Zehntes Buch: Oktober – Windstärke 10

Windstärke 10: Schwerer Sturm, Bäume werden entwurzelt, Gartenmöbel weggeweht. Sehr hohe Wellen, schwere Brecher. Windstärke in ca. 10 Meter Höhe über offenem, flachem Gelände: 89–104 km/h.
Beaufort-Skala

„Willst du etwa schon wieder weg?“, fragt Alex beleidigt. „Ich habe doch noch kein Wort mit meinem Sohn gesprochen.“

Da hat er recht. Aber dass er der Vater meines Sohnes ist, ist auch der einzige Grund, warum ich diesem Typen mit der Einfühlsamkeit eines Nilpferds nicht etwas an den Kopf werfe, das ich nicht zurücknehmen kann. Ich habe gerade keine Zeit, sein Ego zu pflegen. Ich muss meiner Familie beistehen. Meine Schwester ist verschwunden! Auch wenn ich mir sicher bin, dass sich alles am Ende bloß als ein harmloses Missverständnis oder eine Performance von Zoe herausstellen wird, kann ich den Hilferuf meiner Eltern nicht einfach ignorieren.

„Du kannst mich nicht irgendwohin bestellen und dann wieder fortschicken, wie es dir gerade beliebt“, fährt der Vater meines Sohnes verärgert fort. Ungläubig starre ich ihn an.

„Aber Alex, du müsstest doch am besten wissen, dass sich die Menschen eben manchmal verdrücken, wenn es gerade so gar nicht passt“, sage ich betont sanft, um nicht auszurasten. „Allerdings kann ich sogar einen sehr guten Grund vorweisen, aus dem ich dich für den Moment leider einfach hier sitzen lassen muss. Meine Eltern haben mich um Hilfe gebeten. Es ist etwas vorgefallen, das nicht vorhersehbar war. Und in Krisenzeiten stehen sich Familien nun einmal üblicherweise bei. Verstehst du das Konzept?“

Er schaut mich verärgert an und scheint fieberhaft nach einer schlagfertigen Antwort zu suchen. Doch dann lehnt er sich achselzuckend zurück. „Wenn du meinst. Aber wenn bei deinen Eltern Stress angesagt ist, dann ist Mäxchen dir doch ohnehin nur im Wege. Lass ihn doch einfach hier.“

Ich kneife empört die Augen zusammen. „Mir ist mein Sohn nie im Weg. Hast du verstanden? Nie!“

Polizei, Blut, Zoe verschwunden – natürlich wäre es besser, den Kleinen nicht dorthin mitzunehmen. Aber seinem Vater traue ich nach der letzten gemeinsam verbrachten halben Stunde weniger als jemals zuvor. Deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als ihn mit mir zu nehmen.

„So meinte ich das doch gar nicht“, erwidert er.

„Wie meintest du es denn?“

„Na ja, ich dachte nur …“ Er verschränkt die Arme. „Egal. Kann es sein, dass du gar nicht willst, dass ich meinen Sohn besser kennenlerne?“

Ich sehe ihm an, dass er nun ernsthaft schmollt. Ich seufze. Etwas weniger egoistischen Menschen als mein Ex wäre an dieser Stelle womöglich der Gedanke gekommen, mich zu fragen, was denn überhaupt vorgefallen ist, bevor sie mir dreist weiter Vorwürfe an den Kopf werfen.

Ich presse fest meinen Kiefer zusammen und atme langsam durch die Nase aus. „Tut mir leid, Alex. Wir vereinbaren einen neuen Termin“, bringe ich dann in einem Tonfall hervor, in dem ich sonst mit mir unbekannten Kleinkindern spreche, die ich nicht aus Versehen überfordern will. Ich denke, das ist die richtige Methode, mit ihm umzugehen. Er unterscheidet sich jedenfalls nicht sehr von den ungezogenen Jungs, die man auf Spielplätzen antrifft. „Es geht hier wirklich gerade einmal nicht um dich, glaub mir. Mäxchen und ich werden nun gehen und wir können telefonieren. Punkt.“

Missmutig blickt er zu unserem Sohn, der gerade über den Spielplatz tobt. Während mein Blick seinem folgt, stelle ich resigniert fest, dass ich nicht einmal den Tag verfluchen kann, an dem ich zuließ, dass dieser Idiot der Vater meines Kindes wurde. Hätte sein Samen nicht meine Eizelle erobert, gäbe es nicht genau dieses Kind, für das ich einfach alles in Kauf nehmen würde. Wenn es sein muss, sogar gelegentliche Treffen mit Alex.

Etwas versöhnlicher gestimmt, lächele ich ihm kurz zu, bevor ich aufstehe, um Mäxchen von dem großen Spielzeugschiff zu holen.

„Wir müssen zu Oma“, rufe ich zu ihm hoch. „Kommst du bitte runter? Ich würde nur sehr ungern daraufklettern, um dich zu holen.“

„Ich will aber noch weiterspielen“, sagt er.

Danach entspinnt sich ein kleines Wortgefecht, an dessen Ende ich natürlich doch über die wackelige Strickleiter an Bord des Schiffes klettern muss, um mir meinen Sohn zu schnappen.

Es ist mir unangenehm, dass Mäxchen sich mit Händen, Füßen und Schimpfwörtern dagegen sträubt, weil ich befürchte, dass er damit Alex natürlich Futter gibt. Siehst du, der arme Junge würde viel lieber hier bei mir bleiben. Da soll sich Alex aber nur nichts einbilden. Was Mäxchen bekümmert, ist nur, sein Schiff verlassen zu müssen, und nicht etwa der Gedanke, an diesem Tag keine Zeit mit dem wildfremden Menschen auf der Parkbank verbringen zu können. Als er sich nämlich erst mal damit abgefunden hat, dass wir gehen, tobt er davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Ist Opa denn auch da?“, fragt er schon wieder ganz munter. „Er wollte mir noch zeigen, wie man eine Klopapierrolle mit Feuer zum Fliegen bringt.“

„Ich denke, er ist da“, sage ich zögerlich, weil ich nicht weiß, ob mein Vater in der Verfassung sein wird, sich um ihn zu kümmern.

„Gut“, sagt Mäxchen und geht weiter.

„Warte mal, Schatz. Willst du nicht noch … Papa Tschüss sagen?“, frage ich mit grummelndem Magen, weil mir das Wort so schwer über die Lippen geht.

Verdutzt sieht er mich an. „Ach so. Ja gut.“

Gleichmütig trabt er zur Parkbank, was mich wundert, nachdem er anfangs so aufgeregt war, als er von Alex erfahren hat. Am Ende ist es mit so einem Vater wohl ein bisschen so wie mit einer dieser merkwürdigen Ninjago-Figuren. Irgendwie muss man eine haben, weil alle eine besitzen.

Ich schlendere hinter Mäxchen her, um mich ebenfalls höflich zu verabschieden. Wir reichen uns ein wenig verlegen die Hand, während Alex unserem Sohn kurz die Schulter streichelt. „Ciao, Sportsfreund.“

Ich verkneife mir mühsam ein Grinsen bei diesem Ausdruck. Er hat sich wohl vorher ein paar Vater-Sohn-Filme angeschaut und dabei diesen seltsamen Jargon aufgeschnappt, in dem keiner wirklich mit seinem Kind spricht.

„Wir sehen uns bald wieder, Kumpel“, fährt er fort und wirft mir dabei einen bohrenden Blick zu.

„Sicher“, sage ich lässig. „Wir können uns ja unter der Woche noch mal treffen, ich habe um 16 Uhr Feierabend.“

Überrascht sieht er mich an. „Du arbeitest? Wo ist Mäxchen denn dann den ganzen Tag über?“

„Im Kindergarten“, erkläre ich. Menschen, die einem geregelten Beruf nachgehen, sind offenbar in den letzten Jahren weit unterhalb seines Radars geflogen.

„Ist das denn gut für ihn? Ich durfte zu Hause bei meiner Mutter bleiben, bis ich vier Jahre alt war.“

„Mäxchen ist fünf, schon wieder vergessen? Leider hatte er anders als du keinen berufstätigen Vater, der mir die Last eines Jobs von den Schultern hätte nehmen können. Aber weißt du was? Vermutlich hätte ich trotzdem gearbeitet, das tun Frauen heutzutage nämlich bisweilen ganz gerne“, antworte ich bissig.

„Sei doch nicht gleich so empfindlich. Man wird sich doch noch für das Wohl seines Kindes interessieren dürfen. Wo arbeitest du denn?“, fragt er.

„In der Online-Redaktion des ‚Hamburger Morgens‘.“

Er atmet mit einem kleinen Pfiff aus. „Das klingt zumindest spannender als der Wetterkram, mit dem du dich früher beschäftigt hast. Was mit Medien, das ist doch sicher interessant.“

Ich zucke müde mit den Achseln. „Wie man es nimmt. Ich habe den Job gerade hingeschmissen, weil ich persönlich den Wetterkram spannender finde und nur allzu gerne in diesem Bereich arbeiten möchte.“

Früher hätte mich der abfällige Kommentar über mein Studium stärker getroffen, doch Alex’ Urteil interessiert mich wirklich nicht mehr. Der Typ geht mir nur noch so etwas von auf den Keks, weil ich eigentlich losrennen möchte, um mit meinem vernachlässigten kleinen Auto möglichst schnell zu meinen Eltern zu brausen. Hat er nicht verstanden, dass es sich wirklich um einen Notfall handelt?

„Ich muss jetzt leider wirklich los“, erkläre ich nervös. Bevor Alex noch ein Gedanke durch den Kopf geht, den er unbedingt ausgerechnet jetzt äußern muss, eile ich mit Mäxchen an der Hand davon.

„Mama, warum rennst du schon wieder so?“, fragt er nach ein paar Schritten genervt und lässt sich schwer nach hinten fallen, sodass ich nicht weiterlaufen kann.

„Entschuldigung, Schatz“, erkläre ich sanft, weil mir klar ist, dass Schimpfen die Lage jetzt nur verschärfen würde. „Deiner Omi geht es nicht so gut. Und mit deiner Tante stimmt auch etwas nicht.“

„Haben sie zu viel gegessen?“, fragt er besorgt. Vor ein paar Tagen hatte er selbst nämlich höllisches Bauchweh, weil er nach einem üppigen Abendbrot noch innerhalb von zwei Minuten eine halbe Tafel Schokolade verschlungen hat, die er in einer meiner Schubladen fand, während ich nur mal eben kurz auf der Toilette saß. Mit seiner schuldbewussten Miene und dem dunkelbraunen Bart sah er allerdings so drollig aus, dass ich lachen musste – bis er eine Stunde später in Tränen ausbrach und mehrmals nach Fencheltee verlangte, statt zu schlafen, weil er solche Magenschmerzen hatte.

„Nein, sie haben nicht zu viel gegessen. Ich weiß nicht genau, was mit ihnen los ist, aber sie warten auf uns.“

„Und wenn wir schnell gehen, geht es ihnen besser?“, fragt er mit nachdenklichem Gesicht. Wäre mein Sohn bereits ein paar Jahre älter, hätte ich in dieser Frage einen süffisanten Kommentar gewittert, aber so sehe ich nichts als aufrichtiges Interesse.

„Na ja, vielleicht können wir helfen, dass es ihnen besser geht“, sage ich wahrheitsgemäß.

Er nickt ernsthaft. „Na gut. Soll ich dir zeigen, wie schnell ich rennen kann? Ich glaube, ich bin der Schnellste in meinem Kindergarten. Ich bin auf jeden Fall schneller als Adrian.“

Ich habe keine Ahnung, wer Adrian ist, aber ich bin trotzdem bereit, ihn für meine Zwecke auszunutzen.

„Wirklich? Schneller als Adrian? Na, dann leg mal los.“

Mit vor Aufregung geröteten Wangen rast er davon. Man sieht ihm an, dass er die selbst gestellte Herausforderung nicht auf die leichte Schulter nimmt, sondern wirklich alles gibt. Seine kleinen spitzen Ellbogen schnellen hastig vor und zurück, während die Füße kaum die Erde berühren. Am Ende muss ich ihn besorgt bremsen, weil er diese Geschwindigkeit kaum noch kontrollieren kann und ich schon fürchte, dass ihm die nächste Baumwurzel das Genick brechen wird.

„Das war schnell, oder?“, fragt er stolz, als ich ihn einhole.

„Ja“, sage ich lächelnd. „Ich wette, so schnell ist Adrian wirklich nicht.“

„Wirklich nicht“, wiederholt Mäxchen zufrieden.

Als wir kaum eine Stunde später vor dem Haus meiner Eltern ankommen, blockieren bereits fremde Fahrzeuge die Einfahrt.

„Polizei“, ruft Mäxchen beeindruckt. „Krankenwagen. Cool.“

Beunruhigt fahre ich an dem Aufgebot vorbei und parke ein paar Meter von der Einfahrt meiner Eltern entfernt. „Du hast recht, Mäxchen. Hier ist ganz schön viel los.“ In einem Sonntagabendkrimi gehört dieser Anblick zu den Standardeinstellungen, doch mitten am Tag in dem Vorort meiner Eltern gibt er mir das Gefühl, in einem ganz falschen Film gelandet zu sein.

„Komm, Mäxchen, magst du mir noch einmal zeigen, wie schnell du rennen kannst?“, bitte ich ihn, weil ich mir so bald wie möglich einen Überblick über die Lage verschaffen will. Sie kann nicht schlimmer sein als die Bilder, die meine Ungewissheit mir ausmalt. Die Haustür steht offen. Ich atme einmal tief durch und steuere dann das Wohnzimmer an. Dort sitzt meine Mutter zusammengesunken in ihrem geblümten Brokatmuster. Trotz des senfgelben Overalls und der lilafarbenen Glasperlenkette wirkt sie ganz blass und unscheinbar. Es ist ihre unerschütterliche Haltung, dass nichts ihr etwas anhaben könnte, die an diesem Tag fehlt. Mein Blick schweift zu Roman, der hinter ihr steht und ihr eine stärkende Hand auf die Schulter gelegt hat. Neben ihm steht Martin, aber ich entdecke meinen Vater nirgends. Der Mann meines Bruders macht ein paar große Schritte auf mich zu und legt seinen Arm um meine Schulter. „Ich kümmere mich um Mäxchen“, raunt er mir zu. „Bleib du lieber hier.“

Es scheint ernst zu sein. Martin geht in die Knie. „Gib mir fünf“, sagt er zu Mäxchen, der begeistert mit seiner Hand in die Pranke seines Gegenübers patscht. „Lust auf eine Runde Fußball?“ Er macht seine Sache gut. Seiner Stimme ist die Besorgnis, die hier überall in der Luft liegt, nicht anzuhören. Dankbar lächele ich ihm zu. Doch Mäxchen schaut nicht zu ihm, sondern sieht mich bittend an. „Mama, ich will hier bei der Polizei sein. Ich will die Pistole sehen.“

Martin macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, die wollen nur reden. Voll langweilig, das Ganze. Aber ich weiß, wo eine riesige Wasserpistole versteckt ist.“

Stirnrunzelnd schaue ich aus dem Fenster, doch an einem sonnigen Oktobertag wie diesem wird ein kalter Spritzer aus der Wasserpistole meinen Sohn schon nicht umhauen.

„Klingt gut, oder?“, sage ich zu Mäxchen.

„Ach, na gut. Dann gehe ich eben mit Martin raus. Aber wenn sie einen Räuber fangen, holst du mich.“

„Das tue ich“, sage ich gespielt munter. Zu Martin sage ich: „Du bist ein Schatz.“

„Schon gut“, sagt er und klingt dabei ein bisschen müde und ein wenig traurig. Ich hoffe, er hat mir verziehen, dass ich ihn nicht dabei unterstütze, demnächst ein eigenes Kind mit der Wasserpistole durch den Garten zu scheuchen.

Nachdem sie den Raum verlassen haben, wende ich mich den anderen zu. Vergeblich versuche ich, mit Gesten und Blicken Romans Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, weil ich das Gespräch zwischen meiner Mutter und den Polizisten nicht unterbrechen möchte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Roman meine Bemühungen längst bemerkt hat und mich nur ignoriert, weil er mir immer noch grollt, sogar in dieser Situation, in der doch wohl offensichtlich Zusammenhalt gefragt ist. Ich bleibe beharrlich und stiere ihn schließlich an, ohne auch nur einmal zu blinzeln, bis es ihm wohl zu anstrengend wird, mich zu übersehen. Am Ende gibt er nach und nickt, als ich mit meinem Blick und einer Kopfbewegung in die Richtung der Tür deute.

„Wer sind Sie?“, fragt da einer der Polizisten.

„Ich bin die Schwester von Zoe.“

„Ach so, und wo wollen Sie jetzt hin?“

„Nur kurz einen Schluck Wasser trinken“, krächze ich. Tatsächlich ist meine Kehle auf einmal ganz trocken. Ist das hier ein Verhör?

„In Ordnung. Aber gehen Sie nicht zu weit weg. Kann sein, dass wir am Ende noch ein paar Fragen an Sie haben.“

„Natürlich“, erwidere ich.

Der Polizist entlässt uns mit einem kleinen, strengen Nicken.

Kaum haben wir die Tür hinter uns geschlossen, kralle ich mich in Romans Arm fest. „Roman, was ist denn hier los? Wo sind Zoe und Papa?“, frage ich aufgebracht.