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Titel der Originalausgabe: »Le Non désiré«

Copyright © der Originalausgabe 2002 Éditions Le Perséa, Kanada

Copyright © der deutschen Ausgabe Verlag »Die Silberschnur«

Alle Rechte vorbehalten.

Außer zum Zwecke kurzer Zitate für Buchrezensionen darf kein Teil dieses Buches ohne schriftliche Genehmigung durch den Herausgeber nachproduziert, als Daten gespeichert oder in irgendeiner Form oder durch irgendein anderes Medium verwendet bzw. in einer anderen Form der Bindung oder mit einem anderen Titelblatt als dem der Erstveröffentlichung in Umlauf gebracht werden und auch Wiederverkäufern nicht zu anderen Bedingungen als diesen weitergegeben werden.

ISBN 978-3-89845-996-9

1. Auflage 2013

Übersetzung: Anja Schmidtke

Gestaltung: XPresentation, Güllesheim;
unter Verwendung verschiedener Motive von www.fotolia.com

Druck: Finidr, s.r.o. Cesky Tesin

Verlag »Die Silberschnur« GmbH

Steinstraße 1 · D-56593 Güllesheim

www.silberschnur.de · E-Mail: info@silberschnur.de

An alle,
die nicht konnten,
nicht wussten ...
und deren Herz
noch nicht wieder heil ist.

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Inhalt

Mit Herz

Ein Morgen wie jeder andere

· Die Situation

· Pierre und Émilie

· Meine Vorgehensweise

· Florence

1. Kapitel: Zwischen zwei Welten

· Zerreißprobe für das Bewusstsein

· Florences Empörung

· Geistiges Gefängnis

· Saat der Vergangenheit

· Betreten der Aura

· Erste Besuche der Seele im Embryo

· Durchlässige Welten

· Gespräche mit »Abgelehnten«

· Nichts wissen wollen? Determinismus und Willensfreiheit

2. Kapitel: Zeit eines Traums

· Émilies Zimmer

· Die andere Seite

· Ablehnung der Geburt, nicht des Kindes

· Kein Zufall

· Begegnung im Feinstofflichen

· Der Traum: Hologramm des Bewusstseins

· Seelische Verbundenheit

· Erklären lernen

3. Kapitel: Begegnung mit einer »Heimatseele«

· Zugangscodes der Seelen

· Abtrennung der natürlichen Elemente vom Körper

· Es gibt nur geistige Distanzen

· Liebe verkürzt den Weg

· Trösten und Verantwortungsgefühl wecken

· Urteilen ist für Unwissende

· Erwachen und Verantwortung

· Begriff der karmischen Schuld

· Beruhigende Lösungen

4. Kapitel: Blessuren und Bekenntnisse

· Therapeutische Abtreibung

· Gründe für die Wahl einer Seele

· Die Genetik ist das letzte Glied der Notwendigkeit

· Geistige Behinderung

· Für wen ist die Prüfung? Körperliche Missbildungen

· Verantwortung erkennen

· Unvereinbarkeiten zwischen Eltern und Kindern

· Blick auf die medizinische Früherkennung

· Die richtigen Fragen im Angesicht der Prüfung

· Das Bedürfnis, geliebt zu werden

· Biologie des Feinstofflichen, eine Bedingung fürs Leben

· Wahrer Respekt und dogmatische Verbote

· Wir erschaffen uns selbst unsere Hölle oder unser Paradies

5. Kapitel: Katakomben der Seele

· Inszenierungen des Superbewusstseins

· Aus einer Vergewaltigung entstehen?
Warum und wie kommt es so weit?

· Lähmungen der Seele

· Tröster des Gedächtnisses

· Das höchste Mitgefühl

· Respekt statt Ablehnung

· Würde wiederherstellen

· Verunreinigung durch Begierden

· Eine Endlosspirale

· Energetische Ladung der Zellen

· Was alte Seelen wählen

6. Kapitel: Gründe, um nicht geboren zu werden

· Fehlgeburten und Geburtskomplikationen

· Die Angst zurückzukommen

· Gift des Schuldgefühls

· »Opfersein«

· Neue Gründe für Fehlgeburten

· Maries Geschichte

· Steigende Umweltvergiftung

· Schwächung des menschlichen Stoffwechsels

· Strukturstörungen des Ätherischen

· Kurzschlüsse im Feinstofflichen

· Neues Verständnis von Karma

7. Kapitel: Geschenk des Friedens

· Karussell des Wie und Warum

· Lügen als Selbstschutz

· Gefängnis der Schuld

· Mut zur Überwindung unserer Reflexe

· Sich nicht in der Not einrichten

· Wieder aufleben

· Eigenliebe

· Es wagen zu leben

· Adoptionen

· Konfliktgeladene Verbindungen

· Trost

Fragen und Antworten

Kleine Methode für Seelenbegegnungen

Über den Autor

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Mit Herz

Ja, mit Herz ... Die ersten Worte, die mir als Einleitung für dieses Buch in den Sinn kamen. Wie sonst sollte man auch an ein Thema wie dieses herangehen? Über den Weg derjenigen zu berichten, die durchmachen, was diskret Schwangerschaftsabbruch genannt wird, über die vielen Fragen zu sprechen, die Fehlgeburten und Missbildungen aufwerfen, heißt von vornherein, sich auf einen steinigen Weg zu begeben.

Tatsächlich hatte ich beim Verfassen der fast 200 Seiten von »Die ungeborene Seele« immer das Gefühl, auf einem Seil über einem Abgrund zu balancieren – oder anders und ohne Hintersinn formuliert: »einen Eiertanz zu vollführen«. Wenn man über so intime Themen schreibt wie in diesem Buch, riskiert man, bei vielen Lesern an tiefe Wunden zu rühren, die vielleicht sogar noch ganz frisch sind.

Wenn ich mich trotzdem in diese Richtung gewagt habe, dann deshalb, weil ich davon überzeugt bin, dass man eine Verletzung oder eine Wunde nicht heilen kann, indem man einfach wegschaut. Man lässt sie vernarben, kuriert sie aus, wächst darüber hinaus, wagt es, sich ihr zu stellen, ohne sie zu leugnen, ohne Angst vor ihr zu haben. Aber man heilt sie ganz sicher nicht durch Vergessen, Klagen oder anderer Leute Mitleid, vielmehr durch Verstehen und das Erlernen von Mitgefühl.

Für mein Vorhaben war es unabdingbar, dass mir »von oben« die Hand gereicht wurde. Ich brauchte Wesen, die mir ihre Hilfe anboten, mich als respektvollen Zuschauer akzeptierten, der sie in ihrer Erfahrung der Ablehnung mit all ihren Schwächen und Stärken beobachten durfte. Vor allem aber brauchte ich eine reife Seele mit klarerem Bewusstsein als die meisten, die mich einlud, sie wie einen roten Faden zu fassen und ihr zu folgen.

Diese Seele erschien mir unter dem Namen Florence. Ich folgte ihr zwischen die Welten außerhalb meines Körpers, nach demselben Verfahren wie vor einigen Jahren Rebecca in meinem Buch Les Neuf Marches. Unser gemeinsamer Weg verlief nicht immer einfach und dauerte knapp ein halbes Jahr ... Die Zeit, die sie brauchte, um wieder aufzublühen, und auch die Zeit, die ich brauchte, um angemessene Worte für alles zu finden.

Denn wie Sie feststellen werden, habe ich mich beim Niederschreiben wie immer bemüht, so gewissenhaft wie möglich zu sein. Mein Bericht nimmt nicht für sich in Anspruch, ein literarisches Meisterwerk zu sein. Zunächst einmal kommt der aufmerksame Beobachter darin zu Wort. Es sollten möglichst einfache, direkte Worte mitten aus dem Herzen sein.

Allerdings sollte man sich hier ja nicht täuschen: Hinter der scheinbaren Einfachheit dieser Worte verbergen sich oft Wahrheiten, die tiefer sind, als es zunächst den Anschein hat ... Wahrheiten, die eine gewisse innere Gymnastik und einen grenzenlosen Horizont erfordern können, wenn man ihren Sinn wirklich erfassen will.

Um über die Problematik von Abtreibungen, die Bitternis von Fehlgeburten und die oft so schmerzlichen Fragen rund um komplizierte Geburten zu sprechen, sind Authentizität, Genauigkeit, Sachlichkeit und natürlich eine gute Portion Liebe vonnöten. Genau das sind die Werkzeuge, mit denen ich gearbeitet habe.

Ich finde, dass Genauigkeit und Sachlichkeit keinesfalls unvereinbar mit metaphysischen Konzepten sind. Davon abgesehen war es weder vorstellbar noch wünschenswert, Letztere einfach zu umgehen, auch wenn sie manchmal verunsichern können, da ich die Dinge ja von einer Seite betrachten wollte, die über den konventionellen, medizinischen, sozialen, psychologischen, religiösen oder moralischen Kontext hinausgeht. Ich wollte das Leben so nah an seiner Essenz erhaschen wie möglich, ich wollte Welten zeigen, die man offiziell zwar erbittert leugnet, aber in denen nun einmal die Karten gemischt werden, mit allem Wie und Warum.

Abschließend habe ich ganz besonders Florence zu danken – für die Einfachheit, die Natürlichkeit und den Mut, mit dem sie sich mir offenbart hat. Sie und ihre Stärke sind es, die mich hoffen lassen, dass ich mit Die ungeborene Seele etwas Richtungsweisendes, Hilfreiches auf den Weg gebracht habe. Ich weiß in diesem Augenblick, dass ihre Seele meine berührt, damit sich dem Leben neue Fenster des Verstehens, der Achtung und der Liebe öffnen.

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Ein Morgen wie jeder andere

Ein Novembermorgen, irgendwo in einer Stadt im Süden Frankreichs. Der Himmel ist blau verwaschen, die kühle Luft scheint die wenigen Passanten auf den Gehwegen zu betäuben. Vorhin noch herrschte leichter Nebel, sodass die Umrisse des Krankenhausparkplatzes kaum zu erkennen waren.

Ich für meinen Teil warte. Na ja, um ehrlich zu sein, nicht wirklich ... Nicht in meinem physischen Körper. Es ist der Körper meines Bewusstseins, meiner Seele, wenn Sie so wollen, der sich dort postiert hat. An einer Straßenecke, nahe bei einem rotweißen Schild mit der Aufschrift »Notaufnahme«.

Aber es ist kein Notfall in Sicht, kein Verletzter, der mir so nahe stünde, dass ich mich von diesem Ort angezogen fühlen würde. Kein Verletzter ... zumindest scheinbar.

Ich weiß nur, dass in wenigen Augenblicken ein Mann und eine Frau die große Glastür des Krankenhauses aufstoßen, die wenigen Zementstufen hinuntergehen und dann in ihr Auto steigen werden, das sie ordentlich neben den anderen Autos geparkt haben. Es wird ein sehr junges Paar sein, etwa Anfang 20.

In Wahrheit weiß ich von beiden so gut wie gar nichts. Ich habe erfahren, dass sie studieren, er etwas Wissenschaftliches und sie Psychologie. Sie kennen sich seit knapp einem Jahr. Außerdem weiß ich, dass sie sich abends auf einer Party bei einer gemeinsamen Freundin kennengelernt haben. Es war am Dreikönigstag. Er fand die Bohne in seinem Kuchenstück, bekam eine goldene Pappkrone aufgesetzt und musste sich seine Königin aussuchen.

So begann es, wie Hunderttausend andere Liebesgeschichten dieser Welt auch. Eine schöne und einfache Geschichte zugleich. Sie verliebten sich sofort. Ein Lächeln, ein Blick ... und ihr beider Leben beschleunigte sich auf 180, in dieselbe Richtung.

Was weiß ich noch? Wirklich nicht viel! Einfach, dass es war wie bei vielen, dass sie Angst vor dem hatten, was mit ihnen passierte, und dass sie stillschweigend vereinbart hatten, es langsam angehen zu lassen. Jeder wollte weiter alleine wohnen, er in seinem Studentenzimmer auf dem Campus, sie in der möblierten Zweizimmerwohnung, die ihre Eltern ihr noch bis nächstes Jahr bezahlen werden.

Aber warum warte ich eigentlich auf sie? Weil die Leidenschaft am Ende über die »Vernunft« gesiegt hat. Émilie – so heißt sie – ist vor zwei Monaten schwanger geworden. Er war nicht ihre erste Liebe, sie war aufgeklärt, aber ...

Sofort der Schock über die Nachricht, dann eine Art Ungläubigkeit, ein Anflug von Panik. War das Ergebnis wirklich sicher? Was sollten sie jetzt tun?

Nach schier endlosem Warten auf einen Arzttermin, nach der Untersuchung und der Bestätigung, dann nach zwei Wochen Zögern war die Entscheidung gefallen. Émilies Freund Pierre war völlig einverstanden. Sie würden es nicht behalten.

Ja, deswegen bin ich an diesem Morgen dort, um am Ausgang des Krankenhauses auf sie zu warten. Gewiss nicht, um in ihrem Privatleben herumzustochern, sondern um mit Zartgefühl und Respekt eine Ecke des großen Vorhangs des Lebens zu lüften, dieses großartigen, geheimnisvollen Lebens, das uns in so vielerlei Hinsicht übersteigt.

Während ich warte, überlege ich, wie heikel die mir anvertraute Aufgabe ist, ich denke an den ungewohnten Blick, den ich auf die andere Seite der großen Bühne unserer Existenz wagen werde, dorthin, wo die Rollen verteilt werden.

Endlich ... die große Glastür wird aufgestoßen. Sie reflektiert einen Sonnenstrahl, und Émilie kommt heraus, die Hände in ihrer marineblauen Jacke vergraben, während Pierre, ein wenig abwesend, aus dem Schatten hinter ihr hervortritt.

»Halt mich ...«

»Fühlst du dich schlecht?«

»Nein, aber halt mich ...«

Ihre Stimmen dringen von innen zu mir. Sie geben sich fest und stark, und ich unterbreche meine Gedanken, um mir alles besser einprägen zu können.

Émilie sucht einen Moment lang die Schulter ihres Begleiters, der aber bleibt unbeholfen. Er lässt das Buch fallen, das er in der Hand gehalten hat, geht dann hinter ihr her, während sie einen Schritt zulegt, um schneller zum Auto zu gelangen.

»Du fährst ...«

Pierre weiß nicht, was tun. Er stammelt irgendetwas, was ich nicht verstehe. Mir scheint er wesentlich verletzlicher zu sein als sie – in seinen etwas zu großen Jeans und seinen derben Sportschuhen. Sie sitzt bereits im Auto, während er schon zum zweiten Mal sein Buch vom Boden aufhebt. Schließlich schafft er es, sich ans Steuer zu setzen.

»Du schwörst mir, dass du dich nicht schlecht fühlst?«

»Nein, es geht schon ... Fahr mich einfach zu mir. Hör mal, so schlimm ist das jetzt auch nicht ... Isabelle hat sich das letztes Jahr auch machen lassen. Ihre Cousine auch. Und sie hatte niemanden ... Komm schon, beeil dich ... Sonst kommst du noch zu spät zu deiner Vorlesung.«

Ein kurzer Moment des Schweigens im Innenraum des Wagens. Pierre und Émilie küssen sich kurz und ... der Wagen springt an, der Motor brummt und sie fahren mit knirschenden Reifen davon, um wieder in ihr Leben zurückzukehren. Jetzt sind sie wieder nur noch zu zweit, so viel ist sicher ...

Ich für meinen Teil bleibe regungslos und aufmerksam neben dem Notfallaufnahmeschild zurück. Was tue ich nun weiter? Denn es ist nicht diese vielleicht berührende, aber insgesamt ja doch banale Szene, deretwegen ich mein Bewusstsein an diesen Ort projiziert habe. Ich habe ein Ziel: der Präsenz zu begegnen, die vorhin aus Émilies Bauch verstoßen, herausgesaugt wurde.

Wer ist sie und was erlebt sie gerade, diese Präsenz? Ich kann nicht glauben, dass sie nichts oder kaum etwas bedeutet, dass sie aus dem Nichts aufgetaucht ist und jetzt einfach wieder in dieses Nichts verschwindet. Wenn sie mir doch sagen ... mir erzählen könnte, was ihr Weg ist. Wenn sie mir doch etwas über den unbekannten Reiseweg jener sagen könnte, vor denen eines Tages aus tausend unterschiedlichen Gründen das Tor zu unserer Welt brutal zugestoßen wird.

Meine Vorgehensweise wird einfach sein, ich werde ganz Herr meiner Seele sein, mein Herz weit öffnen und darauf achten, niemals unaufmerksam zu werden. Ich möchte gewissermaßen mit meinem Lichtkörper eine Dokumentation filmen, und hier ist sie ...

Mein Wesen ist völlig entspannt, da ist nicht einmal der Wille, die Geschehnisse irgendwie zu lenken. Langsam lasse ich mich von der Atmosphäre des Krankenhauses aufnehmen, von allem, was sich in seinem Inneren bewegt und atmet, aber nicht innerhalb seiner Betonmauern, sondern jenseits davon. Hinter den grellen Operationstrakten, Fluren und Zimmern, in denen man sich so viele Fragen stellt.

Mir scheint, als würde ich mich in die Lüfte erheben ... Allmählich verblasst der große Krankenhausparkplatz mit seinen schlafenden Autos, und bald darauf schwebe ich nur noch in weißem Licht. Es ist wie ein Stoff, ich möchte sogar fast sagen ... wie eine Matrix. Undeutliche, scheue Formen streifen mich, Geflüster ist zu hören. Leiser als ein Wispern ... Ein Hauch aus kaum formulierten Gedanken, fragend und besorgt.

Ich befinde mich an der Grenze zwischen zwei Welten. Da ist unsere, genannt die Welt der Lebenden, und die andere, die Welt hinter dem Spiegel, wo man sich aber genauso lebendig fühlt.

Mir bleibt nur noch zu warten und zu hoffen. Um den Kontakt herzustellen, will ich es mit einem kleinen Trick versuchen: Ich werde mir innerlich die Gesichter von Pierre und Émilie vergegenwärtigen. Wenn es funktioniert, wird ihr Abbild in meinem Geist der Ariadnefaden sein, der mich zu dieser Präsenz führen wird ... oder sie zu mir.

»Sind Sie das?«

»Du hast mich erwartet?«

»Man hat mir gesagt, dass Sie existieren, dass Sie mir vielleicht helfen können und ...«

Die Stimme hält inne, unsicher, als ob sie plötzlich zensiert würde. Ich beginne, im Licht zu suchen, tauche noch tiefer in das ein, was ich die Zwischenräume in seiner milchigen Substanz nennen würde. Ich weiß, dass ich in einen geistigen Raum eingetreten bin, den des Wesens, das ich gesucht habe und dessen Zutrauen ich behutsam gewinnen muss.

»Du hast mich also erwartet?«, kann ich nicht umhin zu wiederholen.

Ein langer Moment, dann wird das Lichtmeer um mich herum etwas leichter, weniger dicht.

Etwas kommt langsam daraus hervor und beginnt mein gesamtes Gesichtsfeld einzunehmen. Es ist ein Blick! Ein schöner, großer, blauer Blick ... fast nicht menschlich. Sehr vertraut und absolut fremd zugleich ... Ich beobachte ihn. Er versucht zu lächeln, aber irgendetwas schnürt sich in ihm zusammen. Er kann es nicht.

»Ja, ich brauche Hilfe«, beginnt die Stimme erneut, jetzt sehr klar und deutlich. »Mir muss geholfen werden. Man hat mir gesagt, dass ich es Ihnen erzählen muss, aber ... Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich muss schlafen ... Schlafen ... Ich weiß noch nicht einmal, wo ich bin.«

»Ich werde wiederkommen ... Jetzt, da wir uns ein bisschen kennen, wird es einfach sein. Aber noch eines fehlt mir, um dich leichter finden zu können ... dein Vorname.«

»Mein Vorname? Sagen wir ... Sagen wir Florence. Den Namen habe ich immer am liebsten getragen.«

Das ist alles ... Für heute lassen wir es gut sein. Ich werde sie nicht weiter bedrängen. Davon abgesehen erlischt Florences Blick gerade von selbst. Er faltet sich zusammen wie ein Fächer in dieser leidvollen Helligkeit, die uns für wenige Augenblicke zusammengeführt hat.

Florence ... Dir also hat das Leben die schwierige Aufgabe anvertraut, uns den Weg jener zu zeigen, die ich die »Ungewollten« genannt habe ...

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1. Kapitel

Zwischen zwei Welten

Zwei ganze Tage habe ich verstreichen lassen. Eine Art Intuition hat mir Geduld diktiert. Ich weiß, dass ich nichts überstürzen darf, denn man platzt nicht »mal einfach so« unvermittelt mitten ins Innerste eines Wesens hinein unter dem Vorwand, einen guten Zweck damit zu verfolgen.

Doch jetzt fühle ich, dass der Moment gekommen ist ... Tiefe Entspannung, Atmen, und ich reise auf einer Lichtschnur zu Florence. Es ist eine Schnur zwischen ihrem und meinem Bewusstsein, eine Art Schleuse, in die ich mich hineinstürze, um den Eindruck der Distanz zwischen uns zu überwinden.

»Florence?«

Ich spreche in ein Meer aus Licht, in den hellen Raum, der mich bereits wieder von allen Seiten umgibt. Doch im selben Augenblick wird mir klar, dass mein Ruf gar nicht nötig war. Er läuft ins Leere. Der blaue Blick der von mir Gesuchten hat sofort mein gesamtes Gesichtsfeld eingenommen.

Am liebsten würde ich einen Schritt zurücktreten, Abstand nehmen, um das ganze Gesicht, vielleicht eine Silhouette erkennen zu können. Aber es ist unmöglich ... Florences Blick ist auf mich geheftet, durchdringt mich fast, und ich fühle mich wie unter einer Lupe.

»Ich bin ... so zerrissen«, murmelt die Stimme daraus hervor, »so ... schmerzerfüllt ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt noch einen Körper habe.«

»Auf jeden Fall hast du Augen, so viel ist klar!«

Die Bemerkung ist mir so herausgerutscht. Ich habe absichtlich einen amüsierten Tonfall angeschlagen, um zu versuchen, ein paar Wolken zu verscheuchen.

»Hast du die ganze Zeit über geschlafen? Es waren zwei ganze Tage, weißt du das?«

»Zwei Tage? Ich hätte gedacht ... drei oder vier Stunden. Es kommt mir vor, als wäre Ihr erstes Erscheinen kaum in mir erloschen, als hätte jemand schon wieder das Licht angeknipst ... Aber bitte ... Gehen Sie nicht! Es ist so schwer, so allein zu sein! Warten Sie zumindest so lange, bis ich mich wieder gesammelt habe ... Es kommt mir vor, als wären meine Arme und Beine komplett verschwunden. Das ist so mühselig!«

»Hast du Schmerzen?«

»Ich weiß nicht, ob ich sagen kann, dass ich leide. Es ist ... wie ein Gefängnis. Mir scheint, als wäre ich in meinem Kopf gefangen, ein bisschen so, als würde alles andere nicht existieren, als wäre ich betäubt.«

»Möchtest du es mir erzählen? Ich glaube, wenn du mich an deiner Geschichte teilhaben lässt, dann könnte dadurch etwas in Gang kommen, die Gitterstäbe könnten sich weiten ...«

»Ja, erzählen ... Genau das hat man mir gesagt. Aber ich muss mich wirklich dazu zwingen.«

»›Man‹? Von wem sprichst du, Florence?«

»Von meiner Familie und meinen Freunden, die dort leben, woher ich komme. Jener Ort ist ein bisschen wie die Rückseite der Erde, wissen Sie, wie das Negativ eines Fotos. Obwohl es eigentlich eher das Gegenteil ist, denn das Negativ ähnelt mehr einem Positiv. Es ist so viel heller, wahrer! Deshalb kam es mir vor, als würde ich sterben, als ich begann es zu verlassen, um auf die Erde hinabzusteigen ...«

Florence hält inne. Ich sehe, dass sie wegen meiner Fragerei den Finger in ihre Wunde gelegt hat und ich sie mit meiner Absicht, sie zum Reden zu bringen, vielleicht zu sehr bedrängt habe. Hat sie meine Gedanken mitbekommen? Wahrscheinlich, denn sie beeilt sich weiterzureden.

»Nein ... Es ist gut und richtig, wenn ich jetzt darüber spreche. Sie haben recht, ich muss aus meinem Gefängnis ausbrechen.«

»Kannst du mir dann mehr über diesen Ort mitteilen, über deine Familie, über die Umstände, weswegen du dich auf den Weg zur Erde gemacht hast? Erinnere dich ...«

»Ach, ich muss mich nicht erinnern! Es ist jetzt, es ist ganz lebendig in mir. Ich habe sie nicht wirklich verlassen. Sie sind da, ich kann sie spüren, nur zwei Schritte entfernt! Nur ich habe mich in eine andere Wirklichkeit eingeschlossen. Ich hatte angefangen, eine Treppe zu Ihrer Welt hinabzusteigen, und jetzt fühle ich mich plötzlich blockiert, irgendwo auf einer Treppenstufe zwischen zwei Welten. Vor allem habe ich den Eindruck, verraten worden zu sein. Das schmerzt mich und gibt mir das Gefühl zu fallen ... nach so viel Leichtigkeit. Ich bin wie abgetrennt. Ja, genau das Wort drückt am besten aus, was ich gerade erlebe. Und außerdem ...«

»Ja?«

»Außerdem ... Seit ich mich zwinge, mit Ihnen zu sprechen, kommt irgendwie eine fürchterliche Wut in mir hoch. Es ist so lange her, dass ich so gefühlt habe! Ich schäme mich so. Ich kann nichts dafür, am liebsten möchte ich deshalb weinen. Warum haben sie das getan?«

Florence schreit fast bei diesen Worten. Zumindest fühle ich sie wie einen harten Fausthieb in meinem Inneren. Es folgt ein Moment des Schweigens, und die Schockwelle ihrer Worte verbreitet sich sofort in dem uns umgebenden Lichtraum. Er ist jetzt farbloser. Gleichzeitig zieht ein Schleier vor Florences Blick, und ich fürchte, dass die junge Frau mich nun verlassen wird, um sich in einem inneren Gefängnis einzuschließen, das noch viel undurchdringlicher ist.

»Florence?«

Sie schreckt auf. Ihre Pupillen weiten sich, ein leichtes Funkeln schleicht sich hinein.

»Ja, ich bin wütend!«, beginnt die Stimme in der Mitte meines Kopfes wieder. »Ich habe das Gefühl, dass eine Flut in mir hochsteigt ... Ich weiß nicht, ob sie mir so wehtut oder eher das Zurücklassen der wunderschönen Bühne, die ich mir gebaut hatte. Es zerreißt mich! Es ist ... körperlich, wissen Sie!«

Ich würde Florence gerne an mich drücken, wenn auch nur für eine Sekunde, um sie zu trösten und sie ein bisschen mehr ins Leben zurückzubringen, aber ihre Präsenz bleibt extrem schwach.

Ein Blick ist hier alles und nichts! In dem Raum, in dem wir versuchen, uns einander anzunähern, ist noch nicht einmal eine Hand, die ich ergreifen könnte, um ihr ein wenig Kraft zu spenden und zu vermitteln, was Worte nicht vermögen.

Nur einer Sache bin ich mir sicher: Es ist meine Aufgabe, die Situation schnell voranzubringen, sonst läuft Florences Seele Gefahr, in ihrer Empörung wie in Leim stecken zu bleiben. Als Erstes muss ich es wagen, ihr eine Frage zu stellen, auch wenn sie schmerzhaft ist.

»Wen meintest du, als du sagtest: ›Warum haben sie das getan?‹ Denkst du dabei nur an Émilie und Pierre oder auch an die, die dir vielleicht ›eingeredet‹ haben, noch einmal einen Körper anzunehmen?«

Wieder breitet sich Schweigen zwischen uns aus. Ich habe riskiert, sie zu verletzen, und meine Frage muss tatsächlich als unverschämt, weil verfrüht, empfunden werden. Nicht einmal Florences Blick kann ich jetzt noch erhaschen. Er ist verblasst, hat sich praktisch in dem milchigen Raum aufgelöst, in dem ich mich befinde. Aber irgendetwas lässt mich ahnen, dass meine Gesprächspartnerin noch da ist, dass sie sich einfach nur in ihre Gedanken zurückgezogen hat.

Diesmal werde ich sie nicht rufen, um sie zu mir zurückzuholen. Wenn sie sich in ihren inneren Garten flüchtet, dann deshalb, weil es noch zu früh ist ...

»Ja ... Sie haben ja recht ... So sehr, dass ich es Ihnen jetzt erzählen werde ...«

Florences Stimme ist plötzlich wieder in meinen Kopf hineingeplatzt, als ich mich gerade entfernen wollte.

»Ich werde morgen wiederkommen, wenn dir das lieber ist ...«

»Morgen? Das bedeutet nichts für mich. Sie wissen doch, hier gibt es keine Tage oder Nächte, eigentlich keine vergehende Zeit. Ich bin im Raum meines Bewusstseins, ich habe Sie akzeptiert, und wenn sich nichts in diesem Raum rührt, dann erstarrt etwas in mir, und ich habe das Gefühl zu sterben.«

»Wie ein Wassertropfen, der sich nach und nach in Eis verwandelt?«

»Ganz genau. Wenn meine Gedanken um sich selbst kreisen und sich auf mein Erlebnis fixieren, dann versinke ich in meinem Gefängnis aus Wut und Einsamkeit, das kann ich sehen.

Mit mir muss gesprochen werden, und ich muss sprechen! Das versteht ihr auf der Erde nicht, wenn ihr jemanden nicht haben wollt ... Ihr schickt ihn einfach dahin zurück, woher er gekommen ist, ohne ihm das Geringste gesagt oder ihm die geringste Chance gegeben zu haben, euch etwas mitzuteilen, und sei es nur eine Empfindung, ein Wort, ein Name, ein Bild. Ihr fertigt ihn ab mit ›Du bist uns nicht willkommen‹ und vermeidet es tunlichst, dieses ›Du‹ auf jemanden zu beziehen, der vielleicht zuhören könnte. Ja, ihr zwingt euch alle zu glauben, dass dieses ›Du‹ ein ›Niemand‹ ist, wie eine kleine dicke Larve oder ein Trauben- oder Olivenkern. Wenn ihr wenigstens mit uns reden würdet! Wenn ihr wenigstens nicht so tun würdet, als ob ihr glaubtet, dass da nichts ist!«

Bei ihren empörten Worten hat Florence unbeabsichtigt ihren Blick wieder auf mich gerichtet. Ihre Wut hat eine Art Leben darin entfacht, wie ich es bisher noch nicht in ihren Augen gesehen habe. Sie hat es, wenn ich das so sagen darf, mehr inkarniert.

»Ja, ich werde Ihnen sagen, warum ich da bin, warum ich jetzt in dieser Sackgasse bin, in der ich nicht wirklich weiß, wer ich bin, und in der ich zwischen Auflehnung und Bettelei hin- und herschwanke ... Ich fühle mich wie eine Bettlerin um Liebe, wissen Sie! Und vor drei oder vier Monaten Ihrer Zeit war ich noch so voller Hoffnung!«

»Du hattest nicht erwartet, was mit dir geschehen ist?«

»Ich hoffte ... Ich hoffte, mir würde eine Zerreißprobe wie diese erspart bleiben.«

»Du antwortest nicht wirklich auf meine Frage ...«

»Ach, am besten fange ich wohl ganz von vorne an. Dann werden Sie besser verstehen, und es wird mir sicher helfen, aus diesem schlechten Traum wieder zu erwachen ... Eigentlich ist es eine Geschichte, die nicht wirklich einen Anfang hat, weil der Beginn des Weges einer Seele sich ja immer irgendwo in grauer Vorzeit verliert ... Aber ich werde Ihnen erzählen, was mir noch nahe ist und was hilfreich sein könnte ...

*