote Fahne mit Hammer und Sichel über uns allen. Die NATO war das mächtigste, verlässlichste und erfolgreichste Verteidigungsbündnis der Weltgeschichte. In den Jahren 1949–1989 wehrte sie vielerlei sowjetische Anschläge auf den Nachkriegs-Status-quo ab – so während der Berlin-Blockade 1948/49, erneut in der Berlin-Krise 1959/962, schließlich in dem Raketenkonflikt der Jahre 1977–1987, der als innen- und außenpolitischer Streit um die »Nachrüstung« in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Am Ende triumphierte die Atlantische Allianz: Sie siegte in dem säkularen Ringen zwischen Ost und West, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, Ruck um Ruck wurde danach der Eiserne Vorhang hochgezogen, das kommunistische System brach im ganzen Ostblock zusammen, der Warschauer Pakt löste sich Mitte 1991 auf, und Ende jenes Jahres zerfiel die Sowjetunion in 17 Staaten. Drei Jahre später zog die Rote Armee aus Ostdeutschland ab.

Freilich, mit dem Gegner im Osten verlor das Bündnis auf einen Schlag wo nicht seine Daseinsberechtigung, so doch den Kern seines Daseinszweckes. Seitdem sind der Auftrag, die Bestimmung, ja: der Sinn der NATO umstritten. Auf eine Reihe schwerwiegender Fragen gibt es zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges noch immer keine Antwort. Wird das Bündnis überhaupt noch gebraucht? Wenn ja, in welcher Form, Stärke und Organisationsdichte? Was soll sein Auftrag sein: Territorialverteidigung, globales Ausgreifen und Eingreifen als Weltgendarm am amerikanischen Leitseil oder Reserve für friedenserhaltende und friedensschaffende Missionen der Vereinten Nationen? Und welcher Preiszettel ist unseren Völkern für Verteidigungsausgaben in einer Zeit zuzumuten, in der die Bewahrung der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität einleuchtenderweise den Vorrang gewinnt vor militärischen Verwicklungen in fernen Weltgegenden, seien sie geostrategisch und geopolitisch motiviert oder aus humanitären Erwägungen gespeist?

Es ist an der Zeit, eine Antwort auf diese essentiellen Fragen zu formulieren.

Diese NATO hat ausgedient

Das Bündnis muss europäischer werden

EIN STANDPUNKT VON THEO SOMMER

I. Die Anfänge

Warum hat diese NATO ausgedient – die NATO, wie wir sie heute kennen? Ein Blick auf ihre Entstehungsgeschichte liefert die unwiderlegbare Antwort: weil die Welt sich verändert hat. So total, dass sich aus den historischen Wurzeln der Atlantischen Allianz keine Rechtfertigung mehr für ein gebetsmühlenhaftes »Weiter so« ableiten lässt.

Erinnern wir uns der Lage vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Furcht vor einem Wiederauferstehen des deutschen Militarismus hatte sich mittlerweile gelegt, auf jeden Fall wurde sie zusehends überlagert von einem neuen Alb: der sowjetischen Bedrohung. Um ihr zu begegnen, wurde damals das Bündnis gegründet. Am 4. April 1949 trafen sich im Auditorium des State Department in Washington die Außenminister von zwölf westlichen Ländern und setzten ihre Unterschrift unter den Nordatlantikpakt, die Geburtsurkunde der NATO.

In seinem Memoiren Present at the Creation schildert der damalige US-Außenminister Dean Acheson die Szene. Während die versammelten Würdenträger auf die Eröffnung der Unterzeichnungszeremonie warteten, so berichtet er, gab die Marinekapelle dem Vorgang einen unerwarteten Schuss Realismus. Sie spielte nämlich zwei Lieder aus George Gershwins damals populärem Musical Porgy and Bess auf – I got plenty of nothing und It ain’t necessarily so.

Die beiden Schlager beschrieben den anfänglichen Zustand des Atlantischen Bündnisses mit unbeabsichtigter Direktheit. Nach 1945 hatten die Mitgliedstaaten rasch abgerüstet. Die Vereinigten Staaten zogen das Gros ihrer Truppen vom europäischen Kontinent ab. Auch die Westeuropäer demobilisierten, strichen die Friedensdividende ein und begaben sich mit voller Kraft an den Wiederaufbau ihrer zerstörten Länder.

Doch dann machten sie alle unversehens die Erfahrung, die dem alten Sprichwort zugrunde liegt: »Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.« Von Jahr zu Jahr wurde klarer, dass Stalins Sowjetunion darauf aus war, nicht nur ihre Einflusszone, sondern ihren Herrschaftsbereich weit über ihre Grenzen hinaus auszudehnen. Im Februar 1946 schon beklagte Winston Churchill in Fulton/ Missouri die Einsetzung totalitärer Regime in ganz Osteuropa: »Ein Eiserner Vorhang hat sich quer über den Kontinent gesenkt.« Nacheinander übernahmen die Kommunisten in Bulgarien, Rumänien, Polen und zuletzt, im Februar 1948, in der Tschechoslowakei die Macht. Die demokratischen Parteien wurden unterdrückt, ihre Anführer verfolgt; Schauprozesse, rabiate Säuberungen und brutaler Terror machten aus den eben von Hitlers Joch befreiten Ländern sowjetische Satelliten. Ostdeutschland – die nachmalige DDR – war von Anfang an gleichgeschaltet worden. In Griechenland zettelten die kommunistischen Guerillaverbände des Generals Markos einen blutigen Bürgerkrieg an; Moskau bedrängte die Türkei, eine sowjetische Militärpräsenz am Bosporus und an den Dardanellen hinzunehmen; der Kreml setzte Titos Jugoslawien unter Druck, sich Stalins Diktat zu unterwerfen. Im September 1947 wurde die Kominform gegründet, die in Westeuropa das Vorgehen der kommunistischen Parteien koordinieren sollte – Streiks und Propaganda-Kampagnen etwa, die im Winter 1947/48 sowohl in Frankreich als auch in Italien eine kommunistische Machtübernahme nicht gänzlich ausgeschlossen erscheinen ließen.

Die aggressiven Bestrebungen Moskaus lösten im Westen große Besorgnis aus. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Zunächst einmal sollten der Marshallplan, verkündet im Juni 1947, und das daraus erwachsende Europäische Wiederaufbauprogramm die Europäer gegen die kommunistische Versuchung immunisieren. Doch immer mehr schob sich die Notwendigkeit in den Vordergrund, dem Expansionsstreben der Sowjets, die ihre Armeen nach Kriegsende nicht nach Hause schickten, sondern aufrüsteten und modernisierten, auch militärische Schranken zu setzen. Im Brüsseler Vertrag vom 17. März 1948 über eine Western European Union (WEU) fand dieses Bedürfnis zum ersten Mal Ausdruck. Wohl gelobten England, Frankreich und die drei Beneluxstaaten in diesem Dokument nochmals, gemeinsam alle Schritte zu ergreifen, die »im Falle einer erneuten deutschen Aggressionspolitik« notwendig würden. Doch war dies das letzte Mal. Und in der Präambel zeichnete sich bereits unübersehbar ein neuer Bündniszweck ab: nämlich »jeglicher Aggressionspolitik« gemeinsam entgegenzutreten. Diese Formulierung zielte eindeutig schon auf die Sowjetunion.

Es war dann die immer aggressivere Deutschland- und Berlin-Politik Stalins, die den Westen zum Handeln drängte. Drei Tage nach der westdeutschen Währungsreform vom 20. Juni 1948 begannen die Russen, den Güter- und Personenverkehr nach Westberlin zu blockieren. Sie argumentierten, Westberlin sei ein Teil ihrer Besatzungszone. Die Westalliierten pochten indessen auf ihre Rechte und starteten am 26. Juni die Luftbrücke, über die Westberlin bis zum Mai 1949 mit dem Notwendigsten versorgt wurde.

Die Berlin-Blockade gab dem Westen den letzten Anstoß, der Schaffung einer Verteidigungsorganisation Dringlichkeit einzuräumen. Dies hieß in erster Linie, die Vereinigten Staaten in den Brüsseler Vertrag einzubinden und den Versuch zu unternehmen, eine multinationale Streitmacht aufzubauen, um den Sowjets Paroli zu bieten. Die Vandenberg-Resolution vom 11. Juni 1948, von Demokraten wie von Republikanern im US-Senat überparteilich gebilligt, machte dazu den Weg frei. Noch im Juli wurden in Washington auf Botschafterebene Verhandlungen zwischen den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg aufgenommen. Im Februar 1949 stieß Norwegen dazu, im März wurden Italien, Dänemark, Island und Portugal – faschistisch zwar, doch Herr über die strategisch wichtigen Azoren – hinzugeladen. Am 4. April wurde der Vertrag von den Außenministern und Botschaftern der zwölf Mitgliedstaaten unterzeichnet. Präsident Truman gab in einer kurzen Rede der Hoffnung Ausdruck, dass der Nordatlantikpakt »einen Schild gegen Aggression und die Furcht vor Aggression schaffen werde – ein Bollwerk, das uns erlaubt, mit der eigentlichen Aufgabe von Regierung und Gesellschaft voranzukommen, der Aufgabe, all unseren Bürgern ein erfüllteres und glücklicheres Leben zu bescheren«.

Die wesentlichen Bestimmungen des Washingtoner Vertrages, der bis heute unverändert fortgilt, finden sich im Artikel 3, wonach die Mitgliedstaaten »die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln« sollten; im Artikel 4, der Konsultationen vorsah, wenn eine der Parteien ihre politische Unabhängigkeit oder ihre Sicherheit bedroht sah; und vor allem im Artikel 5, der das eigentliche Beistandsversprechen enthielt. Die zwölf vereinbarten darin, dass »ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird«. Im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs sollten alle anderen Vertragspartner dem Angegriffenen Beistand leisten. Diese Beistandsverpflichtung war freilich ungleich weicher formuliert als im Brüsseler WEU-Vertrag: Es blieb den einzelnen Paktmitgliedern überlassen, welche »Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt«, sie für erforderlich erachteten, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Die Reaktion auf den Angriff hätte vom Beileidsbrief bis zum Abwurf von Atombomben auf Moskau reichen können. Gleichwohl verstand Stalin die Botschaft: Vier Wochen nach der Gründung der NATO hob er die Blockade Berlins auf.

Doch das Bollwerk, von dem Truman gesprochen hatte, war noch nicht sehr eindrucksvoll. In Westdeutschland und Berlin standen ganze zwei US-Divisionen, zwei der englischen Rheinarmee und einige kleinere Verbände der französischen Armee. Es waren dies Besatzungsarmeen, zum größten Teil mit Verwaltungsaufgaben betraut, Territorialverteidigung war nicht ihr Auftrag. Ende 1949 jedoch beschlossen die zwölf, die im Washingtoner Vertrag vorgesehene gemeinsame Verteidigungsorganisation aufzubauen. Aus dem North Atlantic Treaty wurde die North Atlantic Treaty Organization, aus NAT die NATO. In rascher Folge entstanden ein gemeinsames Hauptquartier, gemeinsame Planungs- und Einsatzführungsstäbe und mehrere Regionalkommandos. Ende 1950 wurde der amerikanische General Dwight D. Eisenhower, der spätere Präsident, zum ersten Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) ernannt, Mitte 1951 hielt er Einzug im Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE). Seinem Oberbefehl wurden in den nächsten Jahren Zug um Zug mehr Truppen unterstellt.

Als die Nordkoreaner im Juni 1950 mit Stalins Segen über die südliche Hälfte der Halbinsel herfielen, ging in Europa wie in Nordamerika die Furcht um, dass dies nur das Vorspiel zu einem Angriff auf Westeuropa sein könnte. Die militärische Schwäche des Westens wurde allen schmerzlich bewusst. Amerikaner, Briten und Franzosen hatten, radikal von ihrer Tradition abweichend, schon nach Beginn der Berlin-Blockade die Wehrpflicht in Friedenszeiten eingeführt. Nun wurde die ständige Stationierung westlicher Truppen am Eisernen Vorhang als unumgänglich erkannt. Noch war die NATO, wie ein Spötter anmerkte, wie die Venus von Milo: all SHAPE and no arms. Die aggressive sowjetische Politik zwang die West-Alliierten jedoch, ihre Besatzungstruppen in Westdeutschland zu verstärken und ihnen einen neuen Auftrag zu erteilen. Immer klarer wurde zugleich, dass die sechs Wochen nach der Gründung der NATO ausgerufene Bundesrepublik Deutschland einen eigenen Beitrag zur Verteidigung leisten musste. Der locker hingeworfene Ausspruch des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay über die Zielsetzung des jungen Bündnisses verlor jedenfalls in Bezug auf die Bundesrepublik zusehends seine Gültigkeit: »To keep the Americans in, to keep the Germans down, and to keep the Russians out« – die Amerikaner drin, die Deutschen drunten und die Russen draußen zu halten.

»Die Gefahr, die uns bedroht, besteht nicht nur in Korea«, erklärte Präsident Truman am 6. Dezember 1950. »Dieselbe Bedrohung kommunistischer Aggression schwebt über Europa.« Die Konsequenz: Es mussten schnellstens gemeinsame Streitkräfte zur Verteidigung Europas aufgebaut werden. Eine »Vorwärtsstrategie« wurde beschlossen, nach der einem Angriff so weit wie möglich im Osten begegnet werden sollte. Das bedeutete, dass Europa auf deutschem Boden verteidigt werden musste. Daraus wiederum ergab sich folgerichtig die Notwendigkeit, die junge Bundesrepublik Deutschland politisch und militärisch in die westliche Abwehrfront einzubeziehen. In den westlichen Hauptstädten wurden daher die ersten Überlegungen zur Wiederbewaffnung Westdeutschlands angestellt, auch in Bonn. »Was tun, wenn die Russen kommen?«, war die Kernfrage der »Himmelroder Denkschrift«, die Adenauers Militärberater dem ersten Bundeskanzler im Oktober 1950 vorlegten – gleichsam das Gründungsdokument der Bundeswehr, wiewohl deren Aufstellung noch fünf Jahre auf sich warten ließ. Griechenland und die Türkei traten dem Bündnis 1952 bei. Schließlich wurde im Mai 1955 auch die Bundesrepublik Mitglied der NATO, ein halbes Jahr nach dem Scheitern des Projekts einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung. Der Abwehrschild der Allianz gewann in Westeuropa Gestalt und Festigkeit.

Ursprünglich wollte die NATO 96 Divisionen auf die Beine stellen. Sie sollten den vermeintlich 175 sowjetischen Divisionen, von denen zwanzig in Ostdeutschland lagen, Paroli bieten. Später war dann nur noch von 75 bis 85 Sowjetdivisionen die Rede. Auf der Lissaboner Konferenz von 1954 stutzten die Alliierten ihre Zielziffer denn auch auf 30 Divisionen zurück. Allerdings sollte die Einführung taktischer Atomwaffen die Lücke bei den konventionellen Streitkräften wettmachen. Die NATO-Strategie sah deren Einsatz unmittelbar nach Beginn der Feindseligkeiten vor.

Vier Jahrzehnte lang wäre die Hälfte der westdeutschen Ostgrenze – 1346 Kilometer gegenüber der DDR, 356 Kilometer gegenüber der Tschechoslowakei – im Ernstfall von alliierten Streitkräften verteidigt worden. Noch bei dem großen Zeitenbruch der Jahre 1989/90 lagen fast ebenso viele Soldaten der Verbündeten in der Bundesrepublik wie deutsche: 242.800 Amerikaner, 69.700 Briten, 52.000 Franzosen, 26.600 Belgier, 7100 Kanadier und 5700 Holländer neben einer halben Million Bundeswehrsoldaten, die im Kriegsfall auf einen Mobilmachungsumfang von 1,3 Millionen Mann gebracht worden wären. In schichttortenhafter Nord-Süd-Staffelung hätten Truppen aus sechs Ländern – Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Frankreich – Schulter an Schulter mit der Bundeswehr gekämpft. Diese multinationale Präsenz auf dem Bundesgebiet brachte die Unteilbarkeit des atlantischen Bündnisses zum Ausdruck. Dessen konventionelles Abwehrpotenzial wurde unterfüttert durch das atomare Abschreckungsarsenal der Amerikaner.

Der Abschreckung dienten auch die 7000 Atomwaffen taktischer Reichweite, die zeitweise auf westdeutschem Boden lagerten – 4000 Sprengköpfe waren es noch Anfang der 1980er Jahre. Da 60 Prozent dieser Waffen eine Reichweite von unter 25 Kilometern hatten, konnten sie nur das eigene Gebiet verwüsten – eine Tatsache, die das NATO-Manöver Carte Blanche 1955 mit verstörender Wucht klarmachte. Die sogenannten »taktischen« Atomwaffen dienten damit – eine Option auf Selbstmord, mehr nicht – letztlich der Selbstabschreckung, nicht der Abschreckung des Gegners. Helmut Schmidt hat später gelegentlich angedeutet, dass er die weiße Flagge der Kapitulation gehisst hätte, wenn die ersten dieser Waffen auf deutschem Gebiet eingesetzt worden wären. Kein deutscher Kanzler hätte wohl anders handeln können.

Im Rückblick darf man mit einem Seufzer der Erleichterung sagen: Das Abschreckungskonzept des westlichen Bündnisses hat funktioniert. Der Schutzschild hielt, und nach 40 Jahren der Konfrontation durfte die NATO einen Sieg ohne Krieg feiern.

Warum diese lange Vorgeschichte? Um es zu wiederholen: weil sie auf schlagende Weise belegt, weshalb »der Westen« als militärisches Bündnis auf den Plan trat, auf den Plan treten musste: um sich gegen den existenzbedrohenden, unverhohlen feindseligen »Osten« wehren und behaupten zu können. Eine vergleichbare, ebenso massive wie direkte Bedrohung gibt es heute nicht. Allein schon daraus rechtfertigt sich der Satz: Diese NATO hat ausgedient.

IV. Out of area – out of business?

Das Ausgreifen der NATO-Partner über die Bündnisgrenzen hinaus nahm schon wenige Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Somalia seinen Anfang. Dort wurde 1991 der Diktator Siad Barre gestürzt – der nämliche, der 1977 die Erstürmung der von Terroristen gekaperten und auf dem Flughafen Mogadischu gelandeten Lufthansa-Maschine »Landshut« durch die GSG-9 erlaubt hatte. In Mogadischu kam es zu schweren Kämpfen zwischen verfeindeten Milizen. Eine Hungersnot forderte Hunderttausende von Toten, anderthalb Millionen Somalier verloren ihr Zuhause. Die Welt war entsetzt. Vier Resolutionen verabschiedete der UN-Sicherheitsrat, die alle das Ziel hatten, den Frieden wiederherzustellen und durch nation-building Stabilität zu schaffen. Nacheinander wurden mehrere internationale Militärmissionen nach Somalia entsandt, UNITAF erst, dann UNOSOM I (Operation Restore Hope), zuletzt 1993 UNOSOM II (Operation Continue Hope) – 22.000 Soldaten aus 34 Ländern, darunter Tausende von Amerikanern und, von April 1993 bis März 1994, in Belet Huen auch 1700 Soldaten der Bundeswehr zur logistischen Unterstützung einer indischen Kampfbrigade (die dann nie eintraf). Der Auftrag der UNOSOM: Waffenruhe zu erzwingen und so ein sicheres Umfeld für humanitäre Hilfe zu schaffen. Später wurde er – ein erstes Beispiel von mission creep – auf die Wiederherstellung von Frieden, Stabilität, Recht und Ordnung und die Förderung des politischen Prozesses im Lande erweitert.

Die Operation Continue Hope nahm freilich ein katastrophales Ende. Am 3. Oktober 1993 starben in einem zwölfstündigen Feuergefecht – Black Hawk Dawn – 18 US-Soldaten, 78 erlitten Verwundungen. Mehrere getötete Amerikaner wurden halb nackt an den Füßen durch die Straßen Mogadischus geschleift. Die grausigen Fernsehbilder schockierten die Weltöffentlichkeit. Genau ein halbes Jahr später zogen die Amerikaner ruhmlos ab. Die anderen folgten. Im März 1995 wurde UNOSOM II beendet.

In den siebzehn Jahren, die seitdem vergangen sind, ist Somalia nicht zur Ruhe gekommen. Eine funktionierende Zentralregierung ist nie entstanden. Das Land ist in drei Teile zerfallen, relativ ruhig die abgespaltene Republik Somaliland und das autonome Puntland im Norden, von 6000 Shabab-Rebellen kontrolliert der Süden und die Mitte. Die Kämpfe zwischen rivalisierenden Clans und Stämmen hören nicht auf. Immer wieder brechen Hungersnöte aus. Weder der somalischen Armee noch den AMISOM-Truppen der Afrikanischen Union aus Burundi und Uganda, noch dem im Oktober 2011 einmaschierten kenianischen Militär oder der äthiopischen Armee will es gelingen, Ruhe und Ordnung zu schaffen. Somalia ist zum Inbegriff eines gescheiterten Staates geworden. Den Interventionen der frühen 1990er Jahre war ein nachhaltiger Erfolg ebenso wenig beschieden wie den sieben bisherigen internationalen Friedenskonferenzen. Den Handel treibenden Seefahrtnationen ist überdies in letzter Zeit in der Piraterie eine zusätzliche Bedrohung erwachsen. Von Jahr zu Jahr haben sich die somalischen Küstenbewohner immer stärker auf Seeräuberei verlegt. Im Jahre 2011 griffen sie 237 Schiffe an, von denen sie 28 in ihre Gewalt brachten. Geschätzte Schadenssumme allein für dieses eine Jahr: 6,6 bis 6,9 Milliarden Dollar.

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