Dieses Buch ist meiner lieben Frau gewidmet, die mit viel Geduld und noch mehr Verständnis an der Erstellung des Gelben Kaisers mitgewirkt hat. Unermüdlich hat sie Tag um Tag und Jahr um  Jahr an der Verwirklichung eines Traumes, meines Traumes, mitgewirkt.


Dank gebührt auch meinem Sohn, der mir bei der Korrektur des Textes eine große Hilfe war. Dies gilt auch für meine Tochter.

Der Gelbe Kaiser

Teil I: Die Prophezeiung

Prolog

Dies ist die Geschichte des Gelben Kaisers. Des letzten jener mythischen Kaiser, die mit so großer Weisheit und Klugheit das Volk regieren, dass sie von ihren Untertanen und ihren Nachkommen für Götter gehalten und als solche verehrt wurden. Es ist das Ende eines ausklingenden Zeitalters vor dem Beginn eines neuen, an dessen Anfang dort, wo der Gelbe Kaiser seine Heimat hat, die Schrift noch wie eine geheime Wissenschaft gehandhabt wird. So bleiben die wichtigen Ereignisse jener Zeit ohne schriftliche Zeugnisse. Dennoch haben die wichtigen Begebenheiten jener Zeit in Traditionen, Geschichten und Liedern alle Zeiten überdauert …

Ich erzähle die Geschichte des Gelben Kaisers wahrheitsgemäß durch alle Zeiten hindurch, durch die ich ihm als einer seiner Gefährten und Freunde folgen durfte.

Ich füge nichts hinzu und werde auch nichts von all den unglaublichen Ereignissen fortlassen, deren Zeuge ich sein durfte, soweit ich Kenntnis von ihnen habe.

Ich erzähle von Krieg, Kriegern und Helden, von Freundschaft und Feindschaft bis in den Tod und vor allem werde ich vom Gelben Kaiser berichten – denn dies ist seine Geschichte.

Ich werde euch zu Eingeweihten eines Geheimnisses machen, das sich bis in unsere heutige Zeit auf unsere Welt auswirkt, indem ich euch von dem Fliegenden Dorf berichte und ich werde euch von dem Versuch der tapferen Krieger jener Zeit erzählen, dieses Dorf der Hand des grausamen Feindes zu entreißen, der es mit Gewalt erobert und sich so in seinen Besitz gesetzt hat.

Mein Respekt vor den Göttern und meine Furcht vor der Strafe dieser Götter wird mich nicht daran hindern, trotz aller Ehrfurcht und allem gebotenem Respekt vor den göttlichen Wesen, dennoch voller Ehrlichkeit nach bestem Wissen und Gewissen von diesen unbegreiflichen Wesen zu berichten, die auf die menschlichen Geschicke damals einwirkten und dies auch heute noch von allen Menschen unbemerkt tun. So ist dies auch die Geschichte eines rätselhaften Kristalls, von dem niemand erzählen kann, wie er in die Welt der Sterblichen geraten ist.

Mein Bericht, meine fast unglaubliche Geschichte, beginnt in einem kleinen Dorf, welches zu seiner Zeit im Becken des mittleren Huang-ho liegt.

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Es ist das Dorf Pan-po, welches lange Zeit unter dem Schleier des unbemerkten Seins dahingeschlafen hatte und in dieser Epoche aufblühender neuer Kulturen ebenfalls seinem Höhepunkt entgegen blüht.

Im Zentrum wie auch außerhalb von Pan-po stehen zahlreiche Hütten, die meisten von ihnen aus natürlichen Steinen und geflochtenem Bambus errichtet.

Unter dem großen Schatten spendenden Baum in der Mitte des Dorfes Pan-po, wo der Dorfbrunnen im Schattenschutz der mächtigen Baumkrone sein kühles Lebenselixier spendet und die Elemente Wasser und Erde zum Nutzen der Menschen sich vereinigen, dort steht eine Gruppe von drei aus Lehm erbauten Häusern. Es sind die größten Häuser in der ganzen Gegend, geschmückt mit kunstvoll hergestellten ornamentartigen Verzierungen, so einzigartig für die gegenwärtige Zeit, dass sie weit und breit ihresgleichen suchen.

Dies sind die Häuser der Familie Huang. Sie stehen alle drei gemeinsam mit dem großen Dorfbrunnen unter der ungewöhnlich großen und breit ausladenden Baumkrone eines alten, doch kerngesunden, urwüchsigen Laubbaums, der dem Brunnen Schatten spendet und dafür mit dem lebenswichtigen nassen Element in verschwenderischer Fülle entlohnt wird.

Diese einzigartige, brunnennahe Lage im Zentrum des ursprünglichen Pan-po ist das Privileg des Clanoberhauptes aus der Kriegerfamilie Huang.


Alle Familien des Dorfes sind in Clans organisiert. Der Huang-Clan, ein angesehener, alteingesessener Clan von Kriegern, wird geführt vom Familienoberhaupt, dem Großvater Huang, dem der Ruf von Klugheit und Weisheit vorauseilt. Er gilt den Menschen seiner Zeit als Weiser und wird von ihnen folgerichtig „Huang-tse“, der Weise, genannt.


Der Sohn des Clanoberhauptes, Huang der Krieger genannt, ist von ungewöhnlicher Körpergröße und von ebenso außergewöhnlicher Körperkraft. Dabei besitzt er die Geschmeidigkeit eines Tigers und im Streit die Hinterlist, Bösartigkeit und Entschlossenheit einer angreifenden Schlange. Er ist ein Meister in der Handhabung aller Waffen der gegenwärtigen Zeit, ein erfahrener Krieger und ein meisterhafter Stratege. Sein Schwert liebt er mehr als seine Frau, so wird jedenfalls hinter vorgehaltener Hand geflüstert.

Er ist aber auch ein Hitzkopf, der keinem Streit aus dem Weg gehen kann und erst Ruhe findet, wenn er kräftig zugehauen hat.

Wenn er nicht gereizt wird, dann ist er aber ein verträglicher Mann, der nicht nur seinen Gefallen an kriegerischer Härte findet, sondern auch den angenehmen Seiten des Lebens vieles abzugewinnen weiß. Ein besonders begehrliches Auge hat er auf den gegorenen Traubensaft aus des Clanoberhaupts eigener Herstellung geworfen.

Seinen Sohn Huang will er zu einem herausragenden Krieger erziehen, das hat er zumindest den Göttern und Ahnen im Tempel des Dorfes versprochen.

Huang der Krieger hütet ein Geheimnis, von dem noch zu erzählen sein wird …


Der Sohn des Kriegers, der wie alle erstgeborenen männlichen Nachkommen des Clans Huang heißt, ist zum großen Kummer Huang des Kriegers, seines Vaters, von ungewohnter, zarter Körperverfassung und träumt gern in den Tag hinein. Raufereien und der sportliche Vergleich mit den anderen Jungen des Dorfes Pan-po erzeugen in ihm eher Gefühle des Schreckens.

Dennoch ist Huang trotz seiner Jungend weit und breit der schnellste Läufer und ein gerühmter Bogenschütze. Seiner Treffsicherheit verdankt er den Ruf, ein unübertrefflicher Künstler mit dem Bogen zu sein.

Auch Huang hütet ein Geheimnis, von dem noch sehr viel zu erzählen sein wird.

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„Großvater, wird es Krieg geben?“


„Wir stecken schon mitten im Krieg, mein lieber Huang. Überall wird aufgerüstet, hör nur das fröhliche ‚Ping Ping’, wenn die Schmiedehämmer formend auf das zu schmiedende, vor ihnen liegende Eisen fallen.“


„Da wird mein Vater als oberster Kriegsherr aller verbündeten Dörfer ziemlich wütend sein, dass ausgerechnet sein Sohn nicht stark genug ist, wie ein Mann ein Schwert zu führen.“


„Du wirst mit dem Bogen mehr Feinde schneller töten, Enkel Huang, als es ein Schwertkämpfer je vermöchte. Nur dein Vater tötet mit seinem Schwert schneller als du mit dem Bogen.“

„Unsere Kriegerinnen lachen mich immer aus, Großvater, weil Vater mich zwingt, mit ihnen den Schwertkampf zu trainieren. Ich verliere meistens.“


„Unsere Kriegerinnen kämpfen mit ihren Waffen ebenso gut und tödlich, wie die Krieger. Nur im Kampf ohne Waffe sind die meisten den Kriegern unterlegen.“


„Vater will mich mit einem Kundschaftertrupp dem Feind entgegenschicken. Warum tut er das, Großvater? Er setzt mich ständig dem Spott und dem Gelächter der Krieger und vor allem der Kriegerinnen aus.“

Der Großvater sieht die Tränen in den Augen seines Enkels, die großen, klugen Augen, die das Gesicht seines Enkels mit zunehmendem Alter mehr und mehr beherrschen. Der Großvater sieht seit langem schon mit wachsender Besorgnis, wie das Gesicht seines Enkels in zunehmendem Maße mehr und mehr von Gram und Kummer gezeichnet wird.

"Mein lieber Enkel Huang", sucht der Großvater das Gespräch, "mit großem Kummer sehe ich, dass schon seit längerer Zeit Dunkelheit und Gram ihren Wohnsitz in deiner Seele genommen haben. Als wohlerzogener Enkel wäre es eigentlich deine Pflicht, deinen Großvater, der nur diesen einen Enkel hat, und den er mehr liebt, als jeden anderen Menschen auf dieser Welt, in deinen Gram und deine Not einzuweihen. Sollte nicht ich, dein Großvater, in der Lage sein, dir besser helfen zu können, als jedes andere der Mutter Erde entsprossene Lebewesen?"

Beschämt und voller Respekt schlägt Huang die Augen nieder. Der Großvater hatte Recht. Wie lange schon hatte er mit dem Großvater reden wollen. Aber zu unglaublich sind die Dinge, die er mit ihm längst hatte besprechen wollen …

Alles begann in der Zeit, als er im Alter von dreizehn vollständigen Sonnenumläufen war. An dem Tag der jährlichen Opferzeremonie für den Geist der längst verstorbenen Großmutter ereignete sich Sonderbares:

In der kontemplativen Stille zwischen der Beschwörungszeremonie des Geistes der verstorbenen Großmutter und dem Verzehr der ihr dargebrachten Opfergaben, hatte Huang neugierig alle seine Sinneskanäle geöffnet, um das Herannahen der Seele der verstorbenen Großmutter nicht zu versäumen, als das Unerwartete eintritt.


Anfänglich glaubte Huang, dass Großmutters Erscheinung erfolgreich heraufbeschworen worden sei. Es war ihm, als höre er eine Stimme, die nicht von seinen Ohren gehört wurde, ein leises, kaum wahrnehmbares Wispern, wie das zarte Piepsen eines jungen Vogels. Ein schemenhaftes Bild erwuchs vor seinem inneren Auge und entwickelte sich zügig zu einem klaren Bild von Großmutter. Intuitiv hatte er sofort gespürt, dass es keine Sinneswahrnehmung seiner Augen war, die er wahrnahm.

Das Bild von Großmutter änderte sich fortlaufend. Einmal erschien sie als fettleibige ältere Frau, wie Huang sie aus seiner Erinnerung noch kannte, ein anderes Mal als junge, zarte Frau, wie nur Großvater selbst sie in seinem Gedächtnis haben konnte. Huang spürte die zärtlichen Gefühle, die untrennbar mit diesen Bildern verknüpft waren. Er sah, hörte und empfand unversehens Erinnerungen so privater Natur, dass es für ihn immer deutlicher wurde: Dies waren nicht seine Erinnerungen.

Er fühlte sich unerwartet von einer Woge Schmerz und Trauer überflutet. Dieses Gefühl löste in ihm die Empfindung eines tiefen, einschneidenden, alle Lebensfreude vernichtenden Schmerzes aus.

Er öffnete schließlich die Augen und sah zu Großvater, der mit traurig hängender Schulter und halbgeöffneten Augen wie erstarrt auf seinem Sitzkissen saß. So hatte Huang seinen Großvater noch niemals gesehen. Eine scharf einschneidende Schnur schien sich fest um Huangs Herz zu legen. Er sah aus Großvaters Augen Tränen wie aus einem unerschöpflichen Brunnen hervorquellen und es schien Huang, als wollten die eigenen Augen des Großvaters Augen gleich tun.


Huang war klug und unvoreingenommen genug, um blitzartig zu erkennen, dass er in des Großvaters Gedankenwelt weilte. Er fragte nicht, wie dies möglich sein konnte. Er wusste es mit der gleichen Gewissheit, wie er auch wusste, dass am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgehen würde.

Vorsichtig versuchte er, sich aus Großvaters Gedanken zu lösen. Er wusste intuitiv, dass er kein Recht hatte, in Großvaters verschwiegenen Gedächtniskammern zu forschen. Er schämte sich vor sich selbst...

Niemals, niemals wieder würde er an Großvaters geheimsten Gedanken und Erinnerungen ohne dessen Wissen teilhaben wollen.


Neugierig geworden begann er sich nun auf den Vater zu konzentrieren. Dies bereitete ihm nicht unerwartet keinerlei Gewissensqualen. Er war gespannt, ob es ihm gelingen würde, auch dessen stille Gedanken und Bilder kennen zu lernen.

Er erschrak kaum noch, als er in sich vertraute Dinge in Form von Erinnerungen, Gedanken und Bildern wahrnahm, die typisch für seinen Vater waren. Vaters Gedanken drehten sich im Augenblick unaufhörlich um den gegorenen Traubensaft. Ständig überlegte er, nicht ganz frei von Neidgefühlen, warum ausgerechnet der Shih, der Vermittler zwischen dem Geist der verstorbenen Großmutter und den Lebenden – sein Sohn Huang – diesen köstlichen Trank verzehren musste ...

Wie ein Schock wirkte es auf Huang, als die Gedankenbilder und überhaupt jeder Gedanke des Vaters von einem Augenblick auf den nächsten abbricht. Der Lauscher, da war sich Huang sicher, war vom Vater bemerkt aber nicht erkannt worden. Niemals wieder, so nahm der junge Huang sich vor, wollte er sich erneut der Gefahr der Peinlichkeit einer Entdeckung aussetzen ...


Im Laufe der nächsten verstreichenden Jahreszeiten machte Huang vielerlei Erfahrungen mit seiner geheimnisvollen Gabe.

Überraschenderweise schien diese neue Gabe sich in ihrer Wirksamkeit nicht auf Menschen zu beschränken. Diese Erfahrung machte Huang, als er mit einigen anderen Jungen aus dem Dorf zum Beerensammeln in der Steppe unterwegs war. Er hatte sich in einzelgängerischer Weise, wie schon so oft, ein wenig von der Gruppe abgesondert, um ungestört seinen Gedanken nachzuhängen.


Er hatte nicht so sehr auf seinen Weg geachtet und war in die unmittelbare Nähe einer Schlangengrube geraten. Es war eine der giftigsten und wehrhaftesten Otternarten, die in dieser Region zu Hause ist. Die Grube war angefüllt mit frisch geschlüpften Jungschlangen und einer gereizten, verteidigungsbereiten Schlangenmutter, die sich senkrecht zum Angriff aufgerichtet hatte - bereit den Angriff mit einem tödlichen Stoß zu beenden.

Huang hatte mit seinem Vater, ebenso wie alle anderen Jungen aus Pan-po mit ihren Vätern, schon in frühester Jugendzeit angefangen, jagend durch die Steppe zu streifen. So war Huang ebenso wie die Jungen aus der Nachbarschaft durch ständige väterliche Belehrungen sehr vertraut mit der Jagd, dem Leben und den Gefahren in der Steppe.


Er wusste nur zu genau um die Gefährlichkeit dieser Situation. Jede Bewegung, ganz gleich in welche Richtung, würde der Schlange als Auslöser zum tödlichen Biss dienen. In seiner kindlich naiven Art hatte Huang die Augen geschlossen, seinen Gott Shang-ti und den Gott der Schlangen angerufen und um Hilfe in dieser gefährlichen Situation angefleht.

Er hatte die Schlange dann vorsichtig und mit großer Höflichkeit gebeten, sich wieder auf den Boden zu legen und sich nicht zu fürchten ...

Huang glaubte zu träumen, als er die Schlange sich langsam wieder zurück auf den Boden legen sah. Unter vielen respektvollen Verbeugungen in die Richtung der Schlange, entfernte er sich rückwärtsgehend von dem giftigen Tier.

Der unerfahrene Huang war noch nicht in der Lage, das Erlebnis in der Schlangengrube auf vernünftige Weise zu deuten ..., aber er würde seinen Großvater fragen – irgendwann …


Während seiner häufigen Streifzüge durch die das Dorf Pan-po umgebende Steppe, machte er immer wieder neue Entdeckungen und Erfahrungen mit einer weiteren Fähigkeit, die ihn zutiefst erschreckte: der Fähigkeit, allein durch die Kraft seines Geistes zu zerstören. Diese Gabe, wie auch alle anderen mit einer Ausnahme, schien sich aber nur auf die kurze Distanz von zehn Männerschritten entfalten zu können. Es war, als stünde überall in einer Entfernung von zehn Schritten von ihm eine undurchdringliche, unsichtbare Mauer, die als Grenzlinie vor diese mentale Zerstörungsfähigkeit gesetzt wurde…


Eine Jahreszeit verstreicht nach der anderen und für Huang wird es immer schwerer, mit den unerwarteten Begleiterscheinungen seiner besonderen Gaben zu leben.

Vorbei die neugierige Spannung jedes Mal, wenn ihm ein Dorfbewohner aus Pan-po oder einem der Nachbardörfer begegnete. Vorbei die Lustigkeit beim Lesen der Gedanken der heimlich verliebten Schüchternen, die sich scheinbar zufällig überall im Dorf begegnen …


Was anfänglich nach Spaß und Vergnüglichkeit ausgesehen hatte, war ihm zur schweren Last geworden.

Die unschuldige Fröhlichkeit und Unbeschwertheit seiner Jungend, sein jungenhaftes Lächeln, all das war nach und nach aus seinem Gesicht verschwunden …


"Großvater!", sprudelte es aus Huang heraus, "die Ahnen und selbst die Götter könnten mir nicht helfen, wenn Du es nicht vermagst! Ich habe nur Sorge, respektlos zu erscheinen, wollte ich unbedeutender Enkel des Huang-tse, dich mit den Sorgen und Nöten eines Kindes belästigen. Wenn Du es aber erlaubst, dann will ich Dich mit etwas vertraut machen auf eine Art und Weise, die Dich vielleicht zu Tode erschrecken könnte. Sei darauf gefasst, etwas kennenzulernen, dass sich selbst die allmächtigen und ewigen Götter erschrecken könnten."


Großvater Huang betrachtet seinen Enkel mit ungläubiger Neugierde, nickt ihm aufmunternd zu und wartet wortlos.

Vorsichtig, ganz vorsichtig beginnt Huang seinem Großvater lautlos in Gedanken, Bildern und Gefühlen von allem zu berichten, was er seit seiner letzten Darstellung als Shih erlebt hat.

Wer als Außenstehender die beiden beobachtete, hätte glauben können, zwei regungslos in der Morgensonne sitzende Statuen zu sehen. Schließlich holt Großvater Huang tief, tief Luft.


"Huang", seufzte der alte Meister schließlich, "niemals, Huang, hörst du, niemals in deinem Leben darfst du irgendeinem Lebewesen, Mensch oder Tier, Vater oder Mutter, dem Freund oder dem geliebten Mädchen, Kaiser oder Gott, nicht im Schlaf und nicht im Traum, nicht im Rausch und nicht im Wachen, niemals, mein lieber Enkel, hörst du? – niemals darfst du irgendjemandem von deiner Gabe des Gedankenlesens erzählen, um die dich in der Tat selbst die Götter fürchten und beneiden würden. Und niemals sollst du dir Wissen aus den Gedanken eines Freundes oder eines Feindes verschaffen, außer du befindest dich in höchster, anders nicht abzuwendender, Lebensgefahr. Denn nur zu leicht verrätst du in einem unbedachten Augenblick dein Wissen, was du auf natürliche Weise nicht erlangt haben kannst.

Und nur zu leicht verlierst du die Gaben, die du nicht regelmäßig übst, die durch die Weisheit der Götter allen Menschen und den meisten Tieren mehr oder weniger zueigen sind:

Das ist die innere Stimme, die Instinkte, das intuitive Gefühl, ob ein lächelndes Gesicht es gut oder böse mit dir meint, zu wissen, ob unter dem Schein des ehrlichen Gesichtes dich jemand belügt oder betrügt. Du weißt schon, was ich meine – dieses untrügliche Gefühl für Gefahr, für Wahrheit, Lug und Trug.

Vergiss einfach, dass die Weisheit der Götter, des Schicksals oder auch der Natur dir diese Gabe verliehen hat.

Furcht und Angst wird jeden befallen, der glaubt, dass du Mitwisser aller seiner großen und kleinen, guten und bösen Geheimnisse sein könntest. Die Mächtigen in deiner Nähe werden dich hetzen wie ein Stück Wild in der Steppe, so lange bis du ihnen zum Opfer gefallen bist…

Ich aber werde dich lehren, deine Gedanken zu verbergen und was genauso wichtig ist, dich vor den Gedanken der anderen Menschen zu schützen.“

Dann lässt der Großvater seinen Enkel auf die Urahnen und auf die Götter schwören, das Geheimnis seiner unvorstellbaren Gabe unter keinen Umständen jemals preiszugeben.

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Die Vision

Am Huang-ho hat die volle Macht der sommerlichen Hitze der sich schnell ihrem winterlichen Höhepunkt annähernden Kälte weichen müssen. Die Steppe beiderseits des Flussknies des Huang-ho ist mit einem leichten Flaum von Schnee bedeckt, der auch das Dorf Pan-po eingehüllt hat.

Der Huang-tse steht nachdenklich vor dem Altar des Dorftempels. Der sternenklare Himmel dieser Nacht, das frostige, schwarze Kleid, welches Dorf und Tempel mit eng schnürender Kälte umhüllt, der silbrig-eisige, im steten Aufstieg stehende volle Mond, der leuchtend scheinend lange Schatten wirft auf Dorf und Tempel:


„Dies sind die Nächte, in denen Götter, Dämonen und Geister mit den Menschen sprechen“, murmelt der Huang-tse leise vor sich hin.

Während draußen in der Weite der Steppe das mondwärts gerichtete Heulen von Wölfen erklingt, beschließt der Meister in der heutigen dafür günstigen Nacht, die Götter und Geister der Urahnen zu beschwören. Und er beschließt, seinen Sohn an der Beschwörungszeremonie teilnehmen zu lassen.

Er verlässt den Tempel und begibt sich zielstrebig zum Haus seines Sohnes, der nach dem Genuss eines Kruges gegorenen Saftes, sich mit etwas schwächelndem Gang zu seiner Schlafstelle begeben hatte und nun kaum erweckbar ist. Mit Hilfe eines Kruges kühlen Wassers ist der Kampf gegen den unbezwingbar wirkenden Schlaf des Sohnes jedoch schnell und siegreich ausgefochten.

Was niemand außer dem Huang-tse sich hätte erlauben dürfen, ohne sich der Gefahr der brutalen und unverzüglichen Rachsucht auszusetzen, das ruft in diesem Falle nur ein verschämtes Lächeln auf dem treuherzigen Gesicht Huang des Kriegers hervor.

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, gehen die beiden Männer, der eine neugierig, der andere nachdenklich, den mondbeschienenen Weg durch das Dorf zum Tempel. Huang der Krieger beginnt zu ahnen, dass es nicht um Alltägliches gehen wird.


Je mehr die beiden sich dem Tempel nähern, umso schwerer scheint sich die kalte Winterluft zu atmen, umso mehr drückt eine vom Tempel ausgehende, die Sinne verwirrende Aura auf Seele und Schultern der beiden.

Zum ersten Mal in seinem gewiss nicht ereignisarmen Leben spürt der Sohn des Huang-tse ein beklemmendes, die Brust einschnürendes Gefühl von Außerweltlichkeit als er den Tempel betritt.

Der Huang-tse erklärt dem Sohn den genauen Ritus der Beschwörungszeremonie und bittet ihn, von nun an schweigend teilzunehmen.


Der Meister bereitet die zu verräuchernde Kräutermixtur vor, breitet sie über dem rauchfrei glimmenden Holz aus und lässt sich mit gekreuzten Beinen, Gesicht und Blick altarwärts gerichtet, nieder.


Nur das leichte Brennen eines zweiten Feuers unter dem nach oben offenen Rauchabzug wirft ein schwaches, düsteres und lange Schatten werfendes Licht auf die in äußere Reglosigkeit verfallenen Männer.

Der sich ausbreitende, sehr wirkungsintensive Rauch der geheimen Kräutermixtur beginnt unmerklich bei beiden Männern seine Wirkung zu entfalten …


Des Meisters Sohn, der bis zum gegenwärtigen Tag fest davon überzeugt ist – und dieses auch bei jeder Gelegenheit stolz in der Öffentlichkeit kundgetan hat – dass er sich vor nichts, nicht einmal vor den Göttern fürchtet, beginnt unter dem Eindruck der düsteren, verräucherten, überweltlich anmutenden Tempelaura das Herannahen des Überweltlichen zu empfinden, das wie ein eiskalter Schleier sich lähmend um seine Schultern legt und ihn bis zur Bewegungsunfähigkeit einzuschnüren scheint. Wollte er sich auch bewegen, er könnte es jetzt nicht.


Schaudernd wird der Sohn des Huang-tse zum Augenzeugen des Unbegreiflichen, das sich nun vor seinen Augen zu entwickeln beginnt.

„Vater!, bist du `s, der spricht, der alles sich in Schwindel erregender Weise um mich drehen lässt, der mir all diese Bilder zeigt, die doch gar nicht im Tempel sein können, der…?“

„Schweig, du Narr, wenn die Götter sprechen, muss der Mensch schweigen! Der Gott ist es, der dich und mich berührt, der Gott!“

Der Sohn des Huang-tse, der sich weder als Kind noch als erwachsener Mann jemals vor etwas gefürchtet hat, beginnt unter dem Druck des sich vor seinen Augen entwickelnden Unbegreiflichen zu erzittern. Unerwartet verliert er jeden Halt, jeden Fixpunkt – der Tempel ist fort. Er sitzt, wo es keine Sitzfläche gibt, ist umgeben von Dunkelheit, in der es niemals Licht gegeben hat, hört den Schrei, der keine Töne, keine Stimme kennt, er ist, wo niemals etwas war …

Huang, der Starke, der Unbezwingbare, der Furchtlose, der Krieger ist von Furcht und Panik ergriffen, wie ein hilflos an Händen und Füßen Gefesselter, der mit einem fest um den Kopf geschnürten Sack in mond- und sternenloser Nacht von einem Floß in den Fluss gestoßen wird. Der Furchtlose ringt um den lebenswichtigen Atemhauch, wo es niemals einen Atemhauch gab, der Unbezwingbare kämpft gegen die leblose Lähmung seines Körpers, wo es nie bewegtes Leben und Stärke des Körpers gab – der Starke ist verloren.

Huang der Krieger beginnt sich, seinen Körper und seine Seele zu verlieren und zum ersten Mal in seinem Leben beginnt er, aufrichtig nach seinem Gott, nach Shang-ti, dem Himmelskaiser zu beten und zu flehen …

Als hätte der Himmelskaiser ein Einsehen gehabt, ist es als würde dem Sohn des Huang-tse die Sinnlichkeit zum Teil zurückgegeben, und doch glaubt Huang der Krieger zu träumen:

Er sieht sich selbst an einem Ort, dessen unausgemessene Weite angefüllt ist mit einer unzählbaren Menge aberwitzig blendender Lichter, er selbst mitten unter ihnen, schwerelos schwebend wie der alles überschauende Adler über der Steppe.


In einem gewaltigen Lichtblitz erscheinen ihm in unerwarteter Gleichzeitigkeit die wohl vertrauten Himmelsleuchten Sonne und Mond. Ohne zu begreifen, sieht der Fassungslose den Mond sich um die Erde und beide wiederum sich um die Sonne drehen. Wieder und wieder folgen beide dem Gelben Himmelsweg um die Sonne herum, der Gelbe Himmelsweg dehnt sich schließlich so weit in die unausgemessene Weite des Himmels aus, dass der Sohn des Huang-tse ihm mit seinen Augen nicht mehr folgen kann.


Als wäre das bis jetzt Geschaute noch nicht genug, sieht der Staunende den Roten Himmelsweg vor seinen Augen entstehen, der sich wie ein eng sitzender Gürtel um die Mitte der Erde schmiegt, die als blauweiße Kugel erscheint. Die Seele des Furchtlosen erzittert und erschauert und der Stolze bittet den Himmelskaiser, ihn aus diesem nicht enden wollenden Alptraum zu erlösen. Aber das, was der jetzt im Angesicht der Allmächtigkeit Zitternde für einen Alptraum hält, entwickelt sich vor seinen

Augen immer weiter mit einer Unwiderstehlichkeit, als folgte es einem himmlischen Gesetz, das für Menschen unantastbar ist.


An einer der beiden Schnittstellen des Gelben und Roten Himmelsweges erscheint eine winzige, hell leuchtende Sonne, die unerwartet und zum großen Schrecken Huangs des Kriegers ihre Bahn verlässt und langsam auf ihn zu, durch ihn durch und schließlich auf die Erde nieder schwebt.

Die Rätselhaftigkeiten, die sich dem Verwirrten in dieser kleinen Sonnenkugel zeigen, übersteigen Aufnahmevermögen und Verstandeskräfte des hilflos schauenden Nirgendwo-Nomaden, der das Geschaute weder jetzt noch in Zukunft in Worte fassen kann. Das geistige Fassungsvermögen ist erschöpft. Dessen ungeachtet, entwickelt sich dem verzagt Zuschauenden das dargestellte Geschehen immer weiter seinem Höhepunkt entgegen, seinem eigenen Gesetz, nicht der menschlichen Beschränktheit folgend.


Gleich dem Sturzflug des Raubvogels fällt der Sohn des Huang-tse im Sturzflug der Erde entgegen. In immer schneller erscheinendem Fall sieht er die vor schwarzem Sternenhintergrund blau leuchtende, schnell an Größe zunehmende, kugelrunde Erde auf sich zu rasen, sieht unermesslich weite, blaue Meere, teilweise versteckt hinter dicken, weißen Wolkenfeldern, er sieht große und kleine Flüsse, Wälder, Steppen und schließlich kleine Städte auf sich zu rasen und …den herannahenden, furchtbaren Aufprall auf die Mutter Erde, das Ende der nicht enden wollenden Seelenqual.


Im Angesicht des herannahenden Todes denkt der aus hartem Holz Geschnitzte an seine Familie, seine Frau, seinen so oft und ungerecht gescholtenen Sohn und an den Vater, den Weisen, über dessen Weisheit er so oft gelacht und im Stillen geschmäht hat, der auf die Frage der Menschen nach dem „Woher“ und „Wohin“ des Lebens und des Menschen immer antwortete:


„Der Mensch entspringt den offenen Armen der Mutter Erde und kehrt am Ende in die sich wieder schließenden Arme der Mutter Erde zurück.“


„Jetzt ist der Augenblick gekommen, um zur Mutter zurückzukehren, wie Recht du doch hattest, Vater!“, denkt der jetzt zahm gewordene Wilde.

Von einem Augenblick auf den anderen ist der rasende Fall zum freien Schweben gewechselt.

Der Sohn des Huang-tse schwebt wolkengleich – über Pan-po!


„Euch Göttern und besonders Dir, Shang-ti, sei Dank! Wofür auch immer ihr mich bestraft habt, ihr habt die Strafe aufgehoben und ich bitte Euch, mich jetzt nach Hause zu meiner Familie zu lassen!“


Kein Gott antwortet dem Verzagten und so muss der bitter Enttäuschte dem sich fortentwickelnden Geschehen weiterhin beiwohnen, ob es ihm nun gefällt oder nicht:


Über Pan-po schwebend, schaut sich der Sohn des Weisen im Dorfe um. Er sieht den Friedhofswächter auf dem Friedhof, die Jungendlichen und noch Kleineren, die ihren eigenen Wichtigkeiten nachgehen. Er sieht voller Wehmut und Heimweh den alten Dorfbrunnen unter der Schatten spendenden Baumkrone und natürlich sieht er auch sein Haus.

Doch der Blick in sein Haus ist ihm verwehrt. Wichtiges ist vor den Toren von Pan-po im Entstehen.

So wandert der Blick des Unsichtbaren vor die Tore der Stadt.

In einem unmessbar kleinen Augenblick sieht er viele Tage und Nächte entstehen und wieder vergehen. Sein Blick richtet sich in die Weite der Steppe, die müden Augen seiner Seele wollen ihren Dienst nicht mehr tun.

Er sieht einen großen Teil der Männer des Dorfes das Dorf verlassen, schwer bewaffnet und angeführt – von ihm selbst.


Von allen Seiten nähern sich unaufhaltbar wie die Wogen des Flusses schwerbewaffnete, fremde Krieger in Furcht erregender Überzahl, machen sich gar nicht erst die Mühe, taktisch günstige Stellungen zu beziehen, fallen in grausamem Schweigen und entsetzlicher Stärke über die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegene Dorfstreitmacht her.


Der Sohn des Weisen sieht seine Freunde und Dorfnachbarn einen nach dem anderen, von feindlicher Waffe tödlich getroffen niedersinken, den trocknen, durstigen Steppenboden mit Blut tränkend. Er selbst erschlagen und begraben unter den Leibern seiner toten Freunde. Den Bogenschützen der Feinde sind fast alle Krieger des Dorfes zum Opfer gefallen.

Den im Dorf verbliebenen ergeht es noch schlimmer, sie finden keinen schnellen Tod.

Die Augen wollen weinen, der Herzschlag will ersterben, die Glieder wollen vor Furcht erstarrt erzittern. Indessen fehlt den Augen Sinnlichkeit und Tränenbrunnen, dem Herzschlag fehlen Herz und Blut, den Gliedern fehlen Härte und Beweglichkeit.

Nur die Seele schaut und fühlt, schreit und weint, erkennt Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit, gefangen und gefesselt in der Körperlosigkeit.

Er kann seine Lieben nicht rufen, die Freunde nicht warnen, sich nicht vom Vater verabschieden, nicht den einzigen Sohn mit seinem Körper schützen …


All dies erlebt die ängstlich gewordene Seele des Sohns der Furchtlosigkeit – entkörpert über dem Dorf Pan-po schwebend – in der gedankenschnellen Kürze eines Augenblickes.

Von einem Moment zum nächsten reißt es den Körperlosen wieder fort. Fort ins Reich der Geister und Dämonen, wie der zutiefst Erschreckte glaubt. Wieder erstrahlen die blau erscheinende Erde und der silberne Mond in kugelrunder Form auf dem Gelben Himmelsweg, die gleißend hell aufleuchtende Sonne wie auf einer eingefrorenen Bahn umkreisend.

Wohl ist das Auge des Betrachtenden im Himmel, auf der Erde aber ist die Bühne. Der körperlose Betrachter dort sieht hier unter dem Schritt einer gewaltigen Armee den Boden erzittern und ein entsinnlichtes Flüstern lässt in ihm einen Satz entstehen, doch so sehr der Entkörperte auch lauscht – nichts versteht er von dem entsetzlichen Geflüster – noch nicht.


Der entsinnlichte Zuschauer oben auf der Himmelstribüne sieht unten in der Steppe die kleine, unbedeutend erscheinende Gestalt eines Menschen vor der gelben Sonne stehen, die erst vor wenigen Augenblicken unerwartet auf dem Gelben Himmelsweg erschienen ist und langsam zur Erde hinunter gleitend schließlich in der Steppe im fernen Westen des Huang-ho gelandet war. So sehr seine Augen sich auch bemühen – nichts von der Gestalt können sie erkennen …


Er sieht die schemenhafte Gestalt höchst rätselhafte Dinge tun und ein letztes Mal bäumt sich die Beobachterseele auf, als die einsam in der Steppe stehende Gestalt langsam ihren Arm in Richtung Himmel streckt, der Arm mit zunehmender Geschwindigkeit länger und länger und die geöffnete Hand größer und größer werdend. Schnell wachsen Arm und Hand über die Grenzen des Gelben und Roten Himmelsweges hinaus, die Hand langsam sich zur Faust schließend, als legte sie sich schützend oder strafend um all die Sonnen, Monde und Sterne des Himmels.


All dies zeigt sich der verlorenen Beobachterseele in der Kürze eines weiteren Augenblicks, bevor undurchdringliche Schwärze von der Seele Huang des Kriegers Besitz ergreift.


Als Huang der Krieger die Hand des Vaters auf seiner Schulter liegen fühlt, hält er dies für eine weitere Schicksalsprüfung durch die Götter.

Das ihn einhüllende, undurchdringliche Schwarz, welches seinen Augen mehr Schmerz bereitet, als das grellste Himmelslicht dies je vermöchte, legt sich wieder wie eine schmerzende, schwere Fessel um den ganzen Körper.


„Shang-ti!“, stöhnt der Vielgequälte, „noch so eine Prüfung ertrage ich nicht mehr. Gib der Mutter Erde den Teil meines Seins zurück, der von ihr kommt und lass dann meine Seele zu Dir strömen oder gib mir meinen Körper wieder und schütze mich vor den bösen Geistern und Dämonen, die Du mir gezeigt hast.“


„Mein lieber Sohn Huang“, hört Huang der Krieger seinen Vater zürnen, „was redest du unverständlich und wirr, ich habe dich gebeten, schweigend an der Beschwörungszeremonie teilzunehmen. Jetzt hast du die herbei schwebenden Götter und Geister erzürnt. Sie sind fort und werden wohl heute nicht wieder erscheinen.“


Der Sohn des Weisen und Priesters versucht die Augen zu öffnen, die Glieder zu bewegen, zu riechen, zu fühlen, zu schmecken und zum Vater zu sprechen. Schließlich ballt er die Fäuste, deren Kraft zu neuem Leben erwacht zu sein scheint.

„Ich bin wieder frei, bin wieder Huang, der Gefürchtete, der Unbezwingbare“, entfährt es dem Krieger in einer Lautstärke, als gälte es, das vielstimmige Gemuhe und Gebrüll einer großen, aufgeregten Büffelherde zu übertönen.

„Und ich fürchte mich vor nichts, vor gar nichts in dieser Welt“, ruft er so laut, dass es dumpf von den Tempelwänden widerhallt.


Bevor die Freude über das neu gewonnene Freiheitsgefühl ihren Höhepunkt erreichen kann, überfällt den Überglücklichen ein Erinnerungsblitz an erlebte Ohnmacht und Hilflosigkeit, Furcht und Ängste, verzweifelte Hilferufe an die Götter, an Shang-ti und an die guten Vorsätze, mit denen er den Göttern seine Dankbarkeit zeigen wollte. Und so formuliert der zum Gläubigen gewordene Ungläubige seine neue Welterkenntnis:


„Ja, vor nichts in dieser Welt fürchte ich mich – außer vor den Göttern und ganz besonders vor Shang-ti.“


„Das ist neu“, sagt der Weise ironisch zu seinem Sohn, „bist du vielleicht mit dem Kopf gegen die Tempelmauer geschlagen? Komm, lass uns nach Hause gehen. Für heute hast du mit deinem Geschwätz die Götter erzürnt. Zum nächsten nächtlichen Vollmond kommen wir wieder…“

Der Sohn des Huang-tse rührt sich nicht von der Stelle, er ist auf eine bei ihm nie gesehene, unnatürlich wirkende Weise in einen tiefen Zustand nachdenklicher Stille geraten, so dass der Huang-tse sich entschließt, die nur schwach glühenden Holz- und Torfstücke in der Feuerstelle noch einmal hell auflodern zu lassen.

Die knisternde, prasselnde, hell züngelnde Flamme erfüllt die Tempelhalle mit gespenstische Schatten werfendem Licht.

Der Huang-tse schaut seinem Sohn ins Antlitz, das die deutlichen Spuren leidvollen Erlebens kaum verbergen kann. Der Huang-tse sucht nachdenklich nach einer Erklärung, kann aber in keiner Weise erahnen, was sich in einem Augenblick von vielleicht zehn Atemzügen Dramatisches ereignet haben könnte.

So bittet der Huang-tse seinen Sohn um Erklärung. Und als sein Sohn seine Erlebnisse, Visionen, Wahrnehmungen und Empfindungen schildert, beginnt der Weise in wenig weiser Art zu lachen:


„Das ist ja alberner als alles, was ich je gehört habe“, lacht der Weise, „warum sollten die Götter ausgerechnet dich an die Stätten ihres Wirkens geholt haben!

Erde, Sonne, Mond und Sterne alles Kugeln! Wir müssten dann entweder von der Erde runterfallen oder ständig um die Kugel herumrutschen oder alle nicht feststehenden Sachen und Menschen würden gemeinsam zum tiefsten Punkt fallen und sich dort ansammeln müssen. Ständig wären wir in

Gefahr, dass später herunterfallende Gegenstände uns am Kopf treffen, was dir offensichtlich schon passiert ist.“

Der Weise ist klug genug zu erkennen, dass er sich im Gespräch mit seinem Sohn von Kränkung und Eifersucht hatte leiten lassen. Eifersucht auf das seinem ungehobelten Sohn von den Göttern

zugestandene Vorrecht einer Vision von so ungewöhnlicher Art, wie es sie seit der Zeit der traditionellen Überlieferungen durch die Urahnen noch niemals gegeben hat.


Als die beiden Männer schließlich wieder nach Hause gehen, sehen sie den silbrig-eisigen Mond noch immer im steten Aufstieg seine kalte Himmelsbahn ziehen.

In der Steppe

Seit der Kommandant von jenen furchtbaren Visionen über das Schicksal von Pan-po und seiner Bewohner heimgesucht wurde, ist kein Tag vergangen, an dem er sich nicht den Kopf über die in ihnen enthaltenen Warnungen zerbrochen hätte. Intensiv hatte er sich um ein Verteidigungsbündnis aller umliegenden großen Dörfer bemüht …


Der Höhepunkt der kalten Jahreszeit ist seit geraumer Zeit überschritten und doch liegt die weite Steppe noch immer unter einer dichten Schicht aus Schnee und Eis. Huang der Krieger, als Kommandant der gemeinsamen Truppen aller verbündeten Dörfer, die sich zu einem Schutzbündnis vereinigt haben, schaut sorgenvoll zum Himmel, der noch immer bereit zu sein scheint, Schnee aus seinen Wolken in die weite Steppe hinunterzuwerfen.


„Wir müssen jetzt unsere Kundschafter dem Feind entgegenschicken – auf die winterliche Witterung kann ich nicht länger Rücksicht nehmen“, wendet sich der Kommandant an seine führenden Krieger. „Das Frühjahr steht vor der Tür und es sollte unseren Spähern nicht unmöglich sein, in der noch mit Schnee bedeckten Steppe zu überleben. Ich habe bereits einige der besten Krieger für diese wichtige Aufgabe ausgewählt. Da ich auf Yao, meinen ersten Stellvertreter als Kommandant aller Krieger der verbündeten Dörfer, hier nicht verzichten kann, wird Kriegerin Chin den Kundschaftertrupp befehligen. Ihr brecht morgen früh mit dem Morgengrauen auf.“


Der Kommandant hat sein Vorhaben verkündet und beschlossen und Widerspruch scheint undenkbar. Und doch widerspricht der Huang-tse dem Befehl seines Sohnes.


„Ich werde gehen und mein Enkel Huang wird mich begleiten“, erklärt der Weise mit ruhiger Stimme.


„Warum?“, fragt Huang der Krieger. „Sag mir einen guten Grund, Vater, damit ich zustimmen kann!“


„Die Feinde, die uns weithin unbekannten Krieger der Stämme der Gor, werden ebenfalls ihre Späher in der Steppe haben, so dass es von Vorteil wäre, wenn unsere Späher nicht sofort als solche zu erkennen sind.“


„Ich verstehe durchaus, Vater, was du mir mitteilen willst – ich selbst habe schon den gleichen Gedanken gehabt wie du. Welcher vernünftige Kriegsherr – verzeih, Vater, wenn ich respektlos klinge, ohne es sein zu wollen – welcher vernünftige Kriegsherr würde einen schwache Alten und seinen noch sehr jungen Enkel für Kundschafter halten. Aber das Clan-Oberhaupt ist ebenso unersetzlich wie unser Huang, der an deine oder auch an meine Stelle treten soll. Ich habe mich bewusst gegen euch entschieden. Außer euch beiden stehen mir aber kein weiterer geeigneter weiser Großvater mit einem pfiffigen Enkel zur Verfügung.“


„Dein Sohn Huang und ich – wir wollen es aber so. Wir werden uns als Handeltreibende, die in der Steppe herumreisen, ausgeben, die von der Länge dieses Winters überrascht wurden.“


„Wer wird euch schützen?“, fragt Huang der Krieger und die Kriegerin Chin antwortet ihm höhnisch lachend:


„Das tapfere Kriegerchen Huang der Held.“


Die umstehenden Krieger und Bewohner von Pan-po beginnen gemeinsam ein Hohngelächter, das aber schneller verstummt, als es angefangen hat. Drohend blickt der Kommandant zum Ort des Gelächters und der eine Blick verfehlt seine Wirkung nicht.


„Wage es niemals wieder, Chin, dich in ein Gespräch zwischen mir und dem Huang-tse einzumischen!“, spricht der Kommandant die Kriegerin an und jeder der Anwesenden weiß, dass die spottende Kriegerin nur für dieses erste Mal mit dem Leben davongekommen ist.


„Wenn du darauf bestehst, Vater, dann bin ich bereit zuzustimmen. Wir werden alles Weitere heute Abend in unserem Haus besprechen – und vergiss nur nicht, einen Krug von dem köstlichen, gegorenen Saft mitzubringen!“

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Mit dem ersten Morgengrauen erheben sich der Huang-tse und sein Enkel beizeiten von ihren Schlafstellen. Gut ausgerüstet mit Handelswaren, wie sie sie von allen Menschen dieser Zeit benötigt werden, begeben sich die beiden mutigen Kundschafter von kaum jemandem in Pan-po bemerkt in nordwestliche Richtung aus dem Dorf hinaus, gefolgt von vier Lastpferden.

Es hat wieder begonnen zu schneien und das wilde Treiben der Flocken macht es unmöglich, weiter als drei oder vier Schritte voraus zu schauen. Die Glätte des vereisten Steppenbodens lässt jeden Schritt der Pferde zu einer qualvollen Rutschpartie werden. Tag um Tag zieht der Großvater mit seinem Enkel durch das wilde Treiben der Schneeflocken, die immer wieder von heftigen Windböen erfasst in das Gesicht von Mensch und Tier gepresst werden.

„Die Kundschafter der Gor sind schlechter dran als wir, Huang“, tröstet der Huang-tse den Enkel und sich selbst. „Und sie kennen die Gegend nicht so gut, wie wir sie kennen. Wir kennen alle schützenden Felsenhöhlen und sind die Nächte auch kalt, so sind unsere Ruheplätze wenigsten vor Wind und Nässe geschützt.“

„Ja, Großvater, aber wenn das Schneetreiben nicht bald aufhört, dann müssen wir wohl hungern. Lange werden unsere Vorräte nicht mehr reichen!“

Langsam und quälend ziehen sich die Tage und Nächte hin, Mensch und Tier sind die Strapazen des Gewaltmarsches durch die Steppe gleichermaßen anzusehen. Mit unendlicher Geduld und Leidensfähigkeit, zieht die kleine Gruppe von Mensch und Tier unbeirrbar durch die Steppe, vom Orientierungssinn, der allen Naturmenschen zu eigen ist, sicher dem Ziel entgegengeführt.

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Endlich, nachdem die beiden vermeintlichen Händler wohl vierzehn Tage sich durch die vereiste Steppe gequält haben, nachdem alle Vorräte für Mensch und Tier nahezu aufgebraucht sind und nachdem Mensch und Tier nach den Strapazen einer entbehrungsreichen Wanderung durch die vereiste Steppe am Ende ihrer Kräfte angelangt sind – endlich setzt der Frühling ein und er tut dies mit aller Macht und Eile, als gelte es, die verlorene Zeit wieder gutzumachen.


Die Kälte des Winters beginnt schneller und schneller dem mächtig heranbrausenden, Wärme spendenden Frühlingswind zu weichen – der Frühling ist da, der das ganze Land in ein neues, erst grünes, dann buntes Gewand kleidet und alles mit neuem Leben und neuer Lebenskraft erfüllt. Ob Tier, ob Mensch, ob Pflanze: alles ist in rege Betriebsamkeit verfallen, weil es der Leben spendende Frühling mit seinem überschäumenden Lebensmut so will.

Der so plötzlich einsetzende warme Frühlingswind braucht nur wenige Tage, um aus der eben noch vereisten Steppe erstes Grün und Farbenbunt hervorzubringen.


Der erwachende Frühling hat auch in Huang und dem Huang-tse neue Lebenslust erweckt.

Schweigend wandern die beiden durch die wie zu neuem Leben erweckte Steppe. Jeder der beiden folgt in der erdrückend wirkenden Weite und Stille der Steppe den Pfaden der eigenen Gedanken. Vor dem blauen Hintergrund des Himmels folgen schwerfällig wirkende, große Einzelwolken ihren unsichtbaren Luftwegen. Auf ihrer gemächlichen Wanderung geben sie hin und wieder den Blick frei auf das einzigartige Panorama der weit im Westen liegenden Hochgebirge mit ihren schneebedeckten Gipfeln und Höhenzügen.

Unter dem Eindruck dieser wuchtigen und urgewaltigen Landschaften des Himmels und der Erde fühlen beide Wanderer ihre Kleinheit und Bedeutungslosigkeit inmitten des ausgedehnten Großen.

In dieser äußeren Stille fühlt Huang sich umso mehr auf seine unruhige Innerlichkeit zurückgeworfen. In der fast schmerzhaften Ruhe empfindet er, mehr und quälender denn je, die Gegenwart fremder Gedanken, Gefühle und Bilder. Alle Kanäle sinnlicher Empfindung und Erregbarkeit scheinen weit geöffnet zu sein, drücken wie betäubend auf das Gemüt des jungen Wanderers, der es vorzieht, mit bloßen Füßen über das Bodengrün der Steppe durch die schier endlos wirkende grüne Weite zu laufen.

Im Dorf gab es vielerlei Ablenkungsmöglichkeiten, um all die Stimmen in seinem Kopf eine Zeit lang zu unterdrücken, oder gar zu vergessen. Hier aber, in der Größe und Weite der allmächtigen Natur ist der Schritt jedes Menschen zu klein, um davonlaufen zu können.


„Großvater“, fragt Huang, dabei mit dem Zeigefinger auf einen winzigen, gerade noch mit den Augen erkennbaren Punkt im tiefblauen Himmel über ihnen zeigend, „kannst du dir vorstellen, wie die Steppe und die fernen Gebirge aus der Höhe des Adlers dort oben aussehen und kannst du dir vorstellen, dass du von dort oben unser Dorf sehen kannst?“

Der Weise, der sich im Umgang mit Huangs einzigartiger Fähigkeit immer weniger wie ein Weiser, eher wie ein unwissender Schüler fühlt, schaut in die tiefblaue Höhe des Himmels.


„Lass mich das Unmögliche sehen, Huang“, bittet der Großvater seinen Enkel, der mit einem einzigen die geistige Verbindung symbolisierenden Bild, die Gedankenverbindung mit dem Großvater herstellt.


„Wie erst sehen die Götter unsere Welt, wenn ein einfacher Vogel schon mit den Augen einer Gottheit sieht“, murmelt der Weise, der fassungslos die Bilder der Welt um ihn herum gleichzeitig auf zweierlei Weise sieht:

In der Beschränktheit der Bilder der eigenen Sinnlichkeit einerseits und der empfundenen Sinneseindrücke des hoch im blauen Himmel fliegenden Adlers.


Es ist ein einzigartiges Naturpanorama, welches sich dem inneren Auge des Huang-tse in außergewöhnlicher Weise darstellt.

Von der endlos sich hinziehenden Steppe, die in der verschwenderischen Farbenfülle des Frühlings tief unter ihm liegt, bis zur unvorstellbaren Klarheit des Reliefs der fernen Hochgebirge mit seinen in jeder Höhe, Breite und Tiefe klar voneinander abgesetzt erkennbaren Höhenzügen, Bergen und Tälern, bleibt dem Huang-tse nichts Großes und nichts Kleines verborgen. Ihm ist, als schwebte er selbst gleich dem Adler hoch oben über der Steppe im wolkenweiß getüpfelten blauen Himmel…

„Großvater, möchtest du die wunderbaren Augen des Adlers aus der Nähe sehen?“


„Du kannst den König des blauen Himmels zu uns herunter auf die Erde bitten?“, zweifelt der Weise und der Enkel antwortet ihm grinsend:


„Nichts leichter als das, Großvater“, und schon setzt unter den mehr als nur erstaunten Blicken des Großvaters der Raubvogel zu einem sanften Gleitflug an, an dessen Ende er schließlich zitternd und angsterfüllt vor dem Großvater sitzt.


„Nimm dem Tier die Angst, wenn du es vermagst oder entlasse es dorthin zurück, wo es in Freiheit zuhause ist!“, befiehlt der Großvater etwas unwillig seinem Enkel.


Ganz zwanglos gelingt es Huang mittels der starken suggestiven Wirkung seiner einzigartigen mentalen Fähigkeit, den natürlichen Fluchtreflex des Vogels durch eine kurz dauernde Illusion der Vertraulichkeit beim Anblick der beiden Menschen zu ersetzen. Von einem Augenblick auf den anderen hört der Vogel auf zu zittern und hüpft mit einer Zutraulichkeit auf den Weisen zu, die dieser nur sprachlos zur Kenntnis nehmen kann.

Schließlich spreizt Huang seine Arme weit auseinander, als wollte er fliegen, der Raubvogel tut es ihm gleich und als Huang seine Arme wie im Flug bewegt, tut der Vogel es ihm wieder gleich, erhebt sich dabei aber fliegend in den blauen Himmel und ist den Blicken der beiden Beobachter nach kurzer Zeit entschwunden.

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Die beiden angeblichen Händler treffen jetzt, da der Boden der Steppe wieder grün und fest geworden ist, immer häufiger auf andere Reiter. Nomaden, Händler und Hirten, denen kaum anzusehen ist, woher sie kommen und wohin sie gehen werden.


„Wenig Vertrauen erweckend die Leute, die uns hier hin und wieder über den Weg laufen.“, brummt der Huang-tse missmutig vor sich hin.

Er weiß sehr wohl, dass seine besten Jahre als Krieger seit so vielen Sonnenumläufen vorbei sind, dass er aufgehört hat, die Jahreszeiten und Sonnenumläufe seit dieser Zeit zu zählen.


„Aber sie berichten uns neues, Großvater, so dass wir wissen, wo die Gor jetzt ihr Hauptzeltlager aufgeschlagen haben. Wir werden bald auf die Gor treffen und dann alles erfahren, was wir wissen müssen. Du fragst einfach unsere Feinde, sie denken ihre Antworten und werden uns nicht die Wahrheit erzählen, was aber gar nicht so schlimm ist. Ich werde mir einfach merken, was sie denken – da können sie ja nicht lügen. Das wird ganz einfach werden!“