JÜDISCHER ALMANACH

der Leo Baeck Institute

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Mein Israel

Szenen eines Landes

Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem

Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

Inhalt

Zu diesem Almanach

Jakob HessingVor einem VierteljahrhundertZur Neugründung des Jüdischen Almanachs

Anja SiegemundWas bleibt von den Jeckes? Vom Suchen und von Sehnsuchtswelten

Andrea Livnat»Komisches Land, dieses Eretz Israel — aber schön und herrlich«

Raphael AhrenOpas Tagebuch

Stefan LittArbeiten in der Schatzkiste — die israelische Nationalbibliothek

»Fallada-Mania«

Stefan Zweig und die Nationalbibliothek in Jerusalem

Archivmaterial als gerichtliches Streitgut: Der Nachlass von Max Brod und Franz Kafka

Der Schatz darf kein Geheimnis sein, oder: Vom offenen Umgang mit Archivmaterialien

Amir EshelAus dem Gedichtzyklus Ein Gast zur Nacht

Johannes BeckeDie Favela im Dschungel: Zur israelischen Selbstwahrnehmung als westliche Enklave

Der Bund der Minderheiten

Hier ist nicht Europa

Die Hütte im Dschungel

Lucyna Aleksandrowicz-PędichFlaneurie in Tel Aviv — Stadt der Palmen

Shira Pur»Kova-Tembel«Späte Wertschätzung für einen zeitlosen Sonnenhut

Yibo XingDrei (chinesische) Geschichten über Israel

Joggen bei Nacht

Katzen, Kippen und der Holocaust

Heiliger Geist

Hikmieh Yassin EgbariehWie wir traumatisierten syrischen Kindern helfen

Menna AbukhadraDer Zionismus in ägyptischen Hörsälen.Eine Studie über die Entwicklung der Israelstudien an der Kairoer Universität

Tzippy YaromMeine ultraorthodoxe Generation Y

Einat Libel-HassBeit Daniel — Synagoge vieler säkularer Tel Aviver

Der Rabbi als CEO

Ofri IlanyDie Familienverfechter

Yael MunkDie Wiedergeburt der misrachischen Frau im israelischen Film

Sarah StrickerDie Unermüdlichen

Zu den Autorinnen und Autoren

Zu diesem Almanach

Gleich zwei Jubiläen prägen den vorliegenden Band: 2018 feiert der Staat Israel seinen siebzigsten Geburtstag, und wir wollen ganz unterschiedliche Blicke auf dieses Land werfen. Zudem ist es der 25. Jüdische Almanach, der im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem herausgegeben wird und in deutscher Sprache in Berlin erscheint.

Es handelt sich dabei bereits um den zweiten Anlauf. Erstmals erschien ein Jüdischer Almanach im Jahre 1902. Den Umschlag zierte damals ein Ornament aus Davidsternen und segnenden Priesterhänden — gestaltet von dem bekannten Art-nouveau-Illustrator Ephraim Moses Lilien. Die Zahl 5663 neben dem Titel entstammte dem jüdischen Kalender. Es war die erste Veröffentlichung des Jüdischen Verlags in Berlin und sollte eine Art »Familienbuch« werden. Die Betonung lag auf jüdischem Kulturschaffen, grenzübergreifend, aber in deutscher Sprache, der damaligen Lingua Franca des Judentums.

Dieser Band stand — nur wenige Jahre nach der Entstehung von Theodor Herzls zionistischer Bewegung — im Zeichen der jüdischen Renaissance. In seinem Vorwort betonte der Herausgeber Berthold Feiwel, dass es ihm um die vereinende Kreativität innerhalb eines lebendigen Judentums gehe. Jüdische Inhalte — jenseits von Bibelkunde und Talmudwissenschaft — sollten so einer breiten Leserschaft dargeboten werden. Zur Zielgruppe gehörten Juden, die sich ihrer Herkunft nahe fühlten, aber auch jene, die — aus der Distanz — mehr darüber wissen wollten. Ihnen wollte man einen Eindruck der bisherigen Leistungen und der zukünftigen Möglichkeiten dieses kulturellen Neuanfangs vermitteln.

Wer heute eine solche alte Ausgabe in den Händen hält, ist von der qualitativen Dichte überrascht. Neben deutschsprachigen Autoren wie (Mitherausgeber) Martin Buber, Stefan Zweig oder Karl Wolfskehl, kommen hebräische Schriftsteller wie Scholem Aleichem, Saul Tchernikovski und Chaim Nachman Bialik zu Wort. Hermann Struck und Max Liebermann liefern die Bilder.

Der Almanach gefiel, aber sein Erscheinen schuf auch Unbehagen unter den bürgerlichen Juden in Deutschland, die ja hauptsächlich seine Leserschaft stellten. Denn der Kulturzionismus, wie er dort präsentiert wurde, versprach eine Lösung der Judenfrage, indem er ein anderes Nationalbewusstsein schuf. Viele deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens wollten aber lieber ihrem geliebten Deutschtum verhaftet bleiben — trotz oder gerade zu einer Zeit, in der der Glaube an den Fortschritt der Emanzipation durch einen wachsenden Antisemitismus und die Krise des Liberalismus in Frage gestellt war.

Dieses Denken spiegelte sich auch in der Besprechung des Berliner Tageblatts am 7. Februar 1903 wider: »Wozu ein Jüdischer Almanach? Das sind, gelinde gesagt, Anachronismen.«

Wie sich drei Jahrzehnte später herausstellte, hatte es sich aber bei der so viel beschworenen deutsch-jüdischen Symbiose — falls sie nicht ein Trugbild war — nur um eine vorübergehende Erscheinung gehandelt. Der Rabbiner Leo Baeck, die damals wohl bekannteste Führungsfigur der deutschen Judenheit, verwies darauf, dass es in der jüdischen Geschichte drei Perioden geglückter Kulturassimilation gegeben hatte: in der hellenistischen Zeit des Altertums, in der spanisch-arabischen Periode des Mittelalters und in der deutschen liberalen Ära der Neuzeit. Das Hitler-Regime setzte dieser letzten Blüte ein mörderisches Ende.

Acht Jahre nach dem Holocaust versammelte sich eine Gruppe von älteren Herren in Martin Bubers Wohnung in Jerusalem. Sie berieten darüber, wie sich das Erbe des vernichteten deutschen Judentums für die Nachwelt erhalten ließe. So entstand 1955 das Leo Baeck Institut. »Die deutsche Judenschaft ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der jüdischen Geschichte gewesen«, sagte Buber bei der Gründung, »Was überlebt eigentlich nach der Krise und der Katastrophe? Eine vitale Fortsetzung ist unmöglich, möglich ist eine geistige Aufgabe.«

Das Leo Baeck Institut Jerusalem, das seither die Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums erforscht, wollte 1992 von Israel aus wieder anknüpfen an diese alte Tradition. Der erste Almanach erschien im Februar 1992 mit dem ersten Programm des — neuen — Jüdischen Verlags im Suhrkamp Verlag, zeitgleich mit der Eröffnung der großen Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« im Martin-Gropius-Bau in Berlin, dessen Katalog und Begleitessays ebenfalls im Jüdischen Verlag herauskamen. »Jüdische Lebenswelten« wurde eine der meistbesuchten Ausstellungen der Stadt und zeugte von der Neugier des Publikums auf Judaica.

Der erste Almanach als Werbebroschüre bildete zur gleichen Zeit die ersten sieben Titel des Jüdischen Verlags ab: Gershom Scholems Sabbatai Zwi, das 1 ‌000-seitige Hauptwerk in deutscher Übersetzung, Abraham Sutzkevers Griner Akwarium aus dem Jiddischen, Wolfgang Koeppens Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch, James Youngs Schreiben des Holocaust, Titel von Gershom Shaked, Gert Mattenklott und anderen.

Aus diesem anfangs ganz nüchternen Medium des Anzeigens und Werbens erwuchs im Jahr darauf der Jüdische Almanach als reflexives Medium mit eigenen Beiträgen, der Almanach, wie wir ihn heute kennen. Davon berichtet Jakob Hessing, der erste Herausgeber. In seinem Eröffnungsbeitrag erzählt er von den Gründen und den Hintergründen dieses Neuanfangs in Jerusalem. Danach stellt sich Anja Siegemund die Frage, was denn von dem so oft beschworenen Erbe der deutsch-jüdischen Einwanderer eigentlich bleibt. Briefe von Jeckes aus der Zeit der Staatsgründung hat sich Andrea Livnat angesehen und vergleicht die damaligen Erfahrungen mit ihren eigenen als Ola Chadascha. Auch Raphael Ahren ist von Deutschland nach Israel eingewandert. Erst in Jerusalem hat er es nun gewagt, das Tagebuch seines Großvaters zu lesen. Darin geht es um dessen Überlebensgeschichte während der Hitlerzeit, über die er zu Lebzeiten nie gesprochen hatte. Ein schier unendliches Reservoir an Dokumenten befindet sich in der israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Stefan Litt ist dort Archivar und berichtet über seine Arbeit in der »Schatzkiste«.

In einen inneren Dialog mit Samuel Joseph Agnons Roman Nur wie ein Gast zur Nacht trat Amir Eshel, als er seinen Gedichtzyklus Ein Gast zur Nacht verfasste. Agnon veröffentlichte diesen Roman im Jahr 1939, ungefähr fünfzehn Jahre nachdem er sich endgültig in Eretz Israel niedergelassen hatte. Der gebürtige Israeli Eshel wiederum schlug den umgekehrten Weg ein und beschreibt seine Eindrücke zu Besuch im Land seiner Väter.

Israel ist nicht in, aber von Europa. Das hat immer schon seinen inneren Standort mit bestimmt. Bei der Frage nach seinem Selbstempfinden stellt Johannes Becke jedoch fest, dass das Land viel orientalischer geworden ist. Symbolisch dafür stehen sicherlich auch die Palmen. Wie sehr sie das Stadtbild von Tel Aviv prägen, auch wenn es vielen Bewohnern gar nicht auffällt, darüber schreibt Lucyna Aleksandrowicz-Pędich aus Polen. Um sich vor der starken Sonneneinstrahlung zu schützen, wurde der »Kova-Tembel« erfunden. Shira Pur erzählt, wie es nun dieser durch und durch israelische Hut bis in die Modeausstellung im Museum of Modern Art (MoMA) in New York geschafft hat. Einen ganz anderen Blick auf Israel wirft Yibo Xing — als chinesischer Student verbrachte er ein Semester in Jerusalem und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wieder eine andere Perspektive haben syrische Patienten, die nachts über die Grenze ins »Feindesland« kommen, um sich dort behandeln zu lassen. Von ihrer Tätigkeit als israelisch-arabische Sozialarbeiterin im Krankenhaus in Zfat berichtet Hikmieh Yassin Egbarieh.

Siebzig Jahre nach seiner Staatsgründung ist Hebräisch als Unterrichtsfach in ägyptischen Hörsälen populärer denn je. Über die Entwicklung dieser Studien, die auch die Geschichte Israels immer mehr mit einschlossen, schreibt Menna Abukhadra, Dozentin an der Kairoer Universität.

Unterschiedliche Perspektiven auf Israel gibt es natürlich auch im Lande selbst. Tzippy Yarom gibt uns einen Einblick in ihre ultraorthodoxe Generation Y, die sich gerade einen Weg bahnt zwischen streng religiösen Geboten und Facebook. Am anderen Ende des religiösen Spektrums befindet sich die Reformgemeinde Beit Daniel in Tel Aviv, die auch immer mehr säkulare Israelis anzieht. Einat Libel-Hass porträtiert diese postmoderne Gemeinde.

Über den Wandel in der äußeren Wahrung und der inneren Einstellung der israelischen Homosexuellen schreibt anschließend Ofri Ilany. Er geht dabei vor allem auch auf ihre — im internationalen Vergleich — Sonderstellung als ausgesprochene Familienmenschen ein. Yael Munk stellt sich die Frage, warum sich das israelische Kino in letzter Zeit so intensiv für die misrachische Kultur interessiere. Sie nimmt dabei die Stellung der »orientalisch-jüdischen Frau« in den Fokus, der sie eine Wiedergeburt zuschreibt.

Schließlich versucht Sarah Stricker einen ganz aktuellen Brückenschlag zwischen Israelis und Deutschen zu schlagen, indem sie deren kollektives Verhalten in herausfordernden Situationen vergleicht.

Die Bilder stammen diesmal alle von dem israelischen Fotojournalisten Naftali Hilger.

Gisela Dachs

Jerusalem/TelAviv

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Jakob Hessing
Vor einem Vierteljahrhundert
Zur Neugründung des Jüdischen Almanachs

Der Jüdische Verlag, der im Berlin der Vorkriegszeit bestanden hatte, wurde schon in den fünfziger Jahren wiederbelebt. Später übernahm ihn Dietrich Pinkerneil in seinen Athenäum Verlag, der aber bald in Konkurs ging, und in den neunziger Jahren machte Siegfried Unseld ihn schließlich zu einem festen Bestandteil des Hauses Suhrkamp. Thomas Sparr, der über Celan promoviert hatte, wurde der neue Cheflektor, und er schlug mir vor, in Jerusalem einen jährlichen Almanach für den Verlag herauszugeben.

Was im Einzelnen dazu geführt hat, dass es in Deutschland wieder einen Jüdischen Almanach gibt, mag dem Zufall geschuldet sein, aber die hier skizzierte Vorgeschichte hat ihre innere Logik. Die Neugründung des Almanachs am Ende des 20. Jahrhunderts ist ein Teil der Dialektik, deren Pole die Schoah und die Entstehung des Staates Israel sind, und sie bestimmte auch das Datum, zu dem der Jüdische Verlag im Suhrkamp Verlag sein erstes Programm vorlegte. Im Jahr 1992 wurde der 10. Todestag Gershom Scholems begangen, in dessen Biographie der Weg von Berlin nach Jerusalem bereits vorgezeichnet ist, und diesen Weg musste jetzt auch der Almanach gehen.

Denn was er am Anfang des Jahrhunderts noch zu sein versprach, konnte er am Ende des Jahrhunderts nicht mehr halten. Einst hatte Martin Buber den Begriff der Jüdischen Renaissance geprägt, in der das deutsche Judentum sich auf seine verschütteten Wurzeln besinnen sollte, und der Almanach war als ein Forum für diese Besinnung gedacht. Allein die Tatsache, dass er nur einen einzigen Jahrgang aufzuweisen hat, 1902, zeigt die tiefe Krise an, die das deutsche Judentum schon vor dem Ersten Weltkrieg ergriffen hatte — und jetzt, neunzig Jahre später, gehörte das alles längst der Vergangenheit an. Das deutsche Judentum, an das der Almanach sich ursprünglich gerichtet hatte, gab es nicht mehr, und der Almanach, den ich in Jerusalem herausgeben sollte, musste anders konzipiert werden.

Im Abstand eines Vierteljahrhunderts sind mir die Rahmenbedingungen dieses Konzeptes klarer, als sie es mir damals waren. Die Kontakte zwischen Israel und der Bundesrepublik entwickelten sich in Phasen — zuerst wirtschaftlich, ab 1965 auch diplomatisch —, mit den kulturellen Beziehungen aber dauerte es länger: Erst 1977 konnte an der Hebräischen Universität eine Deutsche Abteilung eingerichtet werden, erst seit den achtziger Jahren erschien die israelische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt — vorher kannte man nur Ephraim Kishon —, und die Wende veränderte alles noch einmal grundlegend. Mit den Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion wuchs die kleine jüdische Gemeinde im Nachkriegsdeutschland fast um das Zehnfache an, sie schuf eine neue Demographie. Mit Israel und dem wiedervereinigten Deutschland standen sich jetzt zwei souveräne Staaten gegenüber, und dies machte eine Entflechtung der längst zerstörten, aber immer noch vielbeschworenen deutsch-jüdischen Symbiose nicht nur möglich, sondern auch notwendig.

Der neue Almanach musste ein israelisches Projekt sein, das sich an ein deutsches, nicht ein deutsch-jüdisches Publikum wandte. Das deutsche Judentum kam dabei nicht aus dem Blick, aber anders als in Bubers Jüdischer Renaissance war dieser Blick weniger auf seine Zukunft gerichtet als auf seine Vergangenheit. Es ist kein Zufall, dass der Almanach vom Jerusalemer Leo Baeck Institut herausgegeben wird, das die Geschichte des deutschen Judentums erforscht, und die historische Bewusstheit hält schon das Vorwort fest, das den ersten Band einleitet, den Almanach auf das Jahr 1993.

Sein Autor ist der Dichter Jehuda Amichai, der als hebräischer Lyriker berühmt geworden ist. Bevor er nach Palästina kam, verbrachte er seine Kindheit in Würzburg, und das Vorwort verfasste er in der deutschen Muttersprache. »Zwischen Deutschen und Juden steht seit dem Holocaust ein Abgrund. Es ist unmöglich, diesen Abgrund mit Zukunft oder Vergangenheit aufzufüllen, und er wird als Mahnmal bleiben, solange menschliche Geschichte nicht zur Archäologie und Geologie geworden ist. — Was wir machen können, ist viele Brücken über diesen Abgrund zu schlagen, große und kleine, breite und schmale Brücken. Solche Brücken müssen erhalten, erweitert und vermehrt werden. — Möge dieser Almanach eine weitere Brücke sein, auf der man sicher gehen kann und zugleich den Abgrund sieht, damit sich das Abgründige nie wiederholt.«

Amichai benennt die Zäsur, die den neuen Almanach von seinem historischen Vorgänger trennt, und er spricht von ihm zugleich als einer Brücke zwischen Juden und Deutschen. Erst jetzt können sie als politisch autonome Partner in einen Dialog eintreten, wie er selbst in den besseren Zeiten ihrer einstigen »Symbiose« nie möglich war, und in den ersten sieben Bänden des Almanachs, die ich von 1993 bis 1999 herausgab, habe ich versucht, etwas von diesem Dialog hörbar zu machen.

Die sieben Bände enthalten insgesamt 108 Beiträge, deren inhaltliche Mischung mich jetzt, im Rückblick, einigermaßen überrascht. Deutlich mehr als die Hälfte (64) haben einen deutsch-jüdischen Bezug, ein Viertel (26) thematisieren das Dritte Reich. Das war mir während der Arbeit an den Almanachen natürlich nicht bewusst, und ich habe es überprüft, um meine Herausgebertätigkeit möglichst objektiv darzustellen. Statistiken mögen trocken sein, aber sie geben Auskunft, und wenn dieses deutsch-jüdische Übergewicht nicht meiner Erinnerung entspricht, so ist es doch kaum verwunderlich. Ich hatte mir vielleicht gewünscht, Almanache zu machen, die »israelischer« wären, aber niemand kann über seinen Schatten springen: Von Beruf bin ich ein Germanist, der die deutsch-jüdische Literatur erforscht, und das hat nicht nur meine Interessen gelenkt, sondern auch die Kreise bestimmt, in denen ich professionell vernetzt war und einen großen Teil meiner Beiträger finden konnte.

Obwohl es nicht so beabsichtigt war, ist die deutsch-jüdische Prägung meiner Bände vielleicht dennoch richtig gewesen. Der Jüdische Verlag sollte die Tradition, aus der er kam, nicht verleugnen, und am Ende des dunkelsten Jahrhunderts in der jüdischen Geschichte schuldete auch sein Almanach dieser Tradition eine Verbeugung. Von den vielfachen Formen, die sie in den Beiträgen angenommen hat, seien einige hier zumindest angedeutet.

In fast allen der sieben Bände kommen Themen in den Blick, die das deutsche Judentum aus der Innenperspektive zeigen: vom Brantspigel, dem ältesten Werk deutsch-jüdischer Moralliteratur im 16. Jahrhundert, über die Rolle der Hagada im 19. Jahrhundert bis zur Selbstwehr, einer zionistischen Zeitung im Österreich des Ersten Weltkriegs; von einer kritischen Analyse der deutsch-jüdischen Symbiose bis zum Kulturbund, in den das Dritte Reich die Juden Deutschlands zwang; von den Grenzen der Aufklärung, unter denen schon Moses Mendelssohn zu leiden hatte, über die Gründung des Central-Vereins bis hin zu den jüdischen Museen in Deutschland und in Österreich, die dieses Judentum nun historisch zur Schau stellen.

Zahlreiche Beiträge thematisieren Schlüsselfiguren der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte. Oft kommen sie mit eigenen Texten zu Wort, werden von ausgewiesenen Fachleuten kommentiert und in Bezüge gestellt, die nicht immer leicht ersichtlich sind, weil die Schatten des 20. Jahrhunderts auf ihnen liegen. Hannah Arendts Biographie der Rahel Varnhagen wird als ein Gespräch zweier Jüdinnen gelesen, die am Anfang und am Ende der Emanzipation standen; und dunkler noch ist der Beitrag des Holocaust-Forschers Dov Kulka, der die Jerusalemer Gedichte seines früh verstorbenen Freundes Gershon Ben David vorstellt: Ihre Sprache ist deutsch, ihr Thema ist Auschwitz, ihr Autor ist ein Mann, der das Lager zwar überlebt hat, sich jedoch nie aus ihm befreien konnte.

Ein eigenes Kapitel sind die Korrespondenzen zwischen Juden und Deutschen — zwischen dem hebräischen Dichter Ludwig Strauß und dem deutschen Dichter Hans Carossa; oder dem Jerusalemer Erziehungswissenschaftler Ernst Simon und Heinrich Böll — sowie Briefwechsel zwischen Juden unter sich. »Es fällt mir nicht leicht, diesen Brief zu schreiben«: So beginnt die Antwort Peter Szondis an Gershom Scholem, der ihn eingeladen hatte, den Jerusalemer Lehrstuhl für Komparatistik zu übernehmen, und dann begründet er, weshalb er das leider nicht annehmen könne: »weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein.« Die Kraft zur Emigration bringe er »umso weniger auf, als ich in Jerusalem vor zwei Jahren ja nicht nur empfand, dass ich dort zu Hause bin, sondern auch, dass ich das nicht ertrage«.

Diesen Brief schreibt Szondi im Februar 1970, und anderthalb Jahre später wird er sich in Berlin das Leben nehmen. Einem anderen Selbstmord geht der Briefwechsel zwischen Paul Celan und seiner Czernowitzer Jugendfreundin Ilana Schmueli voraus, die er im Herbst 1969 in Jerusalem besucht. »Zwischen seiner Ankunft in Israel und seinem Tod in Paris liegt kaum mehr als ein halbes Jahr«, schreibt sie. »In dieser Spanne Zeit war es mir vergönnt, einige seiner Wege mitzugehen. — Dieses Mitgehen war auch Gespräch, ein Gespräch, das im Oktober 1969 in Jerusalem begann und im April 1970 mit seinem Tod in Paris endete.« Der Briefwechsel und die Gedichte, die Celan für Ilana Schmueli geschrieben hat, sind später auch als Buch erschienen, aber zum ersten Mal wurden sie im Almanach veröffentlicht.

Die Korrespondenzen machen deutlich, dass die frühen Bände des Almanachs eine deutsch-jüdische Orientierung haben mögen; der Ort aber, an dem sie entstanden sind, muss in ihren Beiträgen immer mitgedacht werden. Jerusalem und alles, was dieser Name im Judentum symbolisiert, ist ihnen eingeschrieben, und viele Texte und Porträts rücken eine Doppelpoligkeit in den Blick, die es ohne die Gründung des Staates Israel nicht geben würde.

Das Vorwort des Lyrikers Jehuda Amichai hatte den ersten Band eröffnet, und ein späterer Band bringt Gedichte von ihm. Amichai ist nicht der einzige Vertreter einer Generation, die ihre deutsche Muttersprache gegen das Hebräische ausgetauscht hat. Anne Birkenhauer übersetzt den aus der Bukowina stammenden Lyriker Dan Pagis und arbeitet die deutschen Sprachelemente heraus, die in seiner hebräischen Dichtung spürbar bleiben; Manfred Winkler kam aus Rumänien und dichtete in beiden Sprachen, Deutsch und Hebräisch; und auch den umgekehrten Weg gibt es: Als er ein junger Soldat in der israelischen Armee war, veröffentlichte Elazar Benyoëtz seine ersten Gedichte auf Hebräisch, dann aber kehrte er in die Muttersprache seiner Eltern zurück, und in Jerusalem schreibt er seither seine Aphorismen auf Deutsch.

Mit der jüdischen Renaissance und ihrem Almanach des Jahres 1902 wollte Martin Buber den deutschen Juden eine verlorene Tradition wieder zugänglich machen, am Ende des Jahrhunderts aber hatte sich alles verändert. Eine historische Katastrophe hatte die Juden aus aller Welt in Israel zusammengeführt und damit eine kulturelle Vielfalt geschaffen, die auch den neuen Jüdischen Almanach bereicherte.

Jacob Katz, Begründer der jüdischen Sozialgeschichte an der Hebräischen Universität und Mentor des Jerusalemer Leo Baeck Instituts, eröffnet den ersten Band mit einem Vergleich von jüdischem Messianismus und politischem Zionismus, ein in Israel auch heute noch höchst aktuelles Thema. Und in einem späteren Band zeichnet der Historiker Benjamin Ze'ev Kedar den akademischen Werdegang von Jacob Katz nach. »Im Jahre 1930«, so schreibt er, »lernte Katz seinen Lehrer Karl Mannheim an der Universität in Frankfurt am Main kennen. Beide entstammten sie dem ungarischen Judentum, aber sie kamen aus sehr verschiedenen Welten: Katz wurde als Sohn eines orthodoxen Hauses in einem kleinen Dorf geboren, Mannheim kam als Sohn einer völlig assimilierten Familie in Budapest zur Welt.«

Zwei bedeutende jüdische Sozialhistoriker ungarischer Abstammung — der eine orthodox, der andere säkular — begegnen sich kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung an der Universität in Frankfurt am Main, und auch das, wenn man so will, ist ein deutsch-jüdischer Bezug. Aber er weist zugleich weit über das deutsche Judentum hinaus und deutet an, was dieser Bezug unter anderen historischen Umständen hätte sein können: ein gesamteuropäisches Projekt.

*

Man soll, hat Goethe einmal gesagt, alle sieben Jahre sein Leben ändern, und das habe auch ich getan, zumindest was den Almanach betrifft. Nach dem siebenten Band gab ich ihn an jüngere Herausgeberinnen weiter, und im neuen Jahrtausend führten sie ihn auf andere Wege.

Jakob Hessing war von 1993 bis 1999 Herausgeber des Jüdischen Almanachs.