Epilog: Neujahrsessen

Windstärke 0: Windstille. Ruhige, glatte See. Rauch steigt gerade empor.
Beaufort-Skala

Staunend sehe ich mich im Wohnzimmer meiner Eltern um. Ich sitze inmitten einer ausgelassenen Runde, bestehend aus meinen Eltern und Geschwistern sowie Martin und natürlich meinem Sohn. Sogar Paul und Sophie sind gekommen. Kurz vor Silvester hat er mich angerufen und mir gesagt, dass wir es noch einmal probieren sollten, aber wenn, dann richtig. Deshalb hat er Mäxchen und mich direkt zu sich nach Hause eingeladen, wo wir dann auch die ganze gestrige Nacht verbracht haben. Wir haben nicht einmal so getan, als wäre ich nur gerade so ganz zufällig in sein Bett gestolpert, als die Kinder sich am frühen Morgen auf die Suche nach uns gemacht und uns schließlich in Pauls Zimmer gefunden haben. Und nun sitzt er freiwillig hier am Esstisch meiner Eltern. Das muss einfach wahre Liebe sein.

Nur Leon wollte den Tag lieber mit Becky verbringen, was ich aber gut verstehen kann. Da meine Eltern an Weihnachten einen Liebesurlaub im Ausland verbracht haben und Silvester alle etwas anderes vorhatten, beschlossen wir kurzerhand, alle nicht miteinander verbrachten Feiertage am Neujahrsabend gemeinsam nachzuholen. Es ist schön zu sehen, wie optimistisch und ausgelassen alle dem neuen Jahr entgegensehen. Paul und ich tragen zwar tiefe Augenschatten, aber nur, weil die Nacht für uns wirklich sehr kurz gewesen ist. Ich sehe uns alle als eine eingeschworene Gemeinschaft, die in diesem Jahr einige Stürme überstanden hat. Ja, wir haben alle Federn gelassen. Nein, wir können nicht davon ausgehen, dass die Zukunft weniger Herausforderungen für uns bereithalten wird, doch als Familie haben uns die Ereignisse gestärkt. Zärtlich betrachte ich den kunterbunten Haufen. Meine farbenfroh gekleidete Mutter, die Martin gerade die Vorzüge ihrer neuen Teemischung anpreist, und Zoe, die darüber mit Roman die Augen verdreht, der daraufhin seine Hand auf ihren Bauch legt und sie damit zum Lächeln bringt. Mäxchen und Sophie, die genüsslich Würstchen und Kartoffelsalat verputzen, Paul neben mir, der meine Hand hält, und meinen Vater, der mich mit einem ebenso verwunderten Lächeln ansieht wie ich ihn. Wir zwinkern einander zu und heben unauffällig unsere Gläser ein Stück, um uns zuzuprosten.

Alex ist übrigens aus unserem Leben verschwunden, was mich zugleich erleichtert und ärgert. Ich weiß immer noch nicht genau, was seine Mutter zu ihm gesagt hat, aber ich rechne ihr hoch an, dass sie bereit war, ihren eigenen Sohn zu vergraulen, um meinen zu schützen. Es muss unfassbar schwer für sie gewesen sein. Er jedenfalls hat danach beschlossen, wieder in Australien zu leben, weil die Menschen dort so viel weniger verkrampft seien und überhaupt alles viel sonniger als hier wäre. Bei unserem kurzen telefonischen Abschied musste er mir versprechen, dass er nicht von nun an alle paar Monate wiederauftauchen und verschwinden wird. Im Gegenzug habe ich ihm zugesagt, dass er mit Mäxchen per Skype in Kontakt bleiben und bei Deutschlandbesuchen natürlich auch bei uns vorbeischauen darf. Zum Glück scheint Mäxchen noch nichts zu vermissen, aber er war seinem Vater bis zu dessen Abreise ja auch nur wenige Male begegnet. Und wenn ich mir ansehe, wie froh mein Sohn darüber ist, dass Paul wieder eine feste Rolle in unserem Leben spielen möchte, dann bin ich mir fast sicher, dass wir den weiteren Stürmen trotzen werden. Sicher wird es uns nicht auf Anhieb perfekt gelingen, keiner behauptet schließlich, dass Patchwork einfach sei. Doch das ist Familie ja ohnehin nie – und vielleicht doch das Beste, was es gibt.

Cover

Kurzbeschreibung:

Ganz Hamburg ist in Adventsstimmung. Ganz Hamburg? Nein, Klimaforscherin Lisa ist immer noch zu sehr damit beschäftigt, ihren Ex-Freund zur Vernunft zu bringen. Der möchte das Sorgerecht für das gemeinsame Kind erstreiten. Und dann ist da ja noch ihre schwangere Teenager-Schwester, die auf Lisas Unterstützung baut. Doch ein Silberstreif zeigt sich am Horizont: Paul scheint nun doch wieder ernsthaftes Interesse an Lisa zu haben. Oder lässt er sich erneut von dem Chaos in ihrem Leben abschrecken?

Jana Seidel

Gegen den Wind

Windstärke 12

Roman


Edel Elements

Zwölftes Buch: Dezember – Windstärke 12

Windstärke 12: Orkansturm, schwerste Verwüstungen. See vollkommen weiß, keine Sicht mehr. Windstärke in ca. 10 Meter Höhe über offenem, flachem Gelände: > 117 km/h.
Beaufort-Skala

Nichts ist schlimmer, als durch eine Stadt in Adventsstimmung zu schlendern, wenn man sich einsam fühlt. Ich verberge meine fröstelnden Hände in den Taschen meines Mantels, während ich Mäxchen dabei zusehe, wie er auf einem der großen Pferde des nostalgischen Kinderkarussells seine Runden dreht. Und so viel Freude es auch macht, ihn zu beobachten, so spüre ich doch deutlich, wie allein ich hier stehe, inmitten der ausgelassenen Gruppen und Pärchen. Ihre Wangen sind vom Glühwein und ihren Erwartungen an diesen Abend gerötet. Für sie mag im Advent ja immer noch Magie in der Luft liegen. Vielleicht wird für sie das Weihnachtswunder wahr, wobei ich noch nie genau wusste, worin es genau besteht.

Doch vielleicht ist ja doch ein seltsamer Zauber am Werk, denn anders als erwartet fällt es mir immer schwerer, Trübsal zu blasen, je länger ich hier stehe. Schon merkwürdig, wie die vielen Lichter und der Duft gebrannter Mandeln Erinnerungen an eine perfekte Zeit wecken. Die gab es eigentlich nie und dennoch ist da dieses heimelige Gefühl. Ein kleines Kribbeln im Bauch, das einen glauben lässt, dass doch noch alles gut werden könnte. Hätte ich einen Wunsch frei, so würde ich darum bitten, dass mir niemand Mäxchen wegnehmen darf. Wie er da auf dem Karussell-Pferd sitzt, kann ich nicht anders, als wahrzunehmen, was für ein großer Junge er geworden ist, auch wenn seine Füße immer noch nicht bis zu den Steigbügeln reichen. Trotzdem scheint es erst ein Augenzwinkern her zu sein, dass er nicht einmal aufrecht auf dem Rücken des hölzernen Tiers hätte sitzen können.

Ich bin mir nicht sicher, wie lange es mir noch gelingt, Alex mit leeren Floskeln hinzuhalten. Der Schock darüber, dass er wirklich einen Sorgerechtsstreit anzetteln möchte, sitzt mir noch ziemlich tief in den Knochen. Irgendwie war mir der Gedanke nie gekommen, dass er ernsthaft Anspruch auf meinen Jungen erheben könnte – nach so vielen Jahren, in denen wir prima ohne ihn ausgekommen sind. Wie kann man denn nach ein paar Treffen so dreist sein, auf einmal alles zu fordern?

Wenn ich so darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass Alex schon immer so gewesen ist. Was er haben will, das will er sofort. Als damals ich es war, die er haben wollte, habe ich mich geschmeichelt gefühlt und seinem stürmischen Drängen nur allzu gerne nachgegeben. Geduld zählt nicht zu seinen Stärken. Dennoch sollte ihm eigentlich klar sein, dass man, wenn es um das Wohl des eigenen Kindes geht, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen hat, damit die Dinge sich in Ruhe entwickeln können. Aber wie immer zählen nur seine Bedürfnisse. Er mag noch so oft behaupten, dass ihm schon im Verlauf weniger Treffen klar geworden sei, dass Mäxchen unbedingt einen Vater bräuchte: Eigentlich geht es nur darum, dass er jetzt unbedingt einen Sohn haben möchte. Nach gerade einmal zwei Stunden, die sie allein verbracht hatten, scheute er nicht davor zurück zu behaupten, dass der Junge bereits eine tiefe Zuneigung zu ihm aufgebaut hätte. „Der Junge“ – das klang fast, als könnte er sich den Namen des Buben, der angeblich so tiefe Gefühle für ihn hegt, immer noch nicht merken.

Leider habe ich im ersten Schock überreagiert und so beinahe eine Katastrophe ausgelöst. In Mäxchens Anwesenheit konnte ich ihn natürlich nicht gleich zur Schnecke machen, sondern musste damit warten, bis ich wieder zu Hause war und mein Sohn schlief. Dann erst griff ich zum Telefon. Allerdings ohne vorher tief durchzuatmen. Das hätte ich natürlich tun sollen, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits so viel Wut

angestaut, dass ich die Kontrolle über meine Worte verlor. Ich habe vergebens versucht zu flüstern, habe ihn aber gleichzeitig angeschrien. Von Alex kam nur der Hinweis, dass ich sehr undeutlich sprechen würde. Und er war keine Sekunde bereit, auf mich einzugehen, sondern erklärte mir nur, dass seine Mutter bereits herausgefunden hatte, dass Männer seit einigen Jahren auch ohne die Einwilligung der Mutter die Mitsorge beim Familiengericht beantragen können. Da gingen mir doch gleich zwei Fragen durch den Kopf: Es ist ihm so wichtig und dann muss seine Mutter ihm die Informationen beschaffen? Und, viel schlimmer: Wie kann eine Mutter einer anderen so etwas nur antun?!

Vor Schreck habe ich erst mal den Hörer aufgeworfen. Nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen – oder viel eher eine Nacht lang kein einziges Auge zugetan – hatte, wurde mir klar, dass ich Zeit gewinnen musste, um mir darüber klar zu werden, wie es für uns alle weitergehen sollte, ohne dass Mäxchen dabei zu Schaden kam. Grundsätzlich halte ich es für

wünschenswert, die Rechte der Väter zu stärken. Allerdings hatte ich mich ja in meinen Augen durchaus entgegenkommend und bereit gezeigt, den Kontakt zu unterstützen. Ich wollte nur nicht, dass mein Sohn und ich hoppladihopp überrumpelt werden. Nun stellt sich Alex ganz plötzlich eine Fünfzig-fünfzig-Regelung vor. Der Gedanke, auf einmal nur noch halb so viel Zeit wie jetzt mit Mäxchen verbringen zu können, nachdem wir so lange einzig füreinander gewesen sind, ist mir zuwider. Wenn es nicht so pathetisch klänge, müsste ich sogar sagen, dass mir diese Vorstellung das Herz auf eine Weise bricht, die sich nicht wieder kitten lässt.

Sehnsüchtig schaue ich zu Mäxchen und wünschte mir wieder einmal, ich könnte den Moment anhalten. Der glückliche Blick meines Kindes, das noch an den Weihnachtsmann glaubt und daran, dass Wünsche wahr werden. Die vielen Lichter um uns herum und die süßen Düfte.

„Mami, darf ich noch eine Runde fahren?“, ruft er ausgelassen.

„Also gut“, sage ich lächelnd und kaufe vorsichtshalber gleich drei weitere Chips. Die Fahrt, die der Betreiber den Kunden gönnt, ist nämlich wirklich sehr kurz. Ich drücke Mäxchen eine der lilafarbenen Plastik-Scheiben mit der goldfarbenen, verblichenen Prägung darauf in die Hand und beschließe, dass wir nach seiner letzten Runde noch eine große Tüte Schmalzgebäck kaufen. Natürlich hat das nichts damit zu tun, dass ich das Gefühl habe, nun als Supermutti dastehen zu müssen, nur weil ein wenig Konkurrenz aufgetaucht ist. Zumindest rede ich mir das ein. Vielleicht stimmt es sogar und dennoch muss ich zugeben, dass mein Beweggrund zutiefst egoistisch ist: Ich möchte, dass er an diesem Tag durch und durch glücklich ist. Ich will einen perfekten Moment schaffen, den ich sicher verwahren kann. Es scheint zu funktionieren: Mein Sohn wirft mir eine Kusshand zu, die mir fast Tränen der Rührung in die Augen treibt. Danach klammert er sich ganz schnell wieder an den Zügeln fest, weil der ruckartige Start des Karussells ihm einen kleinen Schrecken eingejagt hat. Schnell hat er sein Gleichgewicht wiedergefunden und widmet sich mit konzentrierter Miene seinem Tier. Er füttert es mit imaginären Äpfeln und klopft ihm mit der flachen Hand ermutigend den Hals.

Wenn ich versuche, die Welt mit seinen Augen zu betrachten: Würde er sich wünschen, die Hälfte seiner Zeit bei seinem Vater zu verbringen? Selbst wenn ich mich bemühe, die Angelegenheit uneigennützig zu betrachten, komme ich zu dem Schluss, dass Alex beinahe ein Fremder für seinen Sohn ist und es eine Überforderung bedeuten würde, auf einmal mit ihm leben zu müssen. Natürlich war er auf dem Spielplatz aufgeschlossen und begeistert von Alex. Er ist für ihn ein neuer Freund, der schon allein deswegen aufregend ist, weil er plötzlich aufgetaucht und ein ganzes Stück älter als Mäxchen, aber dennoch bereit ist, sich mit ihm zu beschäftigen. Das hat noch nicht viel mit tiefer Liebe zu tun. Würde er sich deshalb auch von ihm bei Kummer trösten lassen? Ich denke nicht. Er würde darauf beharren, von seiner Mama in den Arm genommen zu werden. Das heißt natürlich nicht, dass sich keine innige Bindung mehr entwickeln kann, aber per Sorgerechtsstreit kann man sie ganz sicher nicht erzwingen. Ginge es ans Eingemachte und stünde ich gerade nicht zur Verfügung, wäre derzeit vermutlich sogar noch Paul die zweite Wahl für Mäxchen. Der Mann, der in den vergangenen Jahren am meisten Zeit mit ihm verbracht hat und alle seine liebenswerten Macken und Vorzüge kennt. Der weiß, dass er keine rohen Tomaten mag, aber Dinosaurier, den Weltraum und Otfried Preußler liebt. An dem Nachmittag, an dem Mäxchen mit Alex auf dem Spielplatz war, wirkte er später betrübt und nachdenklich. Zuerst vermutete ich, dass die Begegnung mit seinem Vater ihn verwirrte. Doch wie sich

herausstellte, hatte die kaum Spuren hinterlassen. Vielmehr beschäftigte ihn die Frage, warum wir nicht mehr mit Paul und Sophie zusammenwohnten. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihm meine fadenscheinigen Begründungen auftischte, und sicher war es auch nicht das letzte Mal, dass er ihnen zu Recht widersprach. Er wollte nicht „ein wenig mehr Platz“ – egal, wie oft ich nuschele, wie notwendig der für alle war –, er wollte seine vertrauten Menschen um sich haben. Weil ich dem nicht viel Glaubhaftes entgegenzusetzen hatte und es mir im Grunde genau wie ihm ging, nur dass ich im Gegensatz zu ihm einen gehörigen Anteil der Schuld an der Misere trug, kuschelte ich mich einfach ganz eng mit ihm auf dem Sofa zusammen und ließ ihn „Elliot, das Schmunzelmonster“ schauen, damit er nicht am Ende noch meine eigene Traurigkeit mitbekam. Es war die alte Fassung aus den Siebzigerjahren, der neue Film erscheint mir noch zu gruselig, außerdem mag ich diesen Trend nicht, all die alten Streifen noch mal neu aufzulegen. Mäxchen jedenfalls war mal wieder hin und weg von dem alten Schinken. Ich hoffe, dass es daran liegt, dass der Drache ihn an Dinosaurier erinnert und nichts damit zu tun hat, dass er sich möglicherweise mit einem armen Waisenkind identifizieren kann. Nein, es war ganz sicher Ersteres! Fast alle kleinen Kinder, die ich kenne, sind beeindruckende Hobby-Paläontologen. Ich habe schon Winzlinge getroffen, die kaum einen Drei-Wort-Satz richtig herausbringen, dafür aber fehlerfrei „Deinonychus“ sagen können und darüber hinaus sogar noch wissen, dass es sich dabei um einen Fleischfresser handelt.

Als ich eingewilligt hatte, den Film zu schauen, hatte ich dummerweise vergessen, dass ich jedes Mal zu heulen beginne, wenn Nora singt, dass in dieser Welt für jeden Platz und sie außerdem unendlich und schön sei, wenn man anderen nur die Hand zur Freundschaft ausstreckt.

Es half nichts, dass ich mir ins Gedächtnis gerufen habe, dass ja gar nicht die nette, rothaarige junge Frau dieses Lied singt, sondern in der deutschen Fassung Katja Epsteins Stimme zu hören ist und ich die eigentlich total seltsam finde. Mir liefen dennoch die Tränen herunter. Doch sosehr der Nachmittag auch von Melancholie geprägt gewesen sein mag, so schön war es auch, diesen kleinen Jungen im Arm zu halten und zu sehen, wie zumindest seine gute Laune am Ende des Films wiederhergestellt war.