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Für meine treuen Weggefährten bei den Jesus Freaks Stuttgart.

Wir sind mitten in der Geschichte, ich bin gespannt, wie sie weitergeht. Es ist mir eine Ehre, mit euch unterwegs zu sein.

Und für Caro, Tobi und Samuel:

Ich hoffe, ihr findet ein Leben lang euren Platz

an der Familientafel.

Inhalt

Einleitung

1 Der Beginn der Reise

2 Der Familienclan

3 Jubeljahr

4 Aussortieren

5 Notaufnahme

6 Ent-täuscht

7 Die Botschafter

8 Das Staunen

9 Kinder, Kinder

10 Mittendrin

11 Ganz groß

12 Platz für die Liebe

13 Eins sein

14 Der Esstisch

15 Die Nacht

16 Warten im Dunkel

17 Die Auferstehung

18 Der Ort

Epilog

Danke!

Anmerkungen und Quellenverzeichnis

Einleitung

Warum gehst du denn da noch hin?“

Diese Frage höre ich immer wieder. Sie wird mir gestellt von Freunden, die Kirche längst hinter sich gelassen haben, und manchmal auch im Kreis derer, die weiterhin Woche für Woche in eine Gemeinde oder Kirche gehen. Und oft spüre ich dahinter Frust und Enttäuschung, bei manchen auch eine große Müdigkeit. Warum tun wir uns das eigentlich noch an? Warum sollen wir da noch weiter hingehen? Man kann sich schließlich auch zu Hause auf dem Sofa eine Predigt nach Wunsch über Podcast anhören, eine Lobpreis-CD einlegen und zur Not einen Freund anrufen, um Gebet zu bekommen. Warum sich also den ganzen Stress mit der Kirche geben?

Ehrlich gesagt, frage ich mich das manchmal selbst. Wenn ich sehr entmutigt bin, dann grüble ich, ob wir eigentlich nur noch den Untergang verwalten. Ich denke darüber nach, dass die Blütezeit „meiner“ Gemeinde doch schon lange vorbei ist und wir besser den Laden dicht machen sollten (was natürlich eine totale Anmaßung bedeutet, weil es ja nicht MEIN Laden ist!). Manchmal bin ich auch einfach nur sauer auf diejenigen, die weggeblieben sind und uns mit dem ganzen Chaos alleingelassen haben. Okay, einfach weggeblieben, das ist wohl niemand. Jeder hatte seine Gründe. Da waren auch Verletzungen, da war Schuld – auch meinerseits. Angesichts der langen Geschichte der Kirche sind meine gut vierzig Jahre lächerlich wenig, aber es hat gereicht, um zu erkennen, dass Kirchengeschichte eine Segensgeschichte ist, aber immer auch eine Schuldgeschichte. So ist das wohl. Weil die Menschen, die da hingehen, so sind. Heilige und Sünder. Und deshalb weiß ich, dass es viele nachvollziehbare Gründe gibt, warum Menschen sich von der Kirche verabschieden. Dass es für manche geradezu heilsam ist, eine Zeit lang wegzubleiben oder die Gemeinde zu wechseln.

Gründe fürs Wegbleiben

Mein Freundeskreis besteht zu einem großen Teil aus Leuten, die erst mal oder endgültig, nicht mehr „da hingehen“. Und jeder hat seine Gründe. Manche sind enttäuscht von den Leuten und tragen schmerzhafte Verletzungen mit sich. Manche sind enttäuscht von Gott und finden in der Kirche keinen Raum für ihre Fragen und Zweifel. Einigen ist die Gemeindestruktur zu hierarchisch und festgefahren. Manche haben im Lauf ihres Lebens andere Prioritäten gesetzt: Der Gottesdienst beugt sich der Konkurrenz von schönem Wetter, Sport und Playdates der Kinder oder Tante Ernas Geburtstag. Andere sind beruflich oder durch die sozialen Netzwerke mit so vielen Menschen verbunden, dass sie einfach keinen Bedarf haben, am Sonntag noch mal einer neuen Gruppe von Menschen zu begegnen. Und viele können sich schlicht nicht mehr aufraffen, sich Kirche weiter anzutun. Irgendwann hat man scheinbar alle guten Predigten gehört. Irgendwann sind wiederkehrende Konflikte nur noch zermürbend und man will sich nicht den Rest des Lebens mit einer Gruppe von Leuten rumschlagen, deren theologische Meinung und Weltsicht sich stark von der eigenen unterscheidet.

Gleichzeitig spüre ich aber bei vielen eine starke Sehnsucht nach ehrlichen und tiefen Gemeinschaften, nach Orten der Gnade, an denen wir angenommen werden, so wie wir sind. Orten, an denen wir unsere Zweifel äußern und uns gegenseitig unterstützen und lieben können. Aber die Kirche scheint für viele nicht mehr der Ort zu sein, an dem sie diese Sehnsucht stillen können. Meine Freundin Veronika Smoor hat in ihrem Buch „Heiliger Alltag“ darüber Folgendes geschrieben: „Leider ist Gemeinde momentan der Ort, an dem ich mich am wenigsten lebendig fühle. Ich habe keine Ahnung, wie ich meine Gemeindemüdigkeit bekämpfen kann oder ob ich sie überhaupt bekämpfen soll. Da sind noch so viele Fragen offen, die ich immer wieder Gott hinhalte. Das Feuer ist aus. Obwohl ich es mir wirklich, wirklich anders wünsche.“1

Unter den ganzen Gründen, warum man da nicht mehr hingeht, ist der Grund „weil es der Ort ist, an dem ich mich am wenigsten lebendig fühle“ ein besonders trauriger. Und irgendetwas in diesem Satz findet ein Echo in meiner eigenen Seele. Ich weiß genau, was sie damit meint. Manchmal ist Gemeinde für mich auch der Ort, der mich nicht lebendig, sondern total fertig macht.

Das Baby, das es zu schaukeln gilt

Aber es ist nicht immer so. Tatsache ist, dass ich die Gemeinde liebe – und das ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn man darüber ein Buch schreiben will. Es gibt in meinem Leben nur Weniges, bei dem mich so die Leidenschaft packt, wenn ich darüber rede. Wahrscheinlich kann ich es auf genau drei „Dinge“ reduzieren (meine Begeisterung für Achtziger-Jahre-Tanzfilme, gutes Essen und Kaffee am Morgen mal ausgenommen): auf Jesus, meine Familie und die Gemeinde. Alle drei machen mich zeitweise ganz schön fertig, aber ich bin auch total überwältigt von ihrer Schönheit. Sie gehören zur größten Herausforderung, aber auch zum größten Segen in meinem Leben.

Nachdem ich schon ein Buch über Jesus und meine Familie geschrieben habe, ist dieses Buch einfach der nächste logische Schritt (womit ich dann auch erst mal alle meine wichtigen Themen verbrannt hätte). Allerdings halte ich dieses Thema noch voller Zweifel in meinen Armen. Ein bisschen so, wie ich meinen kleinen Sohn gehalten habe, als er mir zum ersten Mal kurz nach der Geburt in die Arme gelegt wurde. Ich hatte die romantisch-mütterliche Vorstellung, dass wir von Anfang an diese innige, vertraute Bindung haben würden. Aber dieser kleine Mensch war mir erst mal total fremd. Er schaute mich mit so einem ernsten und besorgten Blick an, dass ich meinte darin zu lesen: „Du willst dich um mich kümmern? Bist du dir sicher, dass du das drauf hast? Hast du in deiner Ausbildung beim Thema Kinderpflege auch aufgepasst? Ich weiß nicht recht. Ich bin kein einfaches Kind, hast du dir das auch gut überlegt?“ Könnte mich dieses Buchthema anschauen, ich bin sicher, es würde mich mehr als besorgt mustern: „Was denn, ist das dein Ernst? Du willst dich um mich kümmern? Ich bin kein einfaches Thema. Hast du wenigstens eine solide, fundierte theologische Ausbildung? Nein? Na prima! Hallo, hört mich jemand?! Ich will zu einem anderen Autor!“

So ungefähr stelle ich mir das vor. Und es ist wahr: Das Thema überfordert mich tatsächlich. Bevor ich richtig angefangen habe, bin ich schon total ins Stocken gekommen. Normalerweise passiert mir das erst, wenn ich mittendrin stecke. Aber dieses Mal hatte ich die Schreibblockade schon, bevor ich überhaupt angefangen habe zu schreiben. Über einen längeren Zeitraum hab ich versucht, alle meine Erfahrung und Gedanken über Gemeinde zu sammeln, aber ich habe einfach keinen roten Faden gefunden. Eigentlich wollte ich das ganze Projekt absagen. Und genau an dem Tag lag er dann plötzlich vor mir, der rote Faden in der Geschichte der Kirche: Es ist – JESUS! Ich weiß: hundert Punkte für diese offensichtliche Antwort. Klar, er ist derjenige, der das Ganze gestartet hat, er hat ein paar Leute um sich gesammelt und zu seinen Nachfolgern gemacht. Und genau das bin ich auch. Ich folge dem Rabbi aus Nazareth, meinem Erlöser. Wenn ich die Evangelien lese, dann merke ich immer wieder: Hier findet nicht nur die Geschichte der zwölf Jünger mit Jesus statt, sondern es ist auch meine Geschichte – nein: Es ist UNSERE Geschichte, wenn wir heute mit Jesus unterwegs sind. Er ruft uns zu sich und wir versuchen, von ihm zu lernen. Er schickt uns los, um Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben, während wir noch mit unseren eigenen Dämonen kämpfen. Wir erleben Stürme und Todesangst und fragen uns, ob Jesus schläft. Wir feiern große Momente zusammen und dann streiten wir wieder und haben keinen Bock, einander die Füße zu waschen. Wir erleben unser Scheitern und Versagen und sitzen gemeinsam im Dunkeln und warten auf die Auferstehung.

Eine Revolution?

C. K. Chesterton schreibt: „Das Christentum hatte eine ganze Serie von Revolutionen und in jeder von ihnen starb die Christenheit. Sie starb viele Male und erlebte ihre Auferstehung, denn sie hat einen Gott, der den Weg aus dem Grab kennt.“2

Vielleicht erleben wir gerade ein wenig von dieser Revolution. Wir hinterfragen Dinge und Abläufe, die über Generationen selbstverständlich waren. Manches kann im Feuer landen und sterben und manches Gold werden wir aus dem Feuer ziehen. Vielleicht ist es für einige von uns wichtig, eine Zeit lang ein paar Schritte zurückzutreten – von der Kirche und allem, was dazu gehört – um einen klaren Kopf zu bekommen, um die Kirche neu zu verstehen und lieben zu lernen. Andere von uns stürzen sich aus verzweifelter Liebe Hals über Kopf in die Sache und stochern im Feuer nach dem Gold. Egal, was wir tun: Am Ende ist das Wichtigste, dass wir den nicht aus den Augen lassen, der den Weg aus dem Grab kennt.

Also will ich versuchen, das Baby zu schaukeln. Ich schreibe das Buch. Ich schreibe es für alle, die ihre Kirche lieben und sich Woche für Woche die Hände dreckig machen und hoffen, dass es die Sache wert ist. Und ich schreibe auch für meine Freunde, die ein paar Schritte zurückgetreten sind von allem, was mit Kirche zu tun hat, die einen klaren Kopf brauchen und die Vergangenes ins Feuer schmeißen. Vielleicht findet ihr hier einige von den Schätzen, die so ein Feuer überstehen könnten. Und ich schreibe vor allem für mich. Weil ich mich selbst, Seite für Seite, davon überzeugen will, warum ich da noch hingehe.

1 Der Beginn der Reise

Identität. Das ist immer Gottes erster Schritt. Noch bevor wir irgendetwas falsch oder richtig machen, hat Gott uns schon die Seinen genannt und seine Hand auf uns gelegt.

Nadia Bolz-Weber3

Komm und sieh!

„Am folgenden Tag wollte er [Jesus] nach Galiläa aufbrechen, und er findet Philippus; und Jesus spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war von Betsaida, aus der Stadt des Andreas und Petrus. Philippus findet den Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz geschrieben und die Propheten, Jesus, den Sohn des Josef, von Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Aus Nazareth kann etwas Gutes kommen? Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh! Jesus sah den Nathanael zu sich kommen und spricht von ihm: Siehe, wahrhaftig ein Israelit in dem kein Trug ist! Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. Nathanael antwortete und sprach: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels.“

Johannes 1,43–49

Unterm Feigenbaum

Kein schlechter Start für einen Rabbi: Nach seiner Taufe laufen ihm zuerst zwei Jünger von Johannes neugierig hinterher und entscheiden, dass sie eben mal zu ihm überlaufen werden. Andreas holt seinen Bruder Petrus dazu, Jesus beruft Philippus und der schleppt wiederum seinen Kumpel Nathanael an. Der stellt sich erst noch etwas bockig an, kommt fast nicht über die Tatsache hinweg, dass Jesus aus dem beschaulich-gewöhnlichen Nazareth kommt. Und dann erfährt er durch ein Schlüsselerlebnis: Jesus kennt mich. Er sah mich schon unter dem Feigenbaum sitzen. Dieser einfache Satz von Jesus hat etwas tief in ihm berührt. Es war genau der Satz, den er hören musste, um von einem zweifelnden Beobachter zu einem überwältigten Nachfolger zu werden. Jesus, der Menschenflüsterer. Ich habe mich schon öfter gefragt, was es mit diesem Feigenbaum auf sich hatte. Vielleicht saß Nathanel tatsächlich vorher unter so einem Baum. Vielleicht war es aber auch der Hinweis auf einen Vers aus den Schriften, der ihm wichtig war und in dem die Einladung unter einen Feigenbaum mit der Ankunft des Messias in Zusammenhang gebracht wird (Sacharja 3,8–10). Oder Jesus hat einfach auf Nathanaels fromme Kindheit angespielt. Ich habe davon gehört, dass die jüdischen Kinder oft unterm Feigenbaum zusammensaßen, um aus den Schriften zu hören und die Geschichte des Volkes Israels zu lernen. In jedem Fall hat die Bemerkung Nathanel gereicht, um zu erkennen: Jesus sieht mich. Und er hat die gewaltige Einsicht: Du bist der Messias, der König Israels, auf den wir schon so lange warten! Und hier begann seine Nachfolge. Seine Geschichte mit Jesus.

Ich möchte euch erzählen, wo ich unter dem Feigenbaum saß und zum ersten Mal von Jesus hörte. Eigentlich begann meine Geschichte, bevor ich überhaupt da war. Unsere Geschichten wurzeln immer in den Geschichten anderer. Mein Weg mit der Kirche begann wohl bei meiner geliebten Oma. Sie hatte im Krieg ihren Mann und ihren ältesten Sohn verloren und die Folge war, dass die junge Witwe, die vorher kaum in die Kirche gegangen war, sich von nun an jeden Sonntag dorthin aufmachte. Sie ging auch in „die Stund“, wie man das damals nannte: eine Bibelstunde der „Hahn’schen Gemeinschaft“, einer Versammlungsbewegung des schwäbischen Pietismus. Am „Brudertisch“ wurde Gottes Wort gelesen und meine Oma saß aufmerksam dabei und öffnete ihr Herz für Gott. Neben ihr saß meine Mutter. Durch die Entscheidung meiner Oma, dass die Kirche und der Glaube nun Teil ihres Lebens waren, wuchs nun auch meine Mutter dort auf. Sie hörte von Jesus und entschied sich, ihm nachzufolgen. Ich kann das nur holzschnittartig skizzieren. Natürlich sind die Geschichten viel komplexer und sie müssten ausführlicher erzählt werden. Aber hier kann ich nur andeuten, wo meine Wurzeln liegen. Mein Vater, dessen Eltern auch „Kirchenleute“ waren, hatte genauso seinen Platz in der Kirche gefunden, und irgendwann trafen sich die Blicke meiner Eltern und es war um sie geschehen. Zumindest stelle ich mir das so vor. Und dann kam ich. Nein. Zuerst kam meine Schwester, die einige Tage nach der Geburt starb. Sie wurde kirchlich beerdigt und der kleine Sarg wurde unter großem Schmerz und mit dem Predigtwort „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen – der Name des Herrn sei gelobt“ in die Erde versenkt. Danach kam eine weitere Tochter, meine große Schwester, und dann war ich an der Reihe. Kaum angekommen, wurde ich über das Taufbecken gehalten, begleitet von dem Jesajawort, das über so vielen kleinen Kindern gesprochen wird: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.“ Gott streckte seine Hand nach mir aus. Er spricht immer das erste Wort in unserem Leben. Immer. Und dieses Wort wird voller Liebe gesprochen. In meinem Fall kam es aus dem Mund eines evangelischen Pfarrers im Schwarzwald.

So wurde ich in die Kirche hineingeboren. Sie umarmte mich und nahm mich unter ihre Fittiche. Auf ihrem Schoß staunte ich über Geschichten von der Arche Noah und von Jona, der im Wal landete. Sie lehrte mich, dass ein Eskimo auf Mokassins durch den Wald schleicht, dass ein lebendiger Fisch gegen den Strom schwimmt und dass Gottes Liebe wie Gras und Ufer ist (was ich bis heute nicht verstanden habe!). Die Kirche, das war der Ort, an dem wir unsere Lieder sangen, Freunde trafen, miteinander stritten und feierten – es war einfach der Ort, wo wir hingehörten. Und hier hörten wir von Jesus, der uns immer lieb hat und allen Schaden wiedergutmachen kann.

Jesus in meiner kleinen Subkultur

Ich erlebte auch, dass wir uns umeinander kümmern und uns den Schwachen annehmen sollen. Seit ich denken kann, und bis zu seiner schweren Erkrankung, hat mein Vater den „Kassettendienst“ in unserer Gemeinde übernommen. (Für alle jüngeren Leser: Dabei handelte es sich um einen Live-Mitschnitt der Predigt auf Band, damit die Kranken, die nicht zum Gottesdienst kommen konnten, die Predigt zu Hause auf ihrem Rekorder hören konnten – die Mutter des Podcasts also!) Ich sehe meinen Vater noch vor mir, diesen großen Mann, wie er kurz vor dem Glockenläuten mit seinen weit ausholenden Schritten zur Sakristei lief, dem kleinen kalten Raum neben dem Hauptschiff der Kirche, um von dort aus die Predigt aufzunehmen. Hier hatte mein Vater, dem größere Menschenansammlungen Probleme machten, seinen Platz gefunden. Es war sein Dienst für die Kirche. Am Ende seines Lebens wurden seine Schritte durch die Erkrankung kleiner und stockender. Aber solange er gehen konnte, führte ihn sonntagmorgens sein Weg in die Sakristei. Als Kinder durften meine Schwester und ich ihn ab und zu begleiten. Wir saßen zitternd vor Kälte neben unserem Papa und ich liebte jede Minute. Ich blickte auf die Stecker und Kabel und fühlte mich wie auf einer wichtigen, geheimen Mission. Sobald ich sicher mit dem Fahrrad unterwegs war, wurde ich montags, oft zusammen mit meiner Schwester, losgeschickt, um den kranken und alten Menschen unserer Gemeinde die Kassetten zu bringen. Sie gehörten eben auch dazu, genauso wie die ältere, allein lebende Bäuerin, die jeden Sonntag nach der Kirche zum Essen kam oder die alleinstehende Verwandte, mit der wir immer zusammen Weihnachten feierten. Ich ging mit meiner Schwester in die Jungschar und später in den Mädchenkreis und den Sommer verbrachten wir oft mit unseren Freundinnen auf einer Freizeit vom evangelischen Jugendwerk.

Die Kirche war für mich also immer mehr als nur ein Gottesdienst, zu dem ich gehe. Mein Glaube war auch eine kleine Subkultur, zu der ich mich zugehörig fühlte. Und Gott gehörte zu uns. Wenn es mir auch nicht wirklich bewusst war, glaubte ich doch irgendwie, dass er so denkt und handelt wie wir. Und bestimmt sah er auch so ähnlich aus. Jesus war auf jeden Fall evangelisch. Und ein weißer Europäer. Ich muss jetzt immer ein bisschen lächeln über die bayerischen Altarbilder und die Art und Weise, wie das Jesuskind darauf abgebildet ist. Schau her, denke ich mir heute: der Herr Jesus aus Oberammergau. Eine Zeit lang fand ich das blöd und hätte mir gewünscht, dass das Jesuskind mal asiatisch oder wenigstens jüdisch aussieht. Aber inzwischen denke ich, dass es doch eigentlich genau so richtig ist: Egal, auf welchem Teil der Erde und in welcher Subkultur wir aufwachsen: Jesus kommt in unsere Welt. In unsere Kultur. Das ist Teil der Menschwerdung Gottes. Aber er lässt sich nicht von uns vereinnahmen. Er ist der Nazarener, aber er ist auch der Sohn Gottes. Wir sollten uns das immer bewusst machen. Jesus ist nicht evangelikal oder liberal. Er ist nicht schwarz oder weiß. Er kommt zu uns und er kommt auch zu dem, der ganz anders ist. (Wie viel Leid hätten wir in der Geschichte der Kirche verhindert, wenn wir dem Evangelium nicht eine dominante Kultur und Weltansicht mit untergeschoben hätten!)

Brian McLaren schreibt, dass unser größtes Problem nicht unsere Unterschiedlichkeit ist, sondern, dass wir um unseren Glauben eine Identität bauen, mit der wir uns von anderen abgrenzen und klar sagen: Die gehören nicht dazu. Und solche Menschen gab es auch bei uns. Eine meiner besten Freundinnen war katholisch. Unser Dorf war vor allem evangelisch und so gehörte sie zu den wenigen Kindern, die sich, zusammen mit den einsamen Katholiken aus der Parallelklasse, zu einem extra Religionsunterricht trafen. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum wir nicht einfach zusammen von Gott hören konnten. Katholisch – das war eben schon ein bisschen anders, so anders, dass ich daran zweifelte, ob das noch in Ordnung war. Und auch bei manchem anderen blieben wir besser getrennt. Bei einem Tanzkurz wollte ich lieber nicht mitmachen. „Das Bein, das sich zum Tanze hebt, wird im Himmel abgesägt!“ war ein Spruch der Alten, bei dem wir zwar lachen mussten – aber sicher war sicher. Einbeinig im Himmel war ja auch keine tolle Perspektive. Weltliche Rockmusik schien im Himmel auch eher nicht gespielt zu werden, und so hörte ich Jerusalem statt ACDC – was vielleicht tatsächlich die bessere Wahl war.

Segen und Schaden der Geschichte

Und das ist auch eine der Sachen, die ich der Kirche übelnehme: Dass sie mich wie die übervorsichtige Zofe einer kleinen Prinzessin in dem Wissen aufgezogen hat: Wir sind anders. Manches machen wir einfach nicht. Du gehörst nicht dazu. Wir sind nicht von dieser Welt. Und all das, bevor ich den Geschmack der Welt selbst entdecken konnte. Bevor ich spüren konnte: Ich bin hier, gemeinsam mit allen anderen. Wir gehören zusammen! Wir fluchen und schimpfen, wenn wir uns im Dunkeln den kleinen Zeh anschlagen, wir streiten über Kleinigkeiten, wir müssen manchmal über die blödesten Dinge lachen, wir haben Heißhunger auf alles, was uns dick macht, und wir haben Heißhunger danach, geliebt zu werden, wenn wir im Dunkeln fluchen. Wir sind Menschen, und diese Welt ist keine Vertröstung auf den Himmel, sondern sie ist tatsächlich für uns gemacht! Wir können atemberaubend Schönes in ihr entdecken, wir können voller Freude über die Stoppelfelder rennen, bis wir lachend und stolpernd im Gras liegen und den satten Duft der braunen Erde riechen. Unserer Erde. Für uns geschaffen. Und genauso erleben wir, dass Kindersärge in diese Erde gelassen werden, dass angstvolle Gebete zum Himmel aufsteigen, dass wir einander Schmerzen zufügen und einander ausschließen, dass wir uns anders fühlen und dass manche Kinder nie wirklich mitspielen dürfen.

Ich glaube, es ist wichtig, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen. Dankbar und bewusst das Gute wahrzunehmen, das hoffentlich immer noch weiterwächst und in unserem Leben gute Früchte bringt. Aber es ist auch gut, den Schaden anzuschauen. In manchen Bereichen erleben wir vielleicht Heilung, anderes begleitet uns wie ein dauerhaftes Hinken. Ich glaube, mein Schaden ist, dass ich mich immer anders fühlen werde und dass es mir schwerfällt, mich mit Menschen, die Jesus nicht nachfolgen, auf einer tiefen Ebene zu verbinden. Und dann gibt es noch die frommen Sprüche und manche Sätze, bei denen ich merke: Die kann ich einfach nicht mehr hören. Geht nicht mehr. Da muss ich innerlich ganz schnell die Straßenseite wechseln, bevor ich in eine Schlägerei gerate. Wenn zum Beispiel das Evangelium als „Droh-Botschaft“ herhalten muss, wenn leichtfertig über Fremdes geurteilt und mit frommen Floskeln über tiefe Nöte hinweggegangen wird. Außer­dem wünschte ich mir, ich hätte manche Antworten nicht schon VOR den Fragen bekommen. Vielleicht war das Problem gar nicht die Antwort an sich, sondern dass sie schon so fertig daherkam. Es war ein bisschen so, als würde ich mit meinem kleinen Sohn zu Ikea nach Ludwigsburg-Nord fahren (der liegt gleich bei uns um die Ecke – Glück muss man haben!), ihm ein paar Köttbullar auf den Teller legen und ihm sagen: „Das ist Schweden!“ Aber Schweden ist noch viel mehr: Schweden sind kalte und dunkle Nächte, wilde Landschaften und endlose Fahrbahnen, Elchjagd und heiße Suppe, einsame Seen, die man auf Kanus durchqueren kann. Schweden ist so viel mehr als ein Kloß auf dem Teller bei Ikea. Ich habe mehrere Sommer und einen ganzen Winter dort verbracht. Deshalb weiß ich das. Und – das sage ich jetzt nicht anklagend, weil ich selbst nicht weiß, ob ich es bei meinem Sohn besser hinbekomme – wäre es nicht toll, wenn wir in unseren Kirchen die Glaubenswahrheiten nicht als Fertigessen serviert bekämen, sondern wie kleine Appetitanreger? Wie Postkarten, die Fernweh und zugleich Heimweh in uns auslösen, Hinweise auf ein fernes Leuchten, das uns ermuntert, uns mit klopfendem und fragendem Herzen und erwartungsfrohem Blick auf den Weg zu machen. Hinein in unser eigenes Abenteuer.

Gott sei Dank, dass er mich an die Hand genommen und durch manche holprigen Strecken auf die Reise geschickt hat. Der Nazarener war da. Er begegnete mir in meinen innigen und einfachen Kindergebeten, in der friedlichen Umarmung meiner Oma, in den segnenden Händen meiner Mutter, in den treuen Handgriffen meines Vaters, in jeder liebevollen Begegnung und in jedem barmherzigen „Du gehörst dazu!“. Wenn ich heute meinem kleinen Sohn aus der Kinderbibel vorlese, dann verliere ich mich in den vertrauten Bildern und kann den Blick kaum von der hellen, freundlichen Gestalt abwenden, in der ich zuerst „meinen Jesus“ entdeckt habe. Ich durfte kommen und sehen. Hören und schmecken. Bis heute verbindet sich der Geschmack von Omas Eukalyptusbonbons mit den wärmenden Strahlen, die durchs bunte Kirchenfenster fielen. Das war mein Feigenbaum, unter dem ich von Jesus lernen durfte. Im Schoß der Kirche habe ich den Messias kennengelernt. Und dafür bin ich ihr ewig dankbar.