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Für Vivi, meine herrlich sture und liebste Spielkameradin





Die schwedische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Låt det som varit vila« bei Lind & Co, Stockholm

Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulrike Brauns

ISBN 978-3-492-97831-6
September 2017
© Marianne Cedervall 2016
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: U1 berlin/Patrizia Di Stefano
Covermotiv: plainpicture/Michael Jörrn und Francesco Carta fotografo/Getty Images
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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1

Freitag, 6. November

Der Pfarrer der Gemeinde Mullvald, Oskar Bergsten, stand in der Novembersonne auf der Treppe zum Pfarrhof und begrüßte seine beiden Gäste. Ihm war es kaum gelungen, rechtzeitig zu frühstücken, so früh hatten die beiden Frauen das Treffen angesetzt. Aber sie hatten auf diese Uhrzeit bestanden, schließlich wollten sie den Besuch auf dem Pfarrhof hinter sich bringen, man hatte ja noch anderes zu tun.

»Dieser ganze Bereich steht uns für den Markt zur Verfügung«, sagte Pfarrer Bergsten und machte eine ausladende Geste, die den großen Park einschloss. »Was meinen Sie, ist das nicht ein schöner Platz für unser Trüffelfestival?«

Sara Hansson zog sich die rosafarbene Baseballkappe tiefer ins Gesicht, damit die tief stehende Sonne sie nicht länger blendete.

»Das wird schon gehen«, antwortet sie, und es war schwer zu sagen, ob sie zufrieden war oder nicht. »Wir könnten die Marktstände dort entlang aufbauen.«

Sie deutete auf den Kiesweg, der eine große Rasenfläche in zwei teilte.

»Ja, mit Ständen zu beiden Seiten wird das einer echten Marktgasse ähneln«, sagte Oskar. »Was meinen Sie, Gull-Britt?«

Gull-Britt Hansson gehörte nicht gerade zu den Menschen, die sofort zu allem Ja und Amen sagten. Alles musste erst einmal sorgfältig durchdacht und abgewogen werden, bevor sie ihr Urteil fällte. Der Pfarrer betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Gull-Britt war eine elegante Dame. Heute trug sie einen tief ausgeschnittenen, schwarzen Pullover, der ihre ausladende Oberweite betonte, und eine schwarze Hose. Ihre lilafarbene, grob gestrickte Jacke war ein längeres Modell und kaschierte so, dass sie etwas kräftiger gebaut war. Um den Hals baumelte ihr eine Kette mit großen, lilafarbenen Kugeln. Die Dame hatte Geschmack, so viel war klar. Und ein Vermögen, denn es war nicht zu übersehen, dass Kleidung und Schmuck von höchster Qualität waren. Bloß die Haare entsprachen nicht ganz Oskars Geschmack. Sie waren extrem blondiert und die Frisur irgendwie wild und ganz aus der Fasson. Außerdem trug Gull-Britt blauen Lidschatten. Man konnte nicht gerade behaupten, dass der Pfarrer sich in Sachen Make-up sonderlich gut auskannte, aber Astrid, seine liebe Ehefrau, schminkte sich für gewöhnlich jeden Tag, und blauen Lidschatten hätte sie vermutlich als sowohl unmodern als auch geschmacklos bezeichnet.

Gull-Britt ging ein Stück Richtung Kiesweg und drehte sich – offenbar nachdenklich – hin und her, bevor sie wieder zu Sara und Oskar stieß.

»Das wird hervorragend«, sagte sie. »Mit wie vielen Ständen rechnen wir?«

Der Pfarrer räusperte sich.

»Zunächst einmal mit Ihnen beiden. Sie, Gull-Britt, wollen ja Ihre Trüffel präsentieren, und Sara wird Werbung für das Restaurant machen.«

»Genau«, sagte Sara. »Micke plant ein vorzügliches Menü für den Samstagabend. Sechs Gänge, Gotlandtrüffel in jedem einzelnen.«

Gull-Britt zwang sich zu einem Lächeln, das aber nicht ihre Augen erreichte.

»Ich finde, ihr solltet auch welche von meinen italienischen Trüffeln kaufen, die schmecken einfach noch eine Spur kräftiger. Ich will natürlich nichts gegen die gotländischen sagen.«

»Wie bitte?«, fragte Sara in scharfem Tonfall. »Das ist doch das gotländische Trüffelfestival, oder etwa nicht?«

Oskar schaute von der einen Frau zur anderen. Besser wechselte er das Thema, bevor die beiden sich noch an die Gurgel gingen. Viel schien dazu nicht mehr zu fehlen.

»Lotta und David bringen außerdem die Hunde mit, nicht wahr, Gull-Britt?«, fragte er.

Sie nickte wohlwollend. Da sie Lottas Mutter war, sollte sie das wissen. Lotta und David Storms Vorführung auf dem Markt hatte durchaus Potenzial, zum beliebtesten Programmpunkt des Festivals zu werden. Sie würden ihre außerordentlich pfiffigen Trüffelhunde Buttle und Alva ausstellen.

»Ja, das machen sie«, sagte Gull-Britt und spielte mit den Kugeln an ihrer Kette. »Wir werden alles zeigen, was mit Trüffeln zu tun hat. Von der Suche bis zum Servieren.«

»Ach, apropos«, sagte Oskar. »Die Naturschutzbehörde wird ebenfalls einen Vertreter vorbeischicken.«

»Wozu denn das?«, fragte Sara. »Was haben die denn hier zu suchen?«

»Die Naturschutzbehörde möchte vor Ort über das Jedermannsrecht besonders in Hinblick auf Trüffel informieren«, meldete Gull-Britt sich zu Wort. »Mein Mann hat den Kontakt hergestellt. Das Jedermannsrecht gilt nämlich nicht bei der Trüffelsuche.«

»Was endlich geändert werden sollte«, murmelte Sara.

»Was hast du gesagt?«

Gull-Britts Stimme hatte in eine schrille Tonlage gewechselt.

»Ach, nichts«, erwiderte Sara und schaute mit unschuldiger Miene zu den Baumkronen der hohen Eschen, die den Pfarrhof säumten.

Pfarrer Oskar Bergsten hielt es für das Beste, das Gespräch wieder zurück auf das bevorstehende Festival zu lenken und räusperte sich erneut.

»Der Handarbeitskreis hat auch einen Stand angemeldet. Sie werden Topflappen anbieten, die man ja bekanntlich zum Kochen sehr gut brauchen kann. Darüber hinaus auch Handschuhe und Strümpfe, die kaum mit der Trüffelsuche in Verbindung gebracht werden können. Aber bei so einer Veranstaltung müssen wir den Frauen einfach die Gelegenheit geben, dabei zu sein.«

Die beiden Damen protestierten nicht. Für den Moment schien sich der schnell aufgekeimte Ärger zwischen den beiden gelegt zu haben.

»Und Sie«, sagte Sara und betrachtete Oskar fragend, »wollten Sie nicht ein altes Auto vorführen?«

Oskar lachte, obwohl ihn Saras bohrender Blick verunsicherte. Eigentlich hatte sie ein süßes Gesicht, aber ihre schroffe Art machte ihre Züge hart.

»Ja, genau. Ich fahre meinen alten Ami-Schlitten vor, einen alten Chevrolet aus den Fünfzigern, damit man sich den mal näher ansehen kann«, antwortete er.

»So was mögen die Leute«, sagte sie. »Dass Sie schrauben, meine ich, also auch noch was anderes machen als predigen.«

Oskar nickte. Das Schrauben am Auto war eine Aufgabe für die Hände, bei der er für gewöhnlich einen völlig freien Kopf bekam. Manchmal fügte sich allerdings auch eine komplette Sonntagspredigt fast wie von selbst in seinem Kopf zusammen, wenn er unter der Motorhaube hing.

»Wird es auch Musik geben?«, fragte Gull-Britt.

»Ja«, bestätigte Oskar. »Ein Trio. Musiker aus Burs. Akkordeon und Geigen.«

»Und ich werde schweineteuren Apfelsaft von der Mosterei reichen«, sagte Gull-Britt. »Der ist so lecker, der wird selbst die härtesten Brocken dazu bringen, bei uns stehen zu bleiben. Und darum geht es ja. Also darum, dass die Besucher mal stehen bleiben, innehalten.«

Sara holte ihr Handy hervor und warf einen Blick aufs Display.

»Ich muss los«, sagte sie. »Wir haben noch eine ganze Menge im Plogbillen zu tun. Super, dass du beim Markt mitmachst, Gull-Britt!«

Oskar hörte zwar Saras freundliche Worte, aber ihm fiel auf, dass da keinerlei Wärme in ihrer Stimme lag. Gespannt wartete er auf Gull-Britts Reaktion.

»Natürlich mache ich mit«, antwortete Gull-Britt. »Es gibt doch kaum jemanden in dieser Gemeinde, der mehr von Trüffeln versteht als ich, oder?«

Saras Lächeln gefror ihr auf den Lippen. Sie drehte sich um und ließ die beiden anderen zurück.

»Micke und ich werden auch schweineteuren Apfelsaft reichen!«, rief sie, als sie bei der Gartenmauer angelangt war. »Nur dass du’s weißt, Gull-Britt!«

Hoffentlich hatte nur Oskar das mitbekommen, Gull-Britt war bereits in die andere Richtung unterwegs.

Ob Gull-Britt nun am meisten von Trüffeln verstand oder nicht, wurde heute zumindest nicht geklärt. Über die verschiedenen Trüffelsorten, die Bodenbeschaffenheit und die Wuchsformen wusste sie eine ganze Menge, aber sie konnte niemals so feine Gerichte zaubern wie Micke Hansson, der neue Wirt des Restaurants Plogbillen in Kajpe Kviar, davon war Oskar Bergsten vollkommen überzeugt.

Die Tür des ehemaligen Pfarrhauses, direkt gegenüber dem Pfarrhof gelegen, öffnete sich, und seine Besitzerin trat auf die Veranda. Sie war zweckmäßig gekleidet, trug Stiefel, Jeans und eine Steppweste und war bestimmt unterwegs in den Stall. Als sie Oskar bemerkte, winkte sie ihm zu. Er hob die Hand und erwiderte den Gruß. Anki Karlsson war eine absolut vortreffliche und nette Nachbarin.

2

Anki Karlsson unterdrückte ein Gähnen, bevor sie sich den Aufgaben im Stall zuwandte. Gestern war es spät geworden. Die Fähre hatte erst eine halbe Stunde nach Mitternacht in Visby angelegt, und bis ihre Freundinnen an Land waren, ihr Gepäck und dann sich selbst im Wagen verstaut hatten und sie alle die vierzig Kilometer bis Mullvald gefahren waren, hatten sich die Zeiger der Uhr schon auf halb zwei vorgeschoben. Glücklicherweise hatte Anki bereits vorher sämtliche Betten bezogen, sodass sie sich einfach nur hineinfallen lassen konnten. Gunilla und Ingegerd teilten sich das eine Gästezimmer, und Lena hatte ein Zimmer ganz für sich, was aber allen Freundinnen entgegenkam, schließlich war Lena Weltmeisterin im Schnarchen, und wer ein Zimmer mit ihr teilen musste, bekam nie wirklich viel Schlaf.

Anki schleppte einen Heuballen auf die Weide und löste mit einem Messer die Schnüre. Dann lockerte sie mit der Heugabel die trockenen Halme auf und verteilte sie für ihre Islandpferde. Schließlich ging sie wieder in den Stall und öffnete beide Boxen. Mittlerweile kannten Osk und Austri den Ablauf und wussten, welchen Weg sie einschlagen mussten, um zu ihrem Frühstück zu kommen. Anfangs hatte Anki sie noch am Halfter hinübergeführt, aber das war nicht länger nötig.

»Dann mal los mit euch!«, rief Anki und schlug Osk gegen die Flanke. »Das Frühstück wartet.«

In die fuchsfarbene Stute kam Leben, spielerisch schnappte sie nach Austris weißer Mähne, der sich wiederum nicht lange bitten ließ und liebevoll neckend zurückzwickte. Sie knufften sich gegenseitig, weil jedes zuerst durch die Tür wollte. Austri gewann, was Osk mit einem enttäuschten Wiehern quittierte, aber sie folgte ihm schnell auf dem Hufe. Anki ging langsam hinter ihnen her und hakte den Elektrozaun am Pfosten ein.

»Guten Hunger, meine Lieben!«, sagte sie und kehrte zurück in den Stall, um die Boxen auszumisten.

»Schönen guten Morgen!«

Anki schaute von ihrer Arbeit auf, als sie Ingegerds nur zu bekannte Stimme hörte, und stützte sich mit den Armen auf die Mistgabel.

»Na, bist du auch schon wach? Guten Morgen.«

Ingegerd schlang sich die Arme um den Oberkörper und massierte sich die Schultern.

»Mittlerweile schlafe ich morgens nicht mehr sonderlich lang. Aber wenn ich sagen müsste, ich wäre nach der Überfahrt in Topform, würde ich lügen.«

»Ja, das ist ziemlich spät geworden gestern«, stimmte Anki zu. »Die Fähren haben einen wirklich sonderbaren Fahrplan.«

Ingegerd schüttelte den Kopf.

»Ach, dann hole ich den Schlaf ein andermal nach. Kann ich dir helfen? Ich dachte, wenn ich mit anpacke, wird mir vielleicht warm.«

Anki deutete zu der Wand, an der Mistgabeln und Schaufeln hingen, und schon machte Ingegerd sich eifrig in Box Nummer zwei zu schaffen.

»Schlafen unsere Freundinnen noch?«, fragte Anki über die Trennwand.

»Nein«, antwortete Ingegerd und richtete sich auf. »Lena und Gunilla sind auch schon wach, aber die gehen den Tag etwas gemütlicher an. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass sie genau dann hier auftauchen, wenn wir die Pferde gesattelt und gestriegelt haben und sie nur noch aufsitzen müssen.«

Anki lachte. »Eindeutig keine Stallmädchen.«

»Gunilla ist ja noch immer auf dem heimischen Hof aktiv, aber Lena hat bestimmt seit unserer Jugend keinen Stall mehr betreten. Aber sie machen Brote und Kaffee, damit wir was zum Frühstücken mit in die Natur nehmen können.«

Auf dem Rückweg von der Fähre hatte Anki eher aus Spaß vorgeschlagen, dass sie einen Frühstücksausritt mit Picknick machen könnten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie beim Wort genommen würde, aber beste Freundinnen waren nun mal beste Freundinnen.

»Das mit dem Reiten wird Lena schnell wieder lernen«, versicherte Anki. »Meist reichen ein paar Minuten auf dem Pferderücken, und schon kommt alles zurück. Als ich vor einem Jahr hergezogen bin, war ich schließlich auch ewig nicht geritten, und trotzdem war alles Wissen noch da. Sowohl im Kopf als auch in den Schenkeln.«

»Wie beim Radfahren also«, sagte Ingegerd. »Wohin kommt denn der Mist?«

Anki zeigte zu einer Hintertür, und schon verschwand Ingegerd mit der Schubkarre hindurch, während sie selbst neue Sägespäne holte und in den Boxen verteilte. Das Ausmisten war eine angenehme Beschäftigung, die sie in Bewegung und somit auch fit hielt. Mist zusammenzuharken und dann mit der Schubkarre wegzubringen war leichtes Krafttraining. Und sobald die Pferde versorgt waren, konnte Anki zu ihrem Kaffee und der Tageszeitung zurückkehren, um sich einen gemütlichen, ausgedehnten Morgen zu gönnen. Aber natürlich kostete es manchmal auch Kraft, so früh in den Stall zu müssen.

Fröhliches Gelächter hob vor dem Stall an, und schon kamen zwei unverschämt muntere Frauen herein. Die kurze Nacht hatte keinerlei sichtbare Spuren bei diesen Rentnerinnen hinterlassen, oder aber sie hatten diese schnell wie der Blitz unter Make-up versteckt. Auch Anki achtete auf ihr Aussehen, selbst wenn sie an manchen Tagen nicht weiter als bis zum Stall ging. Sie legte stets Wert darauf, sich hübsch zu machen. Nicht um irgendeinem Mann zu gefallen, falls das jemand glauben sollte, nein, sich selbst zuliebe wollte sie sich einfach nicht gehen lassen.

»Dann werden wir heute also ausreiten«, sagte Gunilla. »Wie lustig!«

»Bei mir ist das schon eine Weile her«, gestand Lena und biss sich auf die Lippe, »aber ich will es versuchen. Wie lösen wir denn das Problem, dass wir zu viert sind, aber nur zwei Pferde haben?«

»Islandpferde sind doch stark«, lachte Gunilla. »Du setzt dich einfach hinter mich.«

Da Lena nur noch erschrockener aussah, musste Gunilla schnell hinzufügen, dass sie bloß einen Scherz gemacht hatte.

»Zuallererst können wir uns ja dabei abwechseln, die Pferde zu striegeln«, erwiderte Anki. »Beide sind staubig, und nach der Nacht im Stall müssen die Mähnen und Schweife ausgebürstet werden. Wenn wir damit fertig sind, reiten Ingegerd und ich los. Lena, weil du dich erst wieder daran gewöhnen musst, reitest du zurück. Den Weg laufen die Pferde von allein. Ihre Losung ist definitiv: Zu Hause ist es am schönsten.«

»Und wo treffen wir uns? Beziehungsweise, wie kommen wir dann dorthin?«, fragte Gunilla. »Also wir, die nicht reiten?«

»Ihr könnt den Wagen nehmen. Ich habe schon eine Idee, wo wir schön frühstücken könnten«, sagte Anki. »Bis dorthin sind es nur vielleicht vier Kilometer. Dann tauschen wir, und ihr könnt zurückreiten. Ich zeige euch auf der Karte, wie ihr fahren müsst.«

»Vier Kilometer?«, fragte Gunilla. »Das können wir doch auch zu Fuß gehen, oder, Lena? Wird uns guttun.«

Da stimmte ihre Freundin durchaus zu.

»Wenn es für Anki und Ingegerd in Ordnung ist, dass auch sie spazieren gehen, statt zurückzufahren, dann bin ich einverstanden«, antwortete sie.

»Das klingt doch vernünftig«, fand Ingegerd. »Die Bewegung wird mir sicher helfen, wenn ich ganz steif vom Pferd steige, weil ich die Belastung nicht mehr gewöhnt bin.«

»Und ich freue mich einfach, mal wieder Gesellschaft zu haben«, sagte Anki. »Ich bin hier schließlich fast immer allein unterwegs.«

Nachdem die Pferde gestriegelt und gesattelt waren, saßen Anki und Ingegerd auf. Zunächst begleiteten sie Gunilla und Lena ein Stück, doch schon bald wollten sowohl Reiterinnen als auch Pferde das Tempo steigern.

»Herrlich!«, rief Ingegerd, als sie schon ein Stück im weich wogenden Tölt hinter sich gebracht hatten. »Was für ein tolles Tier!«

Anki hatte Ingegerd den hübschen Austri überlassen. Sein schwarzes Fell glänzte nur so, und die weiße Mähne flatterte, weil er die Vorderbeine zum Tölten so hochzog.

»Ich wusste, dass er dir gefallen würde«, rief Anki zurück. »Wollen wir noch einen Zahn zulegen?«

Sie trieben die Pferde an, und schon galoppierten sie nebeneinander über den Weg. Osk und Austri waren begeistert, stachelten sich gegenseitig an und wurden in ihrem kleinen Wettkampf von sich aus immer schneller, um bloß vorn zu bleiben.

Nach einer Weile drosselte Anki das Tempo wieder, und Ingegerd folgte ihrem Beispiel. Sie bogen auf einen Weg ab, der in den Wald führte, und nach ein paar hundert Metern offenbarte sich die Lichtung, die Anki für das Picknick auserkoren hatte, inmitten eines Naturreservats mit einer alten Wallburg.

»Wer kommt denn da?«, fragte Ingegerd und stieg ab.

Ein großer Hund hielt direkt auf sie zu. Schnell sprang Anki ebenfalls vom Pferd, umklammerte fest die Zügel und hob eine Hand.

»Stopp!«, rief Anki, während Osk erschrocken wieherte und zu steigen drohte.

»Stopp!«, wiederholte Anki, und tatsächlich setzte sich der Hund auf die Hinterbeine.

Mit großen Schritten kam ein Mann aus der gleichen Richtung, aus der auch der Hund gekommen war.

»Behalten Sie Ihren Hund an der Leine!«, schimpfte Anki. »Sie sind nicht allein im Wald!«

Der Mann antwortete nicht, griff nur nach dem Halsband seiner Bestie und zog sie mit sich.

»Puh«, sagte Anki und atmete auf. »Das war knapp. Wie geht es dir?«

»Gut«, antwortete Ingegerd. »Was ist denn das für ein Idiot, und warum hat er seinen Hund nicht unter Kontrolle?«

Anki zuckte mit den Schultern.

»Er ist neulich erst hergezogen, und sein Hund ist ihm schon ein paar Mal abgehauen. Er beißt, hab ich gehört. So verantwortungslos. Seit sie hier wohnen, ist es nicht mehr so sicher, in dieser Gegend zu reiten.«

»Da haben wir noch mal Glück gehabt«, sagte Ingegerd. »Den Halter sollte man anzeigen.«

Sie banden die Pferde an einem Informationsschild fest und setzten sich dann an den öffentlichen Picknicktisch, um auf ihre Freundinnen zu warten. Die Sonne stand noch tief, aber bahnte sich trotzdem allmählich ihren Weg durch die Kiefernzweige und erreichte die beiden.

Es dauerte nicht sonderlich lange, bis Lena und Gunilla schnellen Schritts heranspaziert kamen. Lena hielt ihr iPhone vor sich, und ihr heiteres Lachen war nicht zu überhören.

»Hier seid ihr!«, rief Lena. »Wie gut, dass das GPS funktioniert, das ist ja nicht unbedingt üblich so weit ab vom Schuss.«

»Jetzt freue ich mich auf Kaffee und Brote!«, sagte Gunilla. »Aber es war gut, dass wir zuerst ein Stück gegangen sind, so verbrennt man mehr Kalorien, und das habe ich sehr nötig. Ihr teilt diese Sorge sicher gar nicht.«

Sie zwinkerte ihren Freundinnen zu, und schon entspann sich eine angeregte Diskussion darüber, welche Diät am besten funktionierte. Anki, die – Gott sei Dank – keine überflüssigen Pfunde angesetzt hatte, schenkte derweil Kaffee aus und verteilte die Brote, während die anderen angeregt sprachen.

Als die Käseschnitten aufgegessen und vom Kaffee nur noch ein paar Tröpfchen übrig waren, fand Anki, dass sie lange genug über Glyx und 5:2 geredet hatten.

»Hört mal, hier habe ich übrigens schon eine ganze Menge Trompetenpfifferlinge gefunden«, sagte sie und deutete zur Böschung direkt neben ihnen.

Das langweilige Fastengespräch hörte sofort auf.

»Wir könnten ein paar suchen, bevor wir uns auf den Rückweg machen«, fuhr sie fort. »Dann können wir vielleicht unser Mittagessen noch etwas aufpeppen.«

»Meinst du, es gibt noch welche?«, fragte Gunilla. »Schließlich haben wir schon November.«

»Der Herbst war ungewöhnlich mild, zeitweise sogar recht feucht. Es schadet jedenfalls nicht, mal zu schauen.«

Die Freundinnen erhoben sich und begaben sich auf die Suche.

»Streicht mit den Händen über das Gras, damit ihr auch den Boden sehen könnt«, erklärte Anki. »Wenn ihr einen gefunden habt, sind meist noch viele weitere in der Nähe.«

Es dauerte nicht lange, bis Ingegerd erfreut aufschrie. Die anderen richteten sich auf und schauten zu ihr hinüber.

»Hast du einen Pilz gefunden?«, fragte Gunilla.

»Einen?«, rief Ingegerd zurück. »Hier sind weit mehr als nur einer. Kommt her und helft mir beim Einsammeln.«

Eine ganze Weile lang hockten und pflückten sie alle an der Stelle, an die Ingegerd aus purem Zufall direkt geraten war. Die Pferde grasten selig am Informationsschild und schienen es ebenfalls nicht eilig zu haben. Noch gab es Gras im Überfluss, man musste sich so viel wie eben möglich davon einverleiben, solange man konnte.

Anki gab als Erste auf. Sie ging zum Tisch und holte den Picknickkorb, damit sie etwas hatten, worin sie die Pilze einigermaßen wohlbehalten nach Hause bringen konnten. Thermoskanne und Tassen mussten mit der Plastiktüte vorliebnehmen, in der Lena und Gunilla die Brote verpackt hatten.

»Wisst ihr was, Mädels?«, sagte Anki mit einem Blick auf die reichhaltige Ernte. »Wir müssen mal aufhören. Die Pilze müssen ja noch gewaschen werden, das dauert eine ganze Weile.«

Und so kamen die Freundinnen mit dem, was sie noch in den Händen hatten, zu ihr und ließen alles in den Korb purzeln.

»Was gibt es denn Gutes zu den Pilzen?«, fragte Ingegerd. »Hast du noch das eine oder andere Stück Fleisch im Tiefkühler, Anki?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie. »Vielleicht sogar Lammfilet. Gucken wir gleich mal, und falls nicht, gehen wir eben schnell in den Laden in Mullvald. Dort gibt es richtig gutes Fleisch.«

Gemeinsam packten sie die Reste ihres Frühstücks zusammen und machten sich zum Aufbruch bereit.

»Ich fürchte, vom Reiten tut mir schon der Hintern ein bisschen weh«, beichtete Ingegerd und massierte sich die eine Pobacke. »Ein Spaziergang nach Hause kommt mir ganz gelegen.«

»Man sollte es nicht gleich am Anfang des Reitlagers so übertreiben«, lachte Gunilla. »Wir werden jetzt zwei Wochen lang das country life genießen, da gilt es, die Kräfte zu schonen.«

»Ich muss Fotos machen«, sagte Ingegerd. »Dann können wir daraus ein eigenes Buch basteln – oder sogar einen Kalender. Das geht im Internet ganz leicht.«

Lena nahm die Bank zur Hilfe, um auf Osk zu steigen. Gunilla fiel das Aufsitzen leichter, wobei auch sie nicht gerade auf Austris Rücken schwebte. Aber man konnte sehen, dass sie durchaus noch Übung hatte.

»Wisst ihr was?«, fragte sie, als sie oben saß, das Knie in vertrauter Manier vorgeschoben, damit sie auch vom Pferderücken aus den Steigbügel verstellen konnte. »Das ist so schön mit euch, es kommt mir vor, als wären wir schon längst Teil eines Buchs.«

»Du musst über uns schreiben«, witzelte Lena. »Du machst das schließlich beruflich und hast schon Erfahrung. Mit Ingegerds Bildern wird das ein Bestseller. Vielleicht gibt es ja sogar einen Gotlandpreis dafür, bestes Lifestyle-Buch oder so.«

Gunilla hatte viele Jahre lang Pferdebücher für Mädchen geschrieben, und das war richtig gut gelaufen. Lenas Vorschlag war vielleicht gar nicht unklug.

»Aber am Samstag machen wir doch diese Trüffelsafari mit«, warf Anki ein. »So was Extravagantes haben die Heldinnen unserer Jugend nicht erlebt.«

»Nein, wir haben uns hochgearbeitet«, sagte Gunilla und nahm die Zügel auf. »Das wird bestimmt richtig lustig. Komm, Lena, jetzt geht’s zurück zur Ranch.«

3

Tryggve Fridman war auf einer seiner täglichen Spazierrunden mit seinem Rottweiler Putte. Ihm standen viele verschiedene Wege und Pfade zur Verfügung, um für Abwechslung zu sorgen, und heute hatte er sich entschieden, an der Kirche und dem Pfarrhof Mullvald entlangzugehen. Die Umgebung des mittelalterlichen Gebäudes war wunderschön, und manchmal durfte Tryggve dort als Küster arbeiten. Hoch auf dem Hügel thronte das Gemeindehaus, das einen atemberaubenden Ausblick über den Ort bot. Früher war es die Grundschule gewesen, und viele der Bewohner der Gegend hatten ihre ersten Schuljahre dort zugebracht. Er selbst jedoch nicht. Tryggve war zwar Gotländer, aber innerhalb der Stadtmauern Visbys aufgewachsen. Erst ein paar Jahre vor seiner Pensionierung hatte er sich das Haus in Mullvald gekauft, wo er sein Altenteil in Ruhe und Frieden und der Gesellschaft von Putte verbringen wollte. Ruhig war es seither nicht immer gewesen, das musste er zugeben, aber im Großen und Ganzen friedlich, ganz besonders seit Anki Karlsson hergezogen war. Sie war eine kluge und belesene Frau, die wusste, wie man das Leben in vollen Zügen genoss.

Er näherte sich der Steinmauer, die den Pfarrhof umgab. Dort stand eine wohlbekannte Gestalt, die gerade sorglos den Park des Hofs betrachtete.

»Mensch, Gerhard! Wie schön, dich mal woanders zu sehen als hinterm Tresen. Wie hast du dich denn loseisen können?«

Gerhard Klein, der österreichische Wirt, dem sowohl das Plogbillen in Kajpe Kviar als auch das Fischrestaurants am Hafen von Mullvald gehörten, grüßte ihn herzlich zurück.

»Tryggve! Dich sieht man ja auch nicht jeden Tag. Wie nett!«

»Na ja, ich komme schon mindestens einmal pro Woche zu dir, um Fisch zu essen«, entgegnete Tryggve. »Der gebratene Hering aus deinem Hause ist ja weithin bekannt und beliebt, den lasse ich mir ungern entgehen. Aber jetzt sag schon, was verschlägt dich hierher?«

Gerhard drehte sich um und lehnte sich gegen die Steinmauer.

»Du hast sicher mitbekommen, dass hier nächste Woche ein Markt stattfindet«, setzte er an und deutete mit dem Daumen hinter sich zum Pfarrhof.

»Ja, das ist doch eine schöne Idee«, sagte Tryggve. »Eine hervorragende Aktion von unserem neuen Pfarrer und allen anderen Beteiligten, selbstverständlich.«

»Als einigermaßen begabter Koch«, sagte Gerhard bescheiden, »bin ich ja mehr oder weniger gezwungen, mich auf dem Festival zu zeigen, mich umzuschauen und zu probieren. Alles andere wäre ja verrückt. Heute bin ich nur da, um mir einen Überblick zu verschaffen, damit ich mir ungefähr vorstellen kann, wie das aussehen wird. Man darf schließlich nicht vergessen, dass wir in direkte Konkurrenz zum Festival der Trüffelakademie in Visby treten.«

»Allerdings«, sagte Tryggve. »Es findet ja an denselben Tagen statt. Aber das hier wird auch gut, wir sprechen ja einen anderen Schlag Mensch an: die Einheimischen und natürlich die Sommergotländer, die bei der Gelegenheit auch gleich noch einmal nach ihren Ferienhäusern schauen können. So kurz vorm Wintereinbruch ist das ja durchaus angebracht.«

Einen Moment lang standen sie still beieinander. Der Park im Pfarrhof war schön und groß genug für das Festival, das kommende Woche von Donnerstag bis Samstag stattfinden sollte. Es mündete in ein elegantes Mehrgängemenü im Plogbillen für diejenigen, die eine entsprechende Summe auszugeben bereit waren.

»Unser neuer Pfarrer ist genauso einfallsreich wie seine Vorgängerin«, sagte Gerhard.

Tryggve reagierte nicht darauf. Er hatte keine große Lust, an den tragischen Mord an Catharina zu denken, stattdessen lenkte er die Unterhaltung lieber wieder auf die Trüffel.

»Das kann man wohl sagen. Tolle Idee von ihm, wenngleich da natürlich noch eine Menge mehr Menschen die Finger im Spiel haben. Das Paar mit den Hunden zum Beispiel. Die Viecher, die die Trüffel für sie suchen, meine ich.«

Die Tür des Pfarrhofs ging auf, und der Pfarrer erschien auf der Treppe. Er war leger gekleidet, trug eine Jeans, ein Pfarrerhemd und eine Windjacke. Wenn man vom Teufel spricht, dachte Tryggve und grüßte Oskar Bergsten.

»Guten Morgen«, sagte auch Oskar, als er auf ihrer Höhe war. »Kommen Sie auf einen Kaffee mit ins Gemeindehaus? Die Haushälterin hat bestimmt auch ein wenig Gebäck parat.«

»Gern«, sagte Gerhard und sah fragend Tryggve an, der zustimmend nickte.

Die drei Männer schritten in gemächlichem Tempo den Hügel hinauf. Putte war nicht angeleint und lief voraus. Er kannte sich bestens aus, denn er war mit seinem Herrchen oft hier gewesen.

Gerhard Klein lebte seit ungefähr zehn Jahren auf der Insel und sprach Gotländisch mit österreichischem Akzent, eine Färbung, die in Tryggves Ohren richtig nett klang. Ein Kaffeepäuschen mit ihm war eine angenehme Überraschung.

»Ich hoffe mal, dass du nicht damit anfängst, Trüffel in deine Fischgerichte zu schmuggeln«, scherzte Tryggve. »Denn dann steigen die Preise, und keiner kann sich mehr leisten, bei dir essen zu gehen. Das wird dich nur Gäste kosten.«

Sie hatten sich mit dampfenden Kaffeetassen und warmem Sandkuchen an einen der Tische gesetzt. An einem der anderen saßen ein paar Frauen vom Handarbeitskreis und unterhielten sich mit dem Hausmeister. Oskar Bergsten war in seinem Arbeitszimmer verschwunden.

»Also, ich hatte nicht vor, meine Speisekarte zu ändern«, konterte Gerhard Tryggves Einwand. »Meine Fischgerichte sind gut, wie sie sind – mit Zitrone, Knoblauch, Chili und Öl kommt man schon mal sehr weit, von Bärlauch ganz zu schweigen. Weißt du eigentlich, dass ich das Plogbillen jetzt verpachtet habe?«

»Das habe ich gehört, ja. Ich bin sogar beim Trüffelessen dabei. Meine Schwester hat mich dazu überredet.«

Tryggve brach ein Stück von dem Kuchen ab, der ungewöhnlich gelb war. Die Haushälterin musste Eier von einem der umliegenden Höfe verwendet haben, sonst hätte der Kuchen keine so schöne Farbe bekommen.

»Wie sieht es denn für die neuen Gastwirte aus?«, fragte er.

Gerhard wiegte bedenklich den Kopf und stand auf, um sich Kaffee nachzuschenken.

»Das ist es ja gerade«, sagte er, als er wieder zurück war. »Micke und Sara Hansson sind junge, arbeitsfreudige Menschen. Sie lieben gutes Essen, aber ich frage mich, ob sie nicht auf die falsche Karte setzen. Wie zum Beispiel mit diesem luxuriösen mehrgängigen Trüffelmenü.«

»Du meinst, sie sollten sich lieber an dein Konzept mit den Hamburgern halten?«

Gerhard reckte den Zeigefinger in die Luft.

»Daran glaube ich fest. Hamburger und andere einfache Gerichte. Es wird nicht leicht, das ganze Jahr über Interessenten für ein Luxushotel und teures Essen zu finden.«

»Luxushotel?«

»Ja, sie bieten im gleichen Haus Hotelzimmer an. Oberhalb des Restaurants. Ich kenne die Branche, deshalb kann ich sehr gut vorhersagen, dass sich das nicht tragen wird.«

»Was halten wohl die Einwohner von Kajpe Kviar davon?«, dachte Tryggve laut.

Er wusste, dass sie immer stolz darauf gewesen waren, ein eigenes Pub zu haben. Freitags und samstags war es dort immer gerammelt voll gewesen, die Gäste kamen aus Kajpe Kviar oder Mullvald, um noch ein Bierchen zu trinken, zu plaudern und Kontakt zu halten. Manche sogar aus Kräklingbo und Anga. Abgesehen von den Pubabenden hatte Gerhard wechselnde Mittagsgerichte angeboten, die besonders von den Handwerkern, die im Winter in der Gegend arbeiteten, nur zu gern angenommen worden waren. Klar, in Mullvald gab es jetzt noch das Fischrestaurant, aber das konnte man nicht mit dem rustikalen Pub und seiner lässigen, schlichten und doch gleichzeitig geschmackvollen Atmosphäre vergleichen.

»Nicht so wirklich viel«, gab Gerhard zu. »Natürlich kann man im Plogbillen nach wie vor sein Bier bekommen, aber es herrscht halt keine Atmosphäre mehr wie in einer entspannten Eckkneipe.«

Tryggve trank seinen Kaffee aus und schaute sich nach der Kanne um. Eine der Frauen vom Handarbeitskreis schenkte sich gerade nach. Sie bemerkte seinen suchenden Blick und kam sogleich mit der Kanne zu ihm.

»Danke, das ist sehr aufmerksam«, sagte Tryggve. »Und lecker noch dazu.«

Gerhard Klein seufzte schwer. »Micke Hansson hat sich sehr klar ausgedrückt, als er die Pacht übernommen hat.«

Tryggve gab zwei Zuckerstücke in seine Tasse und rührte um. »Inwiefern?«

Gerhard lehnte sich näher zu Tryggve und senkte die Stimme. »Ich möchte keine Schwemme von Locals haben. Genauso hat er es formuliert. Grenzt das nicht schon an Tyrannei?«

Tryggve konnte nur zustimmen. Gerhard selbst hatte nie Unterschiede zwischen den Gästen gemacht, aber seine Idee, sich mit dem Pub vornehmlich an die Locals zu richten, war ein glücklicher Zug gewesen. Nur auf Kundschaft mit Geld zu setzen, war waghalsig. Denn teuer war es, das wusste Tryggve, der bereits sein Sechs-Gänge-Menü inklusive Weinpaket und Trüffelsafari bezahlt hatte. Trotzdem musste er zugeben, dass er auf den Tag sehr gespannt war.

»Erwartest du jetzt zum Festival denn irgendwelchen Besuch?«, fragte Gerhard und wechselte damit das Thema.

»Ja, ein bisschen Verwandtschaft«, antwortete Tryggve. »Meine Schwester Margaretha und ihren Mann Per. Und sie bringen noch irgendeinen Typen mit, einen Freund von Per. Sie kommen morgen schon an.«

»Wie schön! Sie bleiben sicher ein bisschen, oder?«

»Wahrscheinlich eine Woche, beim Trüffel-Dinner am Samstag sind sie jedenfalls auch dabei.«

Tryggve wurde bewusst, dass er völlig vergessen hatte, nachzufragen, wie lange sie bleiben wollten. Für gewöhnlich hatten sie eigene Pläne und beschäftigten sich selbst, und er hoffte, dass sie sich auch um ihren Freund kümmern würden.

»Versprich mir«, sagte Gerhard, »dass du mit deinen Gästen mal im Fischrestaurant vorbeikommst. Dann spendiere ich euch ein Gläschen zur Fischsuppe. Aber jetzt muss ich dringend nach Hause, da warten ein paar Arbeitsflächen auf mich, die geölt werden wollen. So was sollte man nicht vernachlässigen.«

Er stand auf und zog seine Jacke an.

»Danke! Wir kommen gern«, erwiderte Tryggve und hob zum Abschied die Hand.

4

Lotta Storm betrachtete Buttles hellbraunes Fell und streichelte ihn sacht. Locke um Locke war mithilfe der bestens geschliffenen Schere gefallen, während er brav auf dem Tisch gestanden hatte, den sie eigens dafür in der Küche aufgebaut hatte. Er war diese Prozedur gewöhnt und wusste, dass schon bald wieder Zeit für Spiel und Arbeit war. Lotta griff zur Effilierschere und nahm sich vorsichtig die Ohren vor.

Sicher gab es auch Hundehalter, die diese Aufgabe langweilig und zeitraubend fanden, aber Lotta gehörte nicht dazu. Den Hunden nah zu sein und sich um sie zu kümmern, war ihre Lieblingsbeschäftigung. Als sie und David sich die Hunde angeschafft hatten, hätte sie nie für möglich gehalten, dass sie sich jemals selbst um das Trimmen kümmern würde. Aber sie hatte hartnäckig geübt, war immer besser geworden, und mittlerweile war das Ergebnis richtig gut. Einmal pro Monat mussten sie geschoren werden, darüber hinaus war eine tägliche Pflege vonnöten.

Am Freitag würde sie zum ersten Mal vor Zuschauern trimmen, und zwar auf dem Trüffelmarkt in Mullvald. Dann musste Alva auf dem Tisch ausharren und sich scheren lassen. Solange die Hündin wirklich ruhig stehen blieb, damit Lotta nicht mit der Schere ausrutschte, würde schon alles gut gehen, das hatte David ihr versichert. Lotta selbst hatte sich vorgenommen, die Menschen einfach auszublenden, die sich vor ihrem Stand sammeln würden. Sie nicht zu beachten, sondern wie gewohnt konzentriert zu arbeiten. Trotzdem war sie ein bisschen nervös.

»So, Buttle!«, sagte sie und kraulte ihm den Nacken. »Dann spring mal runter und such Herrchen, der hat sicher ein Leckerli für dich.«

Lotta hob den Hund vom Tisch und kehrte das Fell zusammen. Märta Olsson vom Handarbeitskreis freute sich schon darauf. Sie war eine alte, erfahrene Bäuerin und unfassbar begabt, was Handarbeiten aller Art betraf. Niemand konnte sticken wie sie. Irgendwie hatte sie herausgefunden, dass Lotta ihre Hunde selbst schor und die Wolle wegwarf. Da war Märta zu Besuch gekommen und hatte ihnen ein aufwendig verziertes Weihnachtstischtuch geschenkt.

»Ich wollte Sie bitten, mir die Hundewolle zu geben, statt sie wegzuwerfen«, lautete ihr Anliegen.

»Hundewolle?«, hatte Lotta entgeistert gefragt. »Damit kann man doch nichts mehr anfangen? Aber natürlich können Sie die haben, wenn Sie möchten.«

»Ich möchte ausprobieren, ob sie sich kardieren und dann vielleicht zu Garn verarbeiten lässt. Ein Versuch schadet ja nicht. Kann doch sein, dass genug für ein Paar Strümpfe für den einsamen Polizeikommissar zusammenkommt, der die vielen Pfade und Wege mit seinem Hund unsicher macht«, hatte sie gesagt und gezwinkert.

Lotta steckte die braunen Hundehaare in eine Plastiktüte, die sie erst einmal in den Flur hängte. Märta Olsson musste sich noch bis nach dem Markt gedulden, wenn auch Alva geschoren war. Dass Lottas und Davids geliebte Vierbeiner ihren Beitrag dazu leisten konnten, die kalten Füße eines einsamen Junggesellen zu wärmen, der selbst nicht stricken konnte, war wirklich ein schöner Gedanke.

Der Trüffelmarkt war eine willkommene Abwechslung in der dunklen Herbstzeit. Ein Spaß würde das werden, und der Handarbeitskreis, angeführt von Märta Olsson, war auch mit am Start. Ein bisschen fragte sich Lotta, was genau Strümpfe und Socken auf einem Trüffelmarkt zu suchen hatten, aber vielleicht war alles willkommen, was in Mullvald hergestellt wurde. Die Idee zum Markt stammte ja von der Kirche, genauer gesagt, vom Pfarrer, da war das eigentlich gar nicht so verwunderlich.

»Puh«, sagte David, als er in die Küche trat. Er hatte gerade ein Telefonat mit jemandem beendet, der offenbar alles über Pilze und Hunde hatte wissen wollen. Er ließ sich auf den Küchenstuhl sinken. »Was für eine Labertasche.«

»Ein Interessent für Safari und Trüffel-Dinner?«, fragte Lotta.

»Nein, das ist nicht mehr möglich. Das Plogbillen ist schon seit Monaten ausgebucht. Du, Lotta, wenn wir gewusst hätten, wie groß das Interesse ist, hätten wir sogar zwei Wochenenden anbieten können.«

Wie fantastisch, dass das Interesse an Trüffeln so groß war! Für die teilnehmenden Gäste handelte es sich um echten Luxus, David und Lotta hingegen hobelten damit nicht gerade Gold. Hätten die beiden nicht noch andere Jobs übernommen, wären sie kaum über die Runden gekommen. Früher war eines der Restaurants in Visby ihr Standbein gewesen, jetzt hatte das Plogbillen übernommen und sorgte für regelmäßige Einkünfte. Keiner von beiden hatte eine Festanstellung, aber sie sprangen regelmäßig ein, um zu spülen, zu putzen, einzudecken oder zu kellnern. Darüber hinaus boten sie Kurse an. David zeigte anderen Hundehaltern, wie sie die Trüffelsuche aufbauten, und Lotta gab Theoriekurse über Trüffel – sowohl die gotländischen als auch die italienischen, die sie während einer Reise mit ihrer Mutter ins Piemont hatte studieren können.

»Du hast Buttle frisiert«, stellte David fest und nahm den eifrig wedelnden Hund auf den Arm. »Bist du müde?«

»Ein bisschen«, gab sie zu und massierte sich die Schultern.

»Jetzt kann die Schere erst einmal bis zum Markt ruhen, und dann hast du Zuschauer. Ich glaube, dass die Besucher dich gern in action sehen wollen.«

Lotta lachte und umarmte ihn und Buttle.

David war einfach ein Schatz. Sie konnte sich niemanden vorstellen, mit dem sie lieber das Projekt Trüffelsafari gestartet hätte.

Lotta hatte zwar damit angefangen, aber Davids Interesse war nicht schwer zu wecken gewesen. Wie viel unerfreulicher ihr Leben wäre, wenn sie all ihre Pläne ohne ihn umsetzen müsste.

Es war fast zehn Jahre her, dass sie David kennengelernt hatte. Damals war sie zweiundzwanzig, und ihre Mutter, Gull-Britt, hatte sie auf die Insel mitgenommen, damit sie ihre neuste Errungenschaft in einer Reihe von Männern kennenlernen konnte. Dieser hieß Nils Hansson. Gull-Britt hatte sich ausgemalt, dass Nils und Lotta sofort einen Zugang zueinander finden und sie dann als eine große Familie zusammenleben konnten, aber die Wirklichkeit hatte es anders gewollt. Nils hatte sich als echter Griesgram erwiesen, der keine Gelegenheit ausließ, um Lotta vom ersten Tag an zu kritisieren. Entweder sprach sie beim Essen zu viel oder lachte zu laut, wenn sie zusammen fernsahen. Wenn Lotta Interesse an einer bestimmten Sendung hatte, wollte Nils mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit etwas anderes sehen. Er rügte ihren Kleidungsstil und betonte ständig, dass sie sich einen Job suchen solle, statt sich auf seine Kosten auf die faule Haut zu legen. Ganze fünf Tage hatte Lotta das ertragen, dann packte sie ihren Rucksack und haute ab. Lief planlos bei Sonnenuntergang den Strand entlang und fragte sich, in welche Richtung man wohl laufen musste, um von dieser Insel zu entkommen. Und dann traf sie David. Er saß auf einem Baumstamm, den Blick auf das Meer gerichtet, die Handflächen nach oben gewendet. Lotta hatte sich neben ihn gesetzt, ohne ein Wort zu sagen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie dasselbe Naturschauspiel betrachtete wie er. Nach einer Weile schaute er sie an.

»Weine nicht«, sagte er. »Streck deine Hände aus und nimm die Kraft der Sonne auf. Alles wird gut, das weiß ich.«

Seit diesem Tag waren sie unzertrennlich gewesen, David und Lotta. Er war ihr großes Vorbild und ihr Beschützer, ihr Geliebter und ihr bester Freund. Und mittlerweile war er derjenige, der sich um die Absprachen mit Nils kümmerte, die die Pacht des Trüffelgrundstücks betrafen. Dank Gull-Britt hatte Nils schlussendlich zugestimmt. Lotta hielt sich nur zu gern vom Mann ihrer Mutter fern, denn so ließ es sich einigermaßen gut leben.

Die Gedanken an Nils Hansson führten dazu, dass Lotta tief seufzte.

»Lotta!«, mahnte David. »Jetzt lässt du die negativen Gedanken wieder Oberhand gewinnen. Mach dich von ihm frei.«

»Wie sehr ich mir wünsche, dass wir seine hässliche Visage nicht auf dem Markt sehen müssten«, sagte sie, »aber es ist mir schon klar, dass das nur ein Wunsch bleiben wird.«

David setzte Buttle auf den Boden und stand auf. Er legte Lotta einen Arm um die Schultern.

»Das lässt sich unmöglich umgehen«, sagte er und streichelte ihr über den Rücken. »Gull-Britt braucht schließlich seine Hilfe, wenigstens um den Marktstand für ihre italienischen Trüffel aufzubauen.«

»Dafür hätte sie auch mich um Hilfe bitten können«, schmollte sie.

»An und für sich schon, aber Nils ist halt ihr Mann. Außerdem haben wir beide selbst viel zu tun.«

Widerwillig musste sie ihm zustimmen.

»Eigentlich sollten wir dankbar sein«, sagte David. »Ohne Nils hätten wir gar keine Möglichkeit, überhaupt Trüffel zu suchen.«

»Aber gegen eine unverschämt hohe Summe!«, zischte Lotta. »Nein, der Typ ist einfach unmöglich! Dass Mama so dumm sein konnte, sich mit dem zusammenzutun, das werde ich nie verstehen.«

David schob ihr langes blondes Haar beiseite und gab ihr einen Kuss aufs Ohr. Sein warmer Atem ließ Lotta erschaudern.

»Gull-Britt führt dank ihm ein gutes Leben, und ich bin mir sicher, dass sie es gut miteinander haben. Wie gesagt, wir sollten dankbar sein, dass sie ihn überreden konnte und wir nun sein Grundstück nutzen dürfen. Vermutlich war das nicht ganz einfach.«

Da hatte David natürlich recht, trotzdem dachte Lotta gar nicht daran, nett zu Nils Hansson zu sein. Niemals.

»Er ist ein richtiges Schwein«, sagte sie und wand sich aus Davids Arm. »Ich muss jetzt weiter sauber machen.«

Sie sammelte die drei Scheren und die Krallenzange ein. Die größte der Scheren hielt sie ins Licht, um sie genauer zu betrachten, und nickte dann. Das gute Stück musste definitiv vor dem nächsten Einsatz geschliffen werden.

5

Samstag, 7. November

Tryggve stand auf der Veranda und hielt in der Nachmittagssonne Ausschau. Ein bekanntes Auto, ein alter, roter Volvo 745, fuhr langsam auf seinen Hof, und Tryggve schirmte seine Augen ab, damit er besser sehen konnte. Seine kleine Schwester und sein Schwager stiegen aus. Eine der hinteren Türen öffnete sich, und heraus kam ein schlanker Mann mit blonden Haaren, der Pony fiel ihm tief in die Stirn. Er war sicher fünfundfünfzig, sechzig, hatte aber ein sehr jugendliches Auftreten.

»Brüderchen«, sagte Margaretha, »wie schön, dich zu sehen!«

Sie umarmte Tryggve, während ihnen Putte um die Beine strich, der auch begrüßt werden wollte.

»Das finde ich auch, Schwesterherz! Wie wunderbar, dass ihr euch ein paar Tage für dieses Spektakel freinehmen konntet.«

Auch Per und Tryggve umarmten sich, dann streckte der Fremde die Hand aus.

»Darf ich vorstellen, Åke Hansson«, sagte Per. »Åke T. Hansson, um genau zu sein.«

»Darum möchte ich auch bitten«, lachte Åke und verriet mit Aussprache und Tonfall, dass er von der Insel stammte. »Sie sind also der Kriminalpolizist, nehme ich an?«

»Und Sie Gotländer«, stellte Tryggve fest, ohne auf die Frage nach seinem früheren Beruf einzugehen.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Åke, »auch wenn ich die letzten fünfunddreißig Jahre auf dem Festland gelebt habe, in Sala. Dort bin ich auch Mitglied des Gemeinderats.«

»Und aus welcher Gemeinde kommen Sie nun ursprünglich?«, fragte Tryggve, der die Herkunft seines neuen Gastes nur zu gern genau verorten wollte.

»Aus der Mitte der Insel«, sagte Åke und griff nach seiner Reisetasche. »Geht es hier rein?«, fragte er, und schon fiel ihm der Pony wieder in die Stirn.

Tryggve machte eine einladende Geste und zeigte dann den Weg ins Haus und bis zu dem Zimmer, in dem Åke schlafen konnte, solange er auf der Insel weilte. Sonderbar, dass er nicht genauer sagen wollte, woher er kam. Nun denn, früher oder später würde das schon bekannt werden.

Kurz darauf stand Tryggve in der Küche, die Gardine vorm Fenster beiseitegeschoben, den Blick in den Hof gerichtet. Seine Verwandten waren dabei, ihr Gepäck auszuladen. Die Kofferraumklappe des Kombis stand offen, zwei Reisetaschen bereits neben dem Wagen auf dem Boden. Schwester und Schwager waren zur Hälfte hineingekrochen und schienen mit etwas zu kämpfen, das sie ebenfalls herausholen wollten.

»Welche Unmengen manche Menschen für nur ein paar Tage mitschleppen«, murmelte er vor sich hin.

Ein Stück entfernt stand Åke auf dem Weg, der zum Meer hinunterführte, und betrachtete zwei Pferde, die an ihm vorbeischritten. Offenbar hatte er nur seine Tasche ins Zimmer gestellt und war sofort wieder nach draußen gegangen. Tryggve blinzelte. Das mussten Anki und eine der Freundinnen sein, von denen sie gesprochen hatte, die gerade ausritten. Sie hielten bei Åke und unterhielten sich mit ihm. Warum half er nicht Margaretha und Per, statt sich mit den Ortsansässigen zu beschäftigen? Tryggve war ein bisschen irritiert, aber ließ dann einen bedeutend schöneren Gedanken Oberhand gewinnen.

Er schaute den beiden Reiterinnen hinterher. »Genau das werde ich tun.«

Entschlossen löste er zwei Haken am Küchenfenster und schob es auf.

»Braucht ihr Hilfe?«, rief er hinaus.