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Nina Wolf

Zurück ins Leben

Nina Wolf

Zurück ins Leben

In 12 Schritten aus der Bulimie

Tectum Verlag

Nina Wolf

Zurück ins Leben

In 12 Schritten aus der Bulimie

 

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018

 

E-Pub 978-3-8288-6943-1

 

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4088-1.)

 

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes # 218389807 von Lisa S. | www.shutterstock.com

Das Ornament im Innenteil stammt aus dem Bild # 567306817 von Irina Danyliuk | www.shutterstock.com

 


 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:
www.tectum-verlag.de


 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Für meinen Ehemann, meinen besten Freund

und die Liebe meines Lebens!

Ohne Deine Unterstützung wäre dieses Buch nie entstanden.

Danke für Deine bedingungslose Liebe

und dafür, dass Du immer für mich da bist

und mir jeden Tag aufs Neue zeigst,

wie wertvoll und wunderschön das Leben ist.

Inhalt

Vorwort von Dr. Bärbel Wardetzki

Beim Kotzen erwischt

Der Tiefpunkt

Erster Schritt – die Kapitulation

Zweiter Schritt – das Steuer abgeben

Dritter Schritt – Führung durch Entschluss

Erste spirituelle Erfahrung

Die Werkzeuge der Genesung

Stille Zeit

Gelassenheitsgebet

First things first – Ordnung im Leben schaffen

Leben und leben lassen

Eile mit Weile – in der Ruhe liegt die Kraft

Aufgeschlossenheit

Dankbarkeitsliste

Nur für heute …

Vierter Schritt – die Inventur

Groll

Angst

Weitere Charakterfehler

Fünfter Schritt – eigene Fehler zugeben

Sechster Schritt – die Bereitschaft, seine Charakterfehler beseitigen zu lassen

Siebter Schritt – delete & reset: Frühjahrsputz im Hirn

Achter Schritt – die Liste

Neunter Schritt – Wiedergutmachung

Zehnter Schritt – und täglich grüßt das Murmeltier

Elfter Schritt – es wird intensiver: Vertrauen pur

Zwölfter Schritt – die Kür

Nachwort

Selbsthilfegruppen

Disclaimer

Vorwort von Dr. Bärbel Wardetzki

Das Buch, das Sie in der Hand halten, ist die Geschichte einer Frau, die sich nach vielen quälenden Jahren der Ess-Brech-Sucht aus dem Teufelskreis von Essen, Erbrechen und Hungern befreit hat. Es ist ein beschwerlicher Weg mit vielen Rückschlägen und immer wieder neuen Anläufen. Das Buch macht aber auch Hoffnung, dass es möglich ist, die Essstörung zu überwinden. Dabei stützt sich die Autorin auf die zwölf Schritte der OA (Overeaters Anonymous) und FA (Food Addicts in Recovery Anonymous), die auf demselben Konzept aufbauen wie die Anonymen Alkoholiker (AA), die als Begründer der A-Bewegung gelten.

Die OA und die FA sind internationale Selbsthilfegruppen für Menschen mit Ess-Störungen, die all jene unterstützen, die den Wunsch haben, mit dem zwanghaften Essen/Erbrechen aufzuhören. Die Zwölf Schritte enthalten eine Reihe von Grundsätzen, die einen inneren Wandel herbeiführen, wenn man sie befolgt. Sponsoren helfen, diese Grundsätze zu verstehen und anzuwenden. Durch das Praktizieren der Zwölf Schritte, immer nur für einen Tag, erreichen sie eine anhaltende Freiheit von ihrer Ess- Sucht und lernen eine neue Art zu leben.

Die Bulimie ist eine Esserkrankung, bei der die Betroffenen große Mengen an Essen verschlingen und sie anschließend wieder erbrechen. Sie haben massive Angst vor Gewichtszunahme und können das körperliche Völlegefühl nicht ertragen. Das selbstinduzierte Erbrechen scheint die Lösung für diese Probleme zu sein, was jedoch eine Illusion ist, wie eine Betroffene formuliert: »Im Grunde war ich auf der Flucht vor dem Leben und vor mir selbst. Ich flüchtete in Fressorgien, in den Schlaf, in den Scheintod.«

Das Essverhalten ist aus der Kontrolle geraten und von den Betroffenen nicht mehr willentlich steuerbar. Der Teufelskreis aus essen wollen, es sich verbieten, dann zügellos essen und wiederdarben, um nicht zuzunehmen, ist leidvoll. Was sie nicht wahrnehmen wollen, sind die körperlichen Schädigungen, die durch das extreme Essen und vor allem das Erbrechen entstehen. Neben schwerer Karies, Haarausfall und Schwellung der Lymphdrüsen kann es zu Herz- und Nierenfunktionsstörungen kommen, im schlimmsten Fall zu Herz- und Nierenversagen.

Durch die Sucht werden immer häufiger soziale Kontakte vermieden, die Betroffenen ziehen sich in die Isolation zurück und trösten sich mit Ess-Exzessen. Mit der Zeit wird die Situation für sie immer schlimmer, weil sie mehr und mehr vereinsamen, Freundschaften verlieren, nicht mehr arbeiten oder lernen können, keine Freude mehr an Aktivitäten und am Leben finden und nur noch für die Sucht leben.

Bulimie ist eine Suchterkrankung und obwohl das Erbrechen und Hungern keine Suchtstoffe sind, können sie als Droge eingesetzt werden. Es gibt viele Parallelen zu anderen Suchterkrankungen wie Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit, die bei vielen neben der Bulimie zusätzlich auftreten.

Die wesentlichen Suchtmerkmale sind zum einen der Kontrollverlust, der bei der Bulimie in der Unfähigkeit besteht, mit dem zwanghaften Überessen und Entleeren (Erbrechen, Abführmittel, Fasten) aufzuhören. Eine willentliche Kontrolle ist nicht mehr möglich, alle Versuche (Versprechen, Essenspläne, Vorsätze etc.) scheitern und subjektiv werden Essen und Erbrechen als Zwang, als Besessenheit erlebt. Es liegt hier der verzweifelte Kampf gegen das Essen vor, der täglich immer wieder verloren wird und der an den Kampf des Alkoholikers gegen die Flasche erinnert.

Das zweite Suchtmerkmal ist die Herstellung eines Rauschzustandes durch Essen, Erbrechen oder Fasten. Er äußert sich in einem Gefühl des »Highseins«, der Betäubung und der anschließenden »Katerstimmung«. Desweiteren bekommt die Droge Essen neue Funktionen: Sie wird zur Ersatzbefriedigung, zum Gefühlsdämpfer und Lebensbewältiger. Dabei verliert das Essen seine ursprüngliche Funktion als Lebensmittel. Essen und Erbrechen werden als »Problemlöser« in Situationen eingesetzt, die für die Betroffenen scheinbar unlösbar sind. Sie helfen vorübergehend, weil sie Spannungen abbauen, eine kurze Zufriedenheit hervorrufen und die Wirklichkeit für einige Zeit ausblenden. Aber hinterher leiden die an Bulimie Erkrankten meist mehr als vorher. Magenschmerzen, Brennen im Hals, Müdigkeit, Kreislaufprobleme, Schlappheit, dumpfer Kopf, innere Leere und massive Schuldgefühle sind die Folge. Sie fühlen sich deprimiert, halten sich für schlecht, wertlos, haltlos und schmutzig. »Was hat das Leben für einen Sinn, wozu soll das alles gut sein, ach wäre ich doch gar nicht da.« Viele Bulimikerinnen haben in solchen Momenten Selbstmordgedanken oder unternehmen Selbstmordversuche. In der Tat sterben viele Bulimikerinnen durch Suizid.

Die körperliche Abhängigkeit von einem Stoff hat zur Folge, dass ein einziger Rückfall die ganze Suchtkrankheit erneut in Gang setzen kann. Auch bei der Bulimie kann man oft eine körperliche Abhängigkeit von Zucker, Weißmehl und/oder Fett beobachten.

Wie bei einem Alkoholiker sollte der Suchtstoff daher am besten völlig gemieden werden. Eine Betroffene beschreibt es folgendermaßen:

»Ich meide Zucker wie die Pest, weil ich mir durchaus der Gefahr bewusst bin, dass ein erneuter Konsum mich komplett wieder in den Sumpf der Bulimie zurückwerfen würde. Von daher vergleichen wir es tatsächlich mit dem Alkoholiker, der immer nur einen Schluck entfernt ist von dem nächsten Rückfall.«

Bulimikerinnen reagieren gewöhnlich auf Rückfälle mit Selbstanklagen und -beschimpfungen. Sieht man Rückfälle jedoch als Ausdruck eines Mangelzustandes, eines unbefriedigten Bedürfnisses oder ungelösten Problems, als einen Hunger auf einer anderen Ebene, ist es möglich, konstruktive Lösungswege zu suchen und den zugrunde liegenden Hunger zu stillen.

Das »eigentliche« Problem liegt jedoch nicht im Essen/Erbrechen oder Hungern, sondern in einem brüchigen Selbstwert. Das Selbstwertgefühl von Bulimikerinnen ist in der Regel nicht stabil, sondern unterliegt starken Schwankungen zwischen dem Pol der Grandiosität (»Ich bin die Tollste«) und dem der Depressivität (»Ich bin nichts wert, dick, hässlich«). Ihr Grundgefühl ist Wertlosigkeit, Hilflosigkeit und Depression. Ihre Selbstachtung erreichen sie hauptsächlich über äußere Merkmale, wie ein niedriges Gewicht, gutes Aussehen, Leistung, Perfektionismus und Überanpassung an ihre Umgebung

Ihre Grandiosität zeigt sich in dem Wunsch nach ständiger Bewunderung und dem Gefühl, ohne diese nicht leben zu können. Die Bewunderung glaubt die Betroffene aber nicht für ihre Person zu erhalten, weil sie so ist, wie sie ist, sondern für ihre Schönheit, schlanke Figur, Leistungsfähigkeit, Intelligenz oder andere Fähigkeiten. Und nur diese Eigenschaften schätzt sie selbst an sich. Droht nun der Verlust der Bewunderung oder tritt dieser zum Beispiel ein bei Trennung vom Freund oder bei Kritik, dann kann es zum Zusammenbruch des Selbstwertgefühls kommen, begleitet von einer depressiven Reaktion mit Minderwertigkeitsgefühlen. Doch sogar geringere Anlässe können das Selbstwertgefühl von Bulimikerinnen stören. So kann beispielsweise die Ablehnung einer gemeinsamen Unternehmung Anlass zu tiefer Kränkung sein, oder ein gutes, aber nicht brillantes Ergebnis in der Arbeit zu einem beißenden Gefühl des Versagens führen. Auch ein paar Gramm Gewichtszunahme können ein tiefes Gefühl der Minderwertigkeit hervorrufen.

Um die Bulimie zu überwinden, bedarf es zuerst der Einsicht in die Krankheit und des Erlebens des individuellen Tiefpunktes. »Ich bin es leid zu leiden und daher bereit, einen steinigen Weg zu gehen.« Der Einstieg in die Abstinenz erfolgt für Viele über das Stoppen des Erbrechens, weil das leichter ist, als das Essen zu kontrollieren. Manchen helfen Essenspläne, die ihnen eine Struktur geben, andere brauchen die Erlaubnis, alles essen zu dürfen, was ihnen schmeckt. Therapie oder die Unterstützung durch OA-/FA-Gruppen ist unerlässlich. Der Vorteil von Selbsthilfegruppen ist, dass in ihnen lauter »Fachleute« sitzen, die genau wissen, worauf es ankommt.

 

»Nur du allein schaffst es, aber du schaffst es nicht allein« ist der Spruch der Anonymen Gruppen.

 

Dr. Bärbel Wardetzki

Beim Kotzen erwischt

Die Bulimie ist eine heimtückische Krankheit. Sie ist verschlagen, trügerisch und mächtig. Vor mehr als 25 Jahren schlich sie sich in mein Leben und blieb seitdem meine treue Begleiterin. Ein Vierteljahrhundert hing ich über den Kloschüsseln dieser Welt. Und ich kannte sie alle – ich wusste, wo man in Ruhe kotzen kann und wo die Gefahr, erwischt zu werden, am größten ist.

Erwischt wurde ich in all den Jahren noch nie. Bis zu diesem schicksalhaften Tag im September, der mir – rückblickend betrachtet – wahrscheinlich das Leben gerettet hat.

Ich war mal wieder bei meinem bevorzugten McDonald’s in München. Hier war es immer sehr laut, und die Musik, die im Hintergrund lief, übertönte die Kotzgeräusche. Das war sehr praktisch – auch wenn ich mit der Zeit gelernt hatte, mich so gut wie lautlos zu übergeben. Diesmal war es mir jedoch nicht gelungen, nach dem Erbrechen alle Spuren zu verwischen, was mir unendlich peinlich war. Ich fühlte mich ertappt, als die nächste Kundin auf die Toilette wollte und unsere Blicke sich trafen. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Jahrzehntelang war es mir gelungen, meine Bulimie geheim zu halten, und jetzt sollte ich auffliegen, nur weil das Klopapier ausgegangen war? Wie konnte mir das nur passieren? Normalerweise prüfte ich im Vorfeld sehr sorgfältig, ob die Spülung funktionierte, ob genug Papier da war und ob ich etwas dabeihatte, um die Gerüche zu neutralisieren. Ich prüfte auch bei jeder öffentlichen Toilette, wie hoch die Lücke zum Boden ist und ob man von außen sehen konnte, dass meine Füße falsch herum standen. Wie konnte ich auf einmal so nachlässig werden? Mit hochrotem Kopf ging ich an der Frau vorbei und wollte einfach nur weg.

»Ich kann dir helfen«, sagte sie mit ruhiger, fester Stimme, bevor ich mich verdrücken konnte.

Ich blieb wie angewurzelt stehen.

»Bitte was?«, stammelte ich, meinen Blick immer noch auf den Boden gerichtet. Ich traute mich nicht, ihr in die Augen zu schauen.

»Ich weiß, was du durchmachst, weil ich auch durch diese Hölle gegangen bin.«

Grundgütiger! Was für eine peinliche Situation! Am liebsten wäre ich in dem Moment einfach nur tot umgefallen. Aber die Frau klang irgendwie vertrauenswürdig, so dass ich (nach einer gefühlten Ewigkeit) aus meiner Starre erwachte. Langsam, ganz langsam hob ich meinen Kopf und schaute sie verlegen an. Sie hatte große blaue Augen, die eine unglaubliche Ruhe ausstrahlten. »Was für ein intensives Blau«, ging mir in dem Moment durch den Kopf.

»Ich war richtig am Boden, eigentlich war ich schon tot«, fuhr sie fort. »Zum Schluss wog ich nur noch 37 Kilo«, sagte sie (und die Frau war groß, 1,75m würde ich schätzen). »Eine trockene Alkoholikerin hat mir im letzten Moment das Leben gerettet.«

Ich verstand nur Bahnhof. Was wollte diese Frau von mir, ich hatte doch gar kein Alkoholproblem?! Ganz im Gegenteil, ich trank so gut wie nie Alkohol. Die ganze Situation war irgendwie konfus. Ich stand da und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Die Frau kramte in ihrer Handtasche und holte eine Visitenkarte heraus.

»Wenn du reden möchtest, ruf mich an.«

»Warum sollte ich … Ich kenne Sie doch gar nicht …«, stotterte ich verlegen, aber sie fuhr fort:

»Ich habe 15 Jahre Bulimie und Magersucht hinter mir und ich durfte vor zwei Jahren einen einfachen, aber sehr wirkungsvollen Weg kennen lernen, um wieder gesund zu werden«.

»Ha! Da habe ich aber zehn Jahre länger durchgehalten!«, war mein erster Gedanke. Für einen Moment fühlte ich mich ihr überlegen, so bescheuert sich das auch anhören mag. Ich war nach all den Jahren immer noch der Meinung, dass ich jederzeit mit den Fressorgien aufhören könnte, wenn ich nur wollte. Blöderweise ging es mir auch nach so vielen Jahren mit der Bulimie immer noch relativ gut, so dass ich gar keine Veranlassung sah, irgendwas an der Situation zu ändern. Ich konnte essen, was ich wollte, und hatte trotzdem eine super Figur, um die mich jeder beneidete. Was will man mehr? Außerdem war ich überzeugt davon, dass alle schlanken Frauen nach dem Essen kotzen gehen, wie sollte man denn sonst so dünn bleiben?

Die Frau mit den blauen Augen hieß Christiane, wie ihre Visitenkarte verriet. Aus den Augenwinkeln scannte ich sie ab – ich musste mich immer mit den anderen vergleichen, um eine Bestätigung zu bekommen, dass ich die bessere Figur hatte. Blöderweise war Christiane eine hübsche, schlanke Frau, die zudem noch mindestens 10cm größer war als ich. »Und diese Figur kann man mit normalem Essen halten? Nie im Leben, die kotzt doch heimlich!«

Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte sie: »Meinen letzten Rückfall hatte ich vor anderthalb Jahren und heute weiß ich, dass ich es nie wieder machen werde. Ich brauche das Kotzen nicht mehr. Ich muss auch nicht mehr hungern oder exzessiv Sport machen. Es hat einfach aufgehört.«

»Ich glaube dir kein Wort!«, dachte ich, als ich ihre Visitenkarte in meine Hosentasche schob. »Das hört nicht einfach so auf … Ich habe es oft genug versucht und in all den Jahren nicht einmal 24 Stunden am Stück durchgehalten.«

»Ich muss jetzt los«, murmelte ich, drehte mich um und ging zur Tür.

»Wie heißt Du?«, rief sie noch hinter mir her.

»Ist nicht so wichtig«, erwiderte ich, ohne sie noch mal anzuschauen. »Wir werden uns sowieso nicht wiedersehen.«

Wie sehr ich mich doch täuschen sollte …

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Nach dieser seltsamen Begegnung ging ich schnurstracks zum nächsten Bäcker. Mein Magen war ja wieder leer und ich spürte einen enormen Essdruck. Zwei Butterbrezn und drei Schokocroissants sollten die erste Gier stillen. Damit die Verkäuferin nicht glaubte, ich würde alles für mich kaufen, bat ich sie »ganz beiläufig« mit einem unschuldigen Lächeln im Gesicht, die Bestellung separat zu verpacken:

»Die Brezn können zusammen in eine Tüte, bei den Croissants bitte einmal zwei und einmal eines separat verpacken. Dann kann ich es gleich richtig abgepackt unter den Kollegen verteilen …« »Ach ja, und für mich dann bitte noch eine Käsestange!«, fügte ich noch schnell hinzu.

Das Lügen gehörte mittlerweile zu meinem Alltag. Nur so konnte ich mein perfektes Doppelleben aufrechterhalten. In meinem Umfeld hatte niemand auch nur den leisesten Schimmer, zu was für einem Monster ich mutierte, wenn die Gier nach Essen mal wieder übermächtig wurde. Ich spielte allen etwas vor: meiner Familie, meinem Freund, meinen Arbeitskollegen und den wenigen Freunden, die ich noch hatte.

Meine Mittagspause war fast um. Auf dem Weg zur Arbeit schlang ich die Butterbrezn und die Käsestange herunter. Die Schokocroissants würde ich dann gleich im Büro essen und dabei ganz beiläufig über die viel zu kurzen Pausen schimpfen, in denen man nicht einmal zum Essen kommt, wenn man vorher noch was bei der Bank erledigen muss …

Blöderweise hatte ich zu wenig getrunken, so dass es mir richtig schwerfiel, alles wieder zu erbrechen. Panik überfiel mich! Ich hatte gleich eine Besprechung und wusste, dass es danach zu spät sein würde. Wenn die Verdauung einmal losging, brannte beim Kotzen die Magensäure in der Speiseröhre viel zu sehr. Ich musste alles so gut es ging noch vor dem Termin loswerden! Ich nahm eine Wasserflasche mit aufs Klo und quälte mich fast 20 Minuten ab, bis ich das Gefühl hatte, dass alles draußen ist. Danach war ich so fertig, dass ich mich am liebsten in mein Bett verkrochen hätte. Aber ich musste ja funktionieren, also beseitigte ich alle Spuren, putzte mir die Zähne, zog den Lippenstift nach und ging in die Besprechung, als sei nichts gewesen.

Noch während des Meetings malte ich mir aus, was ich nachher auf dem Heimweg alles essen würde. Bevor mein Freund nach Hause kommt, könnte ich noch eine Ess-Brech-Orgie einschieben, so dass wir im Anschluss gemeinsam zu Abend essen könnten …

Immer wenn ich mit anderen gemeinsam aß, nahm ich nur ganz kleine Portionen zu mir. In meinem Umfeld glaubten alle, ich sei sehr gesundheitsbewusst und achte pingelig auf meine Ernährung. Wenn die wüssten …

Nach Feierabend fuhr ich wie so oft in den Supermarkt und kaufte ganz viel Süßigkeiten, vor allem Eis. Eis war perfekt, da es fast von alleine wieder rauskam. Natürlich habe ich immer darauf geachtet, dass ich jeden Tag in einem anderen Supermarkt einkaufen war, sonst würde es ja auffallen. Ich kaufte jedes Mal so viel ein, dass ich damit eine vierköpfige Familie eine Woche lang hätte ernähren können. Nicht auszudenken, wenn die Kassiererin herausgefunden hätte, dass das alles für mich alleine war!

Ich legte sehr viel Wert darauf, was andere über mich dachten. Mein Selbstwertgefühl stand und fiel in dem Maße, in dem ich von anderen beneidet und bewundert wurde. Deswegen hatte ich eine perfekte Fassade aufgebaut: Nach außen hin war ich die gut aussehende, erfolgreiche Geschäftsfrau, eine Sportskanone und liebevolle Partnerin. Nichts davon stimmte. Meinen Job konnte ich nur so gut erledigen, weil ich unzählige Überstunden machte, Sport machte ich nur, um das abzutrainieren, was beim Kotzen nicht rausgekommen war, und meinen Freund betrog ich nach Strich und Faden. Eigentlich führte ich ein total erbärmliches Leben … Aber ich habe mich in all den Jahren so gut damit arrangiert, dass ich keine Veranlassung sah, etwas an meinem Leben zu ändern.

Während der Heimfahrt musste ich kurz an die seltsame Begegnung auf der McDonald’s-Toilette denken.

»Ich kann dir helfen«, hatte die Frau gesagt.

Ja klar. Was glaubte sie eigentlich, wer sie war? Es ist ja nicht so, dass ich in all den Jahren nicht versucht hätte, aus dieser Hölle herauszukommen. Im Gegenteil! Ich hatte schon mehrere Psychologen verschlissen, hatte es sogar mit Hypnose, Heilpraktiker, Familienaufstellung, Kinesiologie und was weiß ich nicht alles versucht. Vergeblich. Mir konnte keiner mehr helfen, dafür hing ich schon zu lange drin.

Ich vergaß die Frau relativ schnell und lebte so weiter wie bisher.

Der Tiefpunkt

Zwei Monate nach der Begegnung mit Christiane, kurz nach meinem 40. Geburtstag, hatte ich einen ganz schlimmen Absturz. Ich hatte mich derart vollgefressen, dass ich aussah, als wäre ich im neunten Monat schwanger. Mit letzter Kraft konnte ich mich zur Toilette schleppen, aber es kam kaum etwas raus. Panik überfiel mich. Ich hatte regelrecht Todesangst, weil ich dachte, dass mein Magen jeden Moment platzen würde. Ich war wie gelähmt vor Schmerzen.

Stundenlang versuchte ich verzweifelt, mich zu übergeben. Zum Schluss spuckte ich nur noch Blut und brach schließlich total erschöpft über der Toilette zusammen. Wie lange ich dort so lag, weiß ich heute nicht mehr. Irgendwann kam mein Freund nach Hause und fand mich in diesem jämmerlichen Zustand. Er war mit der Situation total überfordert. Ich auch. Er wollte unbedingt den Rettungsdienst rufen, was mich total in Panik versetzte. Mir war das alles todespeinlich. Lieber würde ich sterben, als zuzugeben, was wirklich passiert ist.

»Alles gut«, stammelte ich, »mir geht’s schon wieder besser. Ich habe wohl was Falsches gegessen.«

Ich rappelte mich auf und versuchte, das Fenster aufzumachen. Es stank furchtbar nach Erbrochenem und ich schämte mich in Grund und Boden dafür, dass Jan mich so gesehen hatte. Ich befand mich mitten in dem schlimmsten Albtraum, den ich mir vorstellen konnte.

Jan stand immer noch da und wusste nicht so recht, was er von der Situation halten sollte, während ich anfing, die Fliesen sauber zu machen.

»Lass mich bitte alleine«, sagte ich leise, aber bestimmt.

Er machte keine Anstalten zu gehen.

»Bist du sicher, dass …«

»Jan, RAUS!« Ich verlor die Beherrschung, knallte ihm die Tür vor der Nase zu und fing vor lauter Wut und Verzweiflung fürchterlich an zu weinen.

In dem Moment musste ich an die Worte meiner letzten Psychologin denken. Es war mein fünfter oder sechster Therapieversuch, und als sie in der ersten Sitzung fragte, was sie für mich tun könnte, erzählte ich ihr meine Geschichte. Ziemlich emotionslos, als würde ich über jemand anderen sprechen. Ich war mit den Jahren ziemlich abgestumpft. Bisher konnte mir niemand helfen, warum sollte es bei dieser Frau anders sein? Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte sie mit ruhiger Stimme:

»Ich kann leider nichts für Sie tun, Frau Wolf. Offensichtlich ist Ihr Leidensdruck noch nicht groß genug.«

»Wie bitte?!« Ich dachte, ich höre nicht richtig.

»Sie haben sich mit der Essstörung anscheinend so gut arrangiert, dass Ihnen jegliche Bereitschaft dazu fehlt, etwas dagegen zu unternehmen. So lange sie es nicht wirklich wollen – und ich meine wirklich wollen – wird Ihnen niemand helfen können.«

Ich spürte, wie ich wütend wurde.

»Was weißt du denn schon von mir, du Psychotante?«, dachte ich insgeheim. »Du hast doch gar keine Ahnung, wie es mir wirklich geht.«

Dennoch bedankte ich mich höflich und verließ die Praxis. Um mich abzureagieren, ging ich schnurstracks in das nächste McDonald’s, kaufte fünf Cheeseburger, fünf Hamburger und ein 20er-Paket Chicken McNuggets. Während ich zahlte, tat ich so, als würde ich jemanden suchen und stammelte etwas wie: »Wo sind denn die anderen schon wieder?« Nicht, dass der Verkäufer noch dachte, ich würde das alles alleine verschlingen.

Ich verschlang alles alleine und spülte es mit viel Cola runter. Die Befriedigung beim Verschlingen der Burger versetzte mich in einen rauschartigen Zustand. In dem Moment vergaß ich alles um mich herum – es gab keine Sorgen mehr, keine Ängste, keine Traurigkeit. Für einen kurzen Moment wurde die Leere gestopft. Aber eben nur für einen kurzen Moment. Sobald ich alles aufgefuttert hatte, machte sich Panik in mir breit. Ich musste so schnell wie möglich einen Platz finden, um alles zu erbrechen, bevor mein Magen mit der Verdauung anfing und dann alles auf meiner Hüfte landete. In einem Kaufhaus ging ich dann schnurstracks auf die Kundentoilette, um alles wieder loszuwerden. Das war meine Art, Probleme zu lösen und Dampf abzulassen. Wie sehr ich tatsächlich darunter litt, war mir nicht bewusst.

Mein Leidensdruck sei noch nicht groß genug, sagte die Psychologin. Was musste denn noch alles passieren? Ich litt doch wie ein Hund und war buchstäblich am Boden, tiefer konnte ich kaum noch sinken. Beim Kotzen erwischt zu werden, war für mich der absolute Super-GAU. Mir fiel wieder die Frau ein, die mich vor zwei Monaten auf der McDonald’s-Toilette erwischt hatte. Wie hieß sie doch gleich? Christine? Christiane? Ich hatte doch irgendwo eine Karte von ihr … Oder hatte ich sie weggeworfen? Was hatte ich damals an? Panisch begann ich, in meinem Schrank zu wühlen und alle Hosentaschen zu durchsuchen. Jan war immer noch total verunsichert und stand fragend an der Schlafzimmertür:

»Nina, ich mache mir Sorgen …«

Ich hatte jetzt keine Lust auf Diskussionen und erwiderte barsch:

»Ich habe doch gesagt, dass alles in Ordnung ist, jetzt lass mich doch einfach in Ruhe!«

Beleidigt schnappte er seine Jacke und die Autoschlüssel, knallte die Türe zu und verschwand. Er würde jetzt wahrscheinlich wieder zu seinem Kumpel fahren, sich dort die Birne zuknallen und gemeinsam mit ihm die »Verstehe mal einer die Frauen«-Nummer ausbreiten. Soll er doch, Hauptsache, ich habe jetzt meine Ruhe. Manchmal erschreckte ich mich selber vor meiner eigenen Gefühlskälte. Anscheinend hat Jan sich wirklich Sorgen gemacht, und ich trampelte – wie so oft – auf seinen Gefühlen herum. Ich konnte sowieso nicht verstehen, warum er mit mir zusammen war.

»Da ist sie!«, rief ich erfreut, als ich die Visitenkarte in meiner Hosentasche fand.

Und nun? Nervös drehte ich die Karte zwischen meinen Fingern immer wieder um, bis ich plötzlich einen Entschluss fasste: »Ich rufe diese Frau jetzt an, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

Viermal habe ich die Nummer gewählt und sofort wieder aufgelegt. Ich konnte doch nicht mit einer wildfremden Frau, die mich zudem auch noch beim Kotzen erwischt hatte, über meine große Lebenslüge sprechen?!

Oder vielleicht doch?

Sie sagte, dass sie dasselbe durchgemacht hätte und dass sie mir helfen könnte. Was hatte ich zu verlieren? »Ich kann mir ja zumindest mal anhören, wie sie es geschafft hat …« Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und ließ es zum fünften Mal klingeln.

Diesmal legte ich nicht auf.

»Hallo?«

Das war sie! Ich hatte die Stimme sofort wiedererkannt.

»Hallo? Wer ist denn da?«

Ich brauchte noch ein paar Atemzüge, um überhaupt einen Ton herauszubringen.

»Hallo, hier ist Nina«, flüsterte ich fast lautlos in den Hörer.

»Wer ist da? Ich kann dich kaum verstehen.«

Reiß dich zusammen Nina, die Frau wird dir schon nicht den Kopf abreißen!

»Hier ist Nina. Wir haben uns vor ein paar Monaten bei … ähm … McDonald’s kennen gelernt.«

Stille auf der anderen Seite.

»Bist du noch da?«, fragte ich verlegen.

»Ja, ja, ich bin noch dran, aber ich kann dich leider nicht zuordnen. Hilf mir mal auf die Sprünge«, bat Christiane.

»Ähm … wir haben uns auf der Damentoilette kennen gelernt. Du hattest mir deine Visitenkarte gegeben und gesagt, dass du mir helfen könntest«, murmelte ich verlegen.

»Ja, jetzt erinnere ich mich! Du bist die hübsche junge Frau mit den langen Haaren und den großen, traurigen Reh-Augen, nicht wahr?«

»Ich … ähm …«

Ich bekam keinen vernünftigen Satz zustande, was war nur mit mir los?

»So jung bin ich nun auch nicht mehr«, versuchte ich die Situation aufzulockern.

Eine blödere Antwort ist mir nicht eingefallen. Ich war total verwirrt. Nach so vielen Wochen konnte sich die Frau sogar noch an die Traurigkeit in meinen Augen erinnern!

»Nina heißt du also. Wie schön, dass du dich meldest! Wie geht’s dir?«

Sie schien sich wirklich zu freuen, dass ich angerufen hatte. Irgendwie konnte ich sie nicht anlügen.

»Naja, in Anbetracht der Tatsache, dass mein Freund mich vorhin auf der Toilette erwischt hat …«

Ich konnte nicht weiterreden, der Kloß in meinem Hals wurde immer größer und ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

»Er weiß nichts von Deiner Krankheit?«, fragte sie sanft.

»Keiner weiß davon«, antwortete ich, während ich meine Nase putzte. »Und das soll auch so bleiben. Er glaubt, dass ich etwas Schlechtes gegessen habe und mich deswegen übergeben musste.«

»Und wie fühlt sich das jetzt für dich an?«, fragte sie weiter.

»Was für eine Frage. Beschissen natürlich!«, war meine spontane Antwort. Ich räusperte mich und fuhr fort: »Du hast gesagt, dass du mir helfen kannst. War das ernst gemeint?«

»Ich kann dir nur helfen, wenn du dir helfen lassen willst. Möchtest du wirklich ernsthaft etwas an deinem Leben ändern?«

Ich schwieg, weil ich ihr keine spontane Antwort geben konnte.

»Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag«, sagte Christiane. »Wenn du magst, können wir uns gerne mal treffen und ich erzähle dir, wie ich es geschafft habe, wieder normal zu essen.«

»Und du behältst wirklich alles, was du isst, bei dir?« Das war für mich immer noch unvorstellbar.

Sie lächelte.

»Ja, das tue ich. Ich esse mit Genuss und ich lebe ein zufriedenes, glückliches Leben.«

»Und das geht so einfach?«, hakte ich nach.

»Es ist einfach, ja. Aber nicht leicht. Wie heißt es so schön bei den Anonymen Alkoholikern: ‚Nur du alleine kannst es schaffen, aber alleine schaffst du es nicht.‘«

»Ich trinke überhaupt keinen Alkohol«, protestierte ich.

»Ich auch nicht«, erwiderte Christiane. »Aber wir können sehr viel von den Anonymen Alkoholikern lernen. Sie haben ein sehr mächtiges Genesungsprogramm«.

Jetzt war ich richtig neugierig und konnte es kaum erwarten, mehr zu erfahren. »Können wir uns gleich treffen?«, fragte ich erwartungsvoll.