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Über den Autor

Franz Brandl ist der bekannteste Barmeister Deutschlands. Im unterhaltsamen Stil erzählt er seinen Weg nach oben in der vielschichtigen Welt der Gastronomie und der Bars. Berühmte Persönlichkeiten kreuzten seinen Weg, und er war maßgeblich am Entstehen der neuen Cocktailära beteiligt. In diesem Buch berichtet er über die Entwicklung der Bars, und amüsante Geschichten erzählen über das Leben vor und hinter der Bar.

Mit seinen zahlreichen, seit 1982 erschienenen Cocktail- und Getränke­büchern öffnete Franz Brandl vielen den Einstieg in die Welt der Cocktails und Bars, und seine beruflichen Erfolge sind eng mit dem Aufschwung der Gastronomie verbunden.

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Der Start

Am 4. Oktober 1944, dem Tag meiner Geburt, lagen mein Vater und ich in der Scheiße. Ich in den Windeln und er an der Ostfront. Dort war er auf Befehl des Gröfaz (»größter Feldherr aller Zeiten«). Darüber muss man nicht viel schreiben, denn dieses Kapitel gereichte dem deutschen Volke nicht zu Ruhm und Ehre. Gleichwohl beeinflusste es nicht nur mein Leben massiv, sondern auch das meiner Familie, das der Deutschen – und nicht zuletzt natürlich die Entwicklung der Welt.

Ein Blick in die »Münchner Neuesten Nachrichten« vom Mittwoch, 4. Oktober 1944, täuscht eine Normalität vor, die mich bis heute immer wieder verwundert. Gemeldet wurde als Aufmacher auf der Titelseite »Das Ende eines blutigen Abenteuers« mit dem Untertitel »Warschau als Opfer des britisch-sowjetischen Doppelspiels – die Rolle Moskaus«. Weitere Meldungen gab es über die »Angriffsvorbereitungen im Westen« und »De Gaulle auf einem Pulverfass«. Auf der zweiten Seite folgte ein OKW-Bericht (Oberkommando der Wehrmacht), in dem über militärische Brennpunkte berichtet wurde. Es folgten Sportnachrichten, ein Bericht über die Wertpapiermärkte und die Auslandsbörsen, über den zunehmenden Weltkaffeeverbrauch, über die Käseproduktion in der Schweiz. Noch normaler wurde es bei den Kleinanzeigen. Dort vermittelten Familiennachrichten und Todesanzeigen sowie Rubriken wie Verloren – Gefunden, Geschäftsempfehlungen, Tiermarkt, Vermietungen, Stellenangebote und -gesuche ein ganz normales Alltagsbild. Dass die Welt in Flammen stand, war nicht unbedingt ersichtlich, und heute liest sich diese Ausgabe relativ unspektakulär. Die gegen Deutschland kämpfenden Streitkräfte rückten jedoch von allen Seiten vor, und bald sollte nichts mehr so sein wie vorher.

In Bayern verwurzelt

Mein Geburtsort ist Gendorf bei Burgkirchen an der Alz, ein kleines Kaff im südostbayerischen Landkreis Altötting, etwa 100 Kilometer östlich von München gelegen. In dieser strukturschwachen Region entwickelte sich durch die Ansiedlung zahlreicher Betriebe das »bayerische Chemiedreieck«. Es entstanden große Unternehmen und die dazu benötigten Elektrizitätswerke. Nach 1933 wurden die bereits bestehenden Großbetriebe ausgebaut, und in Gendorf errichtete man einen riesigen elektrochemischen Betrieb. Das »Werk« war die alles beherrschende Größe der Region und beeinflusste unsere Familie bis zurück zu den Großeltern.

Die Altvorderen

Mein Großvater Lorenz Thanbichler (Jahrgang 1893) stammte aus einem kleinen Ort in der Nähe vom Freilassing, gegenüber von Salzburg. Seine Vorfahren waren dort seit dem Spätmittelalter ansässig, und sein Stammbaum ist zurück bis ins Jahr 1430 sicher bezeugt. Er war Zimmerer und ließ sich nach seiner Verwundung im Ersten Weltkrieg in Gendorf nieder. Dort gab es Arbeit, er baute ein Haus und heiratete 1921. Ein Jahr später kam meine Mutter zur Welt. Auch mein Vater (Jahrgang 1910) kam nach Gendorf, weil es dort Arbeit gab. Er war zwar nicht weit entfernt davon im südlichen Nachbarlandkreis geboren, aber mit 15 Geschwistern wurde es auf dem elterlichen Bauernhof zu eng. Noch dazu, wo ja immer der älteste Sohn den Hof erbte. Er war einfacher Arbeiter und nach Arbeits- und Militärdienst musste er 1941 mit in Jugoslawien einmarschieren. Als Gebirgsjäger diente er in der 11. Armee. Und das hieß: Russland. Hauptsächlich durch die Ukraine über die Krim bis in den Kaukasus und zurück. 1945 ergab sich sein Truppenteil in Böhmen den Russen, und die wollten die Kriegsgefangenen nach Russland bringen. Bei Nacht und Nebel gelang meinem Vater die Flucht, und er konnte sich bis in die amerikanisch besetzte Zone durchschlagen. In der oberfränkischen Stadt Naila stellte er sich den Amerikanern, die ihn jedoch wieder an die Russen auslieferten. Diese verfrachteten ihn nach Odessa.

Im Juli 1945, inzwischen auf 45 Kilogramm abgemagert, musterte ihn eine russische Ärztin aus, und er wurde mit einem Lazarettzug in die Heimat geschickt. Von München aus kam er mit einem Zug bis Mühldorf; die restlichen 20 Kilometer legte er irgendwie zurück.

Nach vier Wochen Rückreise und drei Monate nach Kriegsende war mein Vater wieder zu Hause. Das ist insofern unglaublich, da man ja weiß, wie lange viele deutsche Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft waren. Noch unglaublicher aber ist, dass auch seine neun Brüder, die allesamt bei der kämpfenden Truppe in Russland waren, mehr oder weniger unversehrt kurz nach Kriegsende wieder zu Hause waren. Gegen diese Heimkehrerquote ist ein Sechser im Lotto gar nichts.

Erschwerte Voraussetzungen

Deutschland lag am Boden, und es gab nichts. Durch unsere weitverzweigte Verwandtschaft war wenigstens das Nötigste zum Leben vorhanden. Wir wohnten äußerst beengt im Haus der Großeltern, und mein Vater arbeitete überall da, wo es Arbeit gab. Bald darauf nahm das »Werk« die Produktion wieder auf, und mein Vater wurde dort eingestellt. Nachdem er für 600 DM 1000 Quadratmeter Baugrund (für etwa zwei Monatslöhne) gekauft hatte, begann er zu bauen. Damals half jeder jedem, und vieles wurde selbst gefertigt. So waren z. B. die Schlackensteine selbst gemacht. Einer dieser Steine liegt nun seit über 60 Jahren vor dem Haus, sie sind quasi unzerstörbar.

1952 erfolgte der Einzug. Ich war acht Jahre alt, und jetzt begann auch mein Leben so richtig. Mein Vater arbeitete im Schichtdienst und meine Mutter tagsüber ebenfalls im »Werk«. Wir Kinder streunten durchs Gelände, badeten in der Alz (dem Abfluss des Chiemsees) und verbrachten unsere Zeit mit Fußball, als Räuber und Gendarm, als Cowboy und Indianer.

Die weite Welt klopft an

Von 1950 bis 1958 besuchte ich die Volksschule und lernte außer Lesen und Schreiben genauso wenig wie alle anderen. Man kann sagen, dass wir nach der Schule noch völlig verblödet waren. In einem zeichnete ich mich aber aus: Ich war ein Ass in Erdkunde. Bekannte unserer Familie besaßen einen kompletten Brockhaus. Nachdem ich darin viel gelesen hatte, blieb ich beim Atlas hängen. Von nun an las ich die Karten und alles, was damit zusammenhing.

Ab der sechsten Klasse verschonte mich unser Lehrer mit kindischen Fragen und mit dem Eintragen von irgendwas in Vordrucke. Mit der Geografie einher ging Geschichte und damit auch Politik. Alles Wissen, das ich später gut gebrauchen konnte. Unser Lehrer, ein Offizier der Wehrmacht, war nicht allzu streng, verteilte aber gerne mit dem spanischen Rohr Tatzen – Schläge auf die Hand mit einem Stock. Immer auf die linke, denn mit der rechten musste man schreiben. Linkshänder gab es zu dieser Zeit sowieso nicht (denn »was nicht sein darf, das nicht sein kann« ...). Des Herrn Lehrers Lieblingsfach war Sport. Dann ließ er uns in der Turnhalle militärisch ausgerichtet Aufstellung nehmen und im Gleichschritt marschieren. Dazu sangen wir alte Gassenhauer wie »Schwarzbraun ist die Haselnuss«, »Wir lagen vor Madagaskar« und besangen das kleine Blümelein »Erika«. War für alle befriedigend. Keine Schinderei – und wir lernten immerhin den aufrechten Gang.

Schule aus – und nun?

Das Schulende nahte, und die Frage »Was jetzt?« wurde immer dringlicher. Einige Mitschüler hatten den Bauernhof der Eltern, andere begannen in der elterlichen Schreinerei, Metzgerei oder was es sonst noch gab. Realschule oder gar Gymnasium besuchte keiner. Es blieben also nur die vom »Werk« ausgeschriebenen Lehrstellen in Handwerksberufen. War aber alles nichts für mich, und ich wartete weiter auf die geniale Idee.

Ich war mit der weiten Welt beschäftigt, las alles, was ich finden konnte, und träumte von Reisen zu all diesen Orten. Dann stellte sich jedoch die Frage: Wie? Ich wollte unbedingt auf ein Schiff und hinaus in die Ferne. Verrückt, wenn ich heute darüber nachdenke. Da ich mich aber nicht davon abbringen ließ, schrieb meine Mutter schließlich an das Arbeitsamt Mühldorf.

Anschreiben des Arbeitsamts Mühldorf

»Herr Ober!«

Auf den Gedanken, Kellner zu lernen, kam ich durch ein Buch, in dem sinngemäß über Piccolos im Hotel und deren Streiche erzählte wurde (Piccolos nannte man früher Kellner in der Ausbildung). Köche kamen darin zwar auch vor, aber das war nichts für mich. Das also war die Idee. Ich beschloss, Kellner zu lernen, um dann als Steward auf Schiffen zu arbeiten. Sollte ich sesshaft werden wollen, hätte ich auch eine Arbeit, die man an Land ausüben konnte.

Ende Oktober 1958 erhielt ich ein Schreiben vom Arbeitsamt Mühldorf, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich für eine Lehrstelle als Messejunge mindestens 16 Jahre alt sein müsse (Messejungen waren Hilfsbedienstete in der Küche und im Service auf Schiffen).

Also wieder Arbeitsamt und Anfrage für eine Kellnerlehre. Es bot sich eine Stelle in Mühldorf, einer etwa 20 Kilometer von meinem Zuhause entfernten Kreisstadt. Das war aber noch nicht weit genug weg und zudem immer noch Provinz. Die große Welt begann für mich erst mit der Vorstufe München, der Planet musste noch warten. Hätte ich geahnt, dass ich nun für Jahre in der Scheiße stecken würde – ich hätte es trotzdem getan ...

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Die Lehrzeit

Das Arbeitsamt München vermittelte mir 1958 eine Lehrstelle in einem Restaurant in der Münchner Innenstadt. Dieses lag unweit vom Stachus, dem damals verkehrsreichsten Platz Europas und Mittelpunkt der Stadt, nahe dem Hotel Bayerischer Hof. In diesem Teil der Stadtmitte war fast alles wieder aufgebaut, und die Ruinengrundstücke waren von Bretterzäunen verdeckt. Das heutige Aussehen erhielt München erst ab 1966, nach der Entscheidung, dass die Stadt die Sommerolympiade 1972 ausrichten würde.

Für mich war das alles neu, und mit einer Straßenbahn war ich auch noch nie gefahren. Ich fuhr also mit meiner Mutter zunächst mit dem Zug nach München und stellte mich im Restaurant vor. Die Inhaberin gab sich zuckersüß und sülzte meiner Mutter die Ohren voll. Man wollte sich um alles kümmern, mich alles lehren, auf mich aufpassen und alles tun, damit es mir gut ging. Man begutachtete sogar mein Abschlusszeugnis der Volksschule und tat, als würde man abwägen. Dieses Einstellungsgespräch war filmreif und an Verlogenheit nicht zu überbieten.

Der Lehrbetrieb

Meine Lehrfamilie stammte aus Karlsbad und hatte dort zwei Hotels betrieben. Nach der Vertreibung fasste sie Fuß in München und pachtete das Restaurant in der Innenstadt. Meine Lehrherrin war Geiz und Gier in einer Person und ein unglaublich böses Weib. Ihr Mann war älter als sie, aber immer auf Ausgleich bedacht. Abends trank er seine Schoppen Wein und war zufrieden. Der Sohn war Serviermeister, und ich kann ihn nur als herrisch, arrogant und schlimm beschreiben. Er hatte Bluthochdruck, immer einen roten Schädel und wurde auch nicht alt. Gott sei Dank war er zu meiner Zeit viel unterwegs und nur selten da. Dann gab es noch eine 17-jährige Tochter, die mittags und abends die Getränkeausgabe machte.

Einer für alles

Ich nannte mich zwar Kellnerlehrling, wurde aber ausgenutzt und war hauptsächlich Hausmeister, Putzer, Spüler – und Depp vom Dienst. Damals, zu Zeiten des Wirtschaftswunders, fand jeder eine Lehrstelle. Die Münchner Jungs waren etwas schlauer als ich und besetzten die bekannten Hotels. Da auch die weniger begehrten Betriebe Lehrlinge brauchten, schickte man denen die Idioten vom Land. Durch die Berufsschule lernte ich die Lehrlinge anderer Betriebe kennen und begriff bald, dass ich voll ins Klo gefasst hatte. Ein Zurück gab es nicht. Ich hätte 50 DM Strafe bezahlen müssen (die ich nicht hatte) und dann zu Hause zu hören bekommen, dass man es mir vo­rausgesagt hätte. Außerdem wollte ich ein Lehrzeugnis ohne Stellenwechsel.

Zu Beginn der Lehrzeit war ich 14 Jahre alt und 162 Zentimeter groß. Während der drei Lehrjahre wuchs ich pro Monat einen halben Zentimeter, hatte also nach der Lehre mit 17 Jahren eine Höhe von 180 Zentimetern erreicht. Ärzte sagten mir später, dass ich bereits damals durch das Schleppen des schweren Geschirrs und der Tabletts auf den Schultern das Fundament für meine späteren Rückenprobleme gelegt hätte.

Eine harte Zeit

Mein Monatsverdienst betrug 15 DM im ersten, 25 DM im zweiten und 35 DM im dritten Lehrjahr. Dazu muss man wissen, dass damals eine Zehnerschachtel Zigaretten 1 DM, eine Bratwurst 80 Pfennig, eine Banane 50 Pfennig, eine Bild-Zeitung 10 Pfennig, eine Trambahnfahrt 30 Pfennig und eine Straßenbahn-Monatskarte 10 DM gekostet haben.

Das Essen war im Restaurant für mich frei. Ich musste aber (was damals eigentlich schon nicht mehr statthaft war) alles, was mir irgendwie zu Bruch ging, bezahlen. Das bedeutete: Jedes Glas und jeder Teller, also alles, was ich beim Service oder beim Spülen zerbrach, wurde mir vom Lohn abgezogen.

Somit habe ich faktisch drei Jahre nur fürs Essen gearbeitet. Und das war mehr als nur Ausnutzung. Am Morgen gab es dünnen Tee, Brot, Margarine und Marmelade mit dicken Zuckerbrocken – ich esse bis heute keine Marmelade mehr. Mittags gab es die Tagessuppe und die Reste des Abonnentengerichts – aber nicht, wenn es Schweineschnitzel oder etwas Besseres gab. Abends wieder Brot, Margarine und meist einen Bismarckhering. Den habe ich dann immer auf das gegenüberliegende Kirchendach geschmissen, und nach einiger Zeit warteten am Abend die Tauben schon darauf.

Alles auf Anfang

Am 1. Dezember 1958 traf ich mit dem Zug in München ein. Normalerweise trat man seine Lehrzeit am 1. September an, und auch für die Berufsschule war dies der Stichtag. Wegen der Verzögerung durch meine Seefahrtspläne war ich aber später dran. Ausgestattet mit 20 DM und einem Koffer mit Unterwäsche, Socken, weißen Hemden, einer schwarzen Krawatte, einer schwarzen Hose und einer weißen Kellnerjacke. Die Kellnerjacke war eine von meiner Mutter umgearbeitete BDM-Sommerjacke (Bund Deutscher Mädel in der NS-Zeit). Diese waren auch weiß, hatten hinten einen Steg und wurden andersherum als bei Jungen geknöpft. Ich stand zunächst dumm rum und tat, was man mir sagte. Ich konnte ja weder Teller tragen noch Tische abräumen und wusste überhaupt nicht, was Sache war. Also begann meine Arbeit mit Gläserwaschen, Besteckpolieren und vielem anderem, was mir aufgetragen wurde. Kurz: Alle unbeliebten Tätigkeiten waren für den »Neuen«.

Die ganze Truppe bestand aus einem Kellner, einem ein Jahr älteren Lehrling, einer Spülfrau, einem Koch und drei weiblichen Kochlehrlingen. Mit diesem Personal fertigten wir wochentags zur Mittagszeit etwa 80 Gäste ab, davon die Mehrzahl mit einem Abonnentengericht, das hieß, für alle das Gleiche und etwas Einfaches.

Zusätzlich hatten wir im Nebenzimmer oft Hochzeiten oder sonstige Extraessen. Um Heiratswütige auf uns aufmerksam zu machen, musste ich wöchentlich zum Standesamt im Rathaus, um die Adressen in den Aufgeboten abzuschreiben. Das natürlich am Nachmittag in meiner Freizeit. Abends buchten Vereine, Gesellschaften oder Firmen das Restaurant für Veranstaltungen aller Art.

Die ersten Tage schlief ich in einer Rumpelkammer auf einem Feldbett, und nach einer Woche wurde ein Platz in einem Lehrlingsheim frei. Dort teilte ich mir mit drei Kochlehrlingen ein Zimmer. Das war der erste Fortschritt. Im Betrieb hatte ich schnell begriffen, wie es läuft, und war, glaube ich, eine große Hilfe.

Der immer hungrige Hamster

Ich war noch im Wachsen und hatte immer Hunger. Was von den Vorlegeplatten zurückkam, wurde sowieso verputzt. Ich schnappte mir aber auch schon einiges, bevor es zum Gast gelangen konnte. Da man im Restaurant nicht kauen darf, entwickelte ich mich bald zum Hamster mit oft vollen Backentaschen.

Am Berufsschultag, den ich meist hungrig verbrachte, hatte ich am Abend die Wahl zwischen Arbeit und etwas zu essen zu organisieren oder hungrig nach Hause zu gehen. Wenn ich ins Restaurant ging, musste ich natürlich arbeiten. Es war sogar so, dass ich, wenn viel Arbeit anstand, in der Berufsschule entschuldigt wurde.

Trinkgeld gab es wenig. Ich brauchte aber Geld für die Wäscherei, für etwas zu essen am freien Tag, für Zigaretten und für die Straßenbahn.

Die damalige Straßenbahn ist mit dem heutigen Verkehrssystem nicht zu vergleichen. Die alten Wagen ruckelten und kämpften sich nur langsam durch die Stadt. Zu Stoßzeiten waren sie immer überfüllt, und einen Sitzplatz musste man meist zugunsten der Alten abgeben. Bis zum Jahr 1960 war das Rauchen in der Tram noch erlaubt. Das Beste des Tages war die Fahrt am Morgen im Sitzen mit einer Zigarette als erstes Frühstück. Leider gab es dann eine Abstimmung, und obwohl ich sicher 100 Stimmzettel mit Ja ausgefüllt hatte, kam schließlich das Rauchverbot. Das war wohl Schiebung, denn die Mehrheit rauchte damals noch. Damit war es aber auch mit den Löchern in den Mänteln vorbei, die eigentlich jeder Trambahnbenutzer im Rücken hatte: Wenn man auf den großen Trambahnplattformen stand und rauchte, brannte man beim abrupten Abbremsen der Straßenbahn seinem Vordermann unweigerlich ein Loch in den Pelz.

Salzburger Nockerl

Während der täglichen Hetze im Mittagsgeschäft passierten natürlich auch Fehler. Man rutschte aus, stolperte, verlor Teller oder Besteck oder schüttete etwas auf einen Gast. Einmal saßen drei ältere Damen im Restaurant und bestellten Salzburger Nockerl. Diese Süßspeise ist im fertigen Zustand eine luftige Masse und besteht hauptsächlich aus zu Schnee geschlagenem Eiweiß und Zucker. Der Koch muss diese mit großem Zeitaufwand zubereiten, und wegen der Gefahr, dass die Nockerl in sich zusammenfallen, muss auch flott serviert werden. Und das in der Mittagszeit.

Wir hatten Silberplatten, auf die eine Papierunterlage kam, und darauf wurde eine ovale Kokotte gestellt. Kokotten sind aus feuerfestem Steinzeug, und Gerichte wie Salzburger Nockerl werden direkt in den Kokotten im Ofen zubereitet. Bei uns passte das aber alles nicht zusammen. Wir arbeiteten mit Stoffservietten, die in der Hand gehalten vor heißen Platten und Tellern schützten. Ich nahm also die schwere Silberplatte mit der Kokotte darauf, drei Teller sowie drei Teller mit Kompottschalen und machte mich auf den Weg. Mitten im Restaurant, zwischen dem Service- und dem Gästetisch, verrutschte die glühend heiße Kokotte und drückte gegen meinen Daumen. Es gab keinen Ausweg, ich also weiter Richtung Gästetisch. Die Kokotte wurde immer heißer und alles immer schwerer. Ich wurde immer schneller und schaffte es noch bis zum Tisch. Aber nicht drauf, sondern drunter. Ich schmiss den drei Damen alles auf die Füße und glaube bis heute, dass sich die Salzburger Nockerl wie Napalm in ihre Strümpfe eingebrannt haben. Ein unglaubliches Geschepper und Geschrei der Damen, ich am Tisch glückselig lächelnd mit dem Daumen zur Kühlung im Mund.

Der damalige Kellner war ein kleines Männchen und eine unglaubliche Pfeife. Er wollte mich schlagen und rannte mir nach. Ich ab in den Weinkeller, das Holzgitter aufgesperrt, von innen wieder zu, und dann war er auch schon da. Komm raus, ich erschlage dich! Ich wackelte ein Nein mit dem Kopf und wartete. Er tat so, als würde er die Treppe hinaufgehen, aber darauf fiel ich nicht herein. Von oben kamen Rufe, er solle kommen, und als ich mir sicher war, dass er weg war, verließ ich den Keller. Ich bin zurück ins Restaurant und habe weitergearbeitet, immer darauf achtend, dass sich unsere Wege nicht kreuzten. Dieser Kellner war auch einer der Idioten, von denen man, wenn man spät in der Nacht mal sagte, dass man müde sei, zu hören bekam: »Sei froh, dass du ohne Beschuss arbeiten darfst.«

Pfirsich Melba

Eines Tages hatten wir mittags eine Hochzeit. Als Nachtisch gab es Pfirsich Melba, also Vanilleeis mit Himbeerpüree und einem halben pochierten Pfirsich. Da wir keinen Tiefkühler hatten, sollte ich das Eis von der Eisdiele gegenüber holen. Ich also mit einem Tablett und 20 Sektkelchen los. Das allein war schon schwierig zu tragen. Also die Eiskugeln rein und zurück. Das war natürlich noch schwieriger zu tragen. Auf der Straße Autos und Straßenbahnen von links und rechts. Ich vor und zurück, und als es eine Lücke gab, versuchte ich es. Es wäre auch gut gegangen; bei mir löste sich aber eine Sohle vom Schuh, und wie mit einem aufgeklappten Krokodilmaul blieb ich in einer Trambahnschiene hängen. Nun lag alles auf der Straße. Zurück im Restaurant habe ich mich geweigert, nochmals zu gehen. Der ganze Spaß hatte mich so schon einen Monatslohn gekostet, weil ich die zerbrochenen Gläser und das Eis ja bezahlen musste. Ich glaube, jemand aus der Küche hat dann das Vanilleeis in einer Schüssel geholt.

So verging mein erstes Lehrjahr. Im zweiten änderte sich nicht viel, weil kein Lehrling nachkam oder sich lange hielt. Die Kellner dagegen wechselten dauernd, und immer wieder musste ich mich auf einen neuen einstellen.

Der Adolf

Zu Beginn meines zweiten Lehrjahres kam mit dem Adolf ein guter Typ zu uns, der auch bleiben sollte. Er stammte aus Niederbayern, war 30 Jahre alt und hatte während des Krieges in München Kellner gelernt. Nach dem Krieg hatte er alle möglichen Jobs und ging dann zur Mitropa, der Speisewagen­gesellschaft. Darüber konnte er lustige Geschichten erzählen, und mit ihm war gut arbeiten.

Eine seine besten Geschichten war die von einem Amerikaner, der ein Schnitzel bestellt hatte. Die Besatzung eines Speisewagens bestand zu der Zeit aus drei Mann: einem Koch, einem Helfer und einem Kellner, und diese drei waren in jeder Hinsicht ein Team. Am Ausgangsbahnhof wurden die Waren gefasst. Diese waren damals noch nicht extra gekennzeichnet, also neutral. Man wusste, dass viel betrogen wurde und dass das Personal sich illegal mit Ware versorgte. Um Betrügereien zu verhindern, wurden die Speisewagen von einer speziellen Truppe oft kontrolliert. Die oberste Anweisung für den Kellner lautete, dass alles, bevor es einem Gast serviert wurde, ins Bonbuch geschrieben sein musste. Wenn an den beiden Zugseiten die Kontrolleure auftauchten, hieß das Stillstand im Service. Es wurde alles gezählt, was auf den Tischen stand, dazu der Bestand in Küche und Kühlschrank. Die Differenz musste im Bonbuch stehen. So weit, so gut. Die Kellner in den Speisewagen, die kontrolliert worden waren, klemmten eine Tischdecke in ein Fenster, und wenn aus einem Zug in Gegenrichtung eine Tischdecke wehte, wusste man: Am nächsten Bahnhof steigt eine Kontrolle zu.

Ein Schnitzel lernt fliegen

Einmal hatte Adolf den Gegenzug mit flatternder Decke übersehen, und die beiden Kontrolleure standen in der Tür. Es war alles aufgeschrieben und die überzähligen Flaschen entsorgt, nur ein Amerikaner war gerade beim Verzehr eines illegalen Schnitzels. Das war tödlich für die drei im Speisewagen. Was also tun? Der Adolf ging zum Tisch des Amerikaners, vergewisserte sich, dass ihn die Kontrolleure nicht sehen konnten, nahm den Teller mit dem Schnitzel, öffnete das Fenster und warf ihn hinaus. Dem Amerikaner erzählte er irgendeinen Blödsinn, um ihn ruhig zu halten, und als die Kontrolle durch war, bekam der ein neues Schnitzel.

Der Amerikaner wird sich jahrelang gefragt haben, was da überhaupt los gewesen war: Die Deutschen hatten den Krieg verloren, waren alle nicht besonders gut versorgt, und dann schmeißt ein wahrscheinlich Wahnsinniger ein Schnitzel aus dem Fenster ...

Das Brokatkleid

Zwei Geschichten fallen mir noch aus der Zeit mit dem Adolf ein. Einmal sollte ich einer Dame ein kleines Fläschchen Rotwein servieren. Da war ich höchstens einen Meter siebzig groß und musste mich beim Servieren öfter auf die Zehenspitzen stellen. Die Dame trug ein burgunderfarbenes Brokatkleid, und wie man weiß, ist Brokat ein starrer Stoff. Bei ihr stand der Stoff vorne und am Rücken v-förmig weg. Ich stand also mit dem Fläschchen auf dem Tablett hinter ihr und stellte das Glas ein. Dabei sah ich ihre frei schwebenden Möpse, stellte mich, um besser sehen zu können, noch höher auf die Zehenspitzen – und kippte ihr das Fläschchen mit dem Hals nach unten in ihren V-Ausschnitt am Rücken. Sie erstarrte. Ich auch. Ich zog die Flasche aus dem Kleid, murmelte Entschuldigung und war weg. Der Adolf war ihr dann beim Säubern behilflich. Dazu muss man vielleicht sagen, dass es damals noch kein Playboy-Magazin gab und Möpse auf freier Wildbahn sehr selten waren ...

Ich als Elektriker

Einmal hatten wir eine Weihnachtsfeier einer schlagenden Verbindung. 50 Mann hoch, das hieß, jede Menge Bier einkühlen, denn solche Gestalten soffen ungeheuerlich. Ich stellte eine U-Tafel, und in eine Ecke sollte ein Weihnachtsbaum. Den holte ich am Nachmittag vom Viktualienmarkt und stellte ihn auf. Ich schmückte ihn mit Lametta, Kugeln und 40 elektrischen Kerzen. Das sah schon mal sehr hübsch aus. Aber jetzt wurde es schwierig, denn ich hatte vier Kabelenden. Da nur eine Steckdose in der Nähe war, musste ich diese vier nun in dieser einen Steckdose unterbringen. Dazu kroch ich unter den Baum, machte den Stecker auf und befestigte je zwei Enden an einem Kontakt. Nichts brannte. Ich raus und alle Lämpchen überprüft. Alles okay. Wieder runter und umgewechselt. Wieder nichts. Der Adolf war am Antreiben: Die Leute kommen schon, mach Schluss etc. Ich eiligst zwei Enden hierhin, zwei dahin. Wieder nichts. Wieder wechseln, und der Adolf wieder am Antreiben. Dann die zwei hier, die zwei hier, an die Kontakte festgemacht, rein in den Stecker – und wieder nichts. Die Gäste standen schon um mich herum, ich mit den Nerven fertig, noch mal gewechselt und die Kontakte direkt in die Dose. Ein fürchterlicher Schlag, ich springe hoch, reiße den Baum um, und der fällt auf die gedeckten Tische. Was folgte, war ganz großes Theater ...