42

Rene forderte Verstärkung an und fuhr dann sofort mit Simon los, da er keine Zeit verlieren wollte.

An der Wohnung angekommen, wollte er am liebsten die Tür auftreten, aber Simon hielt ihn mit seinen Worten zurück. „Wir sollten auf die Verstärkung warten.“

„Lea ist wahrscheinlich da drin.“

„Und das wird sie auch noch in zehn Minuten sein.“

„Wer weiß, was das Schwein mit ihr gemacht hat. Er hat drei Frauen brutal ermordet, mit denen ich aus war.“

„Du musst dich beruhigen.“

„Wie soll ich mich in der jetzigen Situation beruhigen?“

„Denk daran, dass es für dich um mehr geht als um diesen Fall.“

Die Worte führten dazu, dass er ein wenig runterkam. Trotzdem kam die Zeit bis zum Eintreffen der Verstärkung ihm wie eine Ewigkeit vor.

Rene gab ihnen das Zeichen zum Stürmen, aber im allerletzten Augenblick hielt er sie zurück. Irgendetwas ließ ihn verharren. Einen kurzen Augenblick später erkannte er, was. Neben der Tür war eine Vorrichtung angebracht, an der man einen Code eingeben musste. Hätte Simon ihn nicht zur Ruhe ermahnt, wäre sie ihm gar nicht aufgefallen.

Er befahl sofort: „Ich will die Sprengstoffexperten hier haben.“

Simon fragte nach: „Du glaubst, dass er die Tür so gesichert hat?“

„Für irgendetwas muss dieser Kasten ja da sein. Er sagte zu mir, dass wenn er Lea nicht haben kann, sie auch kein anderer haben soll.“

„Das wäre ja Wahnsinn.“

„Er ist wahnsinnig. Warten wir ab und hoffen, dass es nur ein Sicherheitscode ist.“

Eine Viertelstunde später trafen die Sprengstoffexperten ein und bestätigten seine Vermutung. Sie glaubten aber, dass sie die Türbombe entschärfen konnten. Er hörte sie kaum und dachte nur an Lea.

Jetzt war er ihr so nah gekommen und plötzlich stand alles auf dem Spiel. Nicht nur ihre Beziehung, sondern Leas Leben. Er hätte seins dafür gegeben, wenn er damit ihres retten könnte. Doch stattdessen musste er ihr Schicksal in die Hände der Sprengstoffexperten legen. Nicht dass er diesen Jungs nicht vertraute, er hätte es bloß gerne selbst gemacht.

Einer der Sprengstoffexperten machte sich sofort an der Vorrichtung an der Tür zu schaffen. Rene beobachtete ihn genau und sah, wie ihm schon nach fünf Minuten eine Schweißperle herunterlief. Er hoffte, dass es nur auf ein konzentriertes Arbeiten zurückzuführen sei. Der Experte sprach kein Wort. Nach einiger Zeit schüttelte er den Kopf.

Rene trat zu ihm und fragte: „Was ist da los? Du hast gesagt, dass du das Ding entschärfen kannst.“

Der Spezialist hob nur seine Hand.

Simon führte Rene ein Stück weg. „Lass ihn seine Arbeit machen, er muss sich konzentrieren.“

„Du hast keine Ahnung, was ich gerade durchmache.“

„Vielleicht habe ich das nicht. Aber du musst lernen, anderen Menschen zu vertrauen. Auch wenn es momentan schwerfällt.“

Nach einer halben Stunde Bangen gaben die Sprengstoffexperten das Okay, dass gestürmt werden konnte. Rene ließ sich nicht einmal Zeit zum Durchatmen, sondern durchsuchte jeden Raum. Simon hielt die Kollegen ein wenig zurück.

Einen Raum fand Rene verschlossen vor und trat sofort die Tür ein. Er sah Lea auf einem Stuhl zusammengesunken sitzen. Auf dem Boden lagen überall verstreut Fotos von ihr. Ein paar davon waren zerrissen. Michael musste sie eine ganze Weile beobachtet haben. Rene hatte er dabei scheinbar bereits aus Leas Leben getilgt. Es wurde klar, was seine Absicht dabei gewesen war. Michael wollte Lea für sich haben, er schien in sie vernarrt zu sein. Rene hatte ihm dabei auch noch in die Karten gespielt, indem er Lea beschuldigt hatte. Sein Kontrahent konnte sich als großer Beschützer aufführen und musste am Ende nur noch einen Mörder präsentieren. Rene ahnte, wer das hätte sein sollen. Er ging zu Lea und nahm sie in die Arme.

Sie ließ die Umarmung über sich ergehen. Zu mehr war sie momentan nicht fähig. Zu viel war vorgefallen.

Cover

Kurzbeschreibung:

Eine Mordserie an jungen Frauen in Hamburg hält die beiden Mordkommissare Lea Burckhardt und Rene Kettler in Atem. Der Täter scheint schnell gefunden, aber anstatt den Fall zu lösen, führt er sie nur zu einer weiteren Leiche. Immer neue Hinweise, die am Ende ins Leere führen, stellt nicht nur ihr Gespür als Ermittler, sondern auch ihre Beziehung auf eine harte Probe. Während sie um ihre Liebe kämpfen, hat der wahre Mörder schon das nächste Opfer in seiner Gewalt. Die Spuren führen zum Umfeld der beiden Ermittler, so dass am Ende keiner mehr weiß, was er dem anderen noch glauben kann ...

Aaron Holzner

Schuldig


Roman



Edel Elements

Prolog

Sie erwachte in einem Raum, in den nur durch ein vergittertes Fenster spärliches Licht fiel. Sie vermutete, dass sie in einem Keller oder Ähnlichem gefangen gehalten wurde. Ihre Augen mussten sich erst einmal an die Lichtverhältnisse gewöhnen, aber als sie schemenhaft an der Wand einen Mann stehen sah, erinnerte sie sich wieder daran, was am Abend passiert war. Doch mit der Erinnerung kamen auch die Fragen. Warum war sie entführt worden? Was wollte der Mann von ihr? Ging es vielleicht um Geld? Ihre Familie war nicht reich, wie sollten sie da ein Lösegeld aufbringen? Ans Sterben dachte sie nicht, bis sie das Messer sah.

Der Mann löste sich von der Wand und kam nun langsam auf sie zu. Höhnisch grinste er sie an. Die Angst breitete sich nun doch in ihr aus und sie bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut.

Mit zitternder Stimme fragte sie: „Was haben Sie mit mir vor?“

Kurz angebunden erklärte ihr Gegenüber: „Das kannst du dir wohl denken.“

„Was habe ich Ihnen getan? Was immer es war, ich werde es wiedergutmachen. Nur lassen Sie mich leben.“

„Du hast mir nichts getan, du bist bloß ein Opfer.“

Dann stach er zu. Einmal, zweimal und immer wieder.

1

Rene kam mit Lea Händchen haltend ins Kommissariat. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und kümmerte sich erst einmal um die alltägliche Arbeit, und die lautete seit einigen Tagen, die Berichte zum letzten abgeschlossenen Fall zu schreiben. Nach einer Weile warf er einen sehnsüchtigen Blick auf Leas Schreibtisch, der bedeutend leerer war als sein eigener.

„Hey, macht’s Spaß?“, wollte er wissen.

Erst nach einer Weile schaute Lea auf und fragte: „Was ist los?“

„Ach, dieser Bürokram ist einfach nichts für mich.“

„Er ist Teil des Jobs.“

„Vielleicht für dich.“

„Was soll das denn heißen?“

„Entschuldige, ich wollte dich damit nicht beleidigen, sondern einfach ausdrücken, dass dies eher was für Frauen ist.“

„Warum?“

„Euch liegt das Schreiben einfach mehr, uns Männern eher die härtere Arbeit. Gut, manch anderem auch nicht.“

„Du spielst da nicht auf jemanden bestimmten an?“

„Nein“, erwiderte Rene.

„Und was meinst du mit härterer Arbeit?“

„Ermittlungsarbeit, Mörder jagen. Es wird Zeit, dass mal wieder jemand umgebracht wird.“

Kurze Zeit später klingelte das Telefon. Rene schnappte sich sofort den Hörer, da er hoffte, dass es jetzt endlich etwas anderes als Berichteschreiben zu tun gab. „Mordkommissariat, Rene Kettler am Apparat.“

Nach einer Weile legte er auf und sagte zu Lea: „Wir müssen los.“

„Ist etwas passiert?“

„Ja, ich drehe von dem ganzen Berichteschreiben bald durch.“ Rene sah, wie Lea den Mund aufklappte, und fügte hinzu: „Und es wurde eine Leiche gefunden.“

Letzteres gab er bereits halb an der Tür von sich.

Am Auto angekommen, fragte Lea ihn: „Verrätst du mir auch ein paar mehr Details als ‚Es wurde eine Leiche gefunden‘?“

„Eine Frauenleiche, um die 30, sie wurde in einem Waldstück drei Kilometer von hier gefunden.“

„Wer hat die Leiche entdeckt?“

„Eine Joggerin.“

„Na dann wollen wir mal wieder zu unserer eigentlichen Arbeit übergehen“, meinte sie neckisch.

Als sie am Fundort der Leiche, einem dichten, dunklen Waldstück, angekommen und aus dem Wagen gestiegen waren, zogen sie sich erst einmal weiße Plastikanzüge an und stülpten die Kapuzen über den Kopf. Rene fühlte sich darin immer ein wenig wie der Marshmallow Man, aber die Anzüge erfüllten ihren Zweck, keine eigenen Spuren zu hinterlassen. Sie nickten den beiden Polizisten zu, die am Rand des Waldstückes standen, und duckten sich unter das Absperrband.

Rene wies Lea an: „Geh du zu der Joggerin und befrage sie, ich werde mir in der Zwischenzeit die Leiche ansehen.“

Rene ging zu dem Team, das gerade dabei war, die Leiche zu untersuchen. Die Kleidung wurde auf Fremdspuren geprüft und eingetütet. Zudem wurde kontrolliert, ob das Opfer nach dem Tod noch bewegt worden war und ob es Spuren für einen Kampf gab. Der Rechtsmediziner Frank Gunter war gerade dabei, die Fingernägel auf Spuren zu untersuchen. Gunter war bereits ergraut und guckte immer leicht mürrisch.

Rene begrüßte ihn: „Hey, Frank, hast du schon etwas für uns?“

Der Rechtsmediziner nahm seine Brille ab und erwiderte: „Hallo. Uns? Wo ist denn Lea?“

„Sie befragt die Joggerin. Und jetzt erzähl mir, was du zu dem Fall beitragen kannst.“

„Okay. Also die Frau ist circa 30 Jahre alt.“

„Haben wir irgendwelche Papiere von ihr?“

„Nein, entweder sie hat keine bei sich getragen oder der Täter hat sie mitgenommen.“

„Wie ist sie gestorben?“

„Sie wurde mit etwa 15 Messerstichen getötet. Der Täter scheint eine ziemliche Wut auf die Frau gehabt zu haben. Tödlich war letztendlich ein Stich ins Herz.“

„Wurde sie hier umgebracht?“

„Wahrscheinlich nicht. An ihrem Rücken sind Schleifspuren zu erkennen, und die Spurensicherung hat wohl auch Reifenspuren entdeckt.“

„Danke dir erst mal.“

Rene ging zu Lea, die gerade von der Besprechung mit Michael von der Spurensicherung kam.

Er erkundigte sich: „Hat er in diesem Fall wenigstens mal irgendwelche Spuren entdeckt?“

„Erst einmal: Papiere und die Tatwaffe haben sie nicht gefunden. Aber Michael schickt nachher noch ein Team los, das den Wald durchkämmen soll.“

„Sag ich doch, bei dem kommt sowieso nichts raus.“

„Nun lass mich doch mal ausreden. Sie haben dafür Reifenspuren entdeckt.“

„Oh, ein Hinweis.“

„Ich weiß, dass du was gegen ihn hast, aber er macht auch nur seine Arbeit, Michael kann doch keine Tatwaffe hervorzaubern.“

„Ich habe nichts gegen ihn, er sollte bloß langsam mal kapieren, dass du meine Freundin bist. Ach, ich will nicht mehr über ihn reden. Erzähl mir lieber, was die Joggerin gesagt hat.“

„Sie war auf ihrer normalen Strecke, als sie den Berg Laub gesehen hat. Sie sah etwas herausgucken und schaute nach. Da entdeckte sie die Hand und hat die Polizei gerufen. Sie hat niemanden gesehen und nichts angefasst.“

„Also nicht wirklich etwas Brauchbares. Gut, machen wir uns an die Arbeit. Schnappen wir uns den Scheißkerl.“

2

Die Stunden bis zur Obduktion nutzten Rene und Lea dazu, die Menschen aus der näheren Umgebung zu befragen. Momentan hatten sie außer den Reifenspuren keinerlei Anhaltspunkte. Bis die Auswertung des Profils der Reifen vorliegen würde, dauerte es noch eine längere Zeit. Und dann wussten sie auch nur, um welche Reifen es sich handelte, und noch lange nicht, um welches Fahrzeug. Sie konnten vielleicht einen Klein- von einem Lastwagen unterscheiden, aber wenn das ihre einzige Spur bliebe, würde dieser Mordfall einer ihrer ungeklärten bleiben. Und Rene hasste Fälle, in denen der Mörder ungesühnt blieb.

Der Fundort der Leiche war zwar ein Waldstück, aber vielleicht hatte in der Nähe ein auffälliges Auto geparkt oder jemand hatte bei einem Spaziergang etwas gesehen. Oftmals waren sich Zeugen gar nicht klar darüber, dass sie etwas Entscheidendes gesehen hatten, ehe die Ermittler sie darauf stießen. Oberste Priorität hatte es, herauszufinden, wer das Opfer war. Sofern sich dies nicht durch die Zahn- oder DNA-Analyse herausfinden ließ, würden sie später eine zweite Haus-zu-Haus-Befragung durchführen und ein Foto der getöteten Frau herumzeigen.

Sie begannen mit dem Haus, das dem Waldrand am nächsten war. Es stand ein wenig abseits der anderen Häuser. Efeu wuchs die Häuserwand hoch, die Dachziegel waren verdreckt und der Garten wucherte vor sich hin. Es wirkte so, als würden sich die Bewohner bewusst von der Außenwelt abgrenzen, was für ihre Befragung nicht sehr vielversprechend war.

Rene klingelte und nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass die Gardine in einem Zimmer beiseitegeschoben wurde. Es dauerte nicht lange, da wurde sie wieder zugezogen. Rene blickte zu Lea, aber die zuckte nur mit den Schultern.

Er wollte schon erneut klingeln und seinen Ausweis ans Fenster halten, da wurde die Tür geöffnet, zumindest einen Spaltbreit. Von dem Bewohner trennte sie nach wie vor eine Kette, und der Hausbesitzer machte auch keinerlei Anstalten, diese zu entfernen. Es blickten ihnen zwei misstrauische Augen entgegen, so weit zusammengezogen, dass nur noch Schlitze zu erkennen waren. Das Gesicht selbst war von Falten durchzogen, sodass man sich vorstellen konnte, dass der Mann schon einiges erlebt hatte.

Es schienen keine positiven Erlebnisse zu sein, denn er moserte sofort: „Was schleichen Sie hier draußen rum?“

Rene zog eine Augenbraue hoch und zeigte seinen Dienstausweis vor. Der ältere Mann machte nach wie vor keine Anstalten, die Kette zu entfernen und die Kommissare hereinzubitten.

Rene schaute auf das Klingelschild und fragte: „Herr Ruper?“

„Wen dachten Sie denn anzutreffen?“

„Mein Name ist Rene Kettler von der Mordkommission, das ist meine Kollegin Lea Burckhardt. Wollen Sie uns nicht vielleicht hereinbitten?“

„Ich muss Sie nicht in mein Haus lassen. Bisher weiß ich nicht einmal, worum es geht.“

„Sie haben vielleicht das erhöhte Polizeiaufkommen heute Morgen mitbekommen.“

„Ich gehe nicht so oft vor die Tür, aber das konnte selbst ich nicht übersehen. Dabei bin ich extra hergezogen, um meine Ruhe zu haben. Sonst stört die Nachbarn ja ständig etwas.“

„Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“

„Mir? Was geht mich Ihr Polizeieinsatz an?“

Rene schluckte seinen Ärger herunter. „Es wurde eine Frau tot im Wald aufgefunden, vermutlich ist sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Ihr Haus steht am nächsten zum Wald. Daher würden wir gerne wissen, ob Ihnen irgendetwas aufgefallen ist.“

„Wie gesagt, ich gehe nicht viel raus.“

„Aber Sie schauen aus dem Fenster. Da könnte es ja sein, dass Sie etwas Ungewöhnliches gesehen haben. Jemanden, der in der Nähe herumgeschlichen ist und den Sie hier noch nie gesehen haben. Ein ungewöhnliches Auto, alles kann uns weiterhelfen.“

„Da stand ein Wagen halb in meiner Einfahrt.“

„Zu welcher Uhrzeit war das?“

„Keine Ahnung, irgendwann heute Nacht. Unsereins schläft nicht mehr so gut. Als ich aufgestanden bin, habe ich den Wagen gesehen. Ich wollte den Fahrer zur Rede stellen und hatte den Baseballschläger schon in der Hand.“

„Und der Fahrer?“

„War nicht da. Jedenfalls konnte ich keinen sehen, sein Glück.“

„Und er ist auch nicht wiedergekommen?“

„Scheinbar schon, jedenfalls war der Wagen weg, als ich heute Morgen aufgestanden bin.“

„Sie haben gar nicht gewartet, um ihn doch noch zur Rede zu stellen?“

„In meinem Alter muss man die Stunden ausnutzen, die man noch schlafen kann, bevor man nicht mehr aufwacht.“

„Wissen Sie noch, was für ein Modell es war?“

„Glauben Sie wirklich, dass der Wagen in Zusammenhang mit dieser Frau steht?“

„Wie gesagt, alles kann uns weiterhelfen.“

„Ja, ja, das habe ich verstanden. Aber das Modell weiß ich nicht, irgend so was Größeres, so ein Kastenwagen halt.“

„Und was für eine Farbe hatte er?“

„Keine Ahnung, es war ja dunkel und ich habe nur durchs Fenster geschaut.“

„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?“

„Wollen Sie noch die Farbe meines Urins wissen?“

„Nein, vielen Dank. Sie haben uns schon sehr geholfen.“ Rene gab Herrn Ruper seine Visitenkarte. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, können Sie uns jederzeit anrufen.“

„Ich will nur meine Ruhe haben, ich hoffe, damit ist die Angelegenheit für mich beendet.“

„Das kann ich Ihnen leider nicht versprechen.“

Bevor sich die Ermittler richtig verabschieden konnten, hatte der Mann die Tür zugeschlagen.

„Sympathischer Zeitgenosse“, kommentierte Lea auf dem Weg zum nächsten Haus. Rene schüttelte nur den Kopf, sodass sie hinzufügte: „Ich dachte, er geht gleich mit dem Baseballschläger auf uns los.“

„Der hat doch nur großspurig getan. Aber du hättest uns ja beschützt, die Hand hattest du schließlich schon an der Waffe.“

„Man muss auf alles vorbereitet sein“, sagte Lea mit einem Augenzwinkern. „Außerdem wäre es doch was, wenn ich mal deine Beschützerin wäre.“

„Wir sind ein Team. Aber ansonsten behalte ich doch gerne selbst die Kontrolle.“ Rene blickte sich um, wollte Lea schon an sich ziehen, aber in dem Moment kam ihnen ein Spaziergänger mit einem Hund entgegen.

Als sie aufeinandertrafen, zog Rene seinen Dienstausweis hervor und fragte gleichzeitig: „Haben Sie einen Augenblick Zeit?“

Der Mann, der um die 40 war, eine Brille trug und schon leicht schütteres Haar hatte, schaute auf seinen Hund. „Charly, Platz.“ Dann richtete er seinen Blick wieder auf die Beamten. „Natürlich, wenn es nicht zu lange dauert. Ich nutze meine Mittagspause, um mit dem Hund rauszugehen.“

Als Rene seine Personalien aufgenommen und ihn über seine Rechte belehrt hatte, deutete Herr Zikowsky zum Wald, wo zwei Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und zwei weitere zivile Wagen standen. „Ist dort etwas passiert?“

„Es wurde eine Frau tot aufgefunden.“

„Das ist ja schrecklich. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Waren Sie heute Morgen auch schon mit dem Hund draußen?“

„Ja, meine Frau hat das damals zur Bedingung gemacht, wenn ich schon unbedingt einen Hund kaufen muss. Aber inzwischen kommen sie und Charly ganz gut klar. Manchmal geht sie sogar auch, aber nur bei gutem Wetter.“ Herr Zikowsky lachte.

„Um wie viel Uhr war das in etwa?“

„Das kann ich Ihnen sogar ganz genau sagen. Das war ein paar Minuten nach sechs. Um diese Zeit drehe ich immer meine erste Runde, damit ich es vor der Arbeit schaffe.“

„Ist Ihnen da vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

Herr Zikowsky legte seinen Zeigefinder an das Kinn. Nach einer Weile des Nachdenkens erklärte er: „Da war tatsächlich etwas. Mir kam ein Wagen entgegen. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, auch um die Uhrzeit nicht. Es hat mich nur gewundert, weil der Wagen aus der Richtung von Herrn Ruper kam, der da hinten wohnt. Der bekommt sonst nie Besuch, und dann noch über Nacht. Meine Frau und ich haben schon so oft versucht, ihn einzuladen. Na ja, mehr meine Frau. Ich sage immer, dass man Eigenbrötler einfach in Ruhe lassen sollte. Aber meine Frau lässt da nicht locker. Sie ist einfach ein Engel.“

„Und Sie sind sich sicher, dass der Wagen von Ihrem Nachbarn kam?“

„Ja, dahinter ist ja nur noch der Wald.“

„Können Sie sagen, welches Modell es war?“

„Oh ja, ein Ford Transit. Solche haben wir auch bei uns in der Firma.“

„Und die Farbe?“

„Da muss ich überlegen. Grau vielleicht oder war er doch farbig? Meine Frau meint immer, ich wäre farbenblind, aber ich will nicht zugeben, dass sie recht hat.“ Herr Zikowsky lachte erneut.

„Konnten Sie den Fahrer erkennen?“

„Darauf habe ich gar nicht so geachtet. Wenn ich gewusst hätte, dass das noch einmal wichtig werden würde, hätte ich genauer hingeschaut. Meine Frau hätte es Ihnen mit Sicherheit sagen können. Wenn unser Nachbar schon mal Besuch bekommt.“

„Kein Problem, Sie haben uns wirklich schon sehr weitergeholfen. Hier ist meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.“

„Ich hoffe, wir werden nie so“, wandte er sich an Lea, als sie wieder unter sich waren.

„Warum nicht? Mir gefällt der Gedanke, dass ich einmal mehr weiß als du.“

„Ich werde immer älter und weiser sein als du, mein Schatz.“

„Und grauer.“ Lea spielte auf ein paar graue Strähnen an, die sich durch sein Haar zogen.

Rene schaute sie nur empört von der Seite an, sodass sie schnell das Thema wechselte. „Seine Aussage deckte sich ziemlich gut mit der von Herrn Ruper.“

„Wir müssen zwar noch den Todeszeitpunkt abwarten und wann die Frau voraussichtlich im Wald abgeladen wurde, aber wenn man bedenkt, wann sie aufgefunden wurde, könnte es gut sein, dass sie mit diesem Fahrzeug in den Wald geschafft wurde.“

„Hoffen wir mal, dass auch noch jemand den Fahrer gesehen hat. Denn der Wagen allein wird uns wahrscheinlich nicht weiterhelfen.“

Leas Hoffnung wurde nicht erfüllt. Die weiteren Befragungen brachten nichts ein, niemand konnte sich an das besagte Fahrzeug erinnern oder hatte etwas Auffälliges beobachtet. Daher beschlossen sie, erst einmal auf die Dienststelle zurückzukehren.

3

Am nächsten Morgen machten sich Lea und Rene auf den Weg zur Rechtsmedizin. Der Staatsanwalt hatte am Vortag gleich die Obduktion angeordnet.

Frank Gunter und seine Assistentin Stefanie Moll standen schon bereit. Dennis Zander von der Staatsanwaltschaft, den sie schon von einigen anderen Fällen kannten, und ein Polizeifotograf waren ebenfalls vor Ort.

Sie begrüßten sich kurz, bevor Gunter fragte: „Bereit für die Obduktion?“

„Klar, immer“, antwortete Rene.

Der Rechtsmediziner nahm ein Diktiergerät in die Hand und sprach all seine Schritte mit. Zuerst untersuchte er die Körperoberfläche der Leiche und erklärte den Anwesenden:

„15 äußere Stichwunden, verteilt über den Brust- und Bauchbereich. Die Ausführung lässt darauf schließen, dass es sich bei dem Täter um einen Rechtshänder handelt. Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken, Abschürfungen in diesem Bereich, keine Hautreste unter den Fingernägeln.“

Lea unterbrach ihn: „Weist sie sonst irgendwelche Abwehrspuren auf?“

„Außer den Abschürfungen, die darauf hindeuten, dass sie versucht hat, sich von den Fesseln zu befreien, keine. Sie hat sich also bei der Fesselung wahrscheinlich nicht heftig gewehrt. Möglicherweise war sie bewusstlos.“

Lea notierte dieses Detail in ihren Notizblock, und Gunter fuhr fort: „Wie schon am Tatort erwähnt, weist sie Schleifspuren am Rücken auf.“ Nach einer kurzen Pause meinte er: „Dann wollen wir mal einen Schnitt machen.“

Frank setzte das Skalpell an und führte einen präzisen Y-Schnitt durch. Darauf klappte er die Haut zurück und wog alle Organe. Den Mageninhalt füllte er in einen Behälter für das Labor. Währenddessen sägte seine Assistentin den Schädel auf, klappte die Schädeldecke auf und entfernte das Gehirn.

Der Rechtsmediziner stellte die letzten Schlussfolgerungen auf: „Todesursache war der Stich ins Herz, der eine Arterie getroffen hat, sie ist innerlich verblutet.“

„Todeszeitpunkt?“

„Nach Fortschreiten der Leichenstarre und ihrer Körpertemperatur zu urteilen, gestern Nacht zwei Uhr, plus/minus drei Stunden.“

„Kannst du sagen, wie lange sie im Wald gelegen hat?“

„Das ist schwierig zu beurteilen. Die Feststellung des Todeszeitpunktes beeinflusst es nicht großartig, da die Nächte momentan nicht so kalt sind.“

„Sonst noch irgendwelche erwähnenswerten Merkmale?“

„Die Stiche sind mit einer gehörigen Wut ausgeführt worden. Die Wunden sind teilweise bis zu 20 Zentimeter tief.“

„Also hat der Täter vielleicht sein Opfer gekannt?“ „Möglicherweise, aber das herauszufinden, bleibt für euch.“ „Dann werden wir mal zurück an die Arbeit geben. Vielen Dank.“

„Kein Problem, das ist ja schließlich mein Job.“

Zwei Stunden hatte die Obduktion gedauert. Rene fühlte sich danach immer, als bräuchte er erst einmal eine Dusche. Da er die nicht bekommen würde, versuchte er Erkenntnisse daraus zu ziehen, um sich abzulenken. Er resümierte: „Der Täter hat das Opfer also gekannt.“

Lea war sich noch unschlüssig: „Das könnte sein, wenn man bedenkt, mit was für einer Gewalt er zugestochen hat. Auf der anderen Seite gab es schon genügend Morde, bei denen der Täter nicht einmal ein Motiv hatte. Er könnte auch einfach nur sehr wütend gewesen sein.“

„Es fragt sich dann nur, warum er so wütend war. Vielleicht durch etwas, das er am Tag erlebt hat, vielleicht durch die Tat selbst. Oder aber das Opfer hat ihn veranlasst, so wütend zu werden.“

„Das werden wir wohl erst herausfinden, wenn wir den Täter verhaftet haben.“

„Dafür sind wir da.“

4

Nachdem die Obduktion auch keine weiteren Erkenntnisse, was die Identität des Opfers betraf, gebracht hatte, blieb den Ermittlern vorerst nur, Klinken zu putzen. Nach der Obduktion war eine Pressemitteilung herausgebracht worden, auf diese hatte sich bisher aber noch niemand gemeldet. Obwohl über den Fall im Radio und im Internet berichtet wurde, dauerte es meist ein paar Stunden, bis sie die ersten Hinweise erhielten.

Am Mittag würde die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit noch eine Pressekonferenz geben. Rene hoffte, dass sie bis dahin weitere Erkenntnisse liefern konnten, glaubte aber, dass sich vor dem Abend nichts mehr ergeben würde.

Auch wenn er den Befragungen in der Umgebung nicht sehr große Erfolgsaussichten beimaß, wollte er nicht im Kommissariat sitzen, solange sie nicht wussten, wer die Tote war. Schließlich hatten sie so immerhin den Typ des Fahrzeuges herausgefunden, mit dem die Leiche transportiert worden war.

„Vielleicht haben wir ja Glück“, fasste Lea seine Gedanken in einem Satz zusammen.