Neuntes Buch: September – Windstärke 9

Windstärke 9: Sturm, Dachziegel könnten von den Häusern fliegen. Hohe Wellen mit verwehter Gischt. Windstärke in ca. 10 Meter Höhe über offenem, flachem Gelände: 76–88 km/h.
Beaufort-Skala

Oft sprechen Menschen vorschnell von einem Sturm, nur weil gerade ein paar Blätter aufgewirbelt werden. Meist handelt es sich dabei allerdings höchstens um einen kräftigeren oder auch bloß steifen Wind. An diesem Tag aber haben vorsichtige Menschen durchaus recht, sich in ihren Häusern zu verkriechen und sich bei einem Blick aus dem Fenster einfach mal krankzumelden. Denn diesmal sollen wir es tatsächlich mit Windstärke 9 zu tun bekommen, die man reinen Gewissens als Sturm bezeichnen darf. Nicht nur, dass meteorologisch betrachtet der Sommer traurigerweise schon seit gestern, dem 31. August, zu Ende ist, der Herbst gibt jetzt schon einen kleinen Vorgeschmack auf sein Können. Ich weiß nicht, wie die Stadt das überstehen soll, wo bereits nach den ersten Regentropfen im Minutentakt das Tatütata der Krankenwagen zu hören war. Das ist für mich ein Rätsel, das mich immer schon beschäftigt hat: Sobald es ein wenig regnet, hört man kurz darauf Sirenen. Offenbar lassen sich sehr viele Autofahrer sehr leicht aus dem Konzept bringen. Doch ein Blick aus dem Bürofenster verrät mir, dass sie diesmal wirklich in Gefahr sind. Von meinem Fenster aus kann ich ein einziges trauriges Bäumchen sehen, das am ganzen Körper zittert bei dem Versuch, zumindest ein paar seiner immer noch grünen Blätter – kalendarisch betrachtet ist ja noch Sommer – festzuhalten. Es schlägt sich wacker, wenn ich die Bilder betrachte, die auf meinem Bildschirm über den Nachrichtenticker aufploppen: Nicht weit entfernt sind bereits Bäume auf die Straßen gekippt. Die S-Bahn ist schon am Morgen ausgefallen, weswegen ich mit dem Taxi zur Arbeit fahren musste, was mich trotz der kurzen Strecke bei dem Chaos da draußen nicht nur eine Stunde meiner Zeit, sondern auch noch 20 Euro gekostet hat. Vermutlich hätte ich zu Fuß gehen sollen, aber allein der kurze Fußmarsch mit meinem Sohn zum Kindergarten war eine brutale Herausforderung. Ich habe seine Hand so krampfhaft festgehalten, dass er erbost gequietscht hat, und dabei dauernd nach oben geschaut, um mich auf ihn werfen zu können, sollte ein riesiger Ast versuchen, seinen kleinen Kopf zu treffen. Stattdessen hätte ich wohl auf die Erde schauen sollen, dann wäre ich nicht über einen dieser fetten Äste gestolpert und hätte ohne Loch in der Hose meinen Arbeitsplatz erreicht.

Obwohl ich bereits vor über einer Stunde angekommen bin, bemerke ich erst jetzt, dass offenbar Coras Freundin heute ihren Job bei uns antritt. Die beiden könnten Zwillingsschwestern sein, das gleiche lange blonde Haar und die Kleidung, bei der man sich fragt, ob sie nicht eventuell einem Karnevals-Shop für sexy Sekretärinnen entstammt. Wie aus dem Nichts stehen sie plötzlich gemeinsam in der Ecke und schauen tuschelnd zu ihren Kolleginnen. Was sie dort sehen, muss aufregender sein, als was ich sehe – Menschen an ihrem Rechner –, jedenfalls bringt es sie dazu, immer wieder die Augen zu verdrehen und zu kichern. Sollte Cora als stellvertretende Chefin die Neue nicht lieber rumführen und uns einander vorstellen, damit wir die Hände schütteln und einen ersten Eindruck voneinander bekommen können? Sie scheint es jedoch vorzuziehen, uns ihre Freundin in unserer Abwesenheit nahezubringen – und das wird sicher nicht zu unseren Gunsten ausgehen.

Bettina flüstert mir zu: „Schau nicht so sorgenvoll. Ist doch egal, was sie sagt. Diese Allianz hält doch nur, bis Beckmann feststellt, dass er Sisi auch scharf findet.“

„Sisi?“, frage ich verdutzt.

„Frag besser nicht. Ich habe ihr einen Handschlag aufgedrängt, von wegen gute alte Höflichkeit und so. Da hat sie sich als eine Caroline vorgestellt, die aber Sisi genannt werden möchte. Natürlich habe ich sie gefragt, wie sie zu diesem Spitznamen gekommen ist. Da hat sie aber nur einen geheimnisvollen Blick aufgesetzt und gesagt, dass dies eine lange Geschichte sei. Cora hat gekichert wie verrückt. Da habe ich gemerkt, dass ich gar nicht interessiert genug bin, um weiter nachzufragen.“

„Oh“, sage ich, während ich aufstehe. „Aber wie lange ist sie denn schon da, ich habe sie gar nicht bemerkt.“

Bettina verdreht die Augen. „Sie waren ja auch die ganze Zeit in der Kaffeeküche. Was Cora halt unter Einarbeiten versteht – nun wollte sie Sisi vermutlich noch mal die Gesichter zu den Geschichten präsentieren, die sie ihr aufgetischt hat.“

Seufzend stehe ich auf. „Egal, ich versuche trotzdem mal mein Glück und gehe ihr auch Hallo sagen. Man soll ja nicht voreingenommen sein.“

Cora und Sisi verstummen schlagartig, als ich mich auf sie zubewege. Irritiert, sogar beinahe ein bisschen beunruhigt, schauen sie mich an. Vermutlich hat Cora mich gerade als die doofe Möchtegern-Journalistin erwähnt, die mit dem Versager Kai befreundet gewesen ist, bevor er einem Talent wie Sisi weichen musste. Stopp, du wolltest nicht voreingenommen sein. Trotzdem vermisse ich Kai jetzt schon, ein wenig Testosteron – ich meine nicht diese krassen Alpha-Hormone, die Beckmann aus jeder Pore ausdünstet – hat unserem Hühnerhaufen ganz sicher nicht geschadet.

„Das ist echt krass da draußen, oder?“, sagt Cora dann schnell und deutet aus dem Fenster, als hätten die beiden sich die ganze Zeit nur übers Wetter unterhalten.

„Ja, wirklich krass. Ein echter Sturm. Wie gut, dass wir alle drinnen sind. Da möchte man eigentlich keinen Hund vor die Tür jagen. Ich bin übrigens Lisa“, sage ich freundlich und reiche unserer neuen Kollegin die Hand.

Sie ergreift sie zögernd und ohne jeden Druck, was ein sehr unangenehmes Gefühl ist.

„Ich habe schon viel von dir gehört“, sagt sie mit einem strahlenden Lächeln und einem vielsagenden Blick zu Cora. „Ich bin Sisi. Und bevor du auch noch fragst: Nein, ich wurde nicht so getauft. Eigentlich heiße ich Caroline, aber ich möchte bitte, bitte nicht so genannt werden. Ich hasse den Namen – eine lange Geschichte.“ Der dramatische Tonfall straft ihre wegwerfende Geste Lügen. Dies ist der Punkt, an dem ich unbedingt nachfragen sollte. Ihre Stimme ist sehr schrill. Trotz meiner guten Vorsätze stelle ich fest, dass ich ihrer verbogenen Aufforderung nicht nachkommen, sondern mich lieber wieder an meinen Platz verkriechen möchte.

„Na gut“, sage ich lächelnd. „Dann will ich nicht weiter stören, sondern mache mich mal wieder an die Arbeit. Heute ist ja einiges los.“ Ich deute aus dem Fenster und wende mich ab.

Hinter meinem Rücken höre ich die beiden glucksen und fühle mich für einen Moment in meine Schulzeit zurückversetzt. Nur dass mich so ein Verhalten nicht mehr sonderlich nervös macht. Zudem darf ich diesen unwirtlichen Ort ja bald verlassen. Als ich Beckmann vor zwei Tagen die Kündigung auf den Tisch gelegt habe, hat er ziemlich sauer reagiert. Nicht etwa, weil ich so eine unentbehrliche Kraft bin, das kann ich mir nicht einreden, sondern weil mein Gehen für ihn Arbeit bedeutet. „Wieder einen neuen suchen? Bewerbungsgespräche führen? Wenn ich jemandem wie dir eine Chance gebe, hätte ich ein wenig mehr Dankbarkeit erwartet.“

Irgendetwas an seinem genervten Gebaren machte mich stocksauer. Ich weiß natürlich, dass er „jemandem wie dir“ auf die Tatsache bezieht, dass ich ohne Erfahrung hier angefangen habe, aber trotzdem ist es eine echt besch…eidene Formulierung.

„Und wenn ich unter einem Chef arbeiten muss, der Willkür und Sexismus für eine Führungsqualität hält, hätte ich etwas mehr Gehalt erwartet“, erwiderte ich kühl.

„Raus“, brüllte er.

Was soll’s! Ein brüllender Chef beunruhigt mich heute genauso wenig wie gackernde Kolleginnen. Ich habe ganz andere Sorgen und die betreffen meinen neuen Arbeitsplatz, an dem mein Herz jetzt schon hängt. Dort möchte ich zeigen, dass ich es wirklich draufhabe. Fraglich ist, ob die neuen Kollegen noch etwas anderes sehen werden als meinen Bauch, sobald der sich Ende des Jahres zu runden beginnt. Deswegen habe ich den Vertrag im Wolkenlabor tags zuvor mit einem beklommenen Gefühl im Magen unterschrieben. Spätestens, wenn ich es eh nicht mehr verheimlichen kann, werden sie anfangen zu rechnen und feststellen, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon schwanger gewesen bin. Hoffentlich kann ich ihnen bis dahin beweisen, dass es kein Fehler war, sich für mich zu entscheiden. Und ich werde natürlich für die üblichen Wochen in den Mutterschutz verschwinden, aber eine lange Elternzeit danach brauche ich nicht. Das Kind wird ja gar nicht bei mir sein. Jetzt bloß nicht wieder heulen. Was ich tue, ist das Liebevollste, was man für seinen großen Bruder tun kann, so muss man das sehen. Er hat es verdient, die Erfahrung zu machen, ein Kind großzuziehen. Und es wird das am liebevollsten umsorgte und verwöhnteste Kind im Weltall werden.

Ich habe nach dem positiven Schwangerschaftstest so schnell wie möglich versucht, einen Arzttermin zu bekommen, damit ein Profi bestätigt, was der Teststreifen ohnehin schon verraten hat. Und morgen ist es so weit. Roman und Martin wollen mich unbedingt begleiten, sie sind schon ganz aufgeregt. Das lindert mein schlechtes Gewissen ein wenig. Dabei wusste ich natürlich schon fünf Minuten, nachdem ich dem Impuls gefolgt bin, Roman zu sagen, dass ich schwanger bin, dass ich damit gewaltigen Mist gebaut hatte. In dem Moment habe ich es zwar nicht so gesehen, aber am Ende betrüge ich mit meiner Entscheidung alle.

Paul, der nie erfahren wird, dass er zum dritten Mal Vater wird. Roman und Martin, die denken, dass ihr Kind einen viel größeren Teil ihrer Gene trägt, als es das tut. Und natürlich betrüge ich mich selbst, indem ich mir einrede, dass ich darüber hinwegkommen werde, das Kind abzugeben, weil ich das Beste für seine Zukunft will und meinem Bruder zu seinem großen Glück verholfen habe. Was Paul angeht, fühle ich mich nicht ganz so mies, weil er ja deutlich gesagt hat, dass er nie wieder ein Kind möchte und keine Frau will, die eines bekommt. Na gut, er hat es nicht exakt so gesagt, aber gemeint hat er es.

Es ist schon erstaunlich, dass es mir zweimal gelungen ist, ungeplant schwanger zu werden. Eigentlich sollte das nur fünfzehnjährigen Mädchen mit zweifarbigen Haarsträhnen und einem frühen Alkoholproblem passieren, die in mit Graffiti beschmierten Hochhäusern ohne elterliche Fürsorge aufwachsen. Bei mir stand die Chance dafür vermutlich eins zu einer Million, denn weil ich unter besseren Bedingungen groß geworden und auch meistens vernünftig bin, hatte ich nur ein einziges Mal in meinem Leben ungeschützten Geschlechtsverkehr – und zwar mit Paul in Venedig. Als ich mit Mäxchen schwanger geworden bin, hatten wir verhütet. Doch vielleicht haben wir poröse Kondome verwendet, jedenfalls blieb zwei Wochen später meine Periode aus.

Während meiner Schwangerschaft blieb das kleine Wesen, das am Ende aus meinem Bauch schlüpfen würde – was für ein gruseliger, alienmäßiger Gedanke –, etwas seltsam Unwirkliches. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein würde, mit einem Kind zu leben. Ich habe trotzdem das ganze Gedöns mitgemacht – von Geburtsvorbereitungskurs bis Schwangeren-Wassergymnastik. Ich habe brav Folsäure geschluckt und rohen Käse gemieden und ich fand es aufregend, auf den Ultraschallaufnahmen das kleine Herz zu sehen. Doch irgendwie habe ich all das nie richtig mit mir in Verbindung gebracht und auch nicht verinnerlicht, dass daraus ein echter kleiner Mensch entstehen würde, mit dem ich jeden Tag zumindest der folgenden achtzehn Jahre teilen würde. Vermutlich war es auch besser so, sonst wäre ich zu dem Zeitpunkt höllisch in Panik geraten, denn ich wusste ja auch nicht, wie sehr man sich an dieses Kind gebunden fühlen würde, sobald es einmal da ist. Doch nun weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man nach Stunden der Qualen plötzlich ein ganz neues Lebewesen in die Arme gedrückt bekommt, das gleich so selbstverständlich und aufregend da ist, dass man sich schon kurz darauf nicht mehr vorstellen kann, dass es das jemals nicht war. Während ich mir also während der Schwangerschaft ein Leben mit Mäxchen nicht vorstellen konnte, gelang es mir hinterher nicht mehr, mir eine Zeit ohne ihn vorzustellen. Selbst wenn ich an die Vergangenheit dachte, schlich er sich in meine Erinnerungen, so, als wäre er immer schon da gewesen. Und ich weiß noch genau, dass ich von der ersten Sekunde an in ihn verliebt gewesen bin, obwohl ich vorher jeden für kitschig oder hormonell verpeilt gehalten habe, der so etwas sagt. Weil mir all das nicht klar gewesen war, hätte ich dieses befremdliche Wesen in mir vielleicht leichteren Herzens meinem Bruder versprechen können. Jetzt steht mir die schwierige Aufgabe bevor, dieses neue Leben so gut wie nur möglich zu hegen und zu pflegen, solange es in meinem Bauch wächst, aber es trotzdem nicht allzu sehr als Teil von mir zu sehen. Das wird mir sicher viel besser gelingen, sobald ich diesen lächerlichen Film aus meinem Kopf verbanne, in dem Paul vor mir kniet und mich anfleht, dieses Kind mit ihm zu bekommen, sodass wir alle miteinander als glückliche Familie mit insgesamt vier Kindern leben können. Danach machen wir dauernd Urlaub in Schweden. In diesen rot gestrichenen Häusern mit weiß getünchten Fensterläden. Die Kinder stromern herum und sammeln wilde Blaubeeren, aus denen ich köstliche Kuchen …

Stopp, Lisa, du bist die schlechteste Bäckerin in einem Umkreis von zehn Kilometern.

Dennoch kann ich den Film nicht anhalten. Da kommt noch mein Bruder, der ganz gerührt von unserem großen Glück eine Träne vergießt und sagt, dass er mein Opfer auf gar keinen Fall annehmen und er Pauls und meinem Glück nicht im Wege stehen kann. Als Computerspiele-Designer hat er zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass er sich mit einem virtuellen Baby begnügen kann. Doch es ist sicher auch nicht hinderlich, dass dieses ein Geschwisterchen bekommt – denn wie durch ein Wunder kommt die Nachricht, dass es mit Romans und Martins Adoptionsantrag doch noch geklappt hat.

Die Wirklichkeit sieht ein wenig anders aus. Wenn wir beide zu Hause sind, reden Paul und ich nur noch das Nötigste miteinander. Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu sagen, dass ich keine gemeinsame Zukunft mit ihm sähe? Weil mir nichts Besseres einfiel, habe ich mir seine Aussage, kein Kind mehr zu wollen, geschnappt und daraus ein Argument für unsere Trennung gebastelt. Ich sei noch nicht bereit, die Mutter zweier weiterer Kinder zu werden, von denen eines bereits dreizehn Jahre alt war. Und auch nicht dazu, selbst die Aussicht auf ein weiteres eigenes Kind begraben zu müssen. Erst mal müsse ich schauen, wie ich mein eigenes Leben, vor allem mein Berufsleben, auf die Reihe bekäme. Offenbar habe ich genau den richtigen Ton getroffen. Als ich seine Kinder erwähnt habe, sind seine Augen so schmal geworden, dass ich es nicht mehr gewagt habe, ihn anzusehen.

ihm