Zweites Buch: Windstärke 2

Windstärke 2: Eine leichte Brise, Blätter rascheln, Wind ist im Gesicht spürbar. Mittlere Windgeschwindigkeit in 10 Meter Höhe: 6–11 km/h.
Beaufortskala

An diesem kalten Februarmorgen liege ich inmitten der Ruinen einer Kirche. Der Schnee unter mir ist weich, riecht aber merkwürdig. Neugierig betrachte ich den Nebel um mich herum. In den Augen anderer Betrachter würde er womöglich eine unheimliche Stimmung erzeugen. Aber mich fasziniert er aus anderen Gründen. Der Schleier ist nämlich alles andere als auf mysteriöse Weise durch die Streuung des Lichts entstanden. Nachdem feuchte Warmluft aus dem Süden die kalte Luft am Boden aufgewirbelt hat, lässt der Lichteinfall die feinen Tröpfchen als wabernde Masse erscheinen. Meine beste Freundin Kessie und meine Mutter behaupten immer, ich sei unromantisch. Ich bin anderer Meinung. Ich finde nur, Licht, Wasser und Luft haben ihre eigene Poesie.

„Cut“, schreit der dicke Mann hinter dem Megafon. Darauf folgen mehrere unanständige Flüche, ebenfalls auf Englisch. Ich vermute mal, das heißt, dass ich jetzt meine steifen Gelenke bewegen darf. Sanft reibe ich meine kalten Arme und massiere mein eingeschlafenes Handgelenk, das zu lange in einer ungünstigen Stellung verharren musste. Selbst 150 Euro sind für diesen Wahnsinn viel zu wenig, denke ich mir. Doch ich kann die Schuld auf niemanden abwälzen, schließlich habe ich mich selbst als Komparsin für einen amerikanischen Zombie-Film angeboten. Eigentlich erhalten Statisten nur 50 Euro pro Tag. Aber weil trotz der winterlichen Temperaturen nur die intimsten meiner Körperteile bedeckt sind, gab es einen kleinen Aufschlag.

Das klingt natürlich, als sei ich total bescheuert, und zu meiner Verteidigung bleibt mir nur zu erwähnen, dass der Mann schöne Augen hatte. Ich meine den, der mich überredet hat, hier mitzumachen. Kennengelernt habe ich ihn – ganz unromantisch, aber manche würden ja sagen, das passt zu mir – vor den Türen der Arbeitsagentur. Womit wir schon bei dem zweiten Grund für meinen Auftritt wären: Nachdem mein Arbeitgeber in einem Institut für Klimaforschung mir vor Kurzem gekündigt hat, habe ich das Gefühl, jeden Cent mitnehmen zu müssen. Selbst in einer großen Stadt wie Hamburg sind Jobs für Meteorologen, die dazu noch alleinerziehende Mütter sind, rar gesät.

Zumindest ist der Schnee unter mir nicht allzu kalt. Die Filmemacher haben den tatsächlichen Schnee aufwendig durch Kunstschnee ersetzt – wenn ich es richtig verstanden habe, weil das Plastikgemisch viel „echter“ als das Original aussieht, vor allem aber auch sehr viel weißer und unschuldiger. Schließlich braucht man einen krassen Kontrast zu dem Kunstblut, von dem reichlich in die Flocken sickert, die dann schnell wieder ausgetauscht werden müssen. Weil der Hauptdarsteller seinen Text nicht hinbekommt, muss dieser Vorgang ziemlich oft wiederholt werden, was für die Produzenten sicher teuer, für die Meute am Boden aber hauptsächlich todlangweilig ist. Zumindest bekommen wir in den langen Wartezeiten Wolldecken gereicht. Die kratzen auf der Haut und riechen auch nicht mehr ganz frisch, aber sie halten warm.

Der Regisseur schimpft immer noch, jetzt aber auf das Wetter. Und weil der Mann ein unsympathischer Choleriker zu sein scheint, denke ich fast ein wenig schadenfroh daran, dass der Kerl lange darauf warten kann, dass sich der Nebel verzieht. Und wenn er den ganzen Tag „fucking fog“ brüllt, wird es ihm nichts nützen. Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass es sich ganz offensichtlich um einen Advektionsnebel handelt. Weil sich gerade ein Hochdruckgebiet nähert, wird es der Sonne nicht gelingen, ihn aufzulösen. Doch mein Gefühl sagt mir, dass ich für meine Einmischung keine Bonuszahlung erhalten würde. Also halte ich einfach meine Klappe.

Der Hauptdarsteller ist nun auch in grimmiger Stimmung und brüllt, dass er niemals unterzeichnet hätte, wenn er gewusst hätte, dass er unter diesen Bedingungen in diesem Kackdeutschland festhängen würde, bloß weil der Dreh dort billiger ist. Das finde ich ganz interessant, weil mir nicht klar war, dass wir in der Wahrnehmung des internationalen Films ein unterentwickeltes Dritte-Welt-Land sind.

Die aufgeschminkte Fratze des Darstellers verzieht sich endgültig zu einer Höllenvisage und der dicke Regisseur braucht gar kein Make-up, um wie der Vertreter einer nicht eben freundlich gesinnten Art zu wirken. Ich weiß nur gar nicht, ob sie nun wütend auf dieses Land, den Nebel oder aufeinander sind. Ich denke, sie wissen das auch nicht genau. Der ganze Sonnenschein in L. A. hat sie vermutlich so konditioniert, dass sie bei der kleinsten Wolke sofort Vitamin-D-Mangel-bedingte Depressionen bekommen.

Doch nun scheint es weiterzugehen. Einer der Assistenten streckt seine Hand nach mir aus und mir ist klar, dass er mir nicht etwa hochhelfen, sondern nur meine Wolldecke klauen will. Widerwillig drücke ich sie ihm in die Hand und lege mich wieder auf den Boden.

„Darf ich dich zum Essen einladen?“, raunt der Zombie neben mir. Es ist der arbeitslose Schauspieler, dem ich diese, nennen wir es mal, Erfahrung verdanke. Noch bevor ich antworten kann, hat er seine Hand auf meinen Hintern gelegt, was aber dem Kommando entspricht, das uns anfangs gegeben wurde. Mir wird trotzdem ein wenig warm, denn ich bin ja im Gegensatz zur Kamera keine Maschine. In deren Augen hat die Berührung keinerlei sexuelle Komponente. Jonas’ Arm dient nur als Requisit, das meine Unterhose verdecken soll. Denn offenbar werden Untote in diesem Film bevorzugt leicht bekleidet dargestellt. Endgültig eliminiert wurden wir mit einer speziellen Schusswaffe. Es ist komisch, angeblich toter als tot zu sein und dennoch zu frieren. Auf dem Rückenband meines trägerlosen BHs liegt ein weiterer, viel kleinerer Arm. Er gehört zu einem achtjährigen Jungen. Es soll wohl so aussehen, als gehörten wir zusammen. Eine tote Zombie-Familie neben einem Dutzend anderer toter Zombie-Familien. Nur der Hauptdarsteller sowie eine Handvoll Männer und eine junge Frau, die trotz der Aufmachung sexy aussieht, stehen noch. Ich vermute, für sie geht die Sache gut aus. Ein paar der Männer müssen vielleicht noch sterben und wie ich Hollywood kenne, ist der lustige Schwarze zuerst dran.

Am Anfang kamen mir beinahe die Tränen, weil der Junge mit den geschlossenen Augen und dem blass geschminkten Gesicht neben mir so süß war und ich an meinen kleinen Sohn denken musste.

Beim mittlerweile zehnten Take bin ich abgestumpfter, aber immer noch nicht davon überzeugt, dass es in Ordnung ist, sein Kind eine Zombie-Leiche spielen zu lassen. Allerdings findet Emil, so heißt der Junge, alles „voll cool, oder?“.

Am Anfang war es ihm so peinlich gewesen, mich anzufassen, dass mir seine Aufregung ganz schnell meine eigene Befangenheit genommen hat. Die Mutterrolle bin ich schließlich gewohnt. Also habe ich grinsend zu ihm gesagt: „Hey, keine Angst, Kumpel. Was meinst du, wie cool dich deine Freunde finden werden, wenn sie dich im Kino sehen?“

Da hat er ebenfalls gegrinst und vorsichtig seinen Arm über mich gelegt, den ich ohnehin kaum wahrnehme, weil da immer noch die viel größere, warme Hand eines fast fremden Mannes auf meinem Hintern ruht. Jedes Zucken seines Fingers sendet Vibrationen durch meinen Körper, was ich ein wenig bedenklich, dann aber auch wieder logisch finde. Schließlich bin ich Naturwissenschaftlerin und kenne mich ein wenig mit Biologie aus. Das nützt mir allerdings nicht viel, weil es mir nur hilft, die Reaktion zu verstehen, nicht aber, sie abzustellen. Deshalb versuche ich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren.

Ich frage mich zum Beispiel, ob dem Verein, der die Kirchenruine am Rande des Hamburger Stadtzentrums pflegt,

überhaupt bewusst ist, dass dieses Bauwerk als Kulisse für einen Schundfilm missbraucht wird. Die Produktionsfirma muss eine verdammt hohe Spende zugesagt haben. Vielleicht hat aber auch die Sprachbarriere zu einem fatalen Missverständnis geführt. Möglicherweise dachten die Denkmalschützer, sie unterstützen einen Antikriegsfilm, was zu diesem Mahnmal ja auch ganz gut passen würde, da es den Opfern des Krieges gewidmet ist. So stand es auf der Plakette, die ich in einer der langweiligen Zwangspausen gelesen habe. Doch sicher würden sich die Betroffenen im Grabe umdrehen, wenn sie die tief dekolletierten Krankenschwestern sehen könnten, die Jagd auf die lebenden Toten machen und allesamt eine Magda-Goebbels-Gedächtnisfrisur tragen. Wenn ich es mir genauer überlege, ist dies vielleicht doch ein Antikriegsfilm. Die Art und Weise, in der er die Verbrechen einer faschistischen Gesellschaft anprangert, mag so hintersinnig sein, dass er sich einer spröden Wetterforscherin nicht erschließt.

„Also, gehst du nun mit mir essen?“, raunt Jonas mir erneut zu.

„Warum nicht?“, flüstere ich gespielt missmutig. „Solange du mich nicht mit Blutkonserven abspeist.“

„Ach komm“, sagt er und ich höre, dass er grinst. „Du willst es doch auch.“

„Das Unterbewusste, das es auch will, muss aber ganz tief vergraben sein“, entgegne ich ernst.

Noch einmal ermahnt uns der Assistent zur Ruhe und schon geht es weiter.

Mir gelingt es nicht, die Hand auf meinem Hintern dauerhaft auszublenden, und je länger ich hier liege, desto egoistischere Gedanken löst sie aus. Ich stelle mir tatsächlich zuerst vor, wie ich es mit ihm an den unterschiedlichsten Orten treibe. Erst danach male ich mir aus, wie er mit Mäxchen gemeinsam Marshmallows über einem offenen Feuer röstet.

Das heißt aber nicht, dass ich unbedingt etwas mit ihm anfangen möchte, wirklich nicht. Ich kenne ihn ja gar nicht. Aber der Winter macht eben, dass wir uns zusammenscharen und beieinander Wärme suchen. Frühlingsgefühle wurden immer schon überschätzt. Sie erklären wohl kaum, warum die Geburtenrate im September am höchsten ist. Ich habe mal von einer Studie gelesen, in deren Verlauf Männern alle drei Monate Fotos derselben Frauen gezeigt wurden. Am attraktivsten erscheinen wir ihnen im Dezember. Ich habe dazu eine Theorie, die ausnahmsweise nichts mit den Temperaturen zu tun hat, oder nur indirekt: Die andauernde Sichtbarkeit von nacktem Fleisch führt im Sommer bei Männern zu einer gewissen Ermattung und Faulheit. Denn viele von ihnen – merkwürdigerweise gerade die weniger begehrenswerten Exemplare – setzen ja Sichtbarkeit ohnehin mit Verfügbarkeit gleich. Blitzt aber im Winter unter all der Wolle mal ein Streifen nackter Haut hervor, ist der ganze männliche Organismus sofort in Alarmbereitschaft, oder zumindest ein mehr oder weniger großer Teil davon.

Und ich zeige in diesem Moment mitten im Winter mehr als nur einen kleinen Streifen nackter Haut. Kein Wunder, dass ich eine Einladung erhalte. Da ist nur dieser winzige Teil in mir, der es gerne hätte, dass es meine inneren Werte sind, die er ausführen möchte. Woher auch immer er die kennen sollte. Denn anders als Extrem-Romantiker bilde ich mir nicht ein, die würden über einen Blickkontakt übertragen, so wie ich Anziehung auch niemals mit Liebe verwechseln würde.

Das Brüllen des Regisseurs unterbricht meinen Gedankenfluss. Aus Neugierde habe ich vorab bei YouTube ein Interview mit ihm angeschaut, in dem es auch um die anstehenden Dreharbeiten ging. Für meinen Geschmack hat er etwas zu oft seine Begeisterung für Deutschland betont. Und wie viele amerikanische Schauspieler, die deutschen Journalisten doofe Fragen beantworten müssen, gab auch er sich charmant, indem er deutsche Wörter einflocht. Ich habe einige solcher Interviews gesehen und kann vermelden, dass „Fränkförter“ auf der Liste der beliebten Begriffe ganz oben steht. Die liebt auch der Regisseur, das nahm ich ihm sogar ab. Anders als all den dünnen Schauspielern, die sich in Wahrheit nicht mal trauen würden, der Sauerkrautbeilage auch nur einen zweiten Blick zuzuwerfen. Es sei denn, sie wollen ein Food-Porn-Foto posten. Da berührt ein Ende des fettigen Würstchens schon mal einen Mundwinkel, wenn man für das Foto so tut, als würde man abbeißen.

„Hämbörga“ mag der Regisseur übrigens auch – haha –, was ja passe, weil er ja dort drehen wolle. Er sei eben kein „Börliner“, sondern wolle mal etwas Neues zeigen als orangefarbene Kacheln. Ich denke mal, er meint die Unterführung am Berliner Messedamm, die in jedem Actionfilm von „Tribute von Panem“ bis „Captain America“ mitspielen darf.

Er schätze aber nicht nur das Essen, sondern auch die spezielle Atmosphäre im Vaterland des Gruselrocks und dass man so herrlich morbide Kulissen vorfände. Tja, dachte ich, bei ihm zu Hause ist vermutlich nichts alt genug, um auf vornehme Weise zu verfallen. Ich frage mich, ob er die Welt hier so sieht wie meine kleine Schwester Zoe, die sechzehnjährige Gothic-Braut, nur etwas altmodischer. Eine Welt voll dunkler Katakomben, in denen immer noch Murnaus Nosferatu das Blut von schönen „Fräuleins“ schlürft. Seine Worte vermittelten mir jedenfalls das Gefühl, in einer herrlich exotischen Stadt zu wohnen, in der Trümmer und eine Kirchenruine die typischsten Elemente sind.

„Cut.“

Dankbar nehme ich die Wolldecke wieder entgegen und versuche, nicht darüber nachzudenken, wessen Körperwärme mich da einhüllt. Denn natürlich erhält man nicht immer wieder dieselbe Decke und nicht alle Komparsen sind so sexy wie Jonas. Ein Assistent vertreibt Jugendliche, die versuchen, einen Winkel zu finden, aus dem ihnen Selfies gelingen, die auch noch den Hauptdarsteller mit abbilden. Die Jugendlichen murren, trollen sich aber schnell mit einem Respekt, den sie vermutlich weder vor Polizisten noch vor Sanitätern an einem Unfallort zeigen würden. Rettungsgasse? No way! Nicht wenn die Aussicht besteht, bei irgendetwas Coolem selbst der Kameramann zu sein.

Der Typ, der sie verscheucht hat, zuckt mit den Achseln. Er ist es gewohnt, dass andere auf ihn hören – und das sind alle, die in der Hackordnung unter ihm stehen, also wir Komparsen und, schlimmer noch, Menschen, die nichts mit dem Film zu tun haben. Denn eines habe ich an diesem Tag gelernt: Beim Film sind einfach alle wichtig. Seine Vertreter sind moderne Imperatoren, die dem Volk Brot und Spiele offerieren, die Zuschauer aber in erster Linie dafür brauchen, um viele Tickets zu kaufen. Kommt man ihnen zu nahe, gefriert das publikumsliebende Lächeln und man wird flugs auf die billigen Stehplätze unterhalb der Tribünen verwiesen, wo der Löwe nach einem schnappt.

Am Ende des Drehtags bleiben mir immerhin ein echtes Date und die Erkenntnis, dass ich mich lieber an irgendeiner Kasse von schlecht gelaunten Kunden beschimpfen lasse, als mich vor der Kamera eines Oberpavians zum Affen zu machen.

„Wir sehen uns dann morgen?“, fragt Jonas, als wir uns wieder mollig warm angezogen haben.