3Iring Fetscher

Marx

Eine Einführung

Mit einem Anhang

Suhrkamp

7Einleitung

Die gesammelten Werke von Marx sind noch immer nicht vollständig ediert. Selbst die zu seinen Lebzeiten und aus dem Nachlaß gedruckten Schriften umfassen so viele unterschiedliche Wissensgebiete, daß eine begründete Auswahl unabdingbar ist. In der vorliegenden Monographie wird der Schwerpunkt auf den frühen Marx und auf seine philosophischen und ökonomiekritischen Arbeiten gelegt. Sie stellen zugleich das Zentrum seiner ehrgeizigen Bemühung dar, die zeitgenössische Gesellschaft, ihre Vorgeschichte und ihre künftigen Entwicklungsmöglichkeiten zu analysieren und zu verstehen. Ausgehend von einem durch Hegel und Feuerbach beeinflußten Menschenbild gelangt Marx zu einer Kritik an den deformierenden Einflüssen der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft. Beeindruckt durch die sozialistischen und utopischen Denker Frankreichs und Englands, wird er auf das Industrieproletariat als potentielle Kraft einer künftigen Revolution aufmerksam. Am Studium der Französischen Revolution entwickelt er Kategorien zum Verständnis politischer und darüber hinausgehender sozialer Umgestaltungen. Die klassische Nationalökonomie eines Adam Smith und David Ricardo liefert ihm einen Schlüssel zum Verständnis – und daran anschließend zur Kritik – der industriellen Marktwirtschaft und ihrer eindrucksvollen Dynamik. Enttäuscht über die säkulare Rückständigkeit des in Kleinstaaten geteilten und kleinbürgerlichen Deutschland, sucht er nach einer Entwicklungsmöglichkeit, die den Rückstand seiner Heimat gegenüber den politisch und wirtschaftlich weiter entwickelten westlichen Nachbarn einzuholen (und womöglich zu überholen) erlaubt. Hier taucht beim frühen Marx die Verbindung der in Europa führenden deutschen Philosophie mit dem zukunftsverheißenden Proletariat auf. Die Radikalität beider ist ihm eine Gewähr für einen Sprung über die Schranken, unter denen die bourgeoisen Gesellschaften im Westen noch leiden. Später wird er – enttäuscht durch die Revolution von 1848/49 in Deutschland – diese Erwartung wieder fallenlassen, auch wenn der Anklang, den seine Theorien in der deutschen Arbeiterbewegung nach 1871 finden, wieder die alten Hoffnungen belebt. Dennoch: Favorit der Revolution des durch den Weltmarkt 8geschaffenen Industrieproletariats ist England. Von 1849 an wird Marx dort – mit wenigen Unterbrechungen – wohnen und arbeiten. Sein Hauptwerk »Das Kapital« kann er selbst nicht mehr vollenden. Auf den 1867 erscheinenden ersten Band folgen zwei weitere erst aus dem Nachlaß, den sein Freund Friedrich Engels bearbeitet hat. Auf dem Weg zum Hauptwerk gehen allerdings viele Aspekte seiner konkreten Zukunftsvision verloren. Um jeden »Utopismus« zu vermeiden, legt sich der Autor asketische Selbstbeschränkung auf. Dennoch bleiben als Motiv seiner Arbeit und seines Wirkens innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung konkrete Zukunftsvorstellungen weiter wirksam. Hier und da kommen sie auch in seinem als streng wissenschaftlich intendierten Werk zum Ausdruck.

Das Wirken von Marx als Organisator und Agitator der Arbeiterbewegung in Deutschland, England, Frankreich und in der »Internationalen Arbeiterassoziation« bedürfte einer eignen Monographie. Ebenso interessant und weit weniger bekannt ist die umfassende journalistische Tätigkeit von Marx, die in erster Linie zur Bestreitung seines Lebensunterhalts, aber durchaus auch zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in New York, wo die meisten seiner Zeitungsartikel erschienen sind, in Deutschland und Großbritannien diente. Einen gewissen Eindruck von der zeithistorischen Aktivität von Karl Marx kann die Arbeit über den »18. Brumaire des Louis Bonaparte« vermitteln. Napoleons Diktatur ist ein Beispiel dafür, wie wenig mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für die Herstellung freiheitlicher und demokratischer Verhältnisse schon getan ist. Hinweise auf die Beurteilung des britischen Kolonialismus und den Panslawismus sowie die – schon früh von Marx und Engels – bekundete Sympathie für die polnischen Demokraten mögen als Beispiele für seine journalistische und zeithistorische Arbeit genügen.

Im Zusammenhang mit dem Hauptwerk und dessen Vorarbeiten muß ich aber auf einen – meist völlig übersehenen und von den Marxisten kaum wahrgenommenen – Aspekt der Marxschen Theorie hinweisen: seine Warnung vor der Naturzerstörung durch eine »naturwüchsige« Entwicklung der industriekapitalistischen Produktionsweise. Insbesondere hat Marx schon früh auf die verheerenden Folgen agrarischer Monokulturen und die Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit durch Versuche kurzfristiger Maximalpro9duktion mit Hilfe von Überdüngung usw. hingewiesen. Daß nicht erst die moderne Wirtschaftsweise, sondern auch schon die Antike durch kurzsichtige Bodennutzung – z. B. durch Rodungen – die natürlichen Lebensgrundlagen beschädigt hat, hat Marx durch eine Arbeit des bayrischen Botanikers Karl Nikolaus Fraas erfahren, dessen Buch Klima und Pflanzenwelt in der Zeit (1847) er Engels dringend zur Lektüre empfiehlt.

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Da die Werke von Marx heute kaum noch gelesen werden, war es mir ein Anliegen, ihn möglichst oft selbst zu Wort kommen zu lassen. Die kursiv markierten Stellen in den Zitaten geben meine Betonungen wieder.

101. Herkunft – Schulzeit in Trier

Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Sein Vater Hirsch (seit 1814 Heinrich) Mordechai (seit 1808 Marx) war Advokat und Rechtsanwalt, zeitweilig Vorsitzender der Trierer Anwaltschaft. Er stammte aus einer Familie, aus der im Laufe der Jahrhunderte viele Rabbiner hervorgegangen waren. Vermutlich im Jahr 1817 vollzog Heinrich Marx seinen Übertritt zum protestantischen Christentum. Sechs Kinder der Familie Marx wurden 1824 getauft. Die Mutter Henriette Pressburg – Tochter eines Kaufmanns, aber gleichfalls aus rabbinischer Familie stammend – trat noch etwas später zum Christentum über. Motiv für den Glaubenswechsel dürften in erster Linie Schwierigkeiten bei der Zulassung zur beruflichen Tätigkeit gewesen sein. Daß die Taufe der Kinder und der Glaubenswechsel der Frau erst später stattfanden, wird von den meisten Biographen auf Rücksichtnahme gegenüber rabbinischen Verwandten zurückgeführt. Heinrich Marx fiel die Konversion vermutlich leicht, da er einem aufgeklärten Deismus zuneigte und sich als »Schüler von Voltaire und Leibniz« empfand. Es ist anzunehmen, daß dem jungen Karl Marx während der sechs Jahre vor dem Übertritt zum Protestantismus kaum eine jüdische religiöse Unterweisung zuteil wurde. Sein Verhältnis zum Judentum war auch in der Folge distanziert. In seiner leicht mißverständlichen Schrift »Zur Judenfrage« identifiziert er die europäischen Juden mit krassem Eigennutz und behauptet: »der weltliche Kultus des Juden« sei »der Schacher … ihr weltlicher Gott – das Geld«. Wenn man diese Stelle aus der 1844 veröffentlichten Arbeit isoliert zitiert, verkennt man allerdings die eigentliche Tendenz dieser Schrift. Es ging Marx einmal darum, Bruno Bauers Forderung, die Juden müßten ihren Glauben aufgeben, um Staatsbürger werden zu können, zu widerlegen. Zum anderen wollte er seine Theorie illustrieren, religiöses Bewußtsein sei immer Folge und Ausdruck beengender sozialer Verhältnisse, die den einzelnen vom »Gattungsleben« trennen und dazu führen, eine »jenseitige Ergänzung« irdischer Beschränktheit zu imaginieren. Im übrigen richtet er seine Kritik sowohl gegen die jüdische als auch gegen die christliche Religiosität.

Doch kehren wir zurück nach Trier. Marx wird von seinem Va11ter unterrichtet und besucht von 1830 bis 1835 das Gymnasium, das von dem demokratisch gesinnten Rektor Hugo Wyttenbach geleitet wird, von dem Marx in Geschichte, Deutsch und vermutlich auch Religion unterrichtet wurde. Wyttenbach war während der französischen Zeit von der Pariser Regierung anerkannt, galt als Kantianer und hatte auch später noch eindeutig republikanische Ansichten. Als Redner bei Feiern in der »Casino-Gesellschaft« erregte er mit seinen freiheitlichen Äußerungen Anstoß bei den preußischen Behörden.

Marx war ein guter, wenn auch kein überragender Schüler. Immerhin fielen bei der Reifeprüfung von 32 Bewerbern 10 durch. Das Niveau des Unterrichts und die Anforderungen an die Schüler waren relativ hoch. Diese Tatsache geht auch aus den erhalten gebliebenen Abituraufsätzen von Marx hervor.

Der »ziemlich gut« bewertete Aufsatz »Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl des Berufs« enthält einen Satz, von dem man mit einiger Berechtigung sagen kann, daß er dem späteren Wollen und Wirken des Autors den Weg weist: »Die Hauptlenkerin … die uns bei der Standeswahl leiten muß, ist das Wohl der Menschheit, unsere eigne Vollendung. Man wähne nicht, diese beiden Interessen könnten sich feindlich bekämpfen, das eine müsse das andre vernichten, sondern die Natur des Menschen ist so eingerichtet, daß er seine Vervollkommnung nur erreichen kann, wenn er für die Vollendung, für das Wohl seiner Mitwelt wirkt … Wenn wir den Stand gewählt, in dem wir am meisten für die Menschheit wirken können, dann können uns Lasten nicht niederbeugen, weil sie nur Opfer für alle sind: dann genießen wir keine arme, eingeschränkte, egoistische Freude, sondern unser Glück gehört Millionen, unsere Taten leben still, aber ewig wirkend fort, und unsere Asche wird benetzt von der glühenden Träne edler Menschen.« Damit endet der Aufsatz. Zieht man die altertümlich klingenden rhetorischen Formulierungen ab, so wird schon der auf weltweite Wirkung abzielende praktische Ehrgeiz des Wissenschaftlers und Politikers Marx erkennbar.

Nicht minder interessant sind die Aufsätze in den Fächern Religion und Geschichte, wobei letzterer auf lateinisch geschrieben werden mußte. In der schriftlichen Arbeit zum Griechischen mußte ein Text von Sophokles ins Deutsche übertragen werden, eine Übersetzung ins Französische erhält die Note »mittelmäßig«. Be12merkenswert ist, daß in der mündlichen Französischprüfung ein Text von Montesquieu herangezogen wird.

Kein Zweifel, dieses Gymnasium verlangte von seinen Abiturienten weit mehr, als heute üblich ist. Die Person Wyttenbachs dürfte – zusammen mit seinem Vater und dem künftigen Schwiegervater Ludwig von Westphalen – den jungen Marx in Trier nicht unerheblich beeinflußt haben. Daß Marx sehr wohl die politische Einstellung seiner Lehrer zu beurteilen wußte, geht aus der Tatsache hervor, daß er dem Kodirektor Vitus Loers, dem »die politische Aufsicht über das Gymnasium« anvertraut worden war und dessen reaktionäre Gesinnung man kannte, den üblichen Abschiedsbesuch verweigerte.

Zu der Familie des höheren Beamten in dem preußischen Regierungspräsidium Ludwig von Westphalen dürfte Marx durch seinen Mitschüler Edgar von Westphalen in Kontakt gekommen sein. Es ist aber auch möglich, daß zwischen seinem Vater und dem Regierungsrat berufliche Kontakte bestanden. Ludwig von Westphalen, der von 1808 bis 1813 Unterpräfekt in Salzwedel gewesen war, wurde 1816 als Erster Rat nach Trier versetzt. Damit war – gegenüber dem Gehalt des Sous-Préfekt (danach Landrat) – eine Einkommensminderung verbunden. Im Unterschied zu seinem Sohn aus erster Ehe, Ferdinand, der Karriere machte und von 1850 bis 1858 konservativer preußischer Innenminister war, wurde Ludwig von Westphalen nicht mehr befördert. Er war für die Restaurations-Epoche offenbar zu fortschrittlich. Karl Marx war ihm schon vor seiner (geheimgehaltenen) Verlobung mit seiner Tochter Jenny freundschaftlich zugetan. Er hat dem väterlichen Freund 1841 seine Dissertation »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« gewidmet. Ludwig von Westphalen, dessen Vorfahren mütterlicherseits schottischem Adel entstammten (u. a. Campbel und Argyle), brachte Marx Shakespeare nahe, auch scheint er – im Unterschied zu Heinrich Marx – mehr Sinn für deutsche Literatur gehabt zu haben.

Die Liebe zu der bildschönen Jenny von Westphalen, die lebhaft erwidert wurde, stieß naturgemäß – angesichts der unterschiedlichen sozialen Stellung und Herkunft – auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Verlobung wurde zwar Vater und Mutter Marx – nicht aber der Familie von Westphalen – vor der Abreise von Marx nach Berlin bekanntgegeben. Heinrich Marx teilte die Zuneigung seines 13Sohnes und ermahnte ihn, sich der Liebe dieser großartigen jungen Frau auch würdig zu erweisen und bald einen soliden Beruf anzustreben.

Kein Zweifel, Karl Marx war in vielfacher Hinsicht durch seine Trierer Herkunft und die Menschen, mit denen er dort Umgang hatte, geprägt. Sein Vater wie sein späterer Schwiegervater waren durch die Französische Revolution und die »Franzosenzeit« beeinflußt worden. Ludwig von Westphalen brachte Karl Marx sogar erste Kenntnisse über St. Simon und den St. Simonismus nahe. Die große wirtschaftliche Not in der Stadt, deren Armen-Unterstützung zum Ressort Ludwig von Westphalens gehörte und mit der Rechtsanwalt Heinrich Marx oft genug zu tun hatte, blieb Karl Marx nicht verborgen. Als Redakteur der »Rheinischen Zeitung« wird er später wiederholt über soziale Fragen der Moselregion berichten. Wie groß seine Neigung war, Rechtswissenschaft zu studieren, wissen wir nicht. Jedenfalls nahm er zunächst das vom Vater gewünschte Studium in Bonn auf und wechselte nach einem etwas ausgelassenen Jahr in Bonn an die »Arbeitsuniversität« Berlin.

142. Studium in Bonn und Berlin. Begegnung mit den »Linkshegelianern«

Die Universität Bonn, deren Fakultäten für Gymnasiasten aus Trier am nächsten lagen, hat Karl Marx nur wenig wissenschaftliche Anregungen vermittelt. Er hat während der zwei Semester seines Studiums dort sich vor allem am geselligen Leben der Studenten beteiligt, war sogar einmal 24 Stunden wegen Lärm und nächtlicher Trunkenheit im Karzer und hat sich – nur leicht verwundet – im Duell mit einem »Borussen« »bewährt«. Seine Hauptbeschäftigung bestand im Verfassen zahlreicher Gedichte, die er seiner angebeteten Jenny und dem verehrten Vater gewidmet hat. Wenige Jahre später hat er diese Produktionen zum großen Teil vernichtet. Was erhalten ist, verdient nur als Beitrag zur Psychologie des Menschen Marx Beachtung. Die einzigen Vorlesungen, die ihm offenbar Eindruck gemacht haben, waren die von A. W. Schlegel über Homer und die Elegien des Properz. Schließlich war Marx mit seinen verbummelten Bonner Semestern selbst unzufrieden und ging im Wintersemester 1836 nach Berlin, um ernsthaft Rechtswissenschaft zu studieren.

Das erste umfassende Zeugnis seiner geistigen Entwicklung, das wir aus den Berliner Anfangsjahren haben, ist der berühmte Brief an den Vater vom 10. 11. 1837. Er berichtet darin über seine enorme Lesewut und mehrere Versuche, »Systeme der Rechtswissenschaft« zu entwerfen, wobei er sich stark an der römischen Rechtstradition orientiert, die ihm vermutlich durch Vorlesungen Friedrich Karl von Savignys nahegebracht worden war. Als er mit seinem ersten »System« fertig geworden war, »sah er die Falschheit des Ganzen« ein. »Wiederum sei ihm klargeworden, ohne Philosophie sei nicht durchzudringen« (MEW 1, 7). Schließlich empfiehlt ein Arzt dem überanstrengten Studenten, sich in Stralow – bei Berlin – zu erholen. Während dieser Erholungszeit habe er »Hegel von Anfang bis Ende, samt den meisten Schülern kennengelernt« (10). Mit Hegel und vor allem wohl auch mit dessen Schüler Eduard Gans wolle er jetzt »im Wirklichen selbst die Idee« suchen, nicht mehr von der Idee aus die Wirklichkeit deduzieren.

15Die Junghegelianer

Durch seine gründlichen Kenntnisse der Hegelschen Werke wurde Marx bald in den Kreis der Berliner Junghegelianer aufgenommen, die sich in Kaffeehäusern und Privatwohnungen trafen und als »Doctorklub« bekannt waren. Hier fand er in Adolph Rutenberg, Karl Friedrich Köppen und vor allem in dem Theologen und Philosophen Bruno Bauer wichtige Freunde. Köppen veröffentlichte 1840 ein Buch über »Friedrich den Großen und seine Widersacher«, in dem er die romantische und reaktionäre Politik des zeitgenössischen Preußen vor dem Hintergrund des idealisierten, aufgeklärten Königs attackierte. Moses Hess ließ sich dort später von Hegel und den Junghegelianern zu geschichtsphilosophischen Spekulationen anregen. Rutenberg wurde zum Publizisten und stellte die Verbindung mit Arnold Ruge her, dessen »Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst« (1841-1843) eine wichtige Plattform der Jung- oder Linkshegelianer waren.

Bruno Bauer war Privatdozent der Theologie und verfaßte – unter Mitarbeit von Marx – das 1841 veröffentlichte satirische Buch »Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum«. Das anonym bleibende Buch präsentierte sich als entrüstete Polemik eines Pietisten gegen die atheistischen und aufrührerischen Hegelianer. Die Maskerade war so sehr gelungen, daß Freund und Feind sie anfangs nicht durchschauten. Ein pietistischer Rezensent begrüßte begeistert den neuen Mitstreiter, und der Linkshegelianer Arnold Ruge entrüstete sich! Natürlich konnte das Inkognito auf die Dauer nicht bewahrt bleiben. Absicht des Buches war es, die radikale und progressive Deutung Hegels als die einzig richtige zu erweisen, indem man dessen Werk zur Zielscheibe pietistischer Duckmäuser machte. Bauers Versuch, Hegel als revolutionären und atheistischen Denker zu präsentieren, war ein Mittel im Kampf um die Herrschaft über die öffentliche Meinung. Wenn Hegel selbst als Mitstreiter gewonnen werden konnte, stellte das einen erheblichen Vorteil für die Linkshegelianer dar. »Das ist nach Hegel die Versöhnung der Vernunft mit der Religion, daß man einsieht, es gebe keinen Gott und das Ich habe es in der Religion immer nur mit sich zu tun, während es religiös meint, es habe es mit einem lebendigen, persönlichen Gott zu tun« (Posaune, 148).

16Bauer behauptet – damit den Weg für spätere Marxsche Formulierungen weisend –, daß »der Gott der Vorstellung nur der Mensch der Vorstellung, der aus sich heraus in den Himmel gesetzte Mensch ist« (Posaune, 135). Nicht nur die Religion, auch die bestehenden politischen Verhältnisse wollte Hegel angeblich stürzen. Jedenfalls hielten es die Linkshegelianer für legitim, aus der Hegelschen Philosophie revolutionäre Folgerungen zu ziehen. Arnold Ruge wirft Hegel lediglich vor, die Konsequenzen aus seiner Philosophie nicht deutlich und radikal genug gezogen zu haben. Als Mittel zur Umgestaltung der Verhältnisse soll – nach Bruno Bauer – allein die Kritik dienen, die von entschlossenen Denkern vollzogene Kritik alles Bestehenden. Dabei gilt der Zusammenhang zwischen der aufgeklärten Philosophie des 18. Jahrhunderts und der Französischen Revolution als Muster für die bevorstehende Wende, die von der junghegelianischen Kritik auf den Weg gebracht werden soll.

Zunächst freilich hoffte Bruno Bauer, seine Wirkung von einem theologischen (!) Lehrstuhl in Bonn aus verstärken zu können. Er plante – zusammen mit Marx und anderen – die Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel »Archiv des Atheismus« und hoffte, daß die gegenseitige Toleranz und Konkurrenz der beiden theologischen Fakultäten (katholische und evangelische) in Bonn ihm genügend Freiraum dafür verschaffen würden. Den Freund Marx ermunterte er, endlich seine schon seit einiger Zeit in Angriff genommene philosophische Dissertation abzuschließen, um sich dann als Dozent ebenfalls in Bonn zu etablieren. Im Herbst 1841 wurde jedoch ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bauer eingeleitet und im Mai 1842 mußte er seine Lehrtätigkeit in Bonn einstellen. Damit war auch für Marx die Aussicht auf eine Universitätstätigkeit geschwunden. 1839 war Eduard Gans gestorben, und die Regierung hatte den entschieden konservativen Staatsrechtler Friedrich Julius Stahl auf dessen Lehrstuhl berufen. Damit schied Berlin als Ort seiner Promotion für Marx aus, und er reichte 1841 seine Dissertation über die »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« der Universität Jena ein, die eine Promotion »in absentia« schon zehn Tage später vollzog.

In seiner Dissertation stellt Marx die epikureische Naturphilosophie als atheistische und aufgeklärte Theorie vor. Besonders für Marxens Auffassung von der Hinnahme der eigenen Endlichkeit 17und der vernünftigen »Gelassenheit« gegenüber dem Tod war seine Beschäftigung mit antiken Denkern folgenreich. In Vorarbeiten, die zu einem Anhang seiner Dissertation gehören, kommt Marx ausführlich auf die Haltung der Epikureer und Stoiker gegenüber dem individuellen Tod zu sprechen. Dabei setzt er sich kritisch mit Plutarch auseinander, der meinte, »dies Bewußtsein der Endlichkeit mache unkräftig und tatlos, zeuge Verstimmung gegen das gegenwärtige Leben; allein das Leben vergeht ja nicht, sondern dies einzelne Sein. Betrachtet sich dies einzelne Sein als ausgeschlossen von diesem verharrenden allgemeinen Leben, kann es dadurch reicher und voller werden, daß es seine Winzigkeit eine Ewigkeit fortträgt? … bleibt es (nicht) vielmehr in seiner Unlebendigkeit verknöchert?« (MEW Erg. Bd. 1, 119). Das Festhaltenwollen an der Existenz eines Angehörigen durch dessen Weiterleben im Jenseits ist – so das Argument von Marx – keineswegs Ausdruck der Liebe. Denn Liebe würde den Angehörigen vor allem ein glückliches Leben wünschen, nicht irgendeine – vielleicht schmerzhafte Existenz. Es geht im Grunde immer nur um das eigene Dasein, um »das Bewußtsein seiner eignen empirischen Existenz« – nicht um den Nächsten und die Liebe zu ihm. »Es ist also eine lügenhafte Fiktion …« (117).

Lukrezens Lehrgedicht »De rerum natura« kommentierend, stellt Marx fest: »Man kann sagen, daß in der epikureischen Philosophie das Unsterbliche der Tod ist. Das Atom, die Leere, Zufall, Willkür, Zusammensetzung sind an sich der Tod« (181). Die Hinnahme der eigenen Endlichkeit und die Erkenntnis der Ewigkeit der Atome sowie die Überwindung der Furcht vor rächenden Göttern sind Lehren, die Marx dankbar den antiken Autoren entnimmt. Man kann in dieser frühen Arbeit, die noch ganz unter dem Einfluß der Junghegelianer, namentlich Bruno Bauers, steht, schon Ansätze des späteren Materialismus und der Betonung der Naturgebundenheit des menschlichen Daseins erkennen. Auch an der Hochschätzung der antiken Philosophie wird Marx zeitlebens festhalten: »Die Griechen werden ewig unsre Lehrer bleiben, wegen dieser grandiosen objektiven Naivität, die jede Sache gleichsam ohne Kleider im reinen Lichte ihrer Natur, sei es auch ein getrübtes Licht, leuchten läßt« (235).