Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird; aber soviel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

Buchwerkstatt Berlin

Eine Marke der Frieling & Huffmann GmbH & Co. KG

Tel. + 49 - 30 - 766 999 - 0

E-Mail: info@buchwerkstatt-berlin.de

1. Auflage 2017

ISBN 978-3-946467-26-7

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Du Arschloch!“, schrie der Patient, nachdem Alexander zwölf Stunden um das Leben des Mannes gekämpft hatte und der Patient aus dem künstlichen Koma erwacht war. Die Flut an Schimpfwörtern begann mit dem ersten Öffnen der Augen des Patienten. Zwölf harte Stunden Arbeit im Schweiße seines Angesichts, aber Alexander blieb ruhig und antwortete höflich: „Also, ich bitte doch um ein gewisses Maß an Höflichkeit!“

„Sie Arschloch!“, schallte es ihm entgegen.

Geht doch! Zumindest sind wir schon mal beim „Sie“, dachte er. Dem Mann schien es besser zu gehen. Alexander fuhr sich durch die Haare und packte seine Sachen zusammen, die er im Laufe der Nacht auf der Intensivstation des Universitätsklinikums verteilt hatte. Sechzehn Betten verteilt auf sechs Patientenzimmer, da gab es viel Raum, um Dinge zu verlegen. Eigentlich sollte er als Professor für Innere Medizin keine Nachtdienste mehr machen, aber der Personalmangel forderte an allen Ecken und Kanten seinen Tribut.

„Na, wohl eine lange Nacht gehabt, Professor Breitner. Lassen Sie sich nicht ärgern“, rief die Krankenschwester Alexander zu, die nach einer geruhsamen Nacht daheim – fit für den Frühdienst – an ihm vorbeirauschte. Nach zwanzig Berufsjahren in einer der bestausgestatteten Kliniken, der Patienten aus allen Kontinenten zugewiesen wurden, ärgerte ihn fast nichts mehr. Alexander verkniff sich eine entsprechende Bemerkung, ging in sein Büro und genoss für einen Moment die Stille. Das Piepen und die Alarmtöne der Monitore und Geräte, die Lunge und Herz der Patienten unterstützten, konnten ganz schön an den Nerven zehren. Er freute sich auf eine Dusche und das monotone Wasserrauschen, während er sich den Schweiß der Nacht vom Körper waschen würde. Mit 40 Jahren gingen die Nachtdienste nicht mehr spurlos an ihm vorüber.

Müde ließ er sich auf seinen Bürostuhl fallen und schaltete seinen Pieper aus. Jetzt war er für niemanden mehr zu erreichen, zumindest für die nächsten zehn Stunden. In seinem Büro war es herrlich kühl und die gläserne Platte seines Schreibtisches glänzte im Morgenlicht. Die Putzfrau hatte wieder hervorragende Arbeit geleistet. Kein Staubkorn irritierte das Licht, das durch die großen hellen Fenster hereinfiel. Selbst eine Tasse aus der neuen Rosenthal-Kollektion stand unter seiner Espressomaschine. Er drückte den Startknopf und schon wurde das Zimmer von dem Duft des Espressos durchströmt. Vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrennen, nippte Alexander an dem heißen Getränk und plante seinen freien Tag nach dem anstrengenden Nachtdienst. Als Erstes würde er mit seinem Rennrad nach Hause radeln. Der Pförtner würde ihn wie immer freundlich begrüßen und dann würde ihn der bronzene Aufzug in seine Wohnung befördern. Nach einer heißen Dusche würde er ein paar Stunden schlafen, dann zur anstehenden Laborbesprechung gehen. Abends würde er Linda aus der Kanzlei abholen und sie würden eine Kleinigkeit zusammen essen. Er war noch unentschlossen, ob er ihr vorschlagen sollte essen zu gehen oder es sich bei ihm gemütlich zu machen. Linda ging lieber auswärts essen, wobei sie selten zweimal in ein und dasselbe Restaurant ging. Er dagegen fühlte sich zu Hause bei einem Glas Wein wohler als in den ständig wechselnden Lokalitäten.

Ein Jahr waren Linda und er schon liiert, nachdem sie sich auf einer Kunstausstellung in Kreuzberg kennengelernt hatten. Ihre toughe Art, ihre schlanke Figur und ihre wachen Augen faszinierten ihn noch immer. Auch wenn er gestehen musste, dass sie ihm manchmal ein wenig Angst einjagte, wenn sie von ihren erfolgreichen Gerichtsverhandlungen erzählte. Gut, dass er bislang noch keinen Anwalt beziehungsweise keine Anwältin benötigt hatte – und das würde hoffentlich auch so bleiben.

Nachdem der Tag gedanklich durchgeplant war, nahm Alexander den letzten Schluck seines Espressos und verließ die Klinik.

Kapitel 2

Nach der Laborbesprechung am Nachmittag freute er sich auf den gemütlichen Teil des Tages. Voller Elan radelte er von der Klinik Richtung Berlin-Mitte zu seiner Wohnung. Schon bevor er auf sein Rad gestiegen war, hatte ihn ein leichtes Hungergefühl überkommen. Er beschloss im Lafayette einzukaufen und schickte Linda eine SMS über sein Smartphone, ob sie mitessen wolle. Als er an ihrer Kanzlei vorbeikam, fuhr er langsamer und hielt Ausschau nach ihr, aber sie war nirgends zu sehen, sodass er wieder fester in die Pedale trat.

Am Lafayette angekommen, stieg er von seinem Rad und kettete es an ein Straßenschild. Er versuchte noch einmal Linda zu erreichen, musste jedoch feststellen, dass sie ihr Handy ausgeschaltet haben musste. Das tat sie häufig, wenn sie mit Klienten sprach. Da sie als ehrgeizige Juristin ihrem Job gerne Vorrang gab, war die Stille des Telefons für ihn das eindeutige Zeichen, heute Abend nicht mehr auf sie warten zu müssen. Nun gut, so brauchte er nur für sich selbst einzukaufen. Vielleicht war sie aber auch mit ihren Rechtsanwaltskollegen auswärts essen gegangen. In diesem Fall war es gut, dass sie nicht gefragt hatte, ob er mitkommen wollte. Bei den Fachgesprächen über laufende Verhandlungen saß er meist stumm daneben und nippte an seinem Wein, weswegen er ein Zusammentreffen mit Lindas Kollegen gerne vermied. Er betrat den Laden und fuhr mit der Rolltreppe hinunter in die Feinkostabteilung. Alexander liebte den Anblick der hochwertigen Weine. Es war der erste Blick, den man erhaschte, sobald man die Welt der Lebensmittel erreichte. Zielstrebig ging er auf das Weinregal zu und wählte einen italienischen Merlot Barrique aus dem Jahr 2008. Danach lief er seine gewöhnliche Runde durch den Laden und legte Oliven, die fertigen Käsewürfel, ein Ciabatta und eine kleine Edel-Salami mit besonders feiner Körnung in seinen Einkaufskorb. Im Prinzip kaufte er immer die gleichen Produkte, wenn er für sich alleine einkaufte. Die große Masse an Produkten überforderte ihn und er hatte keine Lust darüber nachzudenken, also blieb er bei dem, was er kannte und für gut befunden hatte. Nur bei den Rotweinen machte er gelegentlich eine Ausnahme. Das Lafayette war fast leer und er genoss die Ruhe und das Fehlen von Gedränge und Hektik in den Gängen. Gemütlich schlenderte er zur Kasse und legte seine Einkäufe auf das Band. Die Verkäuferin lächelte ihm freundlich zu und packte alles sofort in eine Tragetüte. Er liebte diesen Service. Unnötigerweise legte sie den Kassenbon gleich dazu. Während er auf der Rolltreppe nach oben fuhr, ärgerte er sich noch ein wenig über die Kassenbon-Thematik. Seiner Ansicht nach war das reine Papierverschwendung. Er kannte niemanden, der auch nur einmal wieder einen Blick auf einen Kassenbon geworfen hatte. Doch als er mit seiner gefüllten Einkaufstüte nach Hause radelte, war sein Ärger bereits verflogen und er freute sich auf einen ruhigen Abend und den kräftigen Rotwein.

Alexanders Abendessen liefen immer nach einem festen Schema ab. Linda machte sich deswegen häufig über ihn lustig, aber er mochte keine Abweichungen, auch wenn er sich selbst dadurch oft langweilig vorkam. Für seinen Geschmack war es einfacher, das Gefühl der Inflexibilität zu ertragen, als sich ständig Gedanken darüber zu machen, wie man Dinge anders machen könnte. Also räumte er – wie gewohnt – seine Einkäufe in den Kühlschrank, gleich nachdem er in seiner Wohnung angekommen war. Nur den Rotwein füllte er schon in seine gläserne Karaffe, damit er atmen konnte, während Alexander duschte. Frisch gewaschen und mit feuchten Haaren schlüpfte er in seine bequemen Jeans und sein weißes Shirt und dann begann der gemütliche Teil des Abends. Erst legte er eine klassische CD von Wagner in seinen CD-Player. Von der Musik beschwingt, zündete er die Kerzen auf dem Tisch und in dem siebenarmigen Leuchter am Fenster an. Die wohlige Stimmung aufnehmend, ging Alexander in die Küche und füllte die Oliven in seine rote Schale – ein Mitbringsel aus Venedig – und legte die Käsewürfel und die Salami, in feine Scheiben geschnitten, auf die dazugehörige Platte. Im Takt der Musik schlenderte er in sein Wohnzimmer und stellte die Köstlichkeiten auf den gläsernen Tisch neben dem großen, ledernen Ohrensessel. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Die Kerzen füllten seine sonst so mondäne und etwas kühl wirkende Wohnung mit warmem Licht. Aus der gläsernen Vitrine neben dem Sessel wählte er, wie immer, das bauchige Glas mit dem langen Fuß. In ihm ließ sich der Wein so wunderbar schwenken, auch wenn man das eigentlich nicht machte. Mit der Weinkaraffe in der Hand setzte er sich schließlich in den Sessel und schenkte sich genüsslich ein Glas Wein ein. Mit dem Weinglas in der einen Hand, mit der anderen nach den Oliven greifend, genoss er den Blick aus der großen Glasfront. Quirlig und bunt tanzten die Lichter der Stadt vor seinen Augen. Manchmal stimmten ihn die klassische Musik und die Kraft des Weines wehmütig und weckten eine Spur Lebenshunger und den Wunsch nach Veränderung in ihm. Dieses Gefühl war jedoch morgens wieder verschwunden. Schon am Nachmittag freute er sich wieder auf sein allabendliches Ritual. Gut, dass bald Wochenende war!

Kapitel 3

Alexander hatte den ganzen Sonntag am Schreibtisch in seinem Klinikbüro gesessen und Laborwerte fein säuberlich in seine Excel-Tabelle eingegeben. Akribisch hatte er die Zahlen seiner Doktoranden bis auf die letzte Kommastelle überprüft und für korrekt befunden. Bis auf die Tastatur, zwei Stifthalter und seine schlichte Espressotasse war sein Schreibtisch leer. Sein Fahrradhelm und seine Funktionsjacke hingen adrett an dem silbernen Kleiderhaken an der Wand neben dem Bild, auf dem ein riesiger Hirsch abgebildet war, ein Geschenk seiner Eltern zum Einzug in sein Büro vor fünf Jahren. Nun lehnte er sich zufrieden zurück. Der geplante Beitrag würde die Kongressteilnehmer begeistern. Sie würden seine Zielstrebigkeit und seine Genauigkeit loben. Er blickte sich im Raum um und gab sich den Gedanken seines Erfolges hin. Da klopfte es plötzlich an der Tür. Die Putzfrau stecke ihren Kopf zur Tür herein:

„Guten Tag, Professor Breitner! Sind Sie schon wieder fleißig bei der Arbeit?! Mit Ihnen habe ich gar nicht gerechnet. Ich komme dann morgen wieder und reinige Ihr Büro. Ich will Sie gar nicht stören.“

Alexander hob abwesend den Kopf und schaute die Frau mit den von der Arbeit geröteten Wangen an. „Es stört mich nicht. Machen Sie ruhig Ihre Arbeit“, erwiderte er freundlich.

Die Putzfrau lachte unsicher. „Nein, es macht mir gar nichts aus, Ihr Büro morgen früh zu reinigen. Wissen Sie, ich bekomme gleich noch Besuch von meiner Tochter und wir wollen mit den Kindern einen Spaziergang machen. Arbeiten Sie in Ruhe weiter!“ Leise schloss die Frau die Tür. Alexander blieb an seinem Schreibtisch zurück und blickte auf die geschlossene Tür.

Und da war es plötzlich wieder. Dieses Gefühl, das ihn schon seit einiger Zeit, aber eigentlich nur abends plagte. Ein Gefühl der Einsamkeit und des Verpassens. Der Hunger nach Leben, er musste nur danach greifen, aber er wusste nicht wie. Sein Büro kam ihm sehr steril vor. Ihn nervte die leere Schreibtischplatte, sie war wie er, makellos und langweilig. Die Stille im Raum erdrückte ihn fast.

Sein Schreibtisch stand an der gleichen Stelle wie vor fünf Jahren – und genau das musste jetzt geändert werden. Entschlossen stand Alexander auf und fing an, den Schreibtisch zu verrücken. Von der einen Zimmerecke hievte er das gläserne Konstrukt in die nächste Ecke und stellte es zudem noch quer. So war es ihm zwar unmöglich, an seinen Schreibtischstuhl zu gelangen, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Er öffnete eine Musikdatei in seinem Rechner und aktivierte die auf stumm gestellten Lautsprecher. Laute Rockmusik von Alice Cooper drang aus den Boxen.

Seine Jacke und seinen Helm nahm er vom Haken. Warum mussten Kleidungsstücke immer an einem Haken hängen? Dazu gab es kein Gesetz, soweit er wusste. Er warf die Sachen in die Ecke. Das Bild mit dem Hirsch nahm er von der Wand und hängte es verkehrt herum wieder auf. Dieser Hirsch hatte ihm eigentlich noch nie gefallen. Auch seine Espressomaschine und seine Bücher standen unbewegt an Ort und Stelle. Er räumte sie um und stellte mit Erschrecken fest, dass das Holz an diesen Stellen noch viel heller war. Wenn sein Schreibtisch nicht aus Glas gewesen wäre, hätte man auch die Kreise seiner Federhalter und seiner Stifthalter nach dem Verrücken sehen können.

Nachdem er eine Stunde sein Büro umgeräumt hatte, stand er erschöpft in der Tür und betrachtete sein Werk. Er schüttelte den Kopf. Morgen würde er seiner Putzfrau sagen, dass sie alles wieder an die alten Stellen räumen sollte, irgendwie behagte ihm der neue Anblick auch nicht. Er nahm Jacke und Helm vom Boden und ging zu seinem Rad. Er musste früh ins Bett, denn morgen war Montag und dann ging der Alltag weiter. Was war gerade bloß in ihn gefahren? Er mochte sein Leben, so wie es war – geradlinig und konstant.

Kapitel 4

An einem schönen Spätsommertag in Berlin, von dem Alexander nicht viel mitbekam, da er in der Klinik war, klingelte sein privates Handy. Er fühlte sich gestört, denn er konnte das Eindringen seines Privatlebens in die Arbeitswelt nicht ausstehen. Auch Linda hatte er untersagt, ihn während der Arbeit zu kontaktieren. Als er jedoch auf dem Display die Nummer von Jürgen sah, wurde er neugierig.

Jürgen war sein ehemals bester Freund und WG-Mitbewohner während des Studiums. Gemeinsam waren sie durch dick und dünn gegangen und hatten beide Geschmack an der Inneren Medizin gewonnen. Begeistert von dem Fach büffelten sie ganze Nächte lang durch und bestanden die Prüfung schließlich als die Besten ihres Semesters. Sie beschlossen beide, Internisten zu werden. Die Innere Medizin hatte sie von Beginn an fasziniert. Doch nach dem Studium trennten sich ihre Wege. Während Alexander einen elitären, universitären Weg einschlug, wechselte Jürgen häufig die Stellen und machte sich schließlich mit einer kleinen Hausarztpraxis in Zinnowitz selbstständig. Anfangs hatten sie noch regelmäßig telefoniert, aber irgendwann war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen. Jürgen sprudelte immer über vor neuen Ideen und Lebenskonzepten, Alexander war bodenständig und fest in seinem Alltag verankert. Die ständig wechselnden Konzepte von Jürgen strengten Alexander an und Jürgen fühlte sich nach den Gesprächen mit seinem Freund bleischwer und fast schon depressiv. Doch trotz des nachlassenden Kontaktes verband die beiden Männer eine tiefe Freundschaft.

Alexander nahm ab und hörte sofort Jürgens sich vor Elan überschlagende Stimme. Er sei am Nachmittag in Berlin und wolle ihn gerne treffen. Er hätte Neuigkeiten, die vielleicht auch etwas Schwung in Alexanders Leben bringen würden. Alexander zögerte, eigentlich hatte er sich auf einen ruhigen Abend zu Hause nach den letzten Laborsitzungen gefreut. Das Weinregal des Lafayette erschien vor seinem geistigen Auge und war sehr verlockend. Nachdenklich schaute er auf seinen Kalender. Er schlug Jürgen vor, sich bei ihm zu Hause zu treffen, so könnte er zumindest einen Teil seines abendlichen Programmes durchziehen. Aber er hatte seine Rechnung ohne Jürgen gemacht.

„Nein, auf keinen Fall! Hast du mal nach draußen geschaut, altes Haus? Bei diesem strahlenden Sonnenschein setze ich mich nicht in deine Bude! Das ist pure Zeitverschwendung. Außerdem solltest auch du deine Wohnung öfter mal verlassen. Was hältst du von der Strandbar-Mitte? Die ist doch gar nicht so weit von dir. Und Salsa-Musik ist gerade genau mein Ding.“ Etwas irritiert schaute Alexander aus dem Fenster – und tatsächlich, die Sonne strahlte. Keine Wolke war am Himmel und plötzlich bekam er Lust auf ein kühles Bier an der Spree. Er war etwas erschrocken von dem Gedanken, denn er war ein passionierter Weinliebhaber. Aber irgendetwas in ihm strebte nach dem Bier an der Spree. Er stimmte dem Treffen zu, auch wenn er es im nächsten Moment bereute. Salsa war nicht gerade die Musik, die er bevorzugte.

„Geht doch!“, freute sich Jürgen. „Dann um acht an der Strandbar. Dass du pünktlich sein sollst, muss ich dir ja wohl nicht sagen, du alter Haarspalter!“, frotzelte er. Alexander war etwas beleidigt. So schlimm war er ja nun auch nicht. Der Tag verging und er dachte darüber nach, welche Neuigkeiten Jürgen wohl hatte. Schwung in sein Leben bringen, kamen ihm wieder Jürgens Worte in den Sinn. Sein Leben war doch völlig in Ordnung so, wie es war. Schwung beinhaltete etwas von Veränderung und das verursachte bei Alexander ein leichtes Unbehagen, aber die Neugierde siegte. Pünktlich um viertel nach sieben verließ Alexander die Klinik. Die Laborbesprechung hatte er um einen Punkt gekürzt. Eigentlich brauchte er nur fünfzehn Minuten mit dem Rad zur Strandbar, aber man wusste ja nie, und zu spät zu kommen war für ihn eine Schmach. So fuhr er seine gewohnte Strecke, doch an der Stelle, wo es links zum Lafayette und rechts zur Strandbar ging, bereute er seine Zusage zu der Verabredung mit Jürgen erneut. Er seufzte und widerstand dem Drang, links abzubiegen. Viertel vor acht erreichte er die Strandbar und wartete eine geschlagene Stunde auf Jürgen.

Kapitel 5

Um ehrlich zu sein, ist mir nicht klar, was du dir dabei gedacht hast!“, schrie Jürgen. „Du kannst nicht in das Zimmer des Professors einbrechen und die Prüfungsunterlagen klauen.“ Alexander zeigte sich uneinsichtig. Trotzig reckte er sein Kinn vor, lehnte sich an die Wand neben dem Herd und vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Na und! Was ist schon dabei? Ich will die Prüfung als Bester bestehen. Hinterher fragt niemand mehr danach, wie man es geschafft hat, sondern es zählt nur das Ergebnis! Verschwinde du ruhig in der Anonymität der Mittelmäßigkeit“, konterte Alexander. Jürgen war schockiert und schüttelte fassungslos den Kopf. „Es ist nicht rechtens, sich seinen Erfolg mit Betrug und unrechten Mitteln zu erschleichen. Damit nimmst du denen, die es wirklich draufhaben, die Möglichkeit zu gewinnen. Das tut man einfach nicht! Ich bleibe lieber mittelmäßig und kann dafür morgens in den Spiegel schauen, wissend, dass alles, was ich erreicht habe, auf einer ehrlichen Basis beruht!“ Jürgen goss sich ein Glas Wasser ein. Aufgebracht trank er einen Schluck und setzte das Glas mit einem Knall auf der hölzernen Tischplatte ab. Alexander, bislang an der Küchenwand anlehnend, stieß sich mit seinem Bein von der Wand ab und fing an, in der Küche auf und ab zu laufen. Wild gestikulierte er mit seinen Händen in der Luft herum. „Das sehe ich entschieden anders! Glaubst du etwa, alle, die an der Spitze stehen, und ich meine die ganz Großen, sind dorthin gekommen, weil sie prinzipiell gut sind? Glaubst du, nur durch ehrliche Arbeit kommt man an Macht? Nein, ich werde da nachhelfen. Wem hat es schon geschadet, dass ich einen Blick auf die Lösungen riskiert habe? Ich wollte dich an den Lösungen teilhaben lassen. Hätte ich dir bloß nichts erzählt! Ich bin so ein Idiot!“ Entschieden schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Du bist mein Freund und ich wollte dir etwas Gutes tun. Jetzt kannst du selber schauen, wie du die Prüfung bestehst. Vielleicht fällst du durch, aber du hast es nicht besser verdient. Immer auf Achse und keine Feier lässt du aus. Warum solltest du gute Klausuren schreiben? Nur weil du mit einem klaren Verstand gesegnet bist? Das findest du gerecht? Ich lerne und lerne und trotzdem schaffe ich es nicht an die Spitze!“ Der Stuhl fiel polternd um, als Jürgen mit Schwung aufstand. „Wenn das deine Meinung ist, kannst du dir einen neuen Freund suchen! Ich bestehe meine Prüfungen auf ehrlichem Wege. Mach doch, was du willst, aber ohne mich.“ Die Küchentür der gemeinsamen Wohngemeinschaft fiel knallend ins Schloss. Alexanders Erinnerungen brachen ab.

Wie konnte Jürgen ihm das antun? Alexander schäumte vor Wut. Nachdem er das Angebot abgelehnt hatte, seine Hausarztpraxis in Zinnowitz zu übernehmen, zog Jürgen andere Saiten auf. Er erinnerte ihn an diesen Einbruch bei seinem Professor der Inneren Medizin, um an Prüfungsunterlagen zu gelangen. Nachdem er damals die Unterlagen an sich genommen hatte, beging er den Fehler, Jürgen einzuweihen. Jürgen machte ihm schwere Vorwürfe und die beiden Freunde hatten schlimm und ausdauernd gestritten. Ihre Freundschaft bekam einen Knacks und litt monatelang darunter, obwohl er seinen Fehler eingesehen hatte und die Prüfungsunterlagen vernichtete. Alexander hatte die Prüfung wiederholt und sie ohne fremde Mittel bestanden – als Bester. Nichtsdestotrotz war der Einbruch geschehen. Jetzt wollte Jürgen den Einbruch dem Rektor der Universität melden, natürlich mit Alexanders Namen, wenn Alexander nicht seine Praxis in Zinnowitz übernahm. Sein Ansehen wäre für immer beschmutzt und vielleicht würde man ihm den Professorentitel aberkennen. Was sollte er in Zinnowitz? Er gehörte nach Berlin. Sein Leben war bis dahin ruhig und sortiert verlaufen mit ausreichend kleinen Höhen und Tiefen, wie er fand, aber auch das sah Jürgen anders. Er meinte, sein Leben sei zu belastend und in zu festgefahrenen Bahnen. Ihm blieben also nur zwei Varianten. Entweder er blieb in Berlin und verlor seinen Ruf als ehrenwerter Professor oder er ging an diesen furchtbaren Ort an der Ostsee und übernahm die Praxis. Er musste noch mal mit Jürgen reden, auch wenn er das Gefühl nicht loswurde, dass es nichts ändern würde. Er kannte die Sturheit seines besten Freundes.

Kapitel 6

Zwei Tage waren seit dem Treffen mit Jürgen vergangen und Alexander wusste immer noch nicht weiter. Jede Nacht lag er schlaflos in seinem Bett und grübelte. Warum musste sich Jürgen ausgerechnet jetzt in eine Mexikanerin verlieben und sich dann auch noch in den Kopf setzen, nach Mexiko zu ziehen? Mexiko! Wusste der nicht, wie gefährlich das Leben dort war? In Zinnowitz gab es doch sicherlich auch attraktive Frauen. Warum bloß Mexiko? Und wieso bevorzugte diese Frau nicht die Ostsee als Wahlheimat? Normalerweise reisten doch immer die Frauen den Männern hinterher und nicht umgekehrt. Am liebsten hätte er vor Verzweiflung geschrien und seine Hände vor das Gesicht geschlagen. Mühsam schleppte er sich zur Arbeit.

Die morgendliche Frühbesprechung begann schon bald. Mit neutralem Gesicht saß er auf seinem Stuhl. Jürgen war schon immer so gewesen. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es durch, mit allen Konsequenzen. Diese Frau schien ihm ganz schön den Kopf verdreht zu haben und Alexander steckte ganz schön in der Klemme, das war ihm nur zu bewusst. Seine ganze Karriere stand auf dem Spiel, wenn Jürgen seine Drohung wirklich wahrmachte und ihn verriet. Er verstand nicht, warum ausgerechnet er die Urlaubsvertretung übernehmen sollte. Alexander hatte Jürgen einen guten Kollegen von ihm vorgeschlagen, dessen Ehefrau von der Idee, den Sommer an der Ostsee zu verbringen, ganz begeistert war, aber Jürgen hatte abgelehnt. Er bestand darauf, dass er ihn vertrat. Alexander hätte am liebsten geschrien, als er die Mail von Jürgen las. Dabei wäre dies eine Lösung gewesen, die allen dienlich gewesen wäre, insbesondere ihm. Wütend hatte er seinen Laptop zugeklappt.

Langsam begann er paranoid zu werden. Überall vermutete er wissende Gesichter. Gestern auf der Intensivstation hatte ihm Schwester Gudrun vor der Visite auf die Schulter geklopft und gerufen: „Ach Professor! Gut, dass es noch Leute wie Sie gibt! Immer ehrlich und geradeheraus!“ Er hatte sich gefühlt, als hätte sie ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Wusste sie Bescheid über seinen Betrugsversuch und ihr vermeintliches Lob war als purer Hohn gemeint? Ihre Augen blickten ehrlich und ihre Wangen waren von der Arbeit gerötet. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst und hing auf dem grünen Kasack. Alles war wie immer. Aber trotzdem. War dies ein Test, um seine Reaktion auszuloten? Es konnte nicht sein, hatte er doch in Bochum studiert und sie war von Geburt an eine echte Berlinerin. Ihre Ausbildung hatte sie eben in dieser Stadt absolviert, hatte sie ihm irgendwann mal erzählt. Blass und schwitzend stand er die Zeit der Visite durch und war kaum in der Lage, dem jungen Assistenzarzt zu folgen. Er konnte nur hoffen, dass der motivierte Jüngling die Patienten auch wirklich im Griff hatte und sich keine Fehler erlaubte. Zügig verabschiedete er sich nach der Visite von der Intensivstation und verbrachte eine Stunde in seinem Büro, um sich hinzulegen.

Erschöpft lag er auf dem Boden hinter seinem Schreibtisch. Das machte er sonst nie. Sein Rücken schmerzte von der Härte des Bodens und er roch das Desinfektionsmittel, mit dem der Boden gereinigt wurde. Trotzdem fiel er in einen kurzen und tiefen Schlaf. Als er wach wurde, fühlte er sich entspannter und trank erst mal einen Espresso. Das vertraute Gurgeln der Maschine gab ihm das Gefühl von Normalität zurück. Und der Hirsch auf dem Bild schaute ihn mit dem gewohnten leeren Blick an. In der Laborkonferenz war er dann wieder fit und es waren ihm gute Ideen für neue Versuche eingefallen. Er musste sich einfach mehr zusammenreißen. Ein lautes Klopfen der Kollegen auf den Tisch unterbrach seine Gedanken und läutete den Beginn des Tages ein.

Die Frühbesprechung war beendet.

Heute würde er sich nicht so aus der Ruhe bringen lassen. Sieben Tage Bedenkzeit hatte er mit Jürgen vereinbaren können. Das war das einzige Zugeständnis, das Jürgen machte. Heute waren es noch fünf Tage. „Entschuldigen Sie, Professor Breitner. Haben Sie eine Minute Zeit für mich?“ Der junge Assistenzarzt von gestern von der Intensivstation stand vor ihm und Alexander stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er gar nicht seinen Namen kannte. Verstohlen blickte er auf das Namensschild. Felix Ploch – einen Doktortitel hatte er also noch nicht. „Ja, habe ich. Wie kann ich Ihnen helfen?“, antwortete er höflich reserviert. Ein freudiges Lächeln machte sich in dem noch nicht von vielen Nachtdiensten gezeichneten Gesicht breit. Er strich sich etwas verlegen seine blonden Haare aus dem Gesicht und begann: „Ich bin mir darüber im Klaren, dass Sie derzeit viel um die Ohren haben, aber wie Sie vielleicht wissen, habe ich noch nicht promoviert und ich würde meine Doktorarbeit gern bei Ihnen schreiben. Sie haben einen so guten Ruf. Haben Sie vielleicht Projekte, an denen ich mitforschen könnte? Rhythmusstörungen interessieren mich sehr.“ Geschmeichelt schaute Alexander den Assistenzarzt von oben bis unten an. „Gute Leute kann man immer gut gebrauchen“, dachte er bei sich. Laut erwiderte er: „Sie können gerne bei mir promovieren. Lassen Sie uns doch ...“ In diesem Moment vibrierte sein Handy in der Kitteltasche. Sofort nahm er es heraus. Eingang einer Textnachricht.

Es sind noch fünf Tage, mein lieber Freund. Ich hoffe, du kommst deiner Entscheidung näher. Liebe Grüße Jürgen

Alexanders Hand ballte sich zu einer Faust. „Verdammt, es war doch besprochen, dass ich eine Woche meine Ruhe habe“, entfuhr es ihm.

„Alles in Ordnung, Professor Breitner?“ Die Worte des Blondschopfes holten ihn in die Realität des Frühbesprechungsraumes zurück. „Kommen Sie einfach morgen Vormittag in mein Büro“, gab Alexander patzig zur Antwort und verließ mit schnellen Schritten den Konferenzraum in Richtung seines Büros. Dort angekommen, setzte er sich an seinen Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Wie sollte das bloß weitergehen? Eine E-Mail ging auf seinem Computer ein. Einer seiner abonnierten Tageszeitung-Newsletter. Die Überschrift lautete:

Der renommiere Richter Müller legt wegen Betruges im Rahmen seiner Dissertationsarbeit das Amt nieder. Die Behörden nehmen die Ermittlung auf.

In wenigen Wochen würde sein Name dort stehen, wenn er nicht nach Zinnowitz ging. Mit zittrigen Fingern googelte er Zinnowitz. „Entspannung für die ganze Familie. Ein Muss für jeden Ostsee-Liebhaber“ prangte als Slogan auf der ortseigenen Homepage. Schnell schloss er die Seite und blickte auf seine goldene Armbanduhr, die ein Geschenk seines Großvaters war. Er war schon eine halbe Stunde zu spät dran. Die Patienten stapelten sich wahrscheinlich bereits auf dem Gang. Das würde einige Beschwerden einbringen. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und machte sich entschlossen auf den Weg in die Ambulanz.

Die folgenden Stunden arbeitete Alexander wie ein Uhrwerk, doch als die Arbeit getan war, konnte er gar nicht schnell genug zu seinem Fahrrad kommen. Er freute sich auf einen ruhigen Abend mit einem Glas Rotwein. Ihm fiel auf, dass er den ganzen Tag nichts von Linda gehört hatte, und wählte ihre Nummer. Erneut meldete sich nur die automatische Ansage. Schnell legte er auf. Er versuchte es auf ihrem Festnetztelefon, doch auch dort sprang nur der Anrufbeantworter an. Alexander beendete sein Telefonat. Eine Nachricht hinterließ er nicht. Was hätte er auch sagen sollen? „Sorry, Schatz, mein ganzes Leben gerät gerade aus den Fugen, weil ich als Student versucht habe zu betrügen. Ja genau, du bist seit einem Jahr mit einem Lügner liiert.“ Auch ein „Liebling, ich finde, wir sollten unseren Lebensmittelpunkt nach Zinnowitz verlegen. Die Luft ist dort so gut und sie suchen in dem Ort sicher noch eine Rechtsanwältin, die große Firmen berät, und ach ja, aber zusammenziehen tun wir nicht. Zwei Wohnungen sind doch eh viel praktischer“, erschien ihm ebenfalls wenig tragbar als Mitteilung auf Lindas Anrufbeantworter. Um genau zu sein, wusste er nicht einmal, wie viel er Linda prinzipiell von seiner Misere erzählen sollte. Verständnis würde sie dafür kaum haben. Ihr Leben war perfekt, ebenso wie ihr Aussehen und ihre unermüdliche Energie. Von den Klienten der Gegenseite war sie gefürchtet. Aus diesem Grund war es gut, dass sie nicht zu erreichen war. Heute Abend brauchte er nun wirklich niemanden um sich herum. Wind kam auf und Alexander fröstelte. Rasch stieg er auf sein Fahrrad und radelte den gewohnten Weg nach Hause. Als er ankam, zeigte das Präsent seines Großvaters bereits zwanzig Uhr an. Es nieselte und er war mittlerweile bis auf die Haut durchnässt.

Nachdem er sein Fahrrad in den Innenhof geschoben hatte, ging Alexander zu seinem Briefkasten. Der Schlüssel klirrte im Schloss. Bald hatte er den Tag überstanden. Das Glas Rotwein befand sich bereits in greifbarer Nähe. Er würde heute den Bordeaux wählen. Einige Werbeprospekte fielen aus dem blechernen Kasten. „Warum klebt wohl der Aufkleber ‚Keine Werbung!‘ auf meinem Briefkasten?“, dachte Alexander prompt. Ärgerlich knüllte er die Zettel zusammen. Konnte der Postbote nicht lesen? Doch dann sah er etwas hinten in der Ecke klemmen. Es war eine Postkarte. Er griff danach. „Entfernung ist nichts. Sich nah zu sein ist eine Sache des Herzens“ war der Slogan auf dem Cover. Abgebildet waren Blumen in zartem Weiß und Rosé. Alexander wurde unruhig und der Boden begann unter seinen Füßen zu schwanken. Nicht auch das noch! Es konnte nicht sein. Nicht nach all den Jahren. Es war so viel Zeit vergangen, dass er das, was damals geschehen war, bereits in die imaginäre Welt abgeschoben hatte. Lange hatte es gebraucht, bis er nicht mehr jeden Tag daran dachte. Er wendete die Karte.

Iris hat mir alles erzählt. Ich freue mich, dich gefunden zu haben, und werde dich bald besuchen. Liebe Grüße L. F.

Alexander zerriss die Karte in kleine Fetzen. Er stieg in den Aufzug zu seinem Loft und lehnte den Kopf an das kühle Metall. Sein Herz raste und Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Vielleicht war Zinnowitz doch keine schlechte Idee, zumindest für eine gewisse Zeit. Jürgen war sprunghaft. Keine Beziehung hielt bei ihm lange. Er würde nach Mexiko gehen. Nach ein paar Wochen würde er das Interesse an der Frau verlieren und würde Geld brauchen. Auch wenn Jürgen in Mexiko ein wohlhabender Mann war, irgendwann würde auch er seinen letzten Peso ausgegeben haben. Frauen waren ja bekanntlich teuer. Dann müsste er seine Praxis wieder übernehmen. Und er, Alexander, könnte zurück nach Berlin gehen und sein altes Leben wiederaufnehmen. Sein damaliger Betrug bliebe unentdeckt und auch die andere Sache wäre ausgestanden. Er müsste nur vor der Abreise sein Klingelschild austauschen. Wenn er niemandem sagte, wo er war, dann konnte er auch nicht gefunden werden.

Der Aufzug hielt an und Alexander spürte die Ruhe seiner Wohnung. Das Festnetztelefon klingelte, aber er ignorierte es. Ohne die Schuhe auszuziehen, ging er in die Küche zum Weinregal. „Wo war nur der Bordeaux?“ Er ging die Flaschen durch und fand sie nicht. Sein Blick fiel auf eine Flasche Lambrusco auf dem Herd. Ein Geschenk eines Patienten, das er gestern achtlos dort abgestellt hatte. Alexander brauchte jetzt dringend ein Glas Wein. Er öffnete die Flasche Lambrusco und goss sich ein Glas ein. Der Geschmack erinnerte ihn sofort an seine Jugend. Es war der Einsteigerwein auf den ersten Partys gewesen. Morgen würde er vermutlich schlimme Kopfschmerzen haben. Er setzte sich in seinen Sessel. Wie sollte er seine Abwesenheit vor seinem Chef rechtfertigen? Zu dieser Frage fiel ihm einfach keine Antwort ein. Auch das zweite Glas Rotwein lieferte keine Lösung. Das Telefon klingelte erneut. „Verdammt, kann man denn nicht einen Abend seine Ruhe haben?“

Er stolperte zum Telefon. „Breitner.“

„Hier ist auch Breitner, Schatz. Seit Tagen versuche ich dich zu erreichen, geht es dir gut? Wir haben uns Sorgen gemacht! Hör mal, das kannst du deiner Mutter nicht antun. Dein Vater hat übrigens immer noch diese fürchterlichen Rückenschmerzen, kannst du da nicht etwas tun? Aber du kennst dich ja nur mit Herzen aus.“ Die Vorwürfe seiner Mutter hatten ihm gerade noch gefehlt.