Sechstes Buch: Juni – Windstärke 6

Windstärke 6: starker Wind, grobe See, hörbares Pfeifen an Telefonleitungen. Größere Wellen, überall weiße Schaumflecken. Windstärke in ca. 10 Meter Höhe über offenem, flachem Gelände: 41–52 km/h.
Beaufort-Skala

Pünktlich zu meinem ersten Arbeitstag bricht die Schafskälte herein. Ich versuche, dies nicht als Zeichen für irgendetwas zu deuten, schließlich arbeite ich ja nicht mehr als Meteorologin und schon gar nicht als Hellseherin. Dass die Temperaturen im Juni noch einmal abfallen – also genau dann, wenn die Schafe bereits geschoren sind, sodass ihr Fell sie nicht mehr vor dem Frieren bewahren kann –, ist nicht so ungewöhnlich. Deswegen reden wir auch bloß von einer „Singularität“ statt von einer „Anomalie“. Beziehungsweise habe ich das getan, als ich noch Teil des Wirs, also der Gemeinschaft der Klimaforscher, war. Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass es ein klitzekleines bisschen ungewöhnlich ist, dass diese Schafskälte so früh eintritt wie in diesem Jahr. Ich sag’s ja nur. Es hat sicher nichts zu bedeuten.

„Toi, toi, toi“, hat mir mein Mitbewohner Paul gewünscht. Ich habe mich natürlich bedankt und war ganz überrascht, wie besorgt er auf einmal dreinblickte. Vermutlich hätte ich ihn gar nicht nach dem Grund für seinen Blick fragen sollen, denn mit seiner Antwort hat er mich ganz kribbelig gemacht. „Ach lass gut sein, ist nur ein Aberglaube. Warum sollte ein bisschen Höflichkeit Unglück bringen?“

Bevor er sich erfolgreich als Tischler selbstständig gemacht hat, arbeitete er eine Weile als Requisiteur am Theater. Dort hat er auch die Regel verinnerlicht, den Darstellern niemals vor einer Vorstellung Glück zu wünschen. Dieses eherne Gesetz habe sogar ich schon einmal irgendwo aufgeschnappt. Was ich nicht wusste: Man darf zwar wie Paul „toi, toi, toi“ sagen, „Hals- und Beinbruch“ geht auch klar, aber keinesfalls darf man sich für diese alternative Ermutigung bedanken.

Und auch wenn ich überhaupt nicht am Theater arbeite, fühlt es sich nach seinen Worten an, als hätte ich einen Fluch auf mich geladen. Dazu passt, dass ich mich in meiner dünnen Bluse gerade tatsächlich wie ein geschorenes Schaf fühle und auch nicht die Aussicht habe, dass sich daran gleich etwas ändern könnte: Die U-Bahn ist so überfüllt, dass es mir nicht gelingt hineinzukommen, so rücksichtslos ist das Gedränge. Irgendeine komische Signalstörung hat dafür gesorgt, dass ein paar Bahnen ausgefallen sind, und nun haben alle Wartenden die Geduld verloren. Das schlechte Wetter hat noch mehr von ihnen in die Schächte getrieben und leider sind wir hier nicht in Tokio, wo man gnadenlos von extra dafür eingestellten Menschen in das Fahrzeug hineingezwängt wird. Nein, hier machen diejenigen, die es gerade noch in die Bahn geschafft haben, sich umgehend extra breit. Es scheint, als müssten sie mit aller Gewalt jenes Stück Komfort verteidigen, das sie den Menschen, die noch etwas früher eingestiegen sind, gerade erst genommen haben. Gut, dass ich ausreichend Zeit eingeplant habe. Erst nach zwanzig Minuten – es sind bereits drei Bahnen ohne mich abgefahren – gelingt es mir, einen Stehplatz zu ergattern. Wenn man auf dem Land lebt, wo der Bus nur alle Stunde fährt, mag einem das nicht wie eine lange Zeit vorkommen. Doch in Hamburg bedeutet alles über fünf Minuten eine Katastrophe – oder dass man in der Provinz lebt, etwa in einem der unsäglichen Stadtteile unterhalb der Elbe, wo für den Hanseaten eigentlich schon Italien beginnt. Neapel, genau genommen. Der etwas wärmere, aber verrufene Teil des Landes.

Mein Erfolg beim Ergattern eines Platzes katapultiert mich dafür gleich in tropische Zonen: Es ist so eng, dass mir nur eine der viel zu hoch angebrachten Halteschlingen bleibt. Wehrlos schlingere ich in die Achselhöhle eines beleibten Mannes. Seiner Duftnote nach zu urteilen, muss er in der vergangenen Woche mal einen Sprint hingelegt haben, ohne dass er hinterher die schweißnassen Folgen beseitigt hätte. Beim nächsten Ruck der Bahn trudele ich in die andere Richtung. Nicht wie ein Fähnchen im Wind, dafür fehlt der Platz. Eher wie eine zappelnde Ölsardine, die ihr Leben noch nicht ganz ausgehaucht hat, als man sie in die Dose gequetscht hat. Diesmal trete ich direkt auf den Schwanz eines armen kleinen Hundes, der ohnehin schon die ganze Zeit verzweifelt jault. Es ist einfach zu eng und zu stickig, vor allem für kleine Lebewesen. Und dieses arme Tier hat doppelt Pech: Über seine Pfoten rollen außerdem die Vorderräder eines ungesicherten Kinderwagens, dessen Besitzerin nicht auszumachen ist. Ich habe echt Angst, dass er mir gleich vor Empörung in die Wade beißt, auch wenn ich es ihm nicht sonderlich verdenken könnte.

„Pass doch auf, ey“, raunzt mich seine Halterin mit zweifarbigem Pony und leichter Fahne an. Dann streichelt sie das undefinierbare Fellknäuel, ohne ihren durchdringenden Blick von mir abzuwenden. „Verdammte Assis hier, ey.“

Sofort werde ich noch etwas ängstlicher. Hundehalterinnen wie diese mögen sonst nicht viel auf die Reihe bekommen, schützen dafür aber ihre Tiere noch aggressiver als frischgebackene Mütter ihre Säuglinge. So viel Verständnis ich als Mutter für ihre Beschützerinstinkte habe, so wenig möchte ich erleben, wenn sie richtig sauer ist.

„Ich tue mein Bestes“, ächze ich, recke mich weiter in die Höhe und versuche, noch mehr Finger in der Schlaufe unterzubringen, in der Hoffnung auf ein bisschen mehr Stabilität. Als es mir gelingt, verkralle ich meine oberen Fingerglieder in dem rutschigen Plastik.

Als ich am Hauptbahnhof aussteige, habe ich das dringende Bedürfnis zu duschen. An meiner Bluse klebt der Geruch von nassem Hund, verschwitztem Mann und Frühstücksbrötchen mit Ei. Stattdessen beschließe ich, den Rest des Weges zu Fuß zu laufen, statt noch einmal umzusteigen. Es kann nicht schaden, sich von der frischen Brise noch mal ein wenig durchpusten zu lassen, bevor ich mich unter meine neuen Kollegen mische.

Und schon nach ein paar Schritten bin ich mit meiner Heimatstadt glatt wieder versöhnt. Das Morgenlicht über den Fleeten der alten Speicherstadt und den kleinen verschlungenen Kanälen gehört für mich zu den schönsten Ansichten, die Hamburg zu bieten hat.

Wieso war ich nicht häufiger hier, als ich noch die Zeit gehabt hätte, um in den Cafés ein Croissant zu bestellen und hinter einer schwarzen Sonnenbrille verborgen die Menschen zu beobachten, die wie ich an diesem Tag zur Arbeit eilen, statt ihr Leben zu genießen? Die Antwort liegt auf der Hand: Für jemanden, der kein Geld verdient, wäre das sehr dekadent. Und wenn man Geld verdient, hat man keine Zeit mehr dazu. Es sei denn, man hat es schlau angestellt und lebt als digitaler Nomade. Diejenigen, die hier an den Tischen der Cafés sitzen, schaffen es, mit ihren riesigen silberfarbenen Notebooks mit dem unverkennbaren Apfel-Symbol einerseits Lässigkeit und zugleich absolute Geschäftigkeit auszustrahlen. Beides konnte ich in den letzten Monaten leider eher nicht vorweisen. Aber das ändert sich ja nun. „Ich mache jetzt auch irgendetwas mit Medien“, möchte ich ihnen in ihre coolen Gesichter rufen.

Echte Büros sind in dieser Stadt wohl kaum für den Preis von drei Milchkaffees zu haben, deswegen stellen sie es eigentlich recht schlau an, auch wenn ich nicht weiß, wie die Cafékettenbetreiber darüber denken.

Vielleicht ist dies aber auch ihr kleiner Akt der Rebellion gegenüber Konzernen wie Starbucks & Co., die es sich nun wirklich leisten können, ein paar dieser Geschöpfe aufzunehmen, ohne eine große Gegenleistung zu erwarten. Irgendwie kommt es mir immer so vor, als würden Menschen wie diese, die ihr Leben in Freilandhaltung genießen, größere Taten vollbringen als andere, die in ihrem winzigen Büro unter dem Radar ihres Chefs fliegen. Für einen Moment frage ich mich, was dort wohl an diesen Rechnern geschieht. Womöglich hat der Typ mit den wilden Locken und der Strickmütze gerade eine Lösung für das Problem mit den Kaffeesahnen-Döschen erfunden, die immer spritzen. Bestimmt erhält er irgendwann dafür den Kaffeehaus-Nobelpreis. Wobei: Ich als unkreative Naturwissenschaftlerin könnte ihm verraten, dass er höchstwahrscheinlich scheitern wird. Wird die Verschlussfolie geöffnet, stellt sich im Innern ein Druckausgleich ein – dadurch werden Teile des unter Druck stehenden Inhalts nach draußen befördert. Aber dem Mädchen mit dem karottenfarbenen Haar und der konzentriert gerunzelten Stirn unter einem ganz kurzen Pony – dem traue ich zu, dass sie irgendwann einmal den Hunger in Afrika beenden wird. Oder sie daddelt bloß auf ihrem von Papa geschenkten Gerät das Spiel „Age of Empire“ und fragt sich, wie sie endlich in den Besitz der Superwaffe gelangt.

Ach, am Ende muss ich zugeben: Trotz der leichten Wehmut, die mich beim Anblick dieser Leute packt, begebe ich mich eigentlich ganz gerne wieder in die Käfighaltung. Ohne feste Strukturen funktioniere ich einfach nicht optimal, wobei ich mir bewusst bin, dass das Mädchen mit dem Pony schon beim Hören des Wortes „Funktionieren“ in Bezug auf Menschen die Stirn noch ein wenig krauser ziehen würde.

Zugleich habe ich eine Heidenpanik, weil ich weder für das Schreiben von Texten noch als Fotografin ausgebildet bin.

Ich hatte nur das Glück, Herrn Zimmermann zu begegnen, der zufällig auch Fotografie-Autodidakt und in seinem Haus recht beliebt ist. Außerdem hat er gesagt, dass die Arbeit in der Online-Redaktion des „Hamburger Morgens“ nicht so gut bezahlt wird, sodass sich nun nicht gerade alle journalistischen Superkräfte des Landes um diesen Posten reißen.

Trotzdem bin ich mir sicher, dass mich meine Kollegen von Anfang an genau im Auge behalten werden, um bei der kleinsten Verfehlung darauf hinzuweisen, dass ich den Job ohnehin nur über Kontakte bekommen habe. Was natürlich stimmt. Ein Gutes hat die Sache aber in jedem Fall: Ein Job, bei dem ich mich beweisen muss, wird mich wunderbar von meinen anderen Problemen ablenken. Zum Beispiel davon, dass ich mir wohl eingestehen muss, dass ich ein klein wenig in meinen Mitbewohner verliebt bin.

Es gibt mehrere gute Gründe dafür, dieses Gefühl zu unterdrücken oder es am besten ganz zu ersticken. Einer davon ist die Tatsache, dass er mich für seinen besten Kumpel hält. Das hat er mir gerade erst wieder mitgeteilt. Und eigentlich ist er ja auch mein bester Freund und so etwas ruiniert man nicht wegen ein paar Frühsommergefühlen. Schon gar nicht, wenn wie bei uns auch noch Kinder im Spiel sind. Deshalb habe ich mir vorgenommen, an meiner Empfindung zu arbeiten, und nicht einmal meiner besten Freundin Kessie davon erzählt. Unausgesprochen lässt es sich leichter ausblenden. Trotzdem hat mich Kessie aus Versehen auf den richtigen Trichter gebracht, indem sie mir von ihrem Rauchstopp-Programm erzählt hat, bei dem es nur darauf ankommt, „die drei A“ richtig zu handhaben: Ausweichen, Abhauen, Ablenken. Das scheint mir auch für mein Problem die passende Strategie zu sein.

Als ich um Punkt 10 Uhr mein neues Großraumbüro betrete, scheine ich die Einzige zu sein, die noch fehlt. Die anderen wirken schon sehr in ihre Arbeit vertieft. An den beiden Doppeltischen sitzen drei Leute, deswegen vermute ich, dass der aufgeräumte und blank geputzte freie Platz an dem einen für mich bestimmt ist. Hinten in der Ecke entdecke ich noch einen Einzeltisch, an dem eine blonde, junge Frau sitzt. Falls sie immer so missmutig dreinblickt, wundert es mich nicht, dass niemand ihr Gesellschaft leisten will. Am Ende des Raums sitzt – durch eine Glaswand von dem Fußvolk abgegrenzt – unser Chef Boris Beckmann.

Neben ihm scheint Kai – den ich bei meinem Vorstellungsgespräch kennengelernt habe – der einzige Mann in der Online-Redaktion zu sein.

„Hallo“, begrüße ich ihn. „Ist der Platz hier für mich?“

Ich deute auf den Stuhl ihm gegenüber.

Er lächelt mir freundlich zu. „Genau. Mach’s dir bequem, fahr deinen Rechner in Ruhe hoch, danach kann ich dich ja ein wenig rumführen. Obwohl es nicht viel mehr zu sehen gibt als das, was du gerade vor Augen hast. Außer der Küche und dem Klo natürlich.“

Ich lächele zurück und frage mich, ob er der verschollene Zwillingsbruder von Harry Potter ist – das gleiche verstrubbelte schwarze Haar und die Nickelbrille. Die Narbe fehlt allerdings. Er kann kaum älter als fünfundzwanzig sein.

Während mein Rechner hochfährt, gehe ich an den Nebentisch, wo eine ältere Frau zusammen mit einer jüngeren sitzt und sich gerade über eine Entscheidung des Bürgermeisters aufregt.

„Entschuldigung, ich will nicht lange stören, ich wollte mich nur vorstellen“, sage ich lächelnd und halte ihnen nacheinander meine Hand hin.

So erfahre ich, dass die ältere Frau, die eine Brille mit Halsband daran trägt, Bettina und die jüngere Frau Marion heißt.

„Willkommen im Irrenhaus“, sagt Bettina trocken.

„Nun verschreck sie doch nicht gleich“, ermahnt sie Marion und lacht mir aufmunternd zu.

Meine neuen Kollegen scheinen gar nicht so übel zu sein, denke ich. Sehr schön. Bleibt nur noch der Einzeltisch am Ende des Raums. Die Blondine starrt auf ihren Rechner, obwohl ich mir sicher bin, dass sie längst bemerkt hat, dass ich auf sie zugehe. Im Gegensatz zu den anderen scheint sie mich aber nicht mit einem Blick oder einem Lächeln ermutigen zu wollen.

Kurz denke ich, dass sie mich mit meiner ausgestreckten Hand einfach stehen lässt, aber dann lässt sie sich doch noch dazu herab, aufzustehen und mir einen kurzen, schlaffen Händedruck zu gönnen.

„Cora Stephan“, stellt sie sich mit leicht nasaler Stimme vor. „Wäre schön gewesen, wenn du zuerst zu mir gekommen wärst. Ich bin hier nämlich die stellvertretende Redaktionsleiterin und hätte dich wirklich gerne den anderen vorgestellt.“

Ich schaue auf die Wanduhr. Gerade einmal fünf Minuten hier und schon meinen ersten Fauxpas begangen. Aber mal ehrlich, sie hätte ja auch direkt auf mich zugehen können. Woher sollte ich denn wissen, dass ein so kleines Team gleich zwei Chefs braucht?

„Sorry“, sage ich. „Das war mir nicht klar.“

Sie setzt sich wieder hin und lächelt sauertöpfisch, allerdings wieder an ihren Rechner statt an mich gewandt. „Na, am ersten Tag kann man eben noch nicht viel erwarten. Aber wo du endlich einmal da bist, kannst du fix noch ein paar Themen für die Konferenz suchen.“