Cover
Anne Riebel
Riesling pur
oder ein mörderischer Jahrgang
4. Auflage 2012
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2007 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: © fotolia: madarakis
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-942921-96-1
Für meine Ahnen
Und für Thomas und Marion
Mit Dank für ganz viel Liebe.
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Samstag

– 1 –

Sven saß mit lustloser Miene auf der Treppe im Hof. Seit einer Viertelstunde überlegte er, ob er wieder zurück in sein Zimmer gehen und sich seinen Computerspielen widmen sollte. Er hätte auch zur Oma hineingehen können oder ins Dorf, um vielleicht bei Felix vorbeizuschauen. Es war sehr warm in der Sonne, obwohl sie hinter einem leichten Dunstschleier verborgen lag. So warm, dass zu Svens Frust und der Langeweile auch noch die Trägheit kam, die ihn stets umfing, wenn sich die Schwüle über den südlichsten Zipfel der Pfalz legte. Wie der zähe, heiße Atem eines riesigen Drachen ließ sich die feuchte Hitze zwischen dem Rheingraben und dem Haardtrand nieder und rührte sich tagelang nicht von der Stelle. An Tagen wie diesen fühlte Sven, dass eine unfreiwillige Seelenverwandtschaft zwischen ihm und dieser ungeheuerlichen Schwüle bestand. Der einzige Ort, wo er sich aus ihren Klauen befreien und aufatmen konnte, war das Schwimmbad, aber da durfte er nicht alleine hin. Dabei war er schon fast elf. Außerdem war sein Vater nicht da, das war die eigentliche Katastrophe.
Paul arbeitete in Köln in einem Ingenieurbüro. Vier Tage schuftete er bis spät abends, manchmal sogar noch nachts, damit er freitags schon zu Mittag in Rittersheim sein konnte. Dann holte er Sven von der Schule ab und sie unternahmen etwas zusammen bis Susanne, Svens Mutter, meist noch später als an den anderen Tagen der Woche nach Hause kam. Sie war Tierärztin und konnte ihre Praxis im Nachbardorf nicht mit nach Köln nehmen. Und Paul konnte seine Arbeit nun einmal nicht in der Pfalz erledigen. Deshalb fieberte Sven jedem Wochenende entgegen, als wäre sein Vater der Nikolaus. Um endlich mit Paul zusammensein zu können. Um endlich in Ruhe alles zu besprechen, was die Woche über passiert war. Um seine Mutter gut gelaunt und ohne ihre oft übertriebenen Ängste zu erleben. Um endlich eine ganz normale Familie zu sein – zweieinhalb Tage lang.
An diesem Samstag musste Paul in Köln bleiben, um mit seinem Chef zu Abend zu essen. Sven konnte nicht verstehen, dass dies wichtiger sein sollte als ihr gemeinsamer Nachmittag. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, war seine Mutter auch noch dorthin gefahren. Für ein Abendessen! Das hätten sie doch bei Oma Fine besser und einfacher haben können. Sven war ziemlich gern bei seiner Oma. Er war froh, dass sie wenigstens während der Woche immer hier war und Zeit für ihn hatte. Nur am Samstag, wenn sie zwei Kuchen backte, das Haus von oben bis unten putzte, den Hof und die Straße fegte und all das, was ihr sonst noch an Haushaltsdingen einfiel, mit unerbittlicher Gründlichkeit erledigte, war es besser, ihr nicht in die Quere zu kommen. Vor halb fünf würde er keine Chance haben, bei ihr eine Limonade und ein Stück Kuchen zu ergattern. Es war aber noch nicht einmal drei Uhr.
Sven stand auf und ging unschlüssig im Hof auf und ab. Auf der linken Seite war die Treppe, die nur aus vier Stufen bestand und in das winzige Bauernhaus der Oma führte. Daneben stand ein altes Backhäuschen, und ganz hinten hatten seine Eltern, als Sven noch sehr klein gewesen war, ein neues, größeres Haus für sich gebaut. Inzwischen fand Sven es toll, dass sie ganz oben am Hang, in der am höchsten gelegenen Straße von Rittersheim wohnten. Die Rückseite des Hauses war in den Sandsteinfelsen gebaut, der sich direkt dahinter steil aufrichtete. Hoch oben sprang der Felsen so weit vor, dass er wie ein Balkon über dem Dorf in die Landschaft ragte. Als er noch kleiner gewesen war, hatte Sven Angst gehabt, der Felsen könnte herunterstürzen und ihnen auf den Kopf fallen.
Wieder überlegte er, ob er nicht besser hineingehen sollte. Er hätte Felix eine E-Mail schicken können. Den Anschluss hatte Paul ihm noch letztes Wochenende eingerichtet, damit sie sich während der langen Zeit, bis er wiederkam, wenigstens schreiben konnten. Bis jetzt war aber noch keine Nachricht von seinem Vater gekommen, was Sven gleichermaßen ärgerte und irritierte, denn er wusste dessen E-Mail-Adresse nicht. Vielleicht hätte er Oma Fine eine Freude machen und den Hof kehren können. Er konnte sich weder für das eine noch für das andere begeistern, schlüpfte aber trotzdem in das kühle Backhäuschen, wo Oma Fine ihre Besen, Schaufeln, Hacken und viele andere komische alte Sachen aufbewahrte. Das Häuschen bestand aus einem einzigen Raum, der von einem aus Ziegelsteinen gemauerten Backofen beherrscht wurde, in dem die Oma früher riesige Brote gebacken hatte. In dem Kessel, der in einer Nische zwischen Backofen und Wand stand, hatten sie ganz viel früher die Wäsche gekocht oder so viel Wasser, dass man ein halbes Schwein darin garen konnte. Sven kamen die Erzählungen der Oma vor wie ein besonders unglaubliches Märchen, und obwohl Oma Fine immer beteuerte, dass das die blanke Wahrheit und keine Geschichten seien, konnte Sven sich das nicht vorstellen. Trotzdem hörte er Oma Fine gerne zu, und manchmal fand er es ganz witzig, in den Utensilien aus dieser Zeit herumzustöbern. Er entdeckte einen Kochlöffel, der fast so lang war wie er groß. Einen hölzernen Brotschieber und einen ganzen Stapel Brotkörbe aus geflochtenem Stroh. Eigentlich Beweise dafür, dass die Oma doch nicht flunkerte. Sven wollte schon wieder gehen, als er auf etwas Unebenes trat. Eine dicke Hanfschnur, auf deren Ende ein Holzklötzchen gefädelt und mit einem Knoten gesichert worden war. Wozu brauchte man so etwas? Sven hob es auf und band das andere Ende der Hanfschnur an einen Bambusstock, den er hinter dem Kessel gefunden hatte. Langsam trat er hinaus in den Hof, ins helle Sonnenlicht. Es störte ihn jetzt nicht mehr, denn es war plötzlich das gleißende Scheinwerferlicht, das in einem großen Zirkuszelt allabendlich auf ihn gerichtet war. Es brachte den rötlichen Schimmer in seinem braunen glatten Haar zum Vorschein. Die vielen Sommersprossen in seinem Gesicht wurden zum Markenzeichen des weltbekannten Dompteurs Sven Walter. Er betrat die Manege voller Gelassenheit und präsentierte Panter, Löwen und Tiger, die er als einziger Dompteur der Welt gleichzeitig in Schach halten konnte. Er drehte sich im Kreis, ließ das Holzklötzchen über den Boden springen, scheuchte die Raubkatzen von einer Ecke in die andere, hörte den Applaus über sich hereinbrechen, verneigte sich würdevoll und vollführte noch eine elegante Drehung, ehe er im Publikum Platz nahm.
Der Stock mit der Schnur, überlegte Sven, auf der obersten Treppenstufe vor Fines Haustür sitzend, würde auch eine gute Angel abgeben. Über die Dächer des Dorfes hinweg schaute er ins Tal. Irgendwo hinter den trägen, tiefgrünen Hügeln zu seiner Rechten entsprang eine Quelle, ein kleiner Bach schlängelte sich durch Wald und Felsen, sammelte andere Rinnsale und Quellen auf und wurde auf seinem Weg durch Wiesen, Weinberge und Felder zu einem breiten gemächlichen Fluss. Wo sich der Fluss in einem weiten Bogen dem Dorf zuwandte, um hinter den Häusern der Hauptstraße weiter zur Stadt zu fließen, war eine kleine Bucht entstanden. Irgendwo dort, versteckt im Schilf, das sich von der Bucht bis zum Dorf hin erstreckte, musste das Boot liegen, das Felix‘ Vater vor Kurzem gekauft hatte, und von dem Felix ihm vorgeschwärmt hatte. Sven ergriff die Angel und marschierte los.
Er folgte der Straße nach rechts, lief hinab ins Neubaugebiet und von dort aus hinunter zur Hauptstraße. Er schwitzte, sah hinunter zum Fluss, wo der lange, schmale Schilfgürtel begann und dann breiter wurde. Erst weit hinten, wo er sich lichtete, lag die Bucht. Er verzog das Gesicht und fluchte. Von oben hatte das alles viel näher ausgesehen. Sven beschloss, ans andere Ende des Dorfes zu gehen. An den Gärten hinter den Häusern der Hauptstraße zog der Fluss langsamer vorbei und war auch nicht so tief. Er ärgerte sich, dass er nicht gleich darauf gekommen war, jetzt musste er den ganzen Weg, den er im Oberdorf gegangen war, hier im Tal wieder zurückgehen. Als er am Amselhof in der Hauptstraße vorbeikam, zögerte er kurz. Sollte er schauen, ob Felix da war, und ihn bitten mitzukommen? Aber das Hoftor war geschlossen, was wahrscheinlich bedeutete, dass alle unterwegs waren. Außerdem würde Felix bestimmt nicht aufhören, ihn damit aufzuziehen, dass er ja nur seinen Vater vermisse.
Endlich schlug er, ganz am Ende der Hauptstraße angelangt, hinter der Weinstube den nur wenige Meter langen Trampelpfad ein, der ihn auf den Weg direkt am Flussufer führte. Sven suchte sich eine seichte Stelle, zog seine Turnschuhe aus, band sie an den Schnürsenkeln zusammen und hängte sie sich um den Hals. Die Strümpfe steckte er in die Taschen. Dann rollte er die Hosen hoch und trat endlich ins Wasser. Es war kühl und klar, und seine Füße gruben sich wie von selbst in den weichen Sand. Er warf seine Angel aus. Hier, mit den Füßen im Wasser, war die schwüle Hitze ganz gut auszuhalten. Drüben, an der anderen Uferseite, flog ein Reiher auf. Sven sah im nach. Dann beobachtete er die Schwalben, die im Flug aus dem Fluss tranken. Er ließ das Holzstück am Ende der Angel mit der Strömung weit hinter sich treiben, dann schwang er es in hohem Bogen wieder vor sich her. Nach einer Weile war es ihm dann doch zu langweilig, immer nur herumzustehen, und er watete langsam flussaufwärts. Als das Wasser tiefer wurde, rammte er den Bambusstock in den Grund und hielt sich daran fest, um besser voranzukommen.
Irgendwann knickte der Uferweg nach rechts ab, der Fluss wand sich nach links und Sven passierte dichte, mannshohe Schilfrohre, welche die gesamte, rasch breiter werdende Fläche zwischen Weg und Ufer erobert hatten. Sven musste lachten, als ihm klar wurde, dass er schon fast wieder am anderen Ende des Dorfes angekommen war. Südlich der Hauptstraße, an der Rückseite der Häuser und an den Gärten entlang, hatte er den gleichen Weg nun zum dritten Mal im Wasser zurückgelegt.
Obwohl er wusste, dass es bis zur Bucht zu weit und der Fluss auf dem Stück dazwischen sehr tief war, ging er weiter. Bald reichte ihm das Wasser über die Knie, und es wurde anstrengender, voranzukommen. Sven nahm wieder seinen Stock und ab und zu eines der Schilfrohre zu Hilfe. Die Sonne war jetzt unter dem bedeckten Himmel nur noch zu erahnen. Vor ihm schienen die Hügel der Haardt zum Greifen nah zu sein. Ganz deutlich konnte er die Felsen und Burgen, ja sogar einzelne Bäume erkennen. Sven kam die Gegend an solchen Tagen vor wie eine Ritterlandschaft, in die er nur noch seine Spielfiguren hineinzusetzen brauchte. Oma Fine hätte jetzt wahrscheinlich gesagt, dass es bald Regen geben würde.
Vom Dorf her hörte er die Uhr des Kirchturms schlagen, und dann läuteten die Glocken. Vier Uhr. Er blickte über die Schulter zurück. Das Dorf lag ein ganzes Stück hinter ihm. Von hier aus würde er mindestens eine halbe Stunde bis nach Hause brauchen. Er stand jetzt bis zu den Oberschenkeln im Wasser und überlegte. Es gab keinen Hinweis, wie weit die Bucht noch weg war. Oma Fines Kuchen kam ihm wieder in den Sinn, und ihm fiel ein, dass er ihr gar nicht Bescheid gesagt hatte, als er weggegangen war. Vielleicht suchte sie längst nach ihm. Mit einem Ruck stieg er aus dem Wasser. Vorsichtig balancierte er durch das Dickicht aus Schilf und Gestrüpp. Er musste zuerst eine Stelle finden, wo er sich hinsetzen und seine Schuhe wieder anziehen konnte. Konzentriert suchte er den Boden ab, um einen halbwegs angenehmen Untergrund für seine nackten Füße zu finden.
Er stand keine fünf Meter von den beiden entfernt, als er die Schreie hörte. Das merkwürdig hohe, lang gezogene Johlen eines fremden Jungen, der wohl auf den Knien saß. Über ihm, vielmehr hinter ihm, war Marius.
Der kaltblütige Marius. Sven hatte bereits genug Situationen erzählt bekommen und sogar selbst mit ansehen müssen, um einen großen Bogen um diesen Jungen zu machen. Er war der Schrecken aller Kinder im Dorf, denn seine liebste Beschäftigung war es, sie zu schikanieren. Das, was Sven hier sah, war allerdings jenseits der grauenhaftesten Geschichten, die er je über Marius gehört hatte. Sie waren nackt. Beide. Bis auf die Turnschuhe und die Hosen, die so weit heruntergezogen waren, dass sie wie eine Ziehharmonika über den Knöcheln Falten schlugen. Marius brüllte und stöhnte, während er sich dicht hinter dem anderen Jungen vor und zurück bewegte. Er tat dies anscheinend mit großem Vergnügen, ja fast genüsslich, in einem ungewohnten Rhythmus, der langsam schneller wurde, während er den Jungen mit seinen großen Händen gepackt hielt und an sich presste. Die beiden nackten Körper bewegten sich nun stoßweise, fast ruckartig aufeinander zu, immer wieder. Immer wieder! Sven stand da, als wäre er vor lauter Furcht und Schrecken zu einem Schilfrohr geworden, und tatsächlich hätte er sich am liebsten in einem solchen verkrochen. Der fremde Junge schrie wieder auf, schien hilflos zu jaulen. Svens Vorstellungskraft reichte nur für unklare, düstere Vermutungen über das Treiben des nackten Marius hinter dem anderen nackten Jungen, und er wusste nicht, ob er eher von Angst oder von Ekel geschüttelt wurde. Jedenfalls wurden die Stöße in der Szene vor seinen Augen immer heftiger, schneller, noch schneller, so schnell, dass Sven plötzlich klar wurde, dass dieses grässliche Spiel vielleicht nicht ewig dauern würde. Wenn er nicht der nächste sein wollte, der womöglich in dieses furchterregende Treiben mit einbezogen würde, dann musste er etwas tun. Aber sein Körper blieb reglos. Wie schockgefroren stand er da, während seine Gedanken sich überschlugen. TU ETWAS! Mehrmals schrie er sich im Geist selbst an. Endlich rannte er los. Rannte mitten hinein in das sumpfige Schilffeld.
Er hörte die beiden noch einmal aufschreien, und obwohl er rannte, sein Herzschlag in seinen Ohren pochte, das Schilf raschelte, nahm er auch die plötzliche Stille wahr, die diesem letzten offenbar verzweifelten Schrei und Marius‘ zufriedenem Grölen folgte. Sven rannte, wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Schilfwedel schlugen ihm ins Gesicht, die Rohre und Steine schnitten ihm in die nackten Fußsohlen. Er lief schnurstracks geradeaus. Er hatte den Fluss im Rücken und musste ungefähr an der breitesten Stelle des Schilfgürtels sein. Auf der anderen Seite würde er wieder auf den Uferweg treffen. Als er endlich aus dem Dickicht trat, atmete er nur einmal durch und rannte sofort weiter auf das Dorf zu. Den dunkelgrünen Kombi, der an ihm vorbeifuhr, nahm er kaum war. Er war überzeugt, dass Marius hinter ihm her war, dass er das nächste Opfer sein würde – und dann brachte ihn die Fortsetzung seiner Gedanken jäh zum Stehen. Wenn Marius ihn gesehen und erkannt hatte, dann würde er ihm natürlich auf dem Weg ins Dorf folgen. Sven sah sich um und rannte wieder zurück. „Ich muss ihn austricksen“, keuchte er halblaut, während er dem Uferweg nunmehr in die andere Richtung folgte. Noch einmal kam er an dem Wagen vorbei, der gewendet hatte und ungefähr dort parkte, wo Sven soeben aus dem Schilf gekommen war. Sven achtete nicht darauf. Bemerkte nicht, dass der Fahrer abwesend die Hand zum Gruß hob. Noch war von Marius nichts zu hören. Er rannte. Sein Herz klopfte an seinen Schläfen, die Turnschuhe schlugen ihm ab und zu ins Gesicht. Er rannte, und die Angst, dass seine Flucht misslingen könnte, trieb ihn weiter. Als sich der Weg nach links wandte, wo er wieder zum Fluss führte, und das Schilf sich endlich lichtete, wurde er langsamer. Er hielt sich die schmerzende Seite, während er auf das Wasser zuging. Er stand in der Bucht, und dort, festgebunden an einem kleinen Strauch, lag das blaue Boot der Amselmanns.
Sein Kopf drohte zu platzen. Erleichterung und das Grauen bei dem Gedanken, wie knapp er davongekommen war, ließen ihn würgen. Das Boot trieb schaukelnd stromabwärts. Mit zitternden Händen griff Sven nach dem Ruder und versuchte, möglichst nah ans Ufer zu kommen. Er wusste, dass der stille, gemütliche Fluss auch seine Tücken hatte. Doch das Bild, das er immer noch vor Augen hatte, und diese schrecklichen Schreie gingen ihm durch und durch. Es konnte keinen Zweifel mehr geben, dass Marius verrückt war! Richtig verrückt, nicht nur ein bisschen durchgeknallt. Er sah seine massige Gestalt, diese großen, prankenartigen Hände, die nackten, schwitzenden Körper. Am schlimmsten aber war dieser Ausdruck auf Marius‘ Gesicht gewesen. Diese absolute Zufriedenheit! Als ob es die totale Erfüllung gewesen wäre. Nicht diese fiese, gelangweilte Gehässigkeit, die er sonst an den Tag legte, wenn er andere quälte. Und der andere Junge! Er war ungefähr genauso alt gewesen wie Marius, was komisch war. Sonst waren seine Opfer wesentlich jünger. Seine Schreie hatten Marius nicht kalt gelassen, ihn anscheinend sogar noch angestachelt. Ob der Andere jetzt tot war? Bestimmt würde niemand so etwas überleben können. Und dann – und das war wiederum ein ganz furchterregender Gedanke – kam Sven in den Sinn, dass dieses schreckliche Spiel dem fremden Jungen vielleicht gar nicht so viel ausgemacht haben könnte. Dass es ihm vielleicht sogar gefallen hatte. Sven schüttelte sich so heftig, dass das Boot gefährlich schwankte.
Er hatte vorgehabt, zum Kommissar zu gehen. Er sagte sich, dass er Marius anzeigen musste. Dass Hilfe geholt werden musste für den fremden Jungen, falls er noch lebte. Doch als er das Dorf erreicht hatte, waren seine Zweifel ins Unermessliche gewachsen. Ein komisches, peinliches Gefühl beschlich ihn, allein bei der Vorstellung, dass er für das, was er da gesehen hatte, Worte finden musste. Ungefähr auf der Höhe der Kirche lenkte er das Boot dicht ans Ufer heran. An der seichten Stelle, an der er zuvor ins Wasser gestiegen war, machte er es an einem Strauch fest und wusste jetzt, dass er gar nichts sagen würde. Zu niemandem.

– 2 –

Hubert streckte sich seufzend, nahm seine Lesebrille ab und legte sie vor sich auf die aufgeschlagene Akte. Aus der Tasche neben seinem Schreibtisch holte er einen Pullunder. Er war weinrot, farblich passend zu den kleinen Karos und Streifen auf dem hellen Hemd. Er zog ihn über, fuhr sich mit einer Hand achtlos durch den vorwiegend grauen Lockenkopf. Er stand auf. Zog seine Hose unter dem etwas ausladenden Bauch hoch und den Pullunder darüber. Draußen waren es noch mindestens 25 Grad, und jetzt, am Nachmittag, fiel die Sonne in sein Büro. Trotzdem fröstelte Hubert. Er schloss das Fenster und ging hinüber in die Küche, um sich noch einen Kaffee zu holen. Den letzten für heute.
An diesem Samstag war es im Polizeipräsidium in Neustadt an der Weinstraße besonders ruhig. Außer der Bereitschaft unten bei der Schutzpolizei war kaum jemand da. Seine Kollegen von der Kripo waren unterwegs oder genossen den ersten heißen Sommertag mit ihren Familien. Auch Hubert hätte lieber in seinem Garten gewerkelt. Eine ordentliche Wanderung war ebenfalls überfällig. Sein Bewegungsdrang machte ihn unruhig. Aber er musste nun einmal nacharbeiten. Seit Wochen hatte er den Papierkram so gut wie möglich ignoriert, immer nur das Nötigste aus den Stapeln gefischt. Jetzt hatte er nicht nur das Gefühl, unter diesen Papierbergen zu ersticken, er fand auch wichtige Unterlagen nicht mehr. Und das alles nur, weil Harald nicht da war. Sein langjähriger Kollege war nun schon seit mehreren Wochen krank, und es war nicht abzusehen, wann er zurückkommen würde.
Eigentlich müsste Harald der Chef sein, nicht ich, dachte Hubert in einem plötzlichen Anfall von Selbstkritik, während er sich wieder hinsetzte und vorsichtig an der vollen Tasse nippte. Harald war ausgeglichener, diplomatischer und viel besser organisiert. Er war sogar zwei Jahre älter. Harald war schon hier gewesen, als Hubert vor über dreißig Jahren in Neustadt angefangen hatte. Aber die Wege bei der Behörde waren vorgezeichnet, ohne Abitur kam man nur schwer über den mittleren Beamtendienst hinaus. Hubert seufzte wieder und griff nach seiner Brille. Er hatte nie den Eindruck gehabt, dass Harald mit seiner Rolle unzufrieden war. Im Gegenteil, sie waren seit mehr als zehn Jahren eine wirklich gute Mannschaft. Er hatte kaum wieder angefangen zu lesen, als das Telefon klingelte. Ein interner Anruf.
„Hartmann“, brummte Hubert erstaunt in den Hörer.
Doch am anderen Ende wurde aufgelegt. Hubert blieb keine Zeit, sich zu ärgern, denn ein schmaler Mann erschien in seiner Tür und grinste.
„Harald! Wo kommst du denn her?“, Hubert sprang auf und schüttelte seinem Kollegen kräftig die Hand. „Geht‘s dir wieder besser? Haben sie jetzt gefunden, was dir fehlt? Wieso fängst du denn an einem Samstag wieder an?“ Das Grinsen auf dem Gesicht des Kollegen verschwand. Er trat von einem Fuß auf den anderen, dann setzte er sich abrupt auf den Besucherstuhl, der gegenüber von Huberts Schreibtisch stand.
„Mensch Hubert! Ich wollte dir das jetzt alles ganz schonend beibringen, aber ...“, er schluckte, sah auf seine Füße, dann an die Decke und schließlich doch Hubert ins Gesicht. „Es ist vorbei, ich räume meinen Schreibtisch aus.“
Hubert blieb der Mund offen stehen. „Das kann nicht sein“, murmelte er. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefangen hatte. „Wie soll ich ohne dich arbeiten?“, polterte er los. „Das ist wie ein Chirurg ohne Skalpell, ein Maurer ohne Speis. Schau dich einmal um, ein richtiger Saustall ist das hier geworden, seit du nicht mehr da bist.“
Er merkte gar nicht, dass er seine geballte Empörung dem Falschen entgegenschleuderte; merkte nicht, wie dieser zusammenzuckte. „Was ist denn schon ein Kommissar ohne ...“, Hubert schnappte nach Luft und den richtigen Worten.
„Ohne Harry?“ Harald grinste.
Hubert ließ sich in seinen Bürostuhl fallen und lachte laut. „Na ja, ist doch so“, brummte er schließlich. Und dann erst sah er seinen Kollegen prüfend an.
„Bist du denn so krank?“
„War wohl ein leichter Herzinfarkt. Und ich muss sagen, ich möchte das nicht noch einmal herausfordern“, wieder grinste er. „Du kommst ins Grübeln, wenn du da liegst und nicht weißt, was los ist. Du hast plötzlich Zeit, über das Leben nachzudenken. Über den Rest, der dir noch bleibt.“
„Nun mach aber einmal halblang ...“, protestierte Hubert, aber Harald winkte ab.
„Nein, Hubert. Ich sag‘ das nicht einfach nur so dahin. Es ist wie bei einem unserer Fälle. Wir wissen die ganze Zeit über irgendetwas. Wie es abgelaufen ist, warum es so war, oft sogar, wer der Täter ist. Wir wissen es, oder zumindest wissen wir etwas, das uns dahinführen könnte. Über Wochen tragen wir diese Dinge mit uns herum. Aber erst, wenn es an die Oberfläche gespült wird, haben wir den Fall gelöst. Manchmal reichte eine Lappalie, um das zu bewirken, manchmal wurden wir sozusagen mit dem Knüppel darauf gestoßen. Wir schafften es gerade noch so. Manchmal kamen wir zu spät. Und dann schlugen wir uns die Hände vors Gesicht, weil alles so offensichtlich war, und wir so blind“, Harald schwieg, sah wieder auf seine Füße. „Genauso war es auch mit mir. Ich hatte schon längst gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Ich werde nächsten Monat sechzig. Das war mir vorher irgendwie nicht klar.“
„Mir auch nicht“, murmelte Hubert.
„Das ist übrigens noch nicht alles.“
„Das denk‘ ich mir. Da tut‘s einen Schlag, und du bist pensioniert! Du musst dir erst einmal überlegen, was du mit deinem Tag anfängst.“
„Ich dachte dabei nicht an mich“, Harald schlug einen extrem vorsichtigen Ton an. „Es gibt schon einen Nachfolger.“
„Was?!“
„Eine Nachfolgerin vielmehr.“ Harald hielt Huberts gepeinigtem Blick tapfer stand. „Sie ist neu hier. Das heißt, sie ist noch nicht hier.“
„Eine Neue, die gar nicht hier ist. Wahnsinn.“
„Sie kommt aus Hannover, ist noch relativ jung, soll aber ausgezeichnete Arbeit machen“, Harald beeilte sich jetzt, die Neuigkeiten schnell loszuwerden, „sie zieht nächste Woche nach Grünstadt.“
„Warum behalten die sie nicht einfach dort oben, wenn sie so toll ist?“, Hubert verspürte einen plötzlichen Heißhunger auf Destruktivität, und er fragte sich, ob Harald nicht doch die ganze Zeit über der Chef gewesen war. Wieso erfuhr er diese wichtige personelle Veränderung von seinem Mitarbeiter? Noch dazu erst jetzt, wo er überhaupt nichts mehr beeinflussen konnte.
„Ich wollte es dir selbst sagen“, stammelte Harald, der ihm seinen Ärger und seine Gedanken wieder einmal aus dem Gesicht gelesen hatte, „dass ich gehe, meine ich. Da meinten die im Personalbüro, bei der Gelegenheit könnte ich dir gleich ...“
Hubert grunzte gefährlich. Er war kurz davor, wieder laut zu werden, als ihm endlich auffiel, wie blass und schmal Harald geworden war. Er räusperte sich ausgiebig.
„Muss mich eben erst an die Situation gewöhnen.“ Wieder stand er auf und streckte sich. „Dann soll sie doch kommen, die Tante aus Hannover.“ Unruhig ging er im Büro auf und ab. „Sag mal, kann ich dir noch irgendwie helfen?“ Hubert schlug die Akte zu, in der er zuletzt gelesen hatte. „Heute kriege ich hier ohnehin nichts mehr geschafft.“
Harald stand auf und schüttelte den Kopf. „Ich habe bereits alles gepackt.“ Er zuckte die Achseln. Dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf.
„Doch! Du kannst mit mir nach Grünstadt zum Dicken Wirt fahren, einen Handkäs‘ essen.“
„Was, jetzt?“, Hubert sah auf die Uhr, es war kurz vor vier.
Harald nickte eindringlich. „Die haben mich auf Diät gesetzt. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt etwas getrunken habe, und meine Frau ist so panisch, dass sie mich ständig überwacht. Ich fühle mich schon wie ein Schwerverbrecher, wenn ich nur an eine Schorle denke.“
„Ganz klar, ein Notfall“, knurrte Hubert und begann zu grinsen, „am besten, du holst schon mal den Wagen!“

– 3 –

Anatoll bemerkte, dass sein Freund ihn mit wachsender Zufriedenheit aus dem Augenwinkel beobachtete. Er hatte Maximilian überreden müssen, zum Abschluss ihres heutigen Urlaubstages auf dem Uferweg an der Rückseite der Hauptstraße zurückzugehen. Er hüpfte und sprang mehr, als er ging; er hätte auch tanzen können. Rosen und tiefblauer Rittersporn grüßten aus den üppigen Gärten, die sich schmal und lang von den Häusern der Hauptstraße bis fast zum Fluss hin erstreckten. Was für eine Idylle und Beschaulichkeit. Welch positive Energie allein von der Beleuchtung durch die verschleierte Sonne und von den Farben ausging. Kirschrot, Himbeerrot, Erdbeerrot. Reifes und frisches, säuselndes Wiesengrün. Kleines, zartes Blütenrosa. Er blieb stehen, drehte sich einmal langsam um sich selbst, schaute und roch nach allen Seiten. Schaute in den Himmel und sog den würzigen Duft ein, den die goldgekrönten, edlen Kastanien vom anderen Ufer herüberwehten. Ein Boot trieb auf dem Fluss vorbei. Ein kleiner Junge lenkte es durch die Strömung. Anatoll spürte die Kraft des Jungen wie eine immense Wärme in sich aufsteigen. Das Schwanken des Bootes wurde zur starken Schwingung seines Lebensimpulses. Zu Hause sein! Endlich hatte das Schicksal ein Einsehen mit ihm gehabt, hatte ihn mit Maximilians Hilfe hierher gebracht. Und jetzt hielt es ihm einen Spiegel vor. Einen Spiegel, aus dem die Welt als Aphrodite zurückblickte, die ihn umgarnte und lockte. Er stieg auf eine Bank, die direkt am Flussufer stand und legte den Kopf in den Nacken. Sein Blick kletterte zu den Häusern, die am Fuß des Felsens klebten; hoch hinauf zu dem rostigen, trotzigen, alles beherrschenden Kopf. Die Kraft des Felsens traf Anatoll in einem scharfen, tadelnden Blick, so dass er leicht schwankte. Aber er hielt sich aufrecht auf der Bank, ließ sich ausschimpfen, weil er das Leben, das Geschenk des Seins, in so düsteren Farben gemalt hatte.
Heute Morgen war er dort oben gewesen. Die gegensätzlichen Schwingungen waren jetzt in ihm. Kraft und Gegenkraft. Oben und Unten. Farben und Schwärze. Leben und Tod. Er hatte Tränen in den Augen, als er von der Bank herunterstieg und weiterging. Diese Landschaft war gut für ihn, aber sie hatte eine starke Aura. Er atmete tief durch, denn ihm war der kritisch-besorgte Blick von Maximilian nicht entgangen. Er wusste auch, dass es gleich fünf Uhr war und er zu Hause sein sollte. Dass er ruhen sollte und eine Tablette nehmen. Aber er musste hier bleiben, dem Lauf dieses Flusses folgen. Das war seine Bestimmung in diesem Augenblick; das spürte er an den Schwingungen, die von dem Fluss ausgingen und von dem Schilfgürtel, der sich bald immer breiter und aufdringlicher zwischen Weg und Flussufer schob.
Maximilian erzählte von seinem letzten Urlaub in Italien. Wie bei allem, was er erzählte, versuchte er zu vertuschen, dass er nicht allein gewesen war. Er sagte ich, obwohl er meistens wir meinte. Er tat es, weil er glaubte, dass Anatoll sich dann weniger einsam fühlen würde. Maximilian bemerkte, dass es viele Parallelen zwischen diesem südlichsten Zipfel der Pfalz und der Toskana gäbe.
„Die Weinberge, die fröhlichen, hilfsbereiten Menschen, die ebenso schnell wie die Italiener eine völlig unverständliche Sprache sprechen und dabei dennoch eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlen. Die Alten, die in den Gassen stehen oder auf einer Bank vor dem Haus sitzen. Die sanften von Wäldern gesäumten Hügel“, Maximilian lachte. „Es fehlen nur die Zypressen.“
„Im Vergleich zu Hamburg ist das der Süden. Wie bei so vielem, hängt es davon ab, von wo aus du schaust“, gab Anatoll zurück. Dann stieß er einen kurzen Schrei höchster Verzückung aus. Maximilian zuckte zusammen.
„Was ist?“
„Ein Fasan. Dort vorne am Rande des Schilfs.“
„Oh. Schön.“
„Schön“, Anatoll verdrehte die Augen und flüsterte. „Maxi, da ist ein Fasan! Kosmische Harmonie, in Verkörperung des Yang.“
„Aha“, murmelte Maximilian, während er den imposanten Hahn betrachtete, der gut halb so hoch war wie die Schilfrohre, zwischen denen er sich gerade herausgeschoben hatte. Anatoll legte seine Hand auf Maximilians Arm, flüsterte so eindringlich auf ihn ein, dass der stehen blieb und sich kaum noch zu atmen traute. „Das Yang ist das Positive, das Helle, das Männliche!“ Beide hatten den Blick so fest auf den Fasan geheftet, dass Maximilian fürchtete, er würde durch ihre laserartigen Blicke gleich in Flammen aufgehen.
„In der Antike“, trotz seines Flüsterns betonte Anatoll jede Silbe, „wurde er sogar dem Phönix gleichgesetzt.“
Maximilian nickte so verständnisvoll wie er nur konnte.
„Weißt du, dass ich nach diesen dunklen Wochen jetzt und hier ...“, Anatoll blieb die Stimme weg. Er sah Maximilian an, durchdringend, flehend!
„Siehst du nicht die Bedeutung?“
„Doch, doch; ich finde das auch ganz einleuchtend.“
„Ich muss hinter ihm her, schau doch. Er verschwindet gleich wieder im Schilf.“
„Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn alle Touristen hier herumlaufen. Dein Fasan möchte bestimmt auch einmal ungestört sein.“
„Den Tanz eines Fasans zu sehen, das muss ein ganz besonders erleuchtender Augenblick sein. Wenigstens seinen Ruf zu hören. Es hat etwas zu bedeuten, dass wir uns hier begegnet sind.“
„Anatoll, ich reiße dich sehr ungern aus deiner Begeisterung, aber ich denke, du solltest deine Tablette nehmen“, Maximilian blickte besorgt auf seine Uhr, „es ist jetzt fünf und du weißt, was ich dem Arzt alles versprechen musste, um ...“
Er ließ den Satz unvollendet. Anatoll wusste es. Es war schwer gewesen für Maximilian, ihn aus der Klinik zu holen. Und er war ihm dankbar. Trotzdem wollte er nicht aufgeben. Er wandte Maximilian seine Rückseite mit dem Rucksack zu. Die Medikamente waren in dem kleinen Fach vorne. Maximilian reichte ihm einen angebrochenen Alustreifen. Anatoll drückte zwei Tabletten heraus, schluckte sie nacheinander ohne Wasser und steckte den Streifen in seine Jackentasche. Als hätte er gewartet, warf der Fasan den schillernd grünen Kopf nach hinten und verschwand im Schilf. Anatoll folgte ihm eine ganze Weile durch das dichte Gestrüpp. Maximilian blieb hinter ihm, wusste nicht, wie er ihn zum Aufhören bewegen sollte. Plötzlich war der Fasan verschwunden, und Anatoll hatte die Orientierung verloren. Maximilian ging nun voraus, als sie versuchten, zurück auf den Weg zu gelangen. Dann hörten sie seinen Schrei. Den häherartigen Ruf des Fasans, der ein bisschen an einen heiseren und weniger eitlen Hahn erinnerte. Anatoll blieb stehen und lauschte verzückt, schloss sogar die Augen. Er bekam nicht mit, dass Maximilian abrupt stoppte, auf den Boden starrte und sich dann heftig umwandte. Anatoll hatte die Richtung, aus der die Rufe kamen, endlich herausgehört, öffnete die Augen und wäre beinahe mit Maximilian zusammengestoßen.
„Hier lang geht es nicht weiter“, sagte dieser knapp.
„In dieser Richtung ist jetzt mein Fasan.“
„Ich denke, wir sollten besser gehen. Es wird wirklich Zeit, dass du dich hinlegst.“
Die übertriebene Ruhe, mit der Maximilian ihn bedachte, fand Anatoll fehl am Platz. Da war ein kurzer Impuls, aufzubegehren. Aber er nahm die beglückende Schwingung nicht mehr wahr. Die war durchbrochen, blockiert von etwas Feuchtem, Erdigem. Er stand unschlüssig und fühlte. Es war das Yin. Die negative, passive Strömung. Die Dunkelheit. Yin und Yang – in der dunklen Hälfte ein weißer Punkt, und in der weißen war ein dunkler. Die beiden gehörten zusammen, nahmen Einfluss aufeinander, und das war überall so, auch hier, in der beschaulichsten, südlichsten und womöglich freundlichsten Ecke der Pfalz.

– 4 –

Hubert gähnte, als er nach Hause fuhr. Er nahm den Weg über die Weinstraße, die sich am Rande der Haardt entlang schlängelte und durch zahlreiche kleine Weinorte führte, welche in ein einziges, sich über viele Kilometer erstreckendes Meer aus Reben eingebettet waren. Wenn er müde war, empfand er die Fahrt über die Autobahn als zu anstrengend, obwohl es schneller ging. Hubert fiel ein, dass er schon längere Zeit nicht mehr über die Autobahn gefahren war, und dann dachte er wieder daran, was Harald gesagt hatte. War ihm klar, dass auch er in nicht mehr ganz zwei Jahren sechzig wurde? Und was dann? Würde man ihn auch einfach nach Hause schicken, wenn er einmal ernsthaft krank wurde? Schluss. Aus. Das war‘s! Andererseits hatte sich Hubert in der letzten Zeit ab und zu dabei ertappt, dass er nach einem Ende suchte. Wenn die Ermittlungen immer mehr Einsatz forderten, alles schneller und schneller gehen sollte. Wenn er merkte, dass er die langen, harten Schichten nicht mehr so ohne Weiteres wegsteckte oder sich die Fälle auf seinem Tisch häuften, bei denen er mit irgendeiner Sprache der Welt weiterkommen würde, nur nicht mit seiner eigenen. Hubert gähnte so heftig, dass sich beinahe sein Kiefergelenk ausrenkte. Ja, er war müde. Und er wusste nicht, wo ihn die ersten Fluchtgedanken aus seiner Arbeit hinführen sollten. Da war nur die Vorstellung von langen, leeren Tagen. Hannah, seine Frau, hatte ihr Leben ausgefüllt mit unzähligen Aktivitäten. Das war ihm immer ganz recht gewesen. Jetzt konnte er nicht verlangen, dass sie das plötzlich aufgab. Würde er sich dann auch so viele Hobbys, Gruppen und Vereine suchen? Er könnte in den Wanderverein eintreten. Aber wenn er im Wald war, wollte er der Stille lauschen. Die Vögel hören, den Wind, das Rascheln und Knacken im Gestrüpp. Wenigsten könnten er und Edwin dann regelmäßig ihre Wanderungen machen. Edwin! Er hatte ihn schon tagelang nicht mehr gesehen. Hubert gähnte erneut, als er nach Rittersheim hineinfuhr. Es war kurz vor sechs, und er überlegte, ob er noch beim Amselhof vorbeifahren sollte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn zu seiner Rechten, auf dem Trottoir vor dem Pfarrhaus, stand die runzlige, kleine Ruth, die uralte Mutter des Pfarrers, und kehrte. Wobei Hubert den Eindruck hatte, dass ihr der Besen mehr Vorwand als Werkzeug war, denn niemand, der in Rittersheim, ja selbst in der ganzen Südpfalz, etwas auf sich hielt, war am Samstag um diese Zeit noch nicht damit fertig. Außerdem fuchtelte sie, sobald sie ihn erkannt hatte, wie wild mit Armen und Besen und bedeutete ihm, anzuhalten.
„Da sind Sie ja, Herr Kommissar!“ Sie lehnte sich zum offenen Fenster des Wagens hinein und schrie so laut, wie es nur taube oder extrem aufgeregte Menschen taten. Hubert wurde schnell klar, dass gerade beides auf die Alte zutraf.
„Sie sollten sich einmal um Ihren Kameraden kümmern. Der ist völlig außer sich. Seit heute Mittag rennt er durchs Dorf wie ein Irrer und sucht sein Enkelchen. Spurlos verschwunden, das Kind.“
„Was? Felix ist verschwunden? Hat schon jemand unten in der Bucht nachgesehen?“ Jeder wusste, dass Felix sich schon dreimal mit dem neuen Boot auf den Fluss gewagt hatte. Dass ihm seine Eltern das verboten hatten, konnte seine Abenteuerlust nicht bremsen.
„Nein. Nein. Der Kleinere von den jungen Amselmanns. Der Julian.“ Hubert horchte auf. Julian war erst vier und ein sehr braver Junge. Dass der weglief, sah ihm gar nicht ähnlich. Er versprach, sofort bei den Amselmanns vorbeizuschauen, aber das war gar nicht so einfach, weil er unterwegs noch dreimal angehalten wurde. Jedes Mal erzählte man ihm die gleiche Geschichte in einer anderen Ausschmückung, aber er glaubte doch, das Wesentliche verstanden zu haben, als er vor dem halbrunden hölzernen Hoftor des Amselmannschen Weinguts parkte.
Rosemarie musste ihn schon gehört haben, sie kam aus der Haustür des alten Winzerhauses zu seiner Rechten. Dahinter schlossen sich Kelterhaus und die Weinprobierstube an. Die umgebaute Scheune gegenüber diente als Flaschenlager und Garage, darüber wohnte Edwins und Rosemaries Sohn mit seiner Frau und den beiden Buben. Rosemaries sonst so rosiges Gesicht war aschfahl, die freundlichen Augen gerötet. Sie wirkte ein wenig erleichtert, als sie Hubert sah.
„Du kommst goldrichtig. Die ganze Zeit will ich dich schon anrufen. Edwin hat immer gedacht, er findet ihn noch. Er war schon in allen Häusern und hat gefragt. Wir wissen nicht, was wir machen sollen, es ist nicht zu begreifen.“
„Wo ist Edwin jetzt?“
„Er ist gerade eben noch einmal runter ins Schilf. Er meint, es ist der einzige Platz, wo der Kleine noch stecken könnte. Bestimmt hat er es Felix einmal nachmachen wollen und ist zum Fluss.“
„Ich fahre gleich hin“, Hubert drehte sich um und stieg schnell in seinen Wagen. Er hätte ihr gern etwas Aufmunterndes gesagt, stattdessen floh er vor ihrem Blick. Er kannte diesen Ausdruck nur zu gut, hatte ihn auf vielen Gesichtern gesehen. Zu vielen vielleicht. Dieses Aufatmen, wenn er kam. Dieses unerschütterliche Vertrauen, dass die Anwesenheit seiner Person genügen würde, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Hier, in seinem eigenen Dorf, waren dieses Urvertrauen und die stumme Erwartung an ihn noch um einiges größer. Sie lasteten schwer und gewaltig auf Hubert und ließen ihn seine Machtlosigkeit nur zu deutlich spüren. Herrgott! Hubert schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Ich bin müde. Und ich bin ganz allein. Mach‘, dass wir ihn finden.
Er sah Edwins dunkelgrünen Kombi schon, als er von der Hauptstraße auf den Feldweg abbog, der hinunter ins Schilf führte. Er parkte seinen Wagen dahinter, stieg aus und sah sich um. Es war still. Edwin konnte er nirgends sehen. Er rief nach ihm. Fragte sich, ob es sinnvoll war, aufs Geratewohl in diesem grünen Irrgarten herumzulaufen. Er entdeckte eine Stelle, an der vor kurzem jemand gegangen sein musste. Abgeknickte, niedergetrampelte Stängel wiesen bei genauem Hinsehen einen Pfad. Hubert wollte eben losgehen, als sich vor ihm etwas bewegte, und plötzlich stand sein Freund vor ihm. Es war Edwin, und er war es nicht. Mit wirrem Blick starrte er Hubert an. Sein Gesicht war graugrün. Er stand steif und wortlos da, dann drehte er sich um und ging mit langsamen, mechanischen Schritten wieder zurück. Hubert folgte ihm. Sie durchquerten die breiteste Stelle des Schilfgürtels. Kurz vor dem Flussufer änderten sich Edwins monotone Bewegungen. Er ging langsam weiter, schwankte kurz und trat dann zur Seite. Gab den Blick frei auf ein Bild, das sich für immer in Huberts Gedächtnis eingraben sollte. Es war der grässlichste und abscheulichste Anblick, den er je gesehen hatte, und er hatte, weiß Gott, schon einiges gesehen.
Vor ihnen, auf einer Art Bett aus Schilf, lag Julian, offenkundig erwürgt mit einer dicken, lilafarbenen Strohschnur, die mehrfach um seinen Hals gewickelt worden war. Er lag halb auf dem Bauch, die Hosen heruntergezogen, und zwischen seinen zarten Oberschenkeln steckte ein hölzernes Etwas, das bei genauerem Hinsehen wie ein Rebknorzen aussah.
Hubert stand und starrte, genauso reglos und leer wie Edwin. Später sollte er sich erinnern, dass er die Locken des Jungen, die blonden, süßen Locken, die in der Abendsonne golden glänzten, in diesem Moment zum ersten Mal richtig wahrgenommen hatte.
Hubert funktionierte nicht. In einer solchen Situation tätigte er normalerweise Anrufe, erteilte Befehle, suchte nach Details, die nicht übersehen werden durften. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sein Verstand war geschärft. Sein Instinkt hellwach. Die Gefühle waren ausgeblendet. Er war der Dobermann, der die Witterung aufnehmen und den Täter finden musste. Hier ging das nicht. Er konnte Julian nicht ansehen, ohne dass der kleine Junge vor seinen Augen wieder zum Leben erwachte.
„Polizei“, war eins seiner Wörter gewesen, als er anfing zu sprechen. Er hatte dabei auf Hubert gezeigt und mit drei weißen Zähnchen gelacht. Seine ersten tapsigen Schritte durch den Hof des Weinguts. Julian auf seinem Schoß, mit einem Bilderbuch oder einem einzigen Auto, mit dem er stundenlang spielte. Die lange Wanderung, als sie ihm das Pfeifen beibrachten. Eine helle fröhliche Kinderstimme. „Herr Hubert, malst du mir einen Polizeihund?“
Edwin begann zu zittern, und dann entfuhr ihm ein markerschütterndes Schluchzen. Hubert packte mit seiner Rechten Edwins Oberarm, so als wollte er ihn stützen, damit er nicht umfiel. Eine hilflose Geste und noch viel hilfloser war er, als Edwin sich mit beiden Händen an ihm festklammerte, den Kopf an seine Schulter legte und laut weinte.
Hubert kannte Edwin, seit er denken konnte. Er war für ihn der geduldigste, großherzigste und freundlichste Mensch. Beide hatten sie ihr ganzes bisheriges Leben in Rittersheim verbracht, hatten Frauen gefunden, Häuser gebaut, Kinder gezeugt und großgezogen. Sie hatten ihre Probleme geteilt, meist kleine, manchmal ein größeres. Sie hatten zusammen gefeiert und geklagt, gelacht oder geschimpft. Sie waren dabei alt geworden. Harald hatte recht gehabt. Es war nur noch ein Rest übrig von diesem Leben, und für Edwin war es nicht einmal mehr das. Niemand konnte sich von einem solchen Tiefschlag erholen. Edwin würde nie mehr der Alte sein. Er war es jetzt schon nicht mehr. Hubert spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte, wie seine Augen feucht wurden. Er musste daran denken, was sein Vater ihm vor langer Zeit gesagt hatte. Es war in seinem ersten Jahr bei der Kripo gewesen, und er hatte befürchtet, früher oder später an dem Job kaputtzugehen. Du musst dir die Trauer der anderen vom Hals halten. Du musst dich dagegen abschotten; einen Schutzschild ausfahren, wie ein Igel seine Stacheln.
Hubert klopfte Edwin ganz leicht auf den Rücken, dann machte er sich los, zog ein frisches Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihm.
„Komm“, er legte dem Freund eine Hand auf die Schulter und schob ihn mit festem Griff vor sich her, bis sie den Weg erreicht hatten.
„Sollen wir die Leiche jetzt wegbringen lassen?“
Hubert zuckte zusammen. Er packte gerade das vierte Hustenbonbon aus und steckte es in den Mund. Obwohl es sehr scharf war, schmeckte er nichts. Er war kein Kriminalist mehr. Er verhielt sich wie eine Kindergärtnerin. Es schockierte ihn jedes Mal, wenn einer der Kollegen in geschäftsmäßigem Ton von der Leiche sprach. Hatten sie denn überhaupt kein Mitgefühl? Das hier war nicht einfach ein Fall, dem man ein Aktenzeichen zuordnen konnte. Es war eine Tragödie. Das Verbrechen an sich und die Tatsache, dass er sich nicht aus der Rolle des Betroffenen lösen konnte, erst recht. Hubert hatte schon eine ganze Weile am Flussufer gestanden und in der aufkommenden Dämmerung seinen Gedanken nachgeblickt. Die Stelle, an der man Julian gefunden hatte, war beleuchtet. Drumherum war das Schilf an vielen Stellen niedergetrampelt. Taschen, Kisten, Geräte und Kabel für die Lampen waren herbeigeschafft worden, um den Tatort und Julians toten Körper zu untersuchen. Der junge Polizist in Uniform räusperte sich vernehmlich.
„Was haben Sie gesagt?“
„Der Arzt und der Fotograf sind fertig. Die Spurensicherung würde die Leiche gerne wegbringen lassen, wenn es Ihnen recht ist.“
NEIN! Nein, es ist mir nicht recht! Ich möchte nicht, dass ihr Julian in die Pathologie bringt. Ihn mit einer Nummer am Handgelenk ins Kühlhaus schiebt. Hubert tat sich schwer, eine Entscheidung zu treffen. Es hatte so etwas Endgültiges. Ihm war, als würde dieser ganze Wahnsinn erst durch seine Anweisung zur Wirklichkeit werden.
„Ich schaue es mir noch einmal an“, murmelte er.
Diesmal näherte er sich dem toten Jungen von der anderen Seite, vom Kopf her. Im grellen Licht der Lampen schien die Haut unnatürlich weiß, sie ließen das Rot der Lippen in einem fast schmerzlichen Kontrast hervortreten. Die Augenlider schimmerten violett, würden bald die Farbe der Hanfschnur annehmen. Wäre nicht diese besonders groteske Haltung gewesen, die Hose heruntergezogen, der Po nach oben gedreht, und dann auch noch dieser unsägliche Prügel, wäre es Hubert vielleicht möglich gewesen, diesen Anblick zu ertragen. Sich außerdem das Bild ins Gedächtnis zu brennen, wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Aber vor seinem inneren Auge liefen andere Bilder ab. Szenen, die seiner Phantasie entsprangen und der Frage, was Julian in den letzten Minuten, vielleicht Stunden seines Lebens angetan worden war. Was hatte er alles ertragen müssen, ohne das Geringste zu verstehen! Hubert spürte einmal mehr seine Augen brennen.
Auf der anderen Seite des Schilfbettes stand plötzlich eine Frau. Ihr entsetzter, angewiderter Blick traf sich mit seinem. Sie war nicht groß, hatte schwarzes, krauses Haar, das im Nacken zu einem Zopf gebunden war. Sie war dünn und hatte keine nennenswerte Figur. Ihre Nase war lang und etwas zu spitz. Als sie auf ihn zukam und ihm mit einem matten Lächeln die Hand schüttelte, fand er sie nicht so unsympathisch, wie er sie sich vorgestellt hatte.
„Schade, dass wir uns unter solchen Umständen kennenlernen müssen.“
„Ja“, sagte Hubert mit rauer Stimme. Dann packte er sie ganz plötzlich am Handgelenk und zog sie hinter sich her auf den Weg zurück. „Es tut mir leid“, brummte er und ließ sie ebenso abrupt wieder los, „ich habe Sie gar nicht kommen hören.“
„Das ist doch nicht weiter schlimm.“
DOCH, dachte Hubert. „Ich hätte ihnen diesen Anblick gerne erspart.“ Ständig drohte seine Stimme zu brechen.
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Wir müssen die Perversion studieren. Es ist unsere einzige Spur, die einzige Möglichkeit, unseren Mörder kennenzulernen.“
Ihr forscher Ton verstörte ihn. Machte ihm klar, dass sie zwar noch jung, aber auch nicht mehr unerfahren war. Er schätzte sie auf Anfang dreißig. Noch mehr machte ihn allerdings dieses Selbstverständnis stutzig, mit dem sie wir und uns sagte.
„Hey“, rief Hubert dem Uniformierten zu, der ihnen gefolgt war und immer noch auf eine Antwort wartete, „sagen Sie den Jungs von der Spurensicherung, sie können die Leiche wegbringen lassen. Und Fischlein soll mich anrufen, wenn er fertig ist. Egal wann!“
„Herr Fischlein ist schon hinübergefahren zu der Familie.“, Jetzt erst erkannte Hubert, dass er den jungen Gensheimer vor sich hatte, und es war ihm unangenehm, dass er ihn so geistesabwesend und ruppig herumkommandierte.
„Verdammt, warum sagt mir das keiner!“ Hubert knurrte, statt sich zu entschuldigen.
„Wir fahren sofort hinterher. Mein Wagen steht da vorne“, er bedeutete seiner neuen Kollegin, einzusteigen, und nickte Gensheimer zum Abschied zu.
„Ich muss Fischlein sagen, dass die keinen Aufstand mit der Identifizierung machen sollen. Das mache ich“, bellte Hubert und ließ den Wagen an. „Ich möchte nicht, dass seine Eltern ihn so sehen.“ Er fuhr ruckartig, seine Aggressivität und Ungeduld waren deutlich zu spüren.
Der Dobermann war noch nicht wach, aber er hatte bereits ein Auge geöffnet und er zog knurrend die Lefzen hoch. Vielleicht, weil er sich bereit machte, die Fährte aufzunehmen. Vielleicht auch nur, um zu demonstrieren, dass sie sich aufgemacht hatten, um in seinem Revier zu jagen.

– 5 –

Das andere Auge tränte noch. Es tränte nach innen und ließ Hubert immer wieder blinzeln. Öfter als gewöhnlich räusperte er sich laut. Er lutschte ein Hustenbonbon nach dem anderen. Nichts wurde besser, als er mit seiner neuen Kollegin kurz darauf das Wohnzimmer der jungen Familie Amselmann betrat. Corinna, die Mutter von Julian, stürzte auf ihn zu, sobald er vorsichtig den Kopf durch die Tür gesteckt hatte.