Durch die ruhelosen Bewegungen seines Schlafgenossen geweckt, gähnte Simon Wolfgard, rollte sich auf seinen Bauch und beobachtete Meg Corbyn. Sie hatte den Großteil der Decke von sich geworfen, was nicht gut war, da sie kein Fell besaß und sich so eine Erkältung einfangen könnte. Für einen Wolf der Terra Indigene bedeutete einfangen, dass man etwas haben wollte, und ihm fiel kein einziger Grund dafür ein, warum ein Mensch eine Erkältung haben wollte, doch offensichtlich wollten die Menschen sie und konnten sich bei kaltem Wetter erkälten. Und sogar in den letzten Tagen des Febros war es in der nordöstlichen Region von Thaisia noch reichlich kalt gewesen. Andererseits, wenn sie langsam zu frösteln begann, würde sie sich näher an ihn herankuscheln, was vernünftig war, da er ein hervorragendes Winterfell besaß und als Wolf die Nähe liebte.
Hätte man ihm vor wenigen Wochen noch gesagt, dass er sich mit einem menschlichen Weibchen anfreunden und sich so sehr um sie sorgen würde, dass er sie nachts behüten würde, dann hätte er sich den Schwanz abgelacht. Doch hier war er nun, in Megs Wohnung im Grünen Komplex, während sein Neffe Sam mit seinem Vater Elliot im Wolfgard-Komplex blieb. Vor dem Angriff auf den Lakeside-Courtyard, der Anfang des Monats stattgefunden hatte, hatten Sam und er sich immer gemeinsam an Meg gekuschelt, um ein Nickerchen zu machen oder sogar die komplette Nacht durchzuschlafen. Doch es war viel passiert in der Nacht, in der Fremde gekommen waren, um Meg und Sam zu entführen. Zum einen wäre Meg fast dabei gestorben, als sie Sam vor den Männern rettete. Zum anderen war auf dem Weg ins Krankenhaus etwas mit ihm geschehen, was ihn extremen Zorn hatte spüren lassen. Er hatte eine vage Vermutung, was passiert sein konnte, weshalb Sam, der noch ein Welpe war und keine Selbstbeherrschung besaß, nicht mehr bei ihm schlafen durfte, wann immer er sich neben Meg zusammenrollte.
Meg sagte den Menschen immer, sie wäre einhundertundsechzig Zentimeter groß, da sie fand, dass sie dadurch größer klang, als wenn sie von einem Meter soundsoviel sprechen würde. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, hatte seltsames orangefarbenes Haar, das langsam in seinem natürlichen Schwarz nachwuchs, klare graue Augen wie einige der Wölfe und schöne Haut. Seltsame und zerbrechliche Haut, die viel zu leicht vernarbte.
Sie war eine Cassandra Sangue, eine Blutprophetin – eine Frau, die Visionen sah und Prophezeiungen sprach, wann immer ihr in die Haut geschnitten wurde. Ob es sich um einen geplanten Schnitt mit ihrem speziellen Rasiermesser oder um eine klaffende Wunde durch einen spitzen Felsen handelte, war dabei gleich – sie sah, was in der Zukunft geschehen könnte.
Die Sanguinati nannten Frauen wie Meg auch süßes Blut, da sie sich selbst als Erwachsene die Süße des kindlichen Herzens bewahrten. Und es war genau diese Süße in Kombination mit ihrem Blut voller Visionen, die sie nicht als Beute kennzeichneten. Es machte sie zu einer Schöpfung Namids, wunderbar und schrecklich zugleich. Vielleicht machte es sie sogar zu etwas noch viel Schrecklicherem, als die Terra Indigene jemals gedacht hätten.
Doch er würde mit all dem Schrecklichen fertigwerden, wenn es nötig war. Denn im Augenblick war Meg für ihn bloß Meg, die menschliche Verbindungsperson des Courtyards und seine Freundin.
Sie begann, Geräusche von sich zu geben und mit ihren Beinen zu strampeln, als würde sie vor etwas davonlaufen.
<Meg?> Sie konnte die Sprache der Terra Indigene zwar nicht verstehen, dennoch versuche er es, da er nicht glaubte, dass es ein guter Jagdtraum war. Vor allem, da er den Geruch nach Furcht bei ihr wahrnahm. <Meg?>
Um sie zu wecken, presste er seine Nase unter ihr Ohr.
Im Traum hörte Meg das Monster näher und näher kommen. Ein vertrautes Geräusch, das durch das Wissen um die Zerstörung, die es hinterlassen würde, entsetzlich klang. Sie versuchte eine Warnung auszustoßen, versuchte um Hilfe zu schreien, versuchte vor den grausamen Bildern zu fliehen, die ihren Verstand füllten.
Als etwas sie unter ihrem Ohr berührte, schlug sie wild um sich, schrie und trat so hart sie nur konnte. Ihr Fuß stieß gegen etwas. Erschrocken trat sie erneut zu.
Auf den Tritt folgte ein lautes Winseln und ein dumpfes Geräusch, das sie hochschrecken und das Licht anmachen ließ.
Sie atmete schwer und spürte, wie ihr Pulsschlag in ihren Ohren hämmerte. Zuerst bemerkte sie, dass der Nachttisch noch immer so aussah, wie sie ihn von vor dem Einschlafen in Erinnerung hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass der kleine Wecker neben der Lampe nun drei Uhr anzeigte. Durch das Altbekannte beruhigt, sah sie sich um.
Sie befand sich nicht in der sterilen Zelle einer Anlage, die von einem Mann geführt wurde, der ihr zwecks seines eigenen Profits in die Haut schnitt. Sie war in ihrem eigenen Schlafzimmer, in ihrer eigenen Wohnung auf dem Lakeside-Courtyard. Und sie war allein.
Doch sie war nicht allein gewesen, als sie vor wenigen Stunden das Licht ausgeschaltet hatte. Als sie schlafen gegangen war, hatte es sich ein großer, pelziger Wolf neben ihr bequem gemacht.
Sie packte so viele Decken wie es ihr möglich war und zog diese bis zu ihrem Kinn hoch, ehe sie leise flüsterte: »Simon?«
Ein Grunzen ertönte, das vom Boden auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes zu kommen schien. Dann schob sich ein menschlicher Kopf in ihr Sichtfeld und Simon Wolfgard starrte sie aus seinen bernsteinfarbenen Augen an, in denen rote Funken aufflackerten – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie ihn verärgert hatte.
»Bist du jetzt wach, ja?«, knurrte er.
»Ja«, erwiderte sie kleinlaut.
»Gut.«
Sie erhaschte einen Blick auf seine schlanken Muskeln und nackte Haut, bevor er zu ihr unter die Decke kletterte. Sie wandte sich mit klopfendem Herzen von ihm ab und verspürte dabei eine andersartige Angst.
Er befand sich nie in seiner menschlichen Gestalt, wenn er neben ihr schlief. Was hatte es also zu bedeuten, dass er nun menschlich war? Wollte er … Sex? Sie war nicht … Sie hat nicht … Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie mit … Aber was, wenn er erwartete …?
»S-Simon?« Ein Zittern lag in ihrer Stimme.
»Meg?« Ein Knurren schwang in seiner Stimme mit.
»Du bist kein Wolf.«
»Ich bin immer ein Wolf.«
»Aber du bist kein pelziger Wolf.«
»Nein, bin ich nicht. Und du nimmst die Decken in Beschlag.« Er griff nach den Decken, die sie noch immer fest umklammert hielt, und zerrte daran.
Sie purzelte gegen ihn. Noch bevor sie sich entscheiden konnte, was sie tun sollte, lagen die Decken um sie beide herum und Simon hielt sie zwischen seinem Körper und dem Bett gefangen.
»Hör auf, dich zu winden«, schnappte er. »Wenn ich wegen dir noch mehr blaue Flecken bekomme, dann werde ich dich beißen.«
Sie hörte auf, sich zu wehren, doch nicht, weil er ihr damit gedroht hatte, sie zu beißen. Prophezeiungen und Visionen schwammen in ihrem Blut, und ein Schnitt in ihrer Haut würde sie befreien. Simon wusste das, weshalb er sie nie verletzen würde. Doch in den vergangenen paar Wochen hatte er herausgefunden, wie man sie durch ihre Kleider hindurch fest genug zwicken konnte, sodass es zwar wehtat, ihre Haut allerdings nicht beschädigte – eine Wolfsdisziplin, perfekt an den Umgang mit Menschen wie ihr angepasst.
Sie war vor sieben Wochen in den Lakeside-Courtyard gestolpert, halb erfroren und auf der Suche nach einer Beschäftigung. In den ersten Tagen hatte Simon regelmäßig damit gedroht, sie zu verspeisen, was nicht seinem regulären Umgang mit seinen Mitarbeitern entsprach, da die meisten vermutlich sofort ihre Kündigung geschrieben hätten und davongelaufen wären. Als die Anderen jedoch herausfanden, dass sie eine Blutprophetin auf der Flucht vor dem Mann war, der sie als sein Eigentum betrachtete, hatten sie sie wie eine der ihren behandelt. Und sie wie eine der ihren zu beschützen, besonders nachdem sie im Eis eingebrochen und fast ertrunken war, während sie einen Angreifer von Simons Neffen Sam wegzulocken versuchte. Das war auch der Grund, weshalb sich Simon seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus jeden Abend schützend zu ihr legte.
Sie würde sich weniger über den Mangel an nächtlicher Privatsphäre ärgern, wenn dieser pelzige, wärmende Körper nicht so einen großen Unterschied machen würde.
War das der Grund, weshalb es in ihrer Wohnung immer so kühl war – damit sie sich nicht aufregte, wenn sich Simon zu ihr legte? Normalerweise hätte sie keinen Wirbel darum gemacht, da er ein Wolf war. Aber jetzt war er nicht in seiner Wolfsgestalt und Simon in seinem menschlichen Körper neben sich liegen zu haben, fühlte sich … anders an. Verwirrend. In einer Weise bedrohlich, die sie sich selbst nicht erklären konnte.
Pelzig oder nicht, er hielt sie trotzdem warm und tat schließlich nichts, und da es noch zu früh war, um aufzustehen, war dies etwas, worüber sie immer noch morgen … nachdenken ... konnte.
Sie glitt wieder in den Schlaf, als Simon sie leicht anstieß und sagte: »Was hat dich so verängstigt?«
Sie hätte wissen müssen, dass er das Thema nicht auf sich beruhen lassen würde. Und vielleicht war es auch besser so. Ihre Fähigkeiten als Blutprophetin hatten sich verändert, seit ihr die Flucht gelungen war und sie mit den Anderen zusammenlebte. Sie war nun weitaus empfindlicher, sodass sie nicht mehr zwangsläufig einen Schnitt brauchte, um Visionen zu sehen – besonders, wenn diese sie in irgendeiner Weise selbst betrafen.
Die Bilder verblassten bereits. Sie wusste, dass es Dinge aus ihrem Traum gab, die sie jetzt schon nicht mehr abrufen konnte. Würde sie sich am Morgen überhaupt noch an etwas erinnern? Und doch ließ der Gedanke, sich den Traum wieder ins Gedächtnis rufen zu müssen, sie erschaudern.
»Es war nichts«, sagte sie und wollte ihren eigenen Worten Glauben schenken. »Bloß ein Traum.« Selbst Blutprophetinnen hatten gewöhnliche Träume. Oder?
»Er hat dir eine solche Angst eingejagt, dass du mich aus dem Bett getreten hast. Das ist nicht nichts, Meg.« Simon zog sie fester in seine Arme. »Und nur, damit du es weißt – du magst zwar klein sein, aber du trittst wie ein Elch. Davon werde ich auch den anderen Wölfen berichten.«
Großartig. Genau das, was sie brauchte. Jap, das ist unsere Verbindungsperson. Meg Elchtritt.
Doch der dominante Wolf und Leiter des Courtyards wartete auf eine Antwort.
»Ich habe ein Geräusch gehört«, sagte sie leise. »Eigentlich sollte ich wissen, was es war, aber ich kann es nicht genau bestimmen.«
»Ein Geräusch aus deinem Unterricht?«, fragte er sie ebenso leise und bezog sich damit auf den Unterricht, den sie in der Anlage erhalten hatte, um erkennen zu können, was sie in ihren Prophezeiungen sah oder hörte.
»Aus dem Unterricht«, stimmte sie zu. »Aber auch von hier. Es ist kein einzelnes Geräusch, sondern mehrere Dinge, die zusammengenommen eine eigene Bedeutung haben.«
Es herrschte einen Moment lang nachdenkliches Schweigen. »In Ordnung. Was sonst noch?«
Sie erschauerte. Daraufhin schmiegte er sich an sie, sodass sie sich sogleich wärmer fühlte. Sicherer.
»Blut«, flüsterte sie. »Es war Winter. Der Boden war schneebedeckt und dieser Schnee mit Blut bespritzt. Und ich sah Federn.« Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. »Deshalb habe ich versucht zu schreien, versuchte jemanden zum Zuhören zu bewegen. Ich sah abgebrochene schwarze Federn im blutigen Schnee.«
Simon musterte sie. »Du konntest sie sehen? War es nicht dunkel draußen?«
Sie dachte einen Augenblick darüber nach, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Tageslicht. Keine helle Sonne, aber Tageslicht.«
»Hast du den Ort erkannt?«
»Nein. Ich kann mich an nichts aus dem Traum erinnern, das einen Anhaltspunkt für den Ort liefern würde, nur den Schnee.«
Simon beugte sich über sie, um die Lampe auszuschalten. »Wenn das so ist, geh wieder schlafen, Meg. Wir können diese Beute auch noch morgen jagen.«
Er streckte sich neben ihr aus und schlief beinahe auf der Stelle ein, so wie es auch immer der Fall gewesen war, wenn er in seiner Wolfsgestalt war. Nur, dass er nun nicht in seiner Wolfsgestalt war und sie nicht wusste, wie sie ihm sagen sollte, dass indem er so neben ihr lag – aussehend und sich anfühlend wie ein menschlicher Mann –, sich etwas zwischen ihnen verändert hatte.