Das Buch

Frisch zu den Königen der Piraten gekrönt stechen Freddy und seine Freunde wieder in See. Sie müssen den Stein der Ahnen finden, denn nur er kann Freddy auf die Spur seines Vaters bringen. Die Suche führt die Mannschaft der Bloody Mary bis in die sagenumwobene Drachenburg im Eismeer. Mit viel List und einer gehörigen Portion Mut können Freddy und seine Freunde dort bestehen, doch was Freddy dabei über die Vergangenheit erfährt, stellt seine Freundschaft zu Kork auf eine harte Probe …

Ein wildes Piratenabenteuer für die ganze Familie!

Der Autor

Franziska Nehmer

© Franziska Nehmer

Lukas Hainer ist aktuell einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Liedtexter. Vom ersten Album an gehörte er zum Team der Erfolgsband Santiano. Die Gelegenheit, ein Kinderbuch zu schreiben und in Zusammenarbeit mit Santiano zu einem musikalischen Hörspiel zu entwickeln, erfüllte ihm einen Herzenswunsch. In Flensburg, nahe am Salzwasser, entstand so der »König der Piraten«. Mittlerweile lebt der junge Familienvater wieder in München, seinem Geburtsort. Dort entstehen bereits neue spannende Geschichten und Songtexte.

Mehr über Lukas Hainer: www.lukashainer.com

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Titelbild

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»Hier, seht euch um, wenn ihr meint«, sagte der Marinehauptmann, der Freddy und seine Freunde hinunter zum Hafen geführt hatte. »Aber stellt keinen Unsinn an. Das ist kein Ort für Kinder.«

Freddy ließ den Blick über den gewaltigen Dreimaster schweifen, der tief im Wasser lag. Mit dem Krater im Heck sah die Nox nicht mehr halb so Furcht einflößend aus wie noch vor wenigen Tagen. Um den Stein der Ahnen zurückzuholen, den der Schwarze Korsar gestohlen hatte, waren sie seinem Schiff bis ins Eismeer und danach in die Hauptstadt gefolgt. Wutz hatte eine Bombe gebaut und Freddy hatte sie in einer Verzweiflungstat an der Nox zur Explosion gebracht. Und nun sollte es zu gefährlich für sie sein, an Bord zu gehen? Jetzt, wo der Schwarze Korsar im Verlies des Kaisers saß, und die Böse Bande sich wohl in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatte?

»Wir kommen schon zurecht«, entgegnete Tiah giftig und der Hauptmann zuckte nur mit den Schultern und machte sich über die steinerne Hafenmole auf den Rückweg.

»Kommt zum Hafenmeister, wenn ihr fertig seid«, rief er ihnen im Gehen zu, »dann bringe ich euch wieder in eure Quartiere.«

Die Mannschaft der Bloody Mary war in einem der Nebengebäude des Palastes untergebracht. Vor allem Käpt’n Kork hatte gegen diese Anweisung des Kaisers protestiert, aber die Marinesoldaten hatten ihnen nur eine Wahl gelassen: Ob sie die Einladung mit oder ohne Ketten an Händen und Füßen annehmen wollten – Könige der Piraten hin oder her. Nur Nunu hatten sie auf der Bloody Mary zurückgelassen und Freddy hoffte inständig, dass der kleine Pinguin ohne sie noch nicht verzweifelte.

Bei der Audienz des Kaisers hatte Freddy die ganze Geschichte von ihrem Kampf gegen den Korsaren und ihrer Suche nach Freddys Vater erzählt. Die Menschen waren begeistert gewesen und hatten sie als Helden gefeiert, sodass der Kaiser sie schließlich tatsächlich zu den Königen der Piraten gekrönt hatte. Doch seitdem hatten sie nicht mehr mit dem Herrscher von Runa selbst gesprochen. Nur mit seinen Dienern und Wachen, und vor allem die Marine ließ sie spüren, was sie davon hielt, die Mannschaft eines Piratenschiffs zu beherbergen.

Tagelang hatte Freddy darauf gedrängt, dass man sie endlich auf die Nox lassen solle. Der Stein der Ahnen, von dem sich Freddy einen Hinweis auf den Verbleib seines Vaters erhoffte, musste noch hier sein, und der Kaiser persönlich hatte ihnen zugestanden, dass alles, was sie auf der Nox fänden, ihnen gehören solle. Doch die Soldaten hatten sich gegenüber ihren Forderungen und Beschwerden taub gestellt.

Zumindest bis zu diesem Morgen, als der Hauptmann vor ihrer Tür gestanden und sie angewiesen hatte, ihm zu folgen. Freddy hatte kaum zu hoffen gewagt, dass es endlich so weit sein sollte, aber hier standen sie nun: vor dem Schiff des Teufels der Meere, der jetzt im tiefsten Kerker der Hauptstadt saß.

»Das ist das erste Mal seit drei Tagen, dass wir keinen solchen Soldaten-Hampelmann mehr auf den Fersen haben«, brummte Kork, als der Hauptmann fort war, und warf einen sehnsüchtigen Blick hinüber zur Bloody Mary, die zwischen den Masten der Nox an einem der hinteren Anleger zu erkennen war. »Ich sage, wir springen ins Wasser, schwimmen zu unserem Schiff und machen uns aus dem Staub.«

»Nicht bevor wir nicht den Stein haben!«, entgegnete Freddy, obwohl auch er insgeheim gern ein paar Seemeilen zwischen sich und den hohen Mauern der Hauptstadt gewusst hätte.

»Also, worauf warten wir?« Tiah fand entlang der Flanke des Schiffs keinen anderen Weg hinüber als die dicken Taue, die zu den Pollern auf der Mole führten. Kurzerhand kletterte sie auf eines davon und balancierte zum Schiff.

Nach Wutz, der beinahe im Wasser landete, und Kork, der wegen seines Holzbeins auf allen vieren hinüberkrabbelte, folgte als Letzter Freddy.

Überall an Deck waren Anzeichen zu sehen, in welcher Eile die Piraten nach der Gefangennahme ihres Kapitäns geflohen waren. Achtlos zurückgelassene Taue bildeten Haufen auf den Planken oder hingen aus der Takelage, vom Wind bewegt und ab und an gegen die Masten schlagend. Es gab auch Kampfspuren, zerrissene Kleidung und fallen gelassene Waffen. Also waren wohl noch Piraten an Deck gewesen, als die Marine das Schiff gestürmt hatte. Ein Messer steckte sogar in einem der drei Masten.

Obwohl dieses Schiff offensichtlich verlassen war, musste Freddy dennoch den Impuls unterdrücken, sich ein Versteck zu suchen oder am besten gleich wieder abzuhauen. Die Präsenz des Schwarzen Korsaren und seiner Mannschaft war noch immer spürbar. Seine Niedertracht hatte die Nox durchdrungen und hielt sie zusammen wie das Pech, das ihren Rumpf abdichtete.

Plötzlich krachte etwas neben Freddy und er zuckte zusammen. Wutz ließ einen spitzen Schrei hören und duckte sich hinter Tiah. Kork quittierte es mit einem dröhnenden Lachen. Er hatte mit seinem Holzbein auf den dunklen Planken aufgestampft.

»Mach dir nicht ins Hemd«! Der Kapitän der Bloody Mary grinste. »Das muss für dich doch sein, als würdest du nach Hause kommen. Du warst doch damals einer seiner Männer.«

Tatsächlich war Wutz Teil der Bösen Bande gewesen. Seine ehemaligen Kameraden hatten ihn jedoch auf der Südseeinsel ausgesetzt, wo Freddy und Kork ihn dann aufgelesen hatten.

»Nimm mal den Mund nicht so voll«, entgegnete Wutz zornig. »Hätte ich dich nach eurem letzten Aufeinandertreffen nicht zusammengeflickt, dann wäre es schon lange aus mit dir!«

»Schluss, ihr zwei Streithähne«, verlangte Freddy. Korks Provokationen gegenüber dem dünnhäutigen Wutz wurden mit jedem Tag, den sie in der Hauptstadt festsaßen, schlimmer.

»Der Kaiser hat sich wohl nicht an sein Versprechen gehalten, dass alles auf der Nox uns gehören soll.« Tiah deutete nach links zu dem Treppengeländer, das zur Brücke mit dem Steuerrad hinaufführte. Den letzten glänzenden Überresten nach waren dort wohl Goldverzierungen angebracht gewesen, und wer immer sie entfernt hatte, war nicht gerade zimperlich vorgegangen. Die Spuren grober Axthiebe waren überall am Geländer zu erkennen.

»So, wie das aussieht, war das eher die Böse Bande selbst«, warf Wutz ein.

Bei genauerem Hinsehen fielen Freddy noch mehr Stellen auf, an denen die Böse Bande scheinbar ihr eigenes Schiff geplündert hatte. Löcher in der Reling, herausgeschlagene Verzierungen und Lampenhalterungen. Der Schwarze Korsar wäre wohl nicht er selbst gewesen, hätte er nicht auch auf seinem Schiff kräftig geprotzt. Doch davon war nichts mehr übrig.

»Wutz, wo könnte der Korsar den Stein versteckt haben?«, drängte Tiah, und Freddy erschrak. Was, wenn die Piraten den Stein der Ahnen ebenfalls mitgenommen hatten?

»Ich … ich weiß nicht«, antwortete Wutz hilflos.

»Vielleicht in seiner Kapitänskajüte?«, versuchte es Freddy.

»Nein, die gibt es gar nicht. Er stand fast immer am Steuerrad. Hat keinen anderen dorthin gelassen.« Wutz’ Stimme wurde zu einem verängstigten Flüstern. »Es gab das Gerücht, dass er gar nie schläft …«

»Was für ein Unsinn«, knurrte Kork. »Fangen wir irgendwo zu suchen an, dann werden wir sein Versteck schon finden.«

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Neben den Stufen zur Brücke hinauf gab es auch einen Treppenabgang nach unten. Dunkle Flecken, die verdächtig nach Blut aussahen, sprenkelten dort den Boden. Sie stiegen zunächst hinab und durchkämmten den Schiffsrumpf der Nox. Als Erstes war die Zwischenebene mit den Kanonen dran, fünf auf jeder Seite und zwei hinten, wo das Loch im Heck klaffte. Schwere Kanonenkugeln türmten sich zu kleinen Pyramiden und Freddy schauderte. Hunderte Schiffe mussten von hier aus versenkt worden sein.

Freddy und die anderen erkannten schnell, dass es hier weder Schätze noch Verstecke gab, und stiegen weiter nach unten in die Mannschaftsquartiere.

Am Treppenabsatz stand das Wasser knöcheltief. Das Leck reichte nicht aus, um sie zu versenken, doch in diesem Zustand würde mit der Nox niemand mehr weit kommen.

»Puh, das stinkt!« Tiah rümpfte die Nase.

»Nach Rattendreck und Krankheit«, bestätigte Kork. »Sehen wir uns schnell um, ich glaube kaum, dass er irgendetwas Interessantes bei der Mannschaft untergebracht hat.«

Lumpen und Unrat trieben in der Brühe, durch die sie waten mussten, und es war wirklich eine Zumutung für die Nase.

An den Schiffsflanken zogen sich Stockbetten entlang, die Decke war voller Haken, an denen noch vereinzelt Hängematten hingen. Es musste Schlafplätze für etwa sechzig Mann geben, die das eine oder andere zurückgelassen hatten, doch nichts Wertvolles und schon gar keinen Stein der Ahnen. Freddy war sich nicht zu schade, mit den Händen in der Brühe nach einer Luke im Boden oder etwas Ähnlichem zu tasten. Erst als er dabei etwas Pelziges berührte und eine tote Ratte an die Oberfläche beförderte, gab er es angeekelt auf.

Freddy atmete auf, als sie wieder an die frische Luft kamen, und wandte sich dann nach rechts hinauf zur Brücke. Das Steuerrad bedachte er nur mit einem flüchtigen Blick. Er hatte den Stein der Ahnen in den Händen des Korsaren gesehen. Weder das Rad noch sonst irgendetwas auf dem Oberdeck bot Platz genug, ihn zu verstecken. Eine Treppe blieb noch, die hinter dem Steuerrad in den Heckaufbau führte: Ihre beste und letzte Chance, den Stein zu finden.

Mit klopfendem Herzen schritt diesmal Freddy als Erster die wenigen Stufen hinauf. Er betrat ein helles Zimmer, dessen Fensterfront nach hinten aus dem Heck hinaus einen Panoramablick aufs Meer eröffnete, wenn man sich auf hoher See befand. Jetzt zeigte sie lediglich den gewaltigen Fluss Ondo und in der Ferne dessen gegenüberliegendes Ufer.

In der Mitte des Raums stand ein Tisch und seine Oberfläche schimmerte von Perlmutt- und Mosaiksteinen, die eine Karte von Runa ergaben, ganz ähnlich der Darstellung im Thronsaal des Kaisers. Freddy stürzte sich sofort auf die Regale entlang der Rückwand. Darin standen Kartenmaterial und Flaschen, doch Freddy suchte fieberhaft nach irgendeinem Anzeichen für ein Versteck oder dem Stein der Ahnen selbst, während hinter ihm die anderen den Raum betraten.

Kork pfiff anerkennend durch die Zähne. »Hübsch hat er es sich eingerichtet …«

Im Gegensatz zum Rest des Schiffes hatte die Böse Bande hier nicht gewütet. Die Angst vor dem Zorn ihres Kapitäns war wohl zu groß gewesen.

Freddys Verzweiflung wuchs mit jedem Regalfach, das er ergebnislos durchstöberte. Da waren keine Hohlräume, keine Klappen in der Rückwand, keine verschlossenen Schatullen oder Kisten. Tiah und Kork halfen ihm, wobei Kork deutlich interessierter an den Flaschen mit den klaren und bernsteinfarbenen Flüssigkeiten zu sein schien. Prüfend hielt er die eine oder andere ins Licht, während Wutz gedankenverloren auf und ab schritt, immer wieder die Decke betrachtete, aus dem Fenster sah und den Kopf schüttelte.

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»Das passt nicht, das passt nicht«, murmelte er vor sich hin und beteiligte sich gar nicht an der Suche.

»Nichts«, stellte Tiah schließlich verbittert fest, als sie zuletzt auch noch hinter allen Bildern nachgesehen hatten, die im Raum hingen. »Nichts in dem ganzen, verfluchten Schiff – verdammt!«

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Während sie niedergeschlagen zurück auf die Brücke hinaustraten, schien Wutz noch immer irgendetwas zu beschäftigen. »Es sind zehn Stufen«, murmelte er geistesabwesend, »viel zu viele … das passt einfach nicht!«

»Was passt nicht?«, brummte Kork, doch Wutz schien ihn gar nicht zu hören. Plötzlich huschte er wieder die Treppenstufen hinauf, die sie eben erst hinuntergekommen waren, und Freddy folgte ihm verwundert.

»Wutz, was treibst du da?«

»Die Decke ist auch viel zu niedrig«, schnatterte dieser aufgeregt in dem Raum mit dem Mosaiktisch.

»Zu niedrig? Was soll das heißen?«

Tatsächlich hingen die hölzernen Deckenbalken nicht weit über ihren Köpfen, aber auf einem Schiff musste man mit dem Platz eben sparsam umgehen. Wutz hastete schon wieder die Treppe nach unten und Freddy kam ihm kaum hinterher.

»Hey, Wutz, spuckst du endlich aus, was du gefunden hast?«

»Hier«, rief dieser triumphierend und deutete nur wieder von außen auf den Heckaufbau.

Tiah hob ebenfalls verwirrt den Blick.

»Seht ihr es nicht?«, fragte Wutz entgeistert. »Der Aufbau ist viel höher als der Raum mit dem Tisch. Und die Stufen führen nach oben. Darunter muss es noch etwas im Schiffsheck geben.«

Ein geheimer Raum? Freddys Herz schlug schneller. Er musste an das Versteck des Korsaren in den Schwarzen Steinen denken, wo sie Tiah befreit hatten. Dort hatte es einen Mechanismus gegeben, den allein der Korsar mit seiner Hand hatte bedienen können. Besaß er auf seinem Schiff etwa auch ein Geheimversteck?

Freddy und Tiah halfen Wutz, seine Theorie zu überprüfen.

Sie schritten die Rückwand der Brücke ab und fuhren mit den Händen über das dunkle Holz. Freddy konnte weder einen Spalt von einem Türrahmen noch eine Mulde wie bei den Schatzkammern finden.

Währenddessen legte Tiah den Kopf an die Wand und klopfte mit den Fingerknöcheln dagegen. Ihre Miene hellte sich augenblicklich auf.

»Hohl«, sagte sie begeistert. »Irgendwas ist auf jeden Fall dahinter.«

Sie waren der Lösung so nah, Freddy spürte es. »Wie kommen wir nur rein?«, überlegte er und trat einen Schritt von der Wand zurück.

»Wahrscheinlich lagert er Segeltuch und Flickzeug hinter der Treppe«, brummte Kork, der sich nicht an ihrer Suche beteiligte.

Freddy ließ seinen Blick über die Brücke und das darunterliegende Deck des riesigen Dreimasters schweifen, und als er das Steuerrad streifte, durchfuhr es ihn wie ein Blitz.

»Hast du nicht vorher gesagt, der Korsar lässt niemanden an sein Steuerrad?«, fragte er Wutz aufgeregt und der nickte.

»Ja, sogar auf der Brücke will er keinen aus der Mannschaft haben, bis auf seine treuesten Männer. Am Steuerrad habe ich nie einen anderen außer ihn gesehen.«

Als Freddy das Rad genauer untersuchte, machte er zunächst eine schaurige Entdeckung. Es war das Einzige, was sich von dem dunklen Schiff mit seinen schwarzen eingerollten Segeln absetzte, und bestand nicht, wie er zunächst gedacht hatte, aus sonnengebleichtem hellem Holz. Es waren gedrechselte und beschnitzte Knochen, die sich zu dem Rad und seinen Sparren zusammenfügten.

Die Darstellungen der kleinen Schnitzereien ähnelten vom Stil her denen in den Schatzkammern im Versteck des Korsaren. Drachenschädel, stürmische Wellen und Krakenarme, Menschen und Riesen und allerlei fremdartige Symbole zierten das Rad. Die meisten der Knochen erschienen Freddy zu groß für ein menschliches Gerippe, doch in der Mitte des Steuers saß ein gelblicher Totenschädel, der ihn mit einem Goldzahn im Gebiss angrinste. Der Schädel drehte sich nicht mit, als Freddy das Rad probeweise bewegte.

»Knochen«, stieß Tiah hervor, als sie über Freddys Schulter blickte. »Was für ein Ungeheuer!«

Freddy tastete das Rad und die Schnitzereien ab. Er suchte nach dem Auslöser für einen Mechanismus, nach einem versteckten Schalter oder etwas in der Art. Schließlich ging er in die Hocke und betrachtete den Schädel. Er fuhr mit den Fingern in die Augen- und Nasenhöhlen, wobei Tiah angeekelt schnaubte, und strich dann über die Kieferknochen. Als Freddy den Goldzahn berührte, gab dieser leicht nach. Entschlossen verstärkte er den Druck und der Zahn klappte wie an einem Scharnier nach hinten weg. Mit einem klackenden Geräusch öffnete sich an der Rückwand der Schiffsbrücke ein schmaler, niedriger Türspalt, auf den vorher nichts hingedeutet hatte.

»Da«, hauchte Freddy überrascht. Er konnte kaum glauben, dass sie das Geheimnis des Korsaren tatsächlich ergründet hatten.

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Mit wild klopfendem Herzen beobachtete Freddy, wie Tiah die knarrende Geheimtür öffnete. Er bemerkte, wie Wutz am ganzen Körper zitterte. Bei allen Gerüchten, die der Korsar unter seiner Mannschaft gestreut hatte, konnte Freddy das auch gut nachvollziehen. Wutz musste den Eingang zur Hölle hinter dieser Tür vermuten. Kork stand noch immer mit verschränkten Armen da, lugte aber neugierig über ihre Schultern.

Der Durchgang war nur knapp anderthalb Meter hoch und die Decke dahinter nicht viel höher, daher musste Freddy den Kopf einziehen, als er nach Tiah den spärlich beleuchteten Raum betrat.

Im Vergleich zu dem Prunkzimmer mit den Panoramafenstern über ihnen war es eher eine Art Rumpelkammer. Die Lichtstrahlen fielen durch schmale Schlitze im Heck der Nox herein und offenbarten einen Wust aus Pergamentrollen und dicken ledergebundenen Büchern. Ein schlichter Holztisch stand unter dem Treppenaufgang und auch darauf tummelte sich ein Durcheinander von Büchern, Kritzeleien, Tintenflecken und Federkielen sowie eine Ledermappe.

»Was, zum …«, flüsterte Tiah, denn den Anblick eines Studierzimmers hatte weder sie noch Freddy erwartet.

Der größte Teil der wüst verteilten Bibliothek schien von Drachen zu handeln. Zeichnungen stellten Flügelspannweiten und Nistplätze dar, auf manchen wurden Schädel, Zähne und Klauen der magischen Geschöpfe erläutert. Doch Freddy las auch andere Buchtitel wie: »Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches, Überlieferungen aus Runas Geschichte« oder »Die neun Meere der freien Welt«, dieser Titel prangte auf einem Folianten, der nur noch von ein paar Fäden zusammengehalten wurde. Neun Meere? Freddy wusste nur von sieben.

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Aus der Ledermappe lugte ein Pergament hervor und Freddy fiel ein Wort darauf ins Auge, das der Korsar mehrfach unterstrichen hatte.

»Lang ist die Liste der Legenden und kurz die derer, die sie noch zu erzählen wissen, was die Herkunft oder den Verbleib der Sturmgeborenen angeht …«, lautete der Satz und der Korsar hatte die »Sturmgeborenen« so wütend markiert, dass das Wort fast nicht mehr zu entziffern war.

Freddy traute kaum seinen Augen. Der Korsar hatte Nachforschungen angestellt? Zu seinem Vater oder etwa zu ihm selbst? Und was hatte er mit all den Schriften über Drachen vorgehabt, die in dem Raum verstreut lagen?

»Bei Poseidons Quallenhut«, polterte Kork angesichts des Chaos, als er nachsehen kam, wo sie blieben. »Er hat den Verstand verloren!«

Auch Wutz wagte sich schließlich in das Allerheiligste des gefürchteten Piratenkapitäns und nach dem kurzen Moment der Überraschung stellten sie es gemeinsam auf den Kopf. Doch trotz aller Sorgfalt, mit der sie vorgingen, fanden sie auch hier keine Spur vom Stein der Ahnen.

»Vielleicht steht ja in seinen Aufzeichnungen noch etwas zu den Geheimnissen des Schiffs. Wo ein Geheimraum ist, könnte ja noch ein zweiter sein«, bemühte sich Tiah um Zuversicht, »oder wir finden noch irgendwas zum Stein selbst. Es kann doch nicht umsonst gewesen sein, dass wir dieses Geheimversteck entdeckt haben!«

Es klang eher verzweifelt und Freddy konnte das verstehen, schließlich wollte Tiah den Stein zurück in ihre Heimat bringen, aus der er stammte. Doch umsonst war ihre Suche sicher nicht gewesen. Während sie die Schreibstube durchstöbert hatten, war er auf weitere Hinweise gestoßen, wonach der Korsar geforscht hatte. Es musste das Werk von Monaten, wenn nicht Jahren sein, was der Kapitän der Nox zusammengetragen hatte. In seinem ganzen Leben hatte Freddy noch nicht so viele alte Bücher auf einem Haufen gesehen. In Porto Poncho gab es kaum mehr als die Aufzeichnungen des Hafenmeisters. Freddy konnte es kaum erwarten, sich in die Schriften zu vertiefen und mehr über seine Gabe und deren Ursprung, und vielleicht auch über seinen Vater zu erfahren.

»Bis wir das alles durchgesehen haben, kann es Wochen dauern«, sagte Wutz, immer noch voller Unbehagen. »Ich schlage vor, wir packen zusammen, was wir tragen können, und setzen uns an einem … helleren Ort damit auseinander.«

Freddy hatte schon damit begonnen, die losen Blätter in der bereits überquellenden Mappe zu sammeln, und die anderen halfen ihm mit den Büchern.

»Das können wir unmöglich alles tragen«, stellte Tiah fest, als die Stapel sich immer höher türmten.

»Dann kommen wir eben morgen wieder und holen den Rest«, brummte Kork.

Freddy sah, dass ein Flaschenhals aus der Tasche des Käpt’ns lugte. Vermutlich ein edler Tropfen aus dem Raum über ihnen. Mit dem Rest meinte Kork wohl nicht nur den Inhalt dieses Zimmers.

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Der Hauptmann, der an der Hafenmeisterei auf sie wartete, staunte nicht schlecht, als er die Mannschaft der Bloody Mary mit Büchern und Pergamenten bepackt auf sich zukommen sah.

»Ihr … ihr habt etwas gefunden?«, fragte er und konnte sein Erstaunen kaum verbergen.

Freddy kam die Reaktion des Soldaten merkwürdig vor. Hatte Tiah mit ihrem Misstrauen recht gehabt und der Kaiser hatte seine Soldaten das Schiff vor ihnen durchsuchen lassen?

Doch der Hauptmann hatte sich schnell wieder unter Kontrolle, und nachdem Kork noch einmal einen wehmütigen Blick zurück zur Bloody Mary geworfen hatte, führte ihr Bewacher sie wieder zu den prunkvollen Palastgebäuden.

In den Quartieren hätte Freddy sich am liebsten sofort auf ihre Beute gestürzt, doch er wollte mit System vorgehen. Er hatte die Bücher nach Themen geordnet und den Inhalt der dicken Ledermappe mit der Totenkopf-Prägung überflogen. Die Pergamente darin bestanden teilweise aus den Aufzeichnungen des Korsaren, teilweise aus herausgerissenen Buchseiten oder alten Schriften. Freddy bat die Marinesoldaten vor ihrer Tür um Schreibzeug, um eine Liste führen und eigene Notizen machen zu können, doch natürlich ließen sich die Soldaten Zeit mit der Erfüllung seiner Bitte. Erst als es schon dunkel war, hielt er die Sachen endlich in Händen, und sie hatten nur wenige Kerzenstummel in ihren Quartieren. Deshalb verschob Freddy das Lesen auf den nächsten Tag, wenn sie hoffentlich alles aus dem Versteck auf der Nox geborgen hätten.

Später lag er in seinem goldverzierten Himmelbett, an dessen weiche Matratze er sich noch immer nicht gewöhnt hatte, und versuchte, in den Schlaf zu finden. Wieder einmal hatte er das Gefühl, in einem Traum festzustecken. Wie oft hatte er sich als kleiner Junge gewünscht, in eins der Abenteuer seines Vaters verstrickt zu sein. Nun hatten sie den Schwarzen Korsar im Rennen um den Titel »König der Piraten« ausgestochen. Sie schliefen in Gemächern des Kaiserpalasts und hatten heute vielleicht den Schlüssel zu dem Geheimnis seiner Gabe oder dem Verbleib seines Vaters geborgen.

Freddy konnte es kaum erwarten, bald wieder in See zu stechen. Vielleicht würde ihre nächste Fahrt sie ja in die Nähe von Porto Poncho bringen? Er würde zu gern seiner Mutter und seinen Brüdern einen Besuch abstatten, um ihnen selbst von seinen bisherigen Abenteuern zu erzählen. Und wenn er ehrlich war, hatte er auch ein bisschen Heimweh …

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Als der Marinehauptmann sie am nächsten Mittag wieder in den Hafen führte, herrschte dort rege Betriebsamkeit. Mindestens zwei der Marineschiffe standen zum Auslaufen bereit und Freddy schnappte im Vorbeigehen einen Gesprächsfetzen zwischen den Matrosen auf.

»Sie verraten ja nichts über den Auftrag, aber ausgerechnet die Schwarzen Steine«, murrte einer.

Ehe Freddy die Antwort des anderen hören konnte, musste er seiner Mannschaft nacheilen. Der Kaiser sandte Schiffe zu den Schwarzen Steinen? Vielleicht ja in das Versteck des Korsaren?

Doch als sie an Deck der Nox traten, ließ der Anblick Freddy die Bemerkung des Matrosen schnell wieder vergessen. Der Hauptmann hatte sich nichts anmerken lassen und sich nur erneut mit dem Hinweis verabschiedet, er warte beim Hafenmeister. Doch seine Männer mussten dem Anschein nach die ganze Nacht und den Morgen über das Schiff auf den Kopf gestellt haben. Und sie waren dabei kaum zimperlicher gewesen als die Piraten vor ihnen.

»Dieser … dieser …«, suchte Tiah fassungslos nach einer angemessenen Beschimpfung.

Das Deck war leer gefegt bis auf das letzte Tau und die Beplankung nur mehr lückenhaft. Etwa jedes dritte Brett war aus dem Boden gerissen, um freizulegen, was sich darunter verbarg. Die Soldaten hatten offensichtlich kein Risiko eingehen wollen, irgendetwas zu übersehen.

Freddy stürzte sofort auf die Brücke und dort bestätigte sich sein Verdacht. Sie hatten sich gar nicht erst die Mühe gemacht, nach dem verborgenen Mechanismus zu suchen. Löcher in der Rückwand zeugten davon, dass sie auch hier auf die Suche gegangen waren, und die versteckte Tür hing aus den Angeln gebrochen nach innen. Sie war mit Gewalt eingedrückt worden, das Zimmer dahinter leer geräumt. Keine Spur mehr von den vielen Büchern, die sie hatten zurücklassen müssen.

»Dieser verlogene Dreckskerl!«, fand Tiah ihre Sprache wieder, als sie das ganze Ausmaß erkannte.