image

Christian Neuhäuser

Amartya Sen zur Einführung

image

Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2013 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: akg-images

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-042-8

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-076-5

1. Auflage 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1.Rationalität und Freiheit

1.1 Sozialwahltheorie und Rationalität

1.2 Sozialwahltheorie und Freiheit

1.3 Sozialwahltheorie und Gerechtigkeit

1.4 Ethik und Ökonomie

2.Entwicklung und Freiheit

2.1 Freiheit als Ziel von Entwicklung

2.2 Der Fähigkeitenansatz

2.3 Hungersnöte, Demokratie und Marktzugang

2.4 Die aktive Rolle der Frau und ökonomische Entwicklung

3.Gerechtigkeit und Freiheit

3.1 Die Idee der Gerechtigkeit

3.2 Öffentlicher Vernunftgebrauch und kollektives Entscheiden

3.3 Demokratie und globale Gerechtigkeit

3.4 Menschenrechte, Fähigkeiten und Freiheit

4.Identität und Freiheit

4.1 Identität, Kultur und Religion

4.2 Multikulturalismus, Globalisierung und Freiheit

4.3 Ein streitbarer Inder

4.4 Indien in der Welt

Schluss

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zeittafel

Über den Autor

Einleitung

Amartya Sen gehört ganz ohne Zweifel zu den wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit.1 Dies kommt nicht nur durch den Nobelpreis für Ökonomie zum Ausdruck, der ihm 1998 verliehen wurde, sondern auch in den mittlerweile über neunzig Ehrendoktorwürden, die er erhalten hat. Seine intellektuelle Bedeutung geht darauf zurück, dass Sen zugleich und vollumfänglich Ökonom und Philosoph ist. Er hat es stets verstanden, diese Forschungsgebiete für seine Zwecke auf fruchtbare Weise miteinander zu verbinden. Dies hat zu wesentlichen Beiträgen in der mathematischen Sozialwahltheorie, der Grundlagenökonomie, der Entwicklungs- und Wohlfahrtsökonomie, aber auch in der Moralphilosophie, der Gerechtigkeitstheorie und der politischen Philosophie ganz allgemein geführt, um nur seine wesentlichen Betätigungsfelder zu nennen.

Hinzu kommt, dass Sen immer wieder eine spezifisch indische Perspektive auf seine Fragestellung einnimmt. Er ist in Indien aufgewachsen, er hat dort studiert und auch als Professor gearbeitet. Später hat er die meiste Zeit seiner wissenschaftlichen Laufbahn an britischen und amerikanischen Eliteuniversitäten verbracht. Seine indische Staatsbürgerschaft hat er jedoch stets exklusiv behalten und sich in besonderem Maße für die Entwicklungen in Indien interessiert. Er nimmt dort auch intensiv an der öffentlichen Debatte teil. Dieser Verweis auf seine indische Perspektive sollte jedoch nicht missverstanden werden. Er betrifft sein Erkenntnisinteresse und nicht den Begründungszusammenhang. Die allgemeingültige Begründungsqualität seiner wissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten steht außer Zweifel. Wissenschaftliche Qualität wird derzeit gern in der Anzahl der in Journals mit dem höchsten Ranking publizierten Artikel gemessen. Das findet Sen wahrscheinlich etwas kurzsichtig, dennoch hat er über hundert von solchen Artikeln, so viele wie sonst wohl niemand, veröffentlicht.

Das Erkenntnisinteresse von Sen ist durch seinen von Indien ausgehenden und über England in die USA führenden Lebensweg geprägt. Geboren wurde Sen im Jahre 1933 im westindischen Santiniketan. Seine Familie lebte jedoch in Dhaka, damals noch indisch und heute Hauptstadt von Bangladesch. Sein Vater war an der dortigen Universität Professor für Chemie, was Sen dazu veranlasste, seine Autobiografie für den Nobelpreis mit den Worten zu beginnen: »Ich wurde auf einem Universitätscampus geboren und scheine mein ganzes Leben auf dem einen oder anderen Campus verbracht zu haben.«2 In Santiniketan ist er in die berühmte Schule von Rabindranath Thakur gegangen, was großen Einfluss auf seine im kosmopolitischen Sinne humanistische Bildung hatte, weil Tagore es in seiner Schule verstand, so genanntes »westliches und östliches« Denken als Ausdruck kultureller Diversität leicht miteinander zu verbinden.3

Nach der Schule hat Sen von 1951 bis 1953 in Kalkutta zunächst einen B.A. in Ökonomie und Mathematik erworben und sich viel mit politischen Fragen beschäftigt. Dann ging er 1953 nach Cambridge ans Trinity College, um in dem dortigen intellektuell kompetitiven Klima, wie er befand, einen B.A. in Ökonomie zu machen und im Anschluss zu promovieren. Noch während der Promotionszeit kehrte er nach Kalkutta zurück und erhielt im Alter von 23 Jahren eine Professur für Ökonomie, was einiges Aufsehen erregte. Sogar Karikaturen mit dem »Babyprofessor« waren in Umlauf, wie Sen selbst berichtet. Er entschied sich dann jedoch, ein Stipendium des Trinity Colleges anzunehmen, um sich einige Jahre lang von 1957 bis 1963 vor allem philosophischen Studien hinzugeben. Danach begann für Sen ein akademisches Nomadenleben, das ihn an ganz verschiedene Stationen in Indien und Großbritannien führen sollte, die Delhi Universität (1963–1971), die London School of Economics (1971–1977) und die Oxford Universität (1977–1988).

Zwischendurch hatte Sen einige Gastaufenthalte in den USA, unter anderem am MIT, in Stanford und Berkeley. Auch in Harvard unterrichtete er bereits von 1968 bis 1969. Aus dieser Zeit berichtet er:

»Die meiste Arbeit an ›Collective Choice and Social Welfare‹ leistete ich in Delhi, aber wesentlich zum letzten Feinschliff beigetragen hat ein Kurs in ›Sozialer Gerechtigkeit‹, den ich gemeinsam mit Kenneth Arrow und John Rawls in Harvard unterrichtet habe. Beide haben mir auf wunderbare Weise mit ihren Einschätzungen und Hinweisen geholfen. Das gemeinsame Seminar war in der Tat ein ziemlicher Erfolg, sowohl darin, viele wichtige Themen zu diskutieren, als auch darin, einen beachtenswerten Kreis an (den Kurs als ›Begutachter‹ besuchenden) Teilnehmern aus der Gruppe etablierter Ökonomen und Philosophen der Harvard-Region einzubeziehen. (Der Kurs war auch außerhalb des Campus sehr bekannt: Von einem Sitznachbarn auf einem Flug nach San Francisco wurde ich gefragt, ob ich als Lehrer in Harvard von einem ›offensichtlich interessanten‹ Seminar gehört habe, das unterrichtet wurde von ›Kenneth Arrow, John Rawls und irgend so einem unbekannten Typen‹.)«

Später, im Jahre 1987, wechselte Sen permanent an die Harvard Universität, wo er seitdem Professor für Ökonomie und Philosophie und Senior Fellow an der Harvard Society of Fellows ist. Zwischendurch war er von 1998 bis 2003 noch Master am Trinity College in Cambridge. Das alles klingt nach einer glänzenden akademischen Karriere, die ein wenig an die Superlative der Universalgenies der Neuzeit erinnert. Doch zugleich war das Leben von Sen nie frei von persönlichen Schicksalsschlägen. Bereits im Alter von 18 Jahren war er an Mundkrebs erkrankt und mit der existenziellen Angst konfrontiert, vielleicht in so jungen Jahren sterben zu müssen. Er selbst schreibt über den Krebs:

»[…] er wurde mit einer heftigen Dosis Radioaktivität in einem eher einfachen Krankenhaus in Kalkutta behandelt. Das geschah nur sieben Jahre nach Hiroshima und Nagasaki und die Langzeiteffekte von Radioaktivität waren nicht gut untersucht. Die Dosis an Radioaktivität, die ich erhalten habe, mag den Krebs geheilt haben, aber es hat auch die Knochen in meinem harten Gaumen abgetötet. 1971 sah es so aus, als kehrte entweder der Krebs zurück oder ich hatte einen schweren Fall von Knochennekrose.«

Es war zum Glück kein Krebs, und die Knochennekrose konnte behandelt werden.

Doch das hat den Krebs aus seiner Lebensgeschichte nicht für lange Zeit verbannt. Seine zweite Frau, Eva Colorni, mit der er seit 1973 zusammenlebte, starb im Jahre 1985 an Krebs. Sen hatte bereits mit seiner ersten Frau, der Literaturprofessorin und Poetin Nabaneeta Dev Sen, von der er seit 1971 getrennt lebte, zwei Töchter, die bei der Mutter lebten. Mit Eva Colorni hat er ebenfalls zwei Kinder, die zum Zeitpunkt des Todes ihrer Mutter zehn und acht Jahre alt waren. Sen wurde zum alleinerziehenden Vater. Er schreibt über diese Situation und seine Kinder:

»[…] ich wollte sie in ein anderes Land bringen, wo sie nicht ständig ihre Mutter vermissen. Die Lebendigkeit Amerikas sprach uns als Alternative an und ich nahm die Kinder mit, um die Aussichten an den amerikanischen Universitäten, die mir ein Angebot gemacht hatten, zu ›testen‹.

Indrani und Kabir lernten schnell verschiedene Campus kennen (Stanford, Berkeley, Yale, Princeton, Harvard, UCLA, University of Texas in Austin, zum Beispiel), auch wenn ihre Kenntnisse von Amerika jenseits der universitären Welt eher beschränkt blieben. (Sie genossen es besonders, ihren Großonkel und ihre Großtante Albert und Sarah Hirschman am Institute for Advanced Study in Princeton und dort Trustee des Instituts zu besuchen; die Besuche in Princeton waren auch für mich sehr freudige Ereignisse.) Ich schätze, ich habe den Kindern zu einem gewissen Grad meine Präferenz für die akademische Atmosphäre aufgezwungen, indem ich die Auswahl auf Universitäten beschränkt habe, aber ich wusste wirklich nicht, was ich sonst hätte tun können […]

Wir haben gemeinsam Harvard ausgesucht und es hat hervorragend geklappt.«

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser Hindernisse ist die wissenschaftliche Energie und Arbeit von Sen stets ungebrochen geblieben. Er hat in seiner über sechzigjährigen akademischen Karriere etwa dreißig Bücher verfasst oder herausgegeben und über 500 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, fraglos ein gewaltiges Werk. Einen guten Eindruck von der Breite seiner wissenschaftlichen Arbeit verschafft die Einteilung seiner Aufsätze in zwanzig Themenbereiche, wie Sen selbst sie vorgenommen hat:4

1. Sozialwahltheorie

2. Wohlfahrtsökonomik

3. Ökonomische Messmethoden

4. Axiomatische Entscheidungstheorie

5. Rationalität und ökonomisches Verhalten

6. Ökonomische Methodik

7. Nahrung, Hungersnöte und Hunger

8. Gender, Familie und feministische Ökonomik

9. Kapital, Wachstum und Verteilung

10. Ökonomische Entwicklung

11. Projektevaluation und Kosten-Nutzen-Analyse

12. Bildung und Arbeitskraftplanung

13. Arbeit und Beschäftigung

14. Indische Wirtschaft

15. Indische Gesellschaft, Kultur und Politik

16. Bevölkerung und Umwelt

17. Gesundheitswesen und Medizin

18. Sozialphilosophie, politische Philosophie und Rechtsphilosophie

19. Ethik und Moralphilosophie

20. Verschiedenes

Die vorliegende Einführung in das vielseitige Denken von Amartya Sen muss notgedrungen eine disziplinäre Perspektive einnehmen, die derjenigen von Sen selbst wegen seiner singulär kompetenten Verknüpfung von Ökonomie und Philosophie nicht vollständig entsprechen kann. Die hier gewählte Perspektive ist die philosophische. Seine Leistungen im Bereich der ökonomischen Theorie kommen zwar auch zur Geltung, allerdings stärker mit Blick auf ihre allgemeine und weniger auf ihre rein intern wirtschaftswissenschaftliche Bedeutung.5 Die Einführung richtet sich an ein breit interessiertes und interdisziplinäres Publikum. Es soll deutlich werden, dass und inwiefern die Arbeiten von Sen eine Relevanz besitzen, die Disziplingrenzen leichtfüßig überschreitet. Das ist es letztlich auch, was die ungebrochene Bedeutung von Sen ausmacht, denn inzwischen wird immer deutlicher, dass das Denken in Disziplingrenzen wesentlich zum Scheitern vor Herausforderungen wie der Weltarmut, dem Klimawandel und einer gerecht gestalteten Globalisierung beiträgt.

Eine Einführung ist immer auch eine Engführung. Umso wichtiger ist es, einen Aspekt im Werk des einzuführenden Denkers zu identifizieren, der solch eine Engführung systematisiert und rechtfertigt. Im Falle von Sen ist das seine Idee der Freiheit. Sen ist ein Theoretiker der Freiheit, der einen ganz anderen bzw. viel weiteren Freiheitsbegriff vertritt, als es im neoliberalen Denken des ökonomischen Mainstream üblich ist. Ihm geht es nicht nur um eine ökonomische Freiheit von staatlichen Zwängen, sondern ihm geht es um die Freiheit jedes einzelnen Menschen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können und Autor des eigenen Lebensweges zu sein. Dieses Grundmotiv strukturiert diese Einführung, denn es durchzieht das gesamte Werk von Sen.

Im ersten Kapitel Rationalität und Freiheit werden Sens Arbeiten und Ergebnisse zur Grundlagenökonomie und insbesondere zur Sozialwahltheorie dargestellt. Dabei stehen drei Themen im Mittelpunkt: Erstens werden Sens Kritik am engen ökonomischen Rationalitätsbegriff und seine Vorschläge zu dessen Überwindung dargestellt. Zweitens wird herausgearbeitet, warum dies Sen zu einer viel dichteren Zusammenführung von ökonomischer Theorie und Philosophie führt, als es gemeinhin üblich ist. Drittens zeigt sich, wie die Befreiung des Rationalitätsbegriffs aus dem engen Verständnis des homo oeconomicus Sen zu einer neuen Perspektive auf die menschliche Freiheit führt.

Das zweite Kapitel Entwicklung und Freiheit hat Sens wohlfahrts- und entwicklungsökonomische Arbeiten zum Gegenstand sowie natürlich den berühmten Fähigkeitenansatz. Erstens wird die Kritik von Sen an alternativen Ansätzen herausgearbeitet. Dann soll der Fähigkeitenansatz in der von Sen verteidigten Variante eingeführt werden. Schließlich wird an den beiden Themen Hungersnöte und Benachteiligung von Frauen, die Sen selbst sehr beschäftigen, deutlich gemacht, wie im Fähigkeitenansatz eine normative Perspektive und empirische Forschung miteinander verbunden sind. In diesem Kapitel wird herausgearbeitet, was Sen unter ökonomischer Freiheit versteht.

Im dritten Kapitel Gerechtigkeit und Freiheit werden die gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen von Sen vorgestellt. Er orientiert sich in seinen Überlegungen an John Rawls, dem er seinen eigenen Worten nach sehr viel zu verdanken hat, und grenzt sich in drei grundlegenden Aspekten von Rawls ab. Erstens geht es ihm nicht um eine Theorie eines idealen Gerechtigkeitszustandes, sondern um eine nicht-ideale Theorie, nämlich einen Beitrag zu konkreten Verbesserungen von bestehenden Ungerechtigkeiten. Zweitens glaubt er, dass Gerechtigkeit nicht nur eine Tugend der gesellschaftlichen Grundinstitutionen ist, sondern eine Tugend für das Handeln aller Akteure, die sämtlich einen Beitrag leisten können und sollten. Drittens stellen sich Gerechtigkeitsfragen nicht nur in einzelnen Staaten, sondern global, weil sie an zufälligen Grenzen nicht haltmachen. Schließlich muss auch die große Bedeutung der Demokratie für Sen betont werden, weil seiner Meinung nach über substanzielle Gerechtigkeitsfragen nur demokratisch entschieden werden kann.

Im vierten Kapitel Identität und Freiheit geht es um Fragen der kulturellen, ethnischen und religiösen Identität. Gegen kommunitaristische und kulturalistische Positionen, die die Welt in verschiedene identitätsbasierte Kulturkreise einteilen, argumentiert Sen, dass Menschen immer viele verschiedene Identitäten haben und sich frei zu ihnen verhalten können. Manche Identitäten werden Menschen mitgegeben, aber sie können sie bejahen oder ablehnen, manche Identitäten abstreifen und neue Identitäten hinzugewinnen. Vor dem Hintergrund dieser liberalen Identitätstheorie lassen sich auch seine Arbeiten zur soziokulturellen Lage in Indien nachvollziehen, und es wird verständlich, warum er für einen liberalen Multikulturalismus der kulturellen Vermischung und nicht bloß der friedlichen Koexistenz plädiert.

Diese Einführung verfolgt eine systematische Einteilung des Werks von Sen in grundlagenökonomische, entwicklungsökonomische, gerechtigkeitstheoretische und identitätstheoretische Arbeiten. Zugleich soll dies auch zumindest ein Stück weit die zeitliche Entwicklung seines Werks wiedergeben. Das vielfältige theoretische Denken Sens passt natürlich in keine historischen oder systematischen Schubladen, so dass immer wieder Querverweise nötig sind, die aber knapp gehalten werden. Außerdem werden manche Fragen nur in bestimmten Kontexten ausführlich diskutiert, obwohl sie auch in anderen eine Rolle spielen, beispielsweise wird Demokratie im Kontext der Gerechtigkeitstheorie ausführlich besprochen, obwohl sie auch für die Entwicklungstheorie von großer Bedeutung ist, in diesem Kontext aber nur kurz angerissen.

Es ist noch ein Kommentar zu den Begrifflichkeiten im Kontext des Fähigkeitenansatzes vorauszuschicken. Für das englische »capability« wird im Deutschen üblicherweise entweder »Fähigkeit«, »Befähigung« oder »Verwirklichungschance« verwendet. Statt von »Fähigkeitenansatz« ist daher manchmal auch von »Befähigungsansatz« die Rede, von »Verwirklichungschancenansatz« wird jedoch kaum gesprochen. Für »functioning« wird üblicherweise »Funktionsweise« verwendet und nur selten »Verwirklichung«. Ich habe mich hier für dem Original möglichst nahe Übersetzungen, also für »Fähigkeit« und »Funktionsweise«, entschieden. Der Grund dafür ist einfach, dass die anderen Übersetzungen auch nicht besser wiedergeben, was mit »capability« und »functioning« gemeint ist. Man muss sich schon mit der Theorie des Fähigkeitenansatzes von Sen auseinandersetzen, um das zu verstehen, und wenn man das getan hat, ist bei allen Übersetzungen klar, was sie meinen. Die Einführung in den Fähigkeitenansatz erfolgt in Kapitel 2.2.

Ich danke für hilfreiche Hinweise zu dieser Einführung Robin Celikates, Valentin Beck, Simon Derpmann, Anna Goppel, Lisa Herzog, Sabine Hohl, Marc Hübscher, Fabian Koberling, Jonathan Menge und Dieter Thomä. Besonders danke ich Daniel Cabalzar und Gabriela Fischer nicht nur für hilfreiche Hinweise, sondern auch für ihre redaktionelle Arbeit. Dank gebührt auch Steffen Herrmann für seine Arbeit an diesem Band als Teil seiner für die deutschsprachige Theoriearbeit so wichtigen Einführungsreihe.

1. Rationalität und Freiheit

Amartya Sen hat seine wissenschaftliche Arbeit im Bereich der ökonomischen Entscheidungstheorie begonnen, wenn man von der Doktorarbeit Choice of Techniques einmal absieht.6 Seine spätere Beschäftigung mit ökonomischer Entwicklung und menschlichen Grundfähigkeiten, mit Themen der Gerechtigkeit und Fragen der Identität ist stets von diesem Ausgangspunkt in der Entscheidungstheorie geprägt geblieben. Diese Grundlage ist es auch, die Sens spezifischen Zugriff auf seine verschiedenen Arbeitsgebiete zu einer Einheit verbindet und seinen Freiheitsbegriff entscheidend beeinflusst. Grund genug also, den Einstieg in Sens Werk über die – wegen ihres hohen Formalisierungsgrades leider nicht immer ganz leicht zugängliche – Entscheidungstheorie zu wagen.

Im Mittelpunkt von Sens Arbeiten zur Entscheidungstheorie steht das Problem kollektiver oder sozialer Entscheidungen. Dabei geht es um die Frage, wie sich die individuellen Interessen und Urteile bzw. Entscheidungen vieler Menschen zu einer gemeinsamen kollektiven Entscheidung zusammenfügen lassen.7 Das zentrale Problem besteht darin, eine Entscheidungsregel zu finden, die tatsächlich alle individuellen Entscheidungen gleichermaßen berücksichtigt und trotzdem nicht zu selbstwidersprüchlichen Resultaten führt. Diese Frage stellt sich eigentlich in allen sozialen Kontexten, insbesondere jedoch bei demokratischen Entscheidungsprozessen – beispielsweise über gewünschte soziale Zustände, weil dort ja, zumindest dem Ideal nach, wirklich alle individuellen Entscheidungsträger gleichermaßen berücksichtig werden sollen und nicht nur die Entscheidungen einer aristokratischen Elite, einer Diktatorin oder einiger Topmanager.

Die Überlegungen von Sen beruhen auf den Arbeiten von Kenneth Arrow, der als Pionier der gegenwärtigen Theorie kollektiver Entscheidungen gilt. Arrow hatte bereits 1951 sein so genanntes »Allgemeines Unmöglichkeitstheorem« formuliert.8 Diesem Theorem zufolge ist es unmöglich, die Entscheidungen von zwei oder mehr Personen über drei oder mehr Alternativen in eine konsistente Rangordnung zu bringen und dabei minimale Kriterien der Rationalität zu berücksichtigen. Es ist hier nicht weiter nötig, die Details dieses Allgemeinen Unmöglichkeitstheorems auszubreiten, weil es darum geht, was Sen daraus gemacht hat, und das lässt sich auch so gut nachvollziehen.9

Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass sich auf der Grundlage des Unmöglichkeitstheorems von Arrow zwei verschiedene Theoriestränge mit Fragen des kollektiven Entscheidens beschäftigen. Der eine Theoriestrang wird als social choice theory oder Sozialwahltheorie bezeichnet, und Sen bewegt sich in diesem Theorierahmen.10 Der andere Theoriestrang heißt public choice theory, und Sen ist einer der schärfsten Kritiker dieses Ansatzes.11 Beide Theorien des kollektiven Entscheidens beruhen auf einer bestimmten Vorstellung von rationalem Entscheiden, das sich am Modell des homo oeconomicus, also des egoistisch seine eigene Wohlfahrt maximierenden Akteurs, orientiert. Genau in diesem Punkt widerspricht Sen dem Rationalitätsbegriff der public choice theory vehement und stellt ihr sein eigenes, viel tieferes und inklusiveres Verständnis von Rationalität entgegen.12

Diese Differenz hat entscheidende Auswirkungen für das besondere Freiheitsverständnis von Sen und seine Überlegungen zum Thema Gerechtigkeit. Deshalb soll in diesem Kapitel zuerst der Rationalitätsbegriff von Sen im Rahmen seiner Sozialwahltheorie dargestellt werden, um dann auf der Grundlage dieser Sozialwahltheorie seinen Freiheitsbegriff und die zentralen Implikationen für sein Verständnis von Gerechtigkeit herauszuarbeiten. Diese Überlegungen münden in einer Neubestimmung des Verhältnisses von Ethik und Ökonomie, wie sie die späteren Arbeiten von Sen entscheidend geprägt hat.

1.1 Sozialwahltheorie und Rationalität

Wenn die Theorie der kollektiven Entscheidungen etwas darüber sagen soll, wie sich die Entscheidungen individueller Akteure in eine Rangordnung bringen bzw. aggregieren lassen, dann muss sie zuerst individuelle Präferenzen, Urteile bzw. Entscheidungen erfassen können.13 Eine Möglichkeit bestünde darin, einfach alle Akteure nach ihren Entscheidungsabsichten zu befragen. Doch das ist sehr aufwendig und oft nicht durchführbar.14 Eine Alternative besteht darin, auf der Grundlage vergangener Entscheidungen zukünftige Entscheidungen zu bestimmen. Um dies leisten zu können, ist es jedoch notwendig anzunehmen, dass Akteure rational und daher auf eine bestimmte Weise konsistent entscheiden. Nur so lässt sich aus der Vergangenheit etwas über gegenwärtige Entscheidungsabsichten ableiten.

Für die Ausprägung jeder Theorie des kollektiven Entscheidens ist das ihr zugrunde liegende Rationalitätsverständnis also von zentraler Bedeutung. Ein guter Einstieg, um sich dem Rationalitätsverständnis von Sen im Rahmen seiner Sozialwahltheorie anzunähern, besteht darin, zuerst seine Kritik am üblichen Rationalitätsbegriff in der Ökonomie und in der public choice theory nachzuvollziehen. Sen kritisiert vor allem zwei Ansätze der Entscheidungstheorie und ihr jeweiliges Rationalitätsverständnis, nämlich die auf tatsächlichen Entscheidungen beruhende Theorie der rationalen Wahl und die auf Präferenzen beruhende Theorie der rationalen Wahl. Es bietet sich an, erst seine Kritik an der auf tatsächlichen Entscheidungen beruhenden Theorie der rationalen Wahl zu diskutieren, weil es sich dabei um die einfachere Theorie handelt.

Die Grundidee dieser auf tatsächlichen Entscheidungen beruhenden Theorie der rationalen Wahl besteht in der Annahme, dass nur zwei Indikatoren nötig sind, um entscheiden zu können, ob ein Akteur rational entscheidet oder nicht. Erstens ist es nötig zu wissen, wofür er sich in einer Reihe von Fällen tatsächlich entscheidet. Zweitens muss ermittelt werden, ob diese Reihe von Entscheidungen bestimmte Anforderungen der Konsistenz erfüllt. Zwei verbreitete Konsistenzbedingungen sind die folgenden beiden: erstens das schwache Axiom der offenbarten Präferenzen und zweitens die von Sen so genannte Bedingung α.15

Diese Konsistenzbedingungen lassen sich an einem abstrakten Beispiel illustrieren. Ein Konsument kann in einer gegebenen Situation S (vielleicht in einem Supermarkt) zwischen zwei Güterbündeln A und B entscheiden. Wenn er sich für das Güterbündel A entscheidet, dann stellt das schwache Axiom der offenbarten Präferenzen die folgende Konsistenzbedingung auf: In einer anderen Situation S’ (in einem anderen Supermarkt) dürfte der Konsument auf keinen Fall Güterbündel B auswählen, solange Güterbündel A auch vorhanden ist. Das gilt ganz unabhängig davon, was sich in dieser Situation sonst noch geändert hat. Nur wenn diese Konsistenzbedingung erfüllt ist, dann handelt der Akteur auch rational.16

Die Bedingung α ist eine bestimmte Variante des schwachen Axioms der offenbarten Präferenzen. Wenn sich an der Situation S’ gegenüber S nur der Umstand geändert hat, dass zusätzlich noch neue Güter und damit weitere alternative Güterbündel verfügbar geworden sind, dann gilt, dass der Konsument dem Güterbündel A gegenüber Güterbündel B stets den Vorzug geben muss. Die Grundidee dieser Konsistenzbedingungen lautet also, dass ein Akteur durch seine Entscheidung für A und gegen B zum Ausdruck gebracht hat, dass er A gegenüber B stets den Vorzug gibt. Damit er konsistent und im Sinne dieser Konsistenzbedingung auch rational handelt, muss er der Alternative A immer den Vorzug gegenüber der Alternative B geben.

Sen formuliert gegenüber dieser sehr einfachen Idee der auf tatsächlichen Entscheidungen beruhenden Theorie der rationalen Wahl drei zentrale Kritikpunkte. Der erste Kritikpunkt besteht darin, dass die Theorie in ihrer einfachen Formulierung nicht über die nötigen Ressourcen verfügt, um festlegen zu können, dass Akteure wirklich irrational handeln, wenn sie die Konsistenzbedingung verletzen. Wenn ein Konsument in einer Situation S das Güterbündel A wählt und in einer anderen Situation S’ das Güterbündel B, dann ist nicht klar, warum dies irrational sein soll. Es handelt sich einfach um unterschiedliche Entscheidungen in verschiedenen Situationen. Sen schreibt:

»Die Behauptungen A und nicht-A sind auf eine Weise widersprüchlich, wie die Entscheidung für x aus {x,y} und y aus {x,y,z} es nicht sein können. Wenn diese beiden Entscheidungen jeweils die Behauptungen enthielten, dass (1) x eine bessere Alternative als y sei und (2) y eine bessere Alternative als x, dann gäbe es hier tatsächlich einen Widerspruch […]. Doch diese Entscheidungen als solche beinhalten keine derartigen Behauptungen.«17

Diese Kritik trifft sicher zu. Es ist jedoch eher fraglich, ob besonders viele Ökonomen die auf tatsächlichen Entscheidungen beruhende Theorie der rationalen Wahl für so selbsterklärend halten und daher diesem Kritikpunkt von Sen ausgesetzt sind. Eine bessere Interpretation besagt, dass die tatsächlichen Entscheidungen vielmehr auf die Präferenzen der Akteure verweisen. Wenn ein Konsument sich in der Situation S für das Güterbündel A und gegen das Güterbündel B entscheidet, dann bringt er damit zum Ausdruck, dass er das Güterbündel A präferiert. Er muss dann, um rational zu sein, diese Präferenz auch in einer anderen Situation S’ besitzen, solange beide Alternativen gegeben sind. Gerade wegen der Rückführung der Entscheidungen auf Präferenzen wird diese Theorie auch die Theorie der offenbarten Präferenzen genannt.18

Doch auch gegen diese Alternative einer auf offenbarten Präferenzen beruhenden Entscheidungstheorie besitzt Sen ein starkes kritisches Argument. An einem einfachen Beispiel macht er dieses Argument plausibel. In der Situation S hat der Gast einer Tischgesellschaft die Alternative, den letzten Apfel aus der sonst leeren Obstschale auf dem Tisch zu nehmen und zu essen oder nichts mehr zu essen. In der Situation S’ befinden sich nicht nur einer, sondern insgesamt zwei Äpfel in der Obstschale. Der Gast könnte also zwei Äpfel, einen Apfel oder keinen Apfel nehmen. In diesen Szenarien, wie Sen sie beschreibt, nimmt sich der Gast in Situation S keinen Apfel und in der Situation S’ einen der beiden Äpfel.19

Aus Sicht der auf tatsächlichen Entscheidungen beruhenden Theorie der rationalen Wahl ist dies jedoch, und das ist die Pointe der Geschichte, irrational. Es ist irrational, weil sich an der Situation S’ gegenüber S nur geändert hat, dass noch ein zusätzlicher Apfel hinzukommt. In der Sprache der Entscheidungstheorie bedeutet dies, dass noch weitere Optionen hinzugekommen sind, die ursprünglichen Optionen A (einen Apfel nehmen) und B (keinen Apfel nehmen) aber geblieben sind. Es verletzt die Konsistenzbedingung α und ist daher irrational, einmal B zu wählen (wenn kein zweiter Apfel in der Schale liegt) und einmal A zu wählen (wenn ein zweiter Apfel in der Schale liegt).

Sen hingegen findet das überhaupt nicht irrational. Vielmehr argumentiert er, dass der Gast einen guten Grund hat, in dem ersten Szenario nicht den letzten Apfel zu nehmen. Es ist einfach unhöflich, das letzte Obst aus der Schale zu nehmen. Es ist aber nicht unhöflich, den vorletzten Apfel zu nehmen. Die auf tatsächlichen Entscheidungen und offenbarten Präferenzen beruhende Theorie der rationalen Wahl kann mit diesem feinen, aber im sozialen Umgang äußerst wichtigen Unterschied nicht umgehen, so argumentiert Sen. Allerdings können Verteidiger dieser Theorie darauf reagieren. Sie können nämlich argumentieren, dass die Alternativen, höflich oder unhöflich zu sein, selbst in das Güterbündel mit aufgenommen werden müssen. Es handelt sich in den beiden Situationen also gar nicht um dieselben Güterbündel. Sen hat sie nur unvollständig beschrieben, weil er nur das Gut Obst, aber nicht das Gut Höflichkeit berücksichtigt hat.

Dieses Argument trifft zu. Sie rettet aber nicht die auf tatsächlichen Entscheidungen beruhende Theorie der rationalen Wahl, wie Sen deutlich herausstellt.20 Das Problem besteht darin, dass an den Entscheidungen allein nicht sichtbar wird, welche Güter bzw. allgemein welche Gesichtspunkte ein Akteur in seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Die materiell erworbenen Güter, wie der Apfel, sind klar sichtbar. Bei dem Gut der Höflichkeit ist das jedoch nicht so. Dabei handelt es sich vielmehr um eine Erwägung oder ein Motiv des wählenden Akteurs, das sich dem Beobachter nicht einfach so offenbart.21 Theoretiker können sich deswegen nicht allein auf die sichtbaren Entscheidungen von Akteuren stützen, um sie als rational einschätzen zu können. Vielmehr müssen sie bereits wissen, welche Motive ein Akteur in seinen Entscheidungen berücksichtigt, um beurteilen zu können, ob sie rational sind.