Sechstes Buch: Juli – Windstärke 7

Windstärke 7: steifer Wind, Bäume schwanken, Widerstand beim Gehen gegen den Wind, weißer Schaum von den brechenden Wellenköpfen. Windstärke in ca. 10 Meter Höhe über offenem, flachem Gelände: 51–62 km/h.

Beaufort-Skala

„Mama, ich bin so müde“, murmelt Mäxchen leise.

Mein Sohn und ich liegen aneinandergekuschelt auf einer riesigen Luftmatratze im Garten meiner Eltern. Über uns habe ich eine dünne karierte Decke ausgebreitet.

„Soll ich dich nicht doch lieber in dein richtiges Bett bringen?“, flüstere ich zurück. „Du hast noch ein ganzes Leben vor dir, um leuchtende Wolken zu sehen.“

„Ich will sie aber jetzt sehen, Mama. Wirklich.“ Seine Augenlider flattern und ich bin gerührt und besorgt angesichts seiner Tapferkeit.

Seufzend gebe ich nach. Ich weiß, dass er zwei Tage schwer genießbar sein wird, wenn ich zulasse, dass sein Rhythmus dermaßen durcheinandergerät, aber gleichzeitig finde ich es einfach zu schön, so still mit ihm hier zu liegen und in den Himmel über uns zu schauen. „Na gut, mein Schatz. Morgen ist ja Wochenende, dann können wir ganz lange ausschlafen.“

In meinem Magen kribbelt es. Wenn man lange genug in diese endlose Weite über uns schaut, ist es fast, als würde man über einer Leere schweben, auch wenn man dank Schwerkraft ja kleben bleibt. Im Garten meiner Eltern ist es dunkler als in Hamburgs Innenstadt. Deswegen sind wir hierhergekommen. Um leuchtende Flecken am Nachthimmel besser sehen zu können. Mäxchen hat darauf beharrt, nachdem er ein Gespräch zwischen meiner Freundin Kessie und mir belauscht hat. Alles fing damit an, dass ich in der vergangenen Woche völlig unerwartet eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bei „Cloud 2050“ erhalten habe. Einem renommierten Institut in meiner Heimatstadt, das – wie der Name schon sagt – Wolken erforscht, um endlich viele der offenen Fragen zum Thema Klimawandel zu beantworten. Dass sie sich außerdem mit Wind beschäftigen, hat mir eventuell die Einladung verschafft. Meine Abschlussarbeit an der Uni drehte sich nämlich um die Probleme, die sich ergeben, wenn man die Windgeschwindigkeit genauer vermessen will. Meine Lösungsvorschläge schienen zu dem Zeitpunkt utopisch zu sein, aber in den Augen meines Profs hatte ich meine Ideen so schlüssig entwickelt, dass ich eine sehr gute Note von ihm erhalten habe. Ich war so aufgeregt und erfreut, als der Anruf von der Sekretärin kam, dass ich sofort Kessie zum Kaffee eingeladen habe, um ihr davon zu erzählen. Dabei ist es dumm, diese winzige Chance jetzt schon so abzufeiern, am Ende werden sie mich doch nicht nehmen. Ich wette, dass die Konkurrenz riesig ist.

„Wer möchte schließlich nicht in einer Einrichtung mit einem großartigen Wolkensimulator arbeiten?“, fragte ich aufgeregt.

„Äh, so ziemlich jeder normale Mensch vielleicht?“, fragte Kessie mit hochgezogener Augenbraue.

„Ach, Kessie, du warst doch auch mal eine von uns.“

„Nein, war ich nie, und deshalb habe ich ja auch nach zwei Semestern abgebrochen. Ich wollte nur so gerne das Wetter im Fernsehen ansagen und wusste nicht, welch unfassbare Langeweile man dafür auf sich nehmen muss. Da kellnere ich doch lieber weiter“, sagte sie. Insgeheim hofft sie immer noch auf ihren großen Durchbruch beim Film. An einer Schauspielschule hat sie sich aber nie beworben, weil sie kein Bock auf Theater, sondern nur auf Kameras hat, wie sie sagt.

„Hast du denn während deines kurzen Studiums nie davon geträumt, mit einem Forschungsschiff in die Arktis zu fahren oder in Barbados tropische Wolken zu untersuchen?“

„Wirklich nicht, Lisa. Auf Barbados sehe ich mich höchstens im Bikini, aber ohne technische Geräte.“

Ungläubig starrte ich sie an.

Sie fing an zu lachen. „Lisa, genau dafür liebe ich dich. Du machst einen so normalen und vernünftigen Eindruck, dabei bist du der netteste Freak, den ich kenne. Aber egal, es geht hier ja nicht um mich. Du bist offenbar ganz aus dem Häuschen wegen dieses Wolkenkrams. Erzähl mir wieso und ich freue mich mit dir.“

Also erzählte ich ihr von den Wolken. Und hier kamen auch die irisierenden Wolken ins Spiel. Wenn etwas leuchtet, ist es auch für Laien als etwas Besonderes erkennbar, dachte ich mir.

Ich habe ihr aber nicht erklärt, dass das Phänomen der manchmal in den Sommermonaten sichtbaren leuchtenden Nachtwolken vermutlich mit dem Klimawandel zusammenhängt, weil ich weiß, dass meine Freundin dann wieder dichtmachen würde, so wie ich es manchmal tue, wenn sie zu lange über Massentierhaltung spricht. Doch vor Ende des 19. Jahrhunderts hat diese Wolken kein Mensch gesehen. Es ist doch komisch, dass sie ausgerechnet in dem Moment zum ersten Mal auftauchten, als wir unsere Welt unter Dampf gesetzt haben. Insgesamt wissen wir aber auch heute noch erstaunlich wenig über die Wolken. Mag ja sein, dass es kaum noch weiße Flecken auf Landkarten gibt, aber im Universum und unter Wasser, da gibt es sie schon noch.

Kessie hat mich ausgelacht, doch ich bemerkte, dass mein Sohn uns gebannt ansah, dabei konnte er kaum die Hälfte von dem, was ich gesagt habe, verstanden haben. Ich dachte, er würde zu unseren Füßen versunken mit der Eisenbahn spielen, weil er keinen Mucks von sich gegeben hat. Doch hinterher forderte er von mir: „Zeig mir die Wolken, die leuchten, Mama.“

Genetisch sind eben fünfzig Prozent von ihm von mir.

Und deshalb liegen wir nun hier, im Garten meiner Eltern, obwohl es schon viel zu spät für ihn ist. Doch da er sich in den vergangenen Nächten ohnehin geweigert hat zu schlafen, weil er besessen von den Wolken war, kam mir der Gedanke, mit ihm zu meinen Eltern zu fahren.

Und eigentlich ist es richtig romantisch. Neben uns glimmen noch die Reste unseres Feuers in einer rostigen Metallschale, über der wir Stockbrote gemacht haben, wie es sich für ein echt pfadfindermäßiges Abenteuer gehört. Und um Mäxchens Hals hängt noch das alte Fernglas meines Vaters. Er hat es netterweise seinem Enkel geliehen, damit er besser in den Himmel gucken kann. Dabei wissen mein Vater und ich natürlich, dass das erhoffte Spektakel so weit entfernt vonstattengeht, dass die Linsen kaum etwas bringen werden. Doch Mäxchen hat sich gefreut wie Bolle. Nun ist er ein richtiger Forscher. Fehlen nur noch die Wolken. Leider besteht eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, dass wir sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Zwar sind sie in letzter Zeit häufiger zu sehen, was wohl die Klimawandel-These stützt, das heißt aber nicht, dass sie ständig sichtbar sind. Es besteht nur die Chance – und zwar nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang –, einen Blick auf einen silberblauen, glimmenden Streifen am Himmel zu erhaschen. Ganz weit oben, an der Grenze zum Weltall, wo …

„Mama! Mama, schau mal!“, ruft Mäxchen. „Sind sie das nicht?“

Ich schrecke hoch, weil ich nicht einmal gemerkt habe, dass meine Augen zugefallen sind. Müde öffne ich sie – und tatsächlich, dort ist der glitzernde Schleier aus Eispartikeln. Sie sind in der gleichen Höhe, in der die Sternschnuppen erglühen. Ihre Kristallisationskerne sind – so vermutet man – aus dem Material, das beim Verglühen von Meteoren freigesetzt wurde. Je nachdem wie die Sonne steht, können sie goldfarben oder perlmuttartig aussehen. Heute glänzen sie wie Perlmutt.

„Ja, mein Schatz, das sind sie.“

Arm in Arm schauen wir nach oben und ich freue mich, dass mein Sohn das kleine Naturschauspiel wirklich zu genießen scheint, statt enttäuscht darüber zu sein, dass es möglicherweise etwas weniger spektakulär aussieht, als es klang.

Man sieht diese Wolken deshalb nur im Sommer, weil es dann dort ganz oben am kältesten ist. Überhaupt haben nur wenige Menschen auf der Welt das Glück, sie beobachten zu können. Es hängt eben davon ab, auf welchem Breitengrad man sich befindet, man darf zum Beispiel nicht zu weit im Norden oder im Süden hocken. Ich finde das fair, es ist ein kleiner Ausgleich dafür, dass die Menschen im Norden diese unglaublichen Polarlichter und die Bewohner des Äquators den Sternenhimmel gepachtet haben. Nur dort ist es möglich, innerhalb eines Jahres alle Sternbilder zu betrachten.

Ich schaue in die glasigen Augen meines Sohnes und denke an die Diskussionen, die wir wegen dieser Nacht geführt haben, weil ich dachte, dass man einem so kleinen Jungen nicht erlauben darf, so lange aufzubleiben. Wer weiß, vielleicht hätte ich am Ende gewonnen, wenn ich nur mehr Willensstärke aufgebracht hätte. Aber eigentlich ist das hier viel besser als

Willensstärke, finde ich, auch wenn die Psychologen in den Erziehungsratgebern etwas anderes behaupten. Aber darüber muss er dann irgendwann mal mit seinem Therapeuten reden, ich genieße lieber den Moment und vergesse, dass dessen Schönheit wohl Treibhausgasen zu verdanken ist.

Das Schauspiel wird ohnehin nicht lange anhalten. Das Ende ist vorprogrammiert. Schuld ist mal wieder die Schwerkraft. Immer mehr Wasserdampf wird an diesen Eisteilchen haften, sodass sie schwerer werden. Auf ihrem Sinkflug geraten sie dann in wärmere Sphären, wo sie – puff! – einfach verdampfen.

„Warum leuchten sie?“, fragt Mäxchen.

„Das macht die Sonne“, erkläre ich.

„Aber die ist gar nicht mehr da. Und du hast gesagt, dass man die leuchtenden Wolken erst sehen kann, wenn die Sonne weg ist.“

„Nun, also … damit hast du auch recht“, murmele ich lahm.

„Wie denn nun?“, fragt er übermüdet und gereizt.

„Also, die Sonne versinkt dahinten, wo es aussieht, als wäre dort eine Wand und die Welt zu Ende. Man nennt es Horizont. Wenn die Sonne sinkt, verschwindet sie nicht einfach. Sie ist dann nur unter dem Horizont, wo wir sie nicht sehen können. Aber die Sonne sieht von dort diese Wolken und beleuchtet sie.“

Mit ein paar Stöckchen, die ich im Gras verteile, unterstreiche ich meine unbeholfenen Erklärungen. Ihm scheinen sie zu genügen. Er schweigt während meines Monologs jedenfalls andächtig. Lächelnd schaue ich ihm ins Gesicht – und stelle fest, dass er eingeschlafen ist.

Die quälenden Rückenschmerzen, mit denen ich am folgenden Morgen erwache, werfen die Frage auf, ob man die Luftmatratzenzeit schon mit dreißig Jahren hinter sich gelassen hat oder ob nur bei mir der Verschleiß so ausgeprägt ist. Ich kann meinen Nacken kaum bewegen. Es war nicht beabsichtigt, hier draußen zu schlafen. Mein Plan war gewesen, Mäxchen, sobald er eingeschlafen wäre, ins Haus zu tragen, damit wir in der Nacht ein Dach über dem Kopf hätten, zumal ich den Gedanken an die vielen Krabbeltiere im Garten nicht so angenehm finde. Doch offenbar habe ich den Moment verpasst, da ich selbst eingenickt bin. Ich spüre meine eiskalten Zehen und schaue besorgt nach Max, der neben mir unter der dünnen Decke liegt. Ich berühre sanft seine Füße und seinen Nacken. Alles warm, stelle ich erleichtert fest und ziehe meine Hand zurück, um ihn nicht zu wecken. Dann taste ich nach meinem Handy, das auf dem Rucksack neben uns im Gras liegt. Es ist ein wenig feucht geworden, aber auf den ersten Blick zum Glück noch voll funktionstüchtig. Halb sechs erst? Aber wer draußen schläft, erwacht eben mit den ersten Sonnenstrahlen. Ist ja irgendwie auch ganz schön, wenn ich nur nicht so dringend aufs Klo müsste. Weil ich weder Mäxchen alleine zurücklassen kann noch seinen Schlaf stören möchte, kneife ich fest die Beine zusammen und versuche, an etwas anderes zu denken. Doch es ist wie mit dem rosa Elefanten, an den man nicht denken soll: Man denkt an nichts anderes mehr und wird ganz verrückt davon. Ich lenke mich ab, indem ich, seitlich liegend, mit dem Kopf auf einem aufgestützten Ellbogen ruhend, den kleinen Jungen betrachte, der dort mit einem rundum entspannten Gesichtsausdruck liegt. Beneidenswert.

An unserem Lagerfeuer hat er mir anvertraut, dass er später einmal in den Weltraum fliegen möchte. Ich hoffe aber, er entscheidet sich vielleicht doch noch für etwas anderes. Ich würde ihn sehr vermissen, wenn er auf dem Mars wäre, und die ganze gefriergetrocknete Astronautennahrung kann nicht gesund sein. Mäxchen wünscht sich aber, dort Laika zu besuchen. Den Hund, den man vor vielen Jahren in den Weltraum geschossen hat. Bei dem Gedanken, welche Voraussetzungen nötig wären, damit die beiden sich vielleicht begegnen könnten, wären mir beinahe die Tränen gekommen. Zum Glück kennt Mäxchen das Schicksal des Tieres noch nicht. Die Laika, die er zu treffen hofft, taucht in einem seiner Kinderbücher über Pettersson und den kleinen Kater Findus auf. Der will nämlich auch in den Weltraum. Allerdings wird dem Kater und den kleinen Lesern verschwiegen, dass es sich um eine Mission ohne Wiederkehr handelte. Der Ausflug eines Hundes in den Weltraum wurde zwar als großer Erfolg gefeiert, aber die Russen wussten schon, warum sie erst fünfzig Jahre später gestanden haben, dass Laika bereits kurz nach dem

Start gestorben ist, weil es so heiß war und die kleine Hündin unter starken Stress geriet. Eigentlich wollte man ja erst viel später ihr Futter vergiften. Geblieben sind von ihr nur eine nach ihr benannte Bodenprobe und eine rumänische Briefmarke. Ich möchte wetten, dass sie – anders als ihre erfolgshungrigen Herrchen – nicht der Meinung wäre, dass diese Andenken die Sache wert gewesen sind.

Langsam scheint das Licht auch Mäxchen aufzuwecken, er wälzt sich von einer Seite zur anderen. Dann schlägt er die Augen auf und kommt ruckartig zum Sitzen. „Mami, ich habe Hunger.“

Ich puste ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, kraule kurz seinen Schopf und lächle. Von null auf hundert, das können nur Kinder. Bis ich so weit sein werde, dauert es mindestens noch einen Kaffee, schwarz, und eine Dusche.

„Komm, ich trage dich ins Haus“, sage ich. „Die Wiese ist nass und du hast nur Socken an.“

Verblüfft zieht mein Sohn die Decke zur Seite und schaut an sich herunter, dann reckt er sein Kinn und betrachtet das Blätterdach über uns. „Haben wir etwa draußen geschlafen?“, fragt er fast ein wenig vorwurfsvoll.

Ich nicke. „Ja, haben wir. Aufregend, oder? Eigentlich ist es ja noch viel zu früh, um aufzustehen und zu frühstücken. Doch bei dem Licht schlafen wir wohl nicht mehr. Wollen wir uns drinnen im Bett ein wenig aufwärmen und versuchen, noch ein wenig zu pennen?“

Er schüttelt vehement mit dem Kopf. „Ich habe Hunger. Mein Bäuchlein tut schon ganz weh.“

Mit einem Gesichtsausdruck, als befänden wir uns mindestens am zehnten Tag einer Hungerepidemie, patscht er mit der flachen Hand auf seinen Bauch.

Drama, Baby. Aber wie sagt man immer so schön: Frische Luft macht hungrig.

Mit einem nachsichtigen Seufzer hebe ich ihn hoch und marschiere mit dem schweren Bündel im Arm zum Haus.

„Soll ich dir etwas Warmes machen?“, murmele ich in sein Haar, während ich ihn mit einem Arm so fest umklammere, dass ich die andere Hand dazu nutzen kann, den Haustürschlüssel zu suchen. „Vielleicht Rühreier?“, frage ich. „Mit Schnittlauch und Parmesan?“