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ISBN 978-3-492-97817-0

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Lektorat: Tanja Ruzicska

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: picture alliance/blickwinkel/S.Ziese

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

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Inhalt

Vorwort

Zwei Frauen und die Männerwelt unter Tage

1. Alles auf Anfang

2. Familienkapitalismus

3. Ein Land für das Ruhrgebiet

4. Der deutsche Sisyphos

5. Alles wird neu. Oder auch nicht

6. Hunger und das Schreckgespenst Kommunismus

7. Das Ruhrgebiet, die europäische Avantgarde

8. Hephaistos’ Land

Hoch hinauf, tief hinunter

9. Eine andere, eine schöne, eine neue Welt

10. Rot wird die Ruhr

11. Es geht voran. Wie lange?

12. Die unerwartete Krise

13. Auf ein Wort: Strukturwandel

14. Der Ruhrgebietsversteher

15. Auf ein Wort: Narrativ

16. Zu groß zum Untergehen

17. Das zarte Pflänzchen Bildung

18. Das Neue neben dem Alten

Rechthaber und das richtige Timing

19. Die Veränderer

20. Der Mann am Klavier

21. Überzeugungsrenitenz

22. Ein Querulant in Essen

23. Kurt Biedenkopf oder ein Außenseiter im Ruhrgebiet

24. Rechthaber, Rechtbekommer

25. Krise, Krise, Krise

26. Nicht mit der Macht des Staates und des Kapitals

27. Für eine Mark

28. Der Herr Minister

29. Fremd zieh’ ich wieder aus

Der Kampf um Normalität

30. Groß denken, neu gestalten.

31. Das Leitprojekt

32. Alternativen denken

33. Auf ein Wort: Ewigkeitsschäden

34. Strategien, scharf durchdenken

35. Dynamik unter Machtmenschen

36. Der strotznormale Konzern

37. Es zieht sich, aber es wird

38. Viel Ende, überall

39. Im modernsten Bergwerk der Welt

40. Was fehlt (I): Selbstregierung

41. Was fehlt (II): eine Metropole

42. Eigenes im anderen

43. Die wirkliche Wirklichkeit im Ruhrgebiet

Nachwort

Anhang

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildnachweis

Bildteil

Anmerkungen

Vorwort

Mein Ruhrgebiet, das ist der wunderbare Landschaftspark Duisburg-Nord, der einmal ein riesiges Stahlwerk war. Ich habe ein Fahrrad geliehen und bin über das Gelände gekurvt, vorbei an den Sinteranlagen und Möllerbunkern, habe von der Brücke auf die Alte Emscher hinuntergeschaut und wollte nicht glauben, dass sie im Gasometer wirklich tauchen üben. Das Windrad war gerade wieder aufgestellt worden, in vierzig Meter Höhe, nach zwei Jahren Reparatur am Getriebekopf; jetzt hat der Park eines seiner Wahrzeichen zurück. Beim Traumzeit-Festival traten Tom Odell, Milky Chance, Alice Merton und viele andere Musiker auf, beim Klavierfest Ruhr spielten sie Strawinsky in der Gebläsehalle. Ziemlich viel los ist hier, fast immer.

Eine Entdeckung ist auch das MuT in Bochum, das Museum unter Tage in einem herrlichen Park, in dem gerade »Artige Kunst« zu Ende gegangen war, womit auf die Kunstpolitik in der NS-Zeit angespielt wurde. Oder das goldene U auf dem monströsen Gebäude gleich neben dem Dortmunder Hauptbahnhof, das einmal eine Brauerei beherbergte. Hoch oben auf dem Turm erzählen umlaufende Videos witzige kleine Geschichten, die sich Adolf Winkelmann ausgedacht hat; er ist nicht nur Regisseur, sondern auch der Chronist des Ruhrgebiets. 1,7 Millionen LEDs ließ er hier installieren, damit es etwas zu lesen und zu schauen gibt; die Computertechnik ist ein kleines Wunderwerk. Manchmal lässt Winkelmann den Turm die Zeitläufte kommentieren. Als einige Neonazis Dortmund unsicher machten, sagte der Turm dazu: »Ich, der Turm, fand Nazis damals schon voll uncool.« Das fanden die Dortmunder cool.

Es gibt viel zu entdecken im Ruhrgebiet. Etliche Hunderttausende Menschen reisen an, bleiben für einen Tag oder auch mehrere Tage. Sie gehen in die Jahrhunderthalle Bochum, eine meisterhafte Konstruktion der Ingenieurskunst aus dem Jahr 1902. Sie besuchen die wunderbare Zeche Zollverein, die vermutlich eindrucksvollste Ikone aus dem Industriezeitalter, die eine besonders prominente Adresse bekommen hat: im Welterbe. Sie genießen das erstaunlich große Angebot aus Kultur und Kunst, das Berlin kaum nachsteht, jedenfalls dann nicht, wenn man das Ruhrgebiet als Ganzes betrachtet, als eine riesige Metropole. Und natürlich können sie auch in eines der Stadien gehen, die bei jedem Heimspiel ausverkauft sind. In der Bundesliga haben sie die Wahl zwischen Schalke und Dortmund, wo das Publikum den Fußball einzigartig zelebriert und orchestriert, inbrünstiger als in München oder Hamburg.

Das Erstaunliche am Ruhrgebiet ist, dass die Wirklichkeit seinen Ruf dementiert. Es ist vielfältig und bunt, es ist grün und mit einem Reichtum an Landschaften gesegnet, den man kaum für möglich hält. Auf den Halden, die der Bergbau hervorbrachte, lässt sich picknicken oder ein Stück im Amphitheater anschauen oder durch den Tetraeder flanieren, einer Stahlkonstruktion in Form einer dreiseitigen Pyramide. Wer es langsam liebt, nimmt sich ein Fahrrad und kurvt entlang der Route der Industriekultur, auf der die wichtigsten Industriedenkmäler aus der Zeit stehen, als das Ruhrgebiet aus einer Arbeitsgesellschaft bestand, die Deutschland mit Kohle und Stahl versorgte. Und wer will, kann sogar in der Ruhr baden, denn das ist jetzt wieder erlaubt, nachdem es 46 Jahre lang verboten war, seit 1971.

Dort, wo es spannend und interessant ist, entsteht das neue Ruhrgebiet im alten. Vor ungefähr dreißig Jahren haben die Städte aufgehört, wie aus Scham darüber, dass sie nicht mehr gebraucht wurden, stillgelegte Zechen abzureißen. Ihre Zeit ging vorbei, selbst wenn sie moderner und erheblich sicherer waren als Bergwerke in China, Südafrika oder der Türkei. Auf dem Weltmarkt konnte die deutsche Kohle nicht mehr konkurrieren. Zum Eliminieren der Schächte wurde endlich eine Alternative entdeckt: das Konservieren. Fortan sanierte das Ruhrgebiet das Alte, machte ein Neubaugebiet oder einen Technologiepark daraus. Oft ließ es sich auch etwas Größeres einfallen, verwandelte zum Beispiel ein gigantisches Stahlwerk in einen See und baute an seinem Ufer ein neues Stadtviertel. Gerade noch rechtzeitig lernte das Ruhrgebiet seine Vergangenheit zu schätzen und zu bewahren. Seither ist es stolz auf das Neue im Alten. Und hat auch jeden Grund dazu.

Der wenig freundliche Ruf des Ruhrgebiets speist sich aus seiner Vergangenheit, der nahen wie der ferneren. Kein blauer Himmel über der Ruhr. Ruß, der sich auf die Wäsche an der Leine legt. Schwerstarbeit unter Tage. Eine Arbeiterwelt mit einer Arbeiterkultur. Fußball und Taubenzucht und Schrebergärten und Kneipen. Kinder, aus denen Bergleute werden, wie die Väter und Großväter es ganz selbstverständlich waren. Diese nahe Vergangenheit ist zwar verweht, aber sie haftet an der Region wie Teer.

In der ferneren Vergangenheit war das Ruhrgebiet nicht nur das industrielle Herz Deutschlands, sondern auch die Waffenschmiede des Kaiserreichs und der Nazis. Mit dem Ruhrgebiet verbinden sich die beiden Weltkriege und Millionen Tote. Krupp und Kanonen wurden ein Synonym. Von den Ruhrbaronen überwarf sich nur Fritz Thyssen nach Jahren der Verehrung mit Hitler und wurde deshalb mit seiner Frau in mehreren Konzentrationslagern gequält.

Nach 1945 war das Ruhrgebiet wieder der Großlieferant für Kohle und Stahl, unentbehrlich für den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder der Westrepublik. Diese goldene Spätphase endete 1957/58, als die Kohle in die Krise geriet. Ihr machten Öl und Kernenergie Konkurrenz. Anders als erhofft war die Krise nicht nur konjunkturell bedingt, sondern strukturell. Zeche auf Zeche wurde geschlossen. Stadt auf Stadt geriet ins Trudeln. Das Ruhrgebiet wurde zum Dauerkrisengebiet.

Die große Angst der Regierungen in Bonn und Düsseldorf bestand darin, dass die Bergleute in ihrer Verzweiflung demonstrieren und protestieren würden und womöglich das ganze Land in Aufruhr versetzen könnten. Daraus entstand etwas Beispielhaftes: die korporative Marktwirtschaft für das Ruhrgebiet. Bundesregierung und Landesregierung, Bergbauunternehmen und Gewerkschaften taten sich zusammen und arbeiteten ein Modell aus, das den Bergbau sozial verträglich abwickelte. Kein Bergmann sollte ins Bergfreie fallen, hatte die Gewerkschaft verlangt, und so kam es auch. Der Staat subventionierte, die Bergwerke schrumpften. Fünfzig Jahre lang ging das so. Das Modell wird am 31. Dezember 2018 enden, das ist der Tag, an dem das letzte Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop dichtmachen wird.

Dieses Buch erzählt die Geschichte des Ruhrgebiets von 1945 bis zum »Zieljahr« 2018. Was entsteht, ist nicht etwa eine Regionalgeschichte, eng umgrenzt und abgezirkelt, denn die Entwicklung des Ruhrgebiets ist tief eingebettet in die deutsche Geschichte. Die eine geht in die andere über, ist ohne sie weder zu beschreiben noch zu analysieren.

Nach 1945 spielte das Revier in den deutschlandpolitischen Überlegungen der Siegermächte eine Schlüsselrolle. Das industrielle Potenzial sollte nie wieder für militärische Zwecke nutzbar werden. Eine Industrialisierung des Ruhrgebietes oder die Gründung eines staatlichen Gebildes mit dem Namen »Republik Rhenania« stand zur Diskussion. Daraus wurde nichts, aus politischen und strategischen Gründen. Die beiden neuen Weltmächte Amerika und die Sowjetunion, erst vereint gegen Hitlerdeutschland, entzweiten sich rasch. Eine bipolare Welt ging daraus hervor. Deutschland, verantwortlich für beispiellose Kriegs- und Menschheitsverbrechen, lag nun an der Nahtstelle zwischen Ost und West. Die Nachkriegsrepublik kam in die Gunst des Marshallplans. In erstaunlich wenigen Jahren entstand eine demokratische Marktwirtschaft, mit dem Ruhrgebiet als neuem alten Kraftzentrum.

Auch in der Europäisierung ging das Ruhrgebiet voran. Mit der Montanunion, der 1951 in Paris begründeten Europäischen Gesellschaft für Kohle und Stahl (EGKS), begann die Aussöhnung Deutschlands mit Frankreich. Darauf baute später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf, aus der sich wiederum die Europäische Union entwickelte. So nahm die Einbindung Deutschlands in supranationale Institutionen im Ruhrgebiet ihren Ausgang.

Bis 1957/58 hatte das Ruhrgebiet dem ganzen Land gegeben, was es brauchte. Seither gab das Land dem Ruhrgebiet, was das Ruhrgebiet brauchte. Mindestens 120 Milliarden Euro flossen über die Jahre dorthin. Hunderte Zechen schlossen, Hunderttausende Bergleute wurden arbeitslos oder gingen in Rente. Die korporative Marktwirtschaft war ein Akt der Großzügigkeit, aber auch der Vorsicht. Schwarze Fahnen an der Ruhr, Streiks, Demonstrationen in der Hauptstadt waren das Menetekel, das die Regierungen beachteten.

Die Zeit der Monostruktur war vorbei. Das Ruhrgebiet musste sich rasch wandeln. Es musste aufholen und zu einer Region werden wie andere Regionen. Unverschuldet lag es zurück, Bildung hatte in der Arbeitergesellschaft keine große Rolle gespielt, denn Arbeiter unter Tage und im Stahlwerk mussten nicht wesentlich mehr können als lesen und schreiben. Universitäten brüteten Aufrührer aus, die wie Marx und Engels von der Revolution träumten. Solche Menschen, hatten Bismarck und der Kaiser befunden, brauchte das Ruhrgebiet nicht. So kam es dazu, dass viel zu spät, im Jahre 1965, die erste neu gegründete Universität im Ruhrgebiet eröffnete, in Bochum. Von da an ging es Schlag auf Schlag: Dortmund, Duisburg, Essen, die erste Fernuniversität in Hagen, die erste Privatuniversität in Witten-Herdecke. Die Arbeitergesellschaft nahm ab. Die Bildungsgesellschaft nahm zu. Mehr als 260.000 Studierende hat das Ruhrgebiet heute und damit eine Zukunft.

Ich bin nicht im Ruhrgebiet geboren oder aufgewachsen. Ich schaue von außen darauf. Der Vorteil besteht darin, dass Außenstehende sich über Eigentümlichkeiten wundern, die den Innenstehenden geläufig sind. So war ich verblüfft, als ich zum ersten Mal einen seltsamen Begriff hörte, der mir nichts sagte: »Ewigkeitsschäden«. Gemeint ist damit, dass die Folgen des Bergbaus das Ruhrgebiet noch lange beschäftigen werden, weit über den 31. Dezember 2018 hinaus, eben ewig. Es geht um das Regenwasser, das von oben fällt und unablässig nach unten sickert, dabei Erze und Mineralien aufnimmt und sich unten sammelt, dort, wo die Bergleute keine Kohle mehr fördern werden. Das Regenwasser wird zum Grubenwasser, sammelt sich, wird immer mehr, steigt an, darf aber nur eine bestimmte Höhe erreichen, damit es sich nicht mit dem Grundwasser vermischt und es verdirbt. Das muss unter allen Umständen verhindert werden. Dafür wird nach dem Ende des Bergbaus ein ausgeklügeltes Pumpensystem installiert, das weit über 2019 hinaus, wenn auch Prosper-Haniel dicht ist, seine Arbeit verrichten muss.

Ich komme aus Oberfranken, einer Region, die von sterbenden Industrien gezeichnet ist. Es begann mit den Brauereien, es setzte sich fort mit den Textilien, und es hörte auf mit der Porzellan- und Glasindustrie. In der Folge zogen die Jungen weg, was blieb ihnen auch übrig. In den kleinen Städten blieben die Alten zurück. Geschäfte machten dicht, und Wohnungen standen leer. Schwund, wohin man blickt. Ein Trauerspiel.

Oberfranken ist klein, das Ruhrgebiet ist groß. Mindestens 5,1 Millionen Einwohner. Großstädte, die ineinander übergehen. An die Krise sind sie gewöhnt. Die Gründe dafür wechseln, mal waren es die Bergwerke, dann die Stahlwerke oder die Verschuldung der Kommunen oder noch höhere Arbeitslosigkeit als ohnehin schon. Immer mal stürzte das Ruhrgebiet in die Verzweiflung, aber es machte keinen Dauerzustand daraus. Mir gefällt dieser Kampfgeist, dieses Nicht-unterkriegen-Lassen, dieses Immer-wieder-Aufrappeln.

Was mir noch besser gefällt: Weil hier so lange nichts passiert ist, weil es so lange Stillstand gegeben hat, weil die Krise so heftig ausfiel, bekamen einfallsreiche Menschen die Chance, ihre Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen. Den Anfang machte Paul Mikat, ein katholisch geprägter Konservativer, Minister in einer CDU-Regierung mit unorthodoxen Ideen, der sich Bochum als Reformuniversität ausdachte und verwirklichte. Johannes Rau führte das Projekt fort und hatte als Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, der Universität auf Universität einweihte, seine vielleicht produktivste Zeit.

So ist dieses Buch in weiten Teilen eine Geschichte der Veränderer. Oft beginnen sie als Außenseiter und müssen sich zu »Innenseitern« wandeln. Den größten Raum nimmt Werner Müller ein, der schlechte Erfahrungen als Einzelgänger machte und sich langsam, aber sicher zum Netzwerker fortbildete. Fast seine gesamte Biografie rankt sich um Energie und dessen Produktion, um Kernkraft, Kohle, Öl, um Sonne und Wind. Er arbeitete in den großen Konzernen des Ruhrgebiets und kehrte nach seiner Zeit als Minister 2003 zurück nach Essen. Seither hat er das Ruhrgebiet verändert wie kaum ein anderer.

Bewundernswert finde ich auch den Stadtplaner Karl Ganser und Christoph Zöpel, den Landesminister für Stadtentwicklung. Dieses Duo lehrte das Ruhrgebiet, anders auf sich zu sehen und anders über sich zu denken. Gemeinsam verhinderten sie, dass die Zeche Zollverein abgerissen wurde, und machten daraus ein Denkmal des Industriezeitalters, das die UNESCO in ihr Weltkulturerbe aufnahm. Den Gasometer in Oberhausen und den Landschaftspark Duisburg-Nord führten sie neuen Zwecken zu. Auch der Emscher Landschaftspark geht auf die Internationale Bauausstellung zurück, die Ganser und Zöpel in das Ruhrgebiet holten, um es zu verändern. Ein Prozess, der heute noch anhält.

Die Veränderer sind immer nur wenige. Sie haben eine Idee, gewinnen dafür die Regierung, die Städte und Kommunen. Oft haben sie es leicht, erstaunlich leicht, denn ihnen schlägt zwar zuerst einmal Vorsicht entgegen, so ist das nun einmal, aber kaum bleibender Widerstand. »Ja, wenn Sie meinen«, sagte der Ministerpräsident Johannes Rau zu Karl Ganser, so erzählt er es heute, und damit war die Internationale Bauausstellung genehmigt. So können die Veränderer aus einer Trabrennbahn einen See machen, ein Stahlwerk begrünen lassen und eine Kraftzentrale in einen Ort für Konferenzen oder Popkonzerte ummodeln. Und manchmal begnügen sie sich mit einer besonderen Aktion, sperren die A 40, eine der meistbefahrenen Autobahnen Deutschlands, und stellen Tische und Bänke auf, damit das Ruhrgebiet sich selber feiern kann. Anderswo wäre so ein kollektives Happening kaum denkbar.

Veränderer graben sich besonders dann in das Gedächtnis ein, wenn sie groß denken und groß handeln. Zumeist dauert es seine Zeit, bis aus einer Idee ein Projekt und aus einem Projekt dann Wirklichkeit wird. Es kommt auch vor, dass der Prozess die Ausgangsidee verändert, aber so kann aus dem Guten oft noch etwas Besseres werden.

Dieses Buch schaut von außen auf das Ruhrgebiet und erzählt von seinen politischen, ökonomischen und kulturellen Umwälzungen. Es verbindet die Faktenerzählung mit der Personengeschichte. Die ersten beiden Kapitel legen in einem Rückblick den Grund für das Folgende. In der Geschichte der Zeche Zollverein spiegelt sich die Geschichte des Ruhrgebiets im 19. und 20. Jahrhundert. Wir kennen die Namen der großen Unternehmerfamilien: Krupp, Stinnes, Haniel, Thyssen, Huyssen, Mulvany, Grillo. Lauter Männer, eine Männerwelt. Nur ganz am Anfang, noch im 18. Jahrhundert, herrschten andere Verhältnisse. Am Anfang stehen zwei Frauen, die Fürstäbtissin des Essener Hochstiftes und die Witwe Helene Amalie Krupp. Zwei entschlossene Unternehmerinnen denken groß und handeln groß, indem sie sich in die neue Industrie einkaufen, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Sie sehen als Erste, was sich da tut, und wollen dabei sein.

Das zweite Kapitel behandelt eine Besonderheit im vorindustriellen Zeitalter, die sich später produktiv auswirkt: Der Kapitalismus, der hier entsteht, ist Familienkapitalismus. Die ersten Unternehmer kommen aus Familien, die schon im Handel ein Vermögen verdient haben, das sie einsetzen können, um Zechen und Stahlwerke zu erwerben und auszubauen. Sie sind erfahrene Geschäftsleute und können Rückschläge verkraften. Sie sind nicht nur Unternehmer, sondern auch Erfinder. Sie halten nichts von Luxus und heiraten untereinander, wie es der Adel vorgemacht hat.

Die Faktenerzählung geht mit der Gründung Bochums als Universitätsstadt in die Personengeschichte über. Dabei nehmen vier Jahre besonders viel Raum in Anspruch. In dieser Zeit verändert sich das Ruhrgebiet industriell. In den Jahren 2003 und 2007 legen Regierungen, Gewerkschaften und die RAG, in der die Ruhrgebietsbergwerke gebündelt sind, gemeinsam das Jahr 2018 als Ende des Steinkohlenzeitalters fest. Außerdem entsteht die Evonik Industries AG als neuer Konzern für Spezialchemie und als dessen Eigentümer die RAG-Stiftung. Bevor es so weit ist, spielt sich ein Drama unter den Handelnden ab, das in diesem Buch erstmals detailreich beschrieben wird.

Die Zukunft des Ruhrgebiets hängt auch davon ab, wie die beiden großen, stolzen Konzerne E.ON und RWE das Ende ihres Geschäftsmodells verkraften werden. Wenige Jahre nach dem Aus für den Bergbau wird die Frist für die Kernenergie ablaufen. Beide Konzerne haben sich durch Zellteilung damit beholfen, das Alte vom Neuen zu trennen, die Kernenergie von der regenerativen Energie. Es ist fast eine List der Geschichte, dass die »saubere« Atomenergie, die ehedem die schmutzige Kohle ersetzen sollte, bald auch der Vergangenheit angehören wird.

Natürlich leidet das Ruhrgebiet unter diesem Doppelschlag. Wie geht es ihm damit? Was wird daraus? Wie immer hängt die Einschätzung von der Perspektive ab. Wer, wie ich, die Geschichte seit 1945 in Betracht zieht, kann Hoffnung aus den gewaltigen Veränderungen schöpfen. Die Monostruktur ist in eine diversifizierte Moderne übergegangen. Der Umbruch folgte auf den Abbruch. Deshalb fällt das Narrativ dieses Buchs freundlich aus. Auf die Bildungsgesellschaft kommt es an, politisch, industriell und kulturell. Warum sollten nicht ein paar der 260.000 Studenten groß handeln und groß denken? Oder die Zugezogenen, die ihre Erfahrung und ihr Wissen mitbringen? Ja, Geduld ist nötig, um sich neu zu erfinden. Nichts geht schnell. Alles ist Mühe. Es muss nicht gut gehen, aber es kann.

Zweifellos liefert die Gegenwart genügend Gründe für Pessimismus. In einem gebeutelten Bundesland bildet das Ruhrgebiet mit seiner hohen Arbeitslosigkeit das Schlusslicht. Dort findet sich eine Unterschicht, von der nicht abzusehen ist, dass sie bald schon ihren Lebensstandard verbessern könnte. Notorisch fehlt es im Land außerdem an einem Mittelstand, der mit Bayern oder Baden-Württemberg an Zahl und Gewicht mithalten könnte. Wer diese Gegenwart linear fortschreibt, kommt zwangsläufig zu einem schwarzen Narrativ. Aber linear entwickelt sich die Geschichte eigentlich nie. Es kann schlechter werden, gewiss. Es kann sich aber auch das eine oder andere zum Besseren wenden.

Die Frage, was wird, habe ich mit vielen Gesprächspartnern auf meiner Bildungsreise durch das Ruhrgebiet hin und her gewälzt. Ich habe Politiker aller Parteien getroffen, Manager und Professoren, Zugezogene und Einheimische, Filmemacher und Schriftsteller, in Vorstandsbüros und im Café, im Fußballstadion und in Vereinsgeschäftsstellen, in Essen und Dortmund, in Düsseldorf und Berlin. Fast alle nahmen sich Zeit, weil das Ruhrgebiet sie nicht kaltlässt.

In meinen Jahren als junger Journalist bei der Zeit musste ich über viele Landtagswahlen schreiben. Auf diese Weise lernte ich fast alle Bundesländer kennen und den deutschen Föderalismus schätzen. Aufgrund unserer Geschichte gibt es viele Zentren, anders als in Großbritannien oder Frankreich. Daraus ergibt sich ein Reichtum an stolzen Städten mit eigener Geschichte und Tradition. Auch in Nordrhein-Westfalen war ich damals unterwegs, immerhin, aber für dieses Buch musste ich das Ruhrgebiet eingehend studieren, um es zu verstehen. Ich habe gelernt, was es war und was es ist, die retardierte Entwicklung durch Preußen und die Anstrengungen seit dem Ausbruch der Kohlekrise. Diese Region ist mir ans Herz gewachsen.

Von selber hätte ich nicht den Einfall gehabt, ein Buch über das Ruhrgebiet zu schreiben. An mich trat ein Freund heran, der mit dem Evonik-Konzern verbunden ist, und er fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, ein Buch im Hinblick auf das Ende der Steinkohle und den Anfang der Evonik zu schreiben. Wir waren uns einig, dass ich alle Freiheit in der Recherche und im Schreiben haben müsste. Ich hatte beides. Dafür bin ich dankbar.