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Am äußersten Rande der Stadt, inmitten von baufälligen Häusern mit zerzausten Dächern, stand das Armenhaus der Gemeinde. Es war aus dem Vermächtnis eines örtlichen Wohltäters errichtet worden, der wohlbedacht seine irdischen Güter gemehrt hatte und sich Gott, in der Vorahnung, dass sein Lebensende nahte, mit einer guten Tat gewogen machen wollte. Aus seinem Vermögen erwuchs ein steinernes Gebäude mit grüner Fassade, das einer Festung glich. Sein Mauerwerk war von zahnartigen Zinnen gekrönt und trug an der Hauptfront in Frakturbuchstaben die Aufschrift »Pivodas Armenanstalt«. Das Haus war in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gebaut worden und wirkte durch sein wildes, grimmiges Aussehen auf jedermann abstoßend. Im Erdgeschoss fanden sich große Fenster mit Spitzbögen, aus dem ersten Stock aber schauten kleine Fensterchen herab, die an Schießscharten erinnerten. In der Vorstellung des Baumeisters, der dieses Haus errichtet hatte, gab es keinen Unterschied zwischen Armen und Verbrechern. Deswegen hatte er die Fenster mit massiven Gittern versehen lassen, als ob er die Insassen an der Flucht hindern wollte. Auch bei größter Hitze wehte aus dem Gebäude eine Grabeskälte, und im Inneren herrschte fortwährend Schatten. Der Eingang glich einem gähnenden Mund, und der lange und tiefe Flur schien mit Schall angefüllt zu sein. Nicht nur Lausejungen, sondern auch manch ein Erwachsener, dem jede Art von Unfug eigentlich fernlag, blieb hier öfter stehen, blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um und brüllte dann in die Tiefe des Ganges hinein: »Hoho – hoo!«, und die aufgescheuchten Schatten antworteten mit einem vielfachen Echo.

Zum Armenhaus gehörte auch ein Garten, der von einem gusseisernen Gitterzaun umgeben war. Auch diesem Garten sah man an, dass er keiner Privatperson gehörte, sondern einer frommen Stiftung. Es gab dort kein Gartenhäuschen mit

Das Armenhaus war eigentlich für verarmte, aber ehrbare Bürger der Stadt bestimmt. All die Jahre gab es jedoch keine Gemeindeangehörigen, die unverschuldet ins Elend geraten wären, so dass das Gebäude nur Bettler beherbergte. An lauen Abenden saßen auf der steinernen Freitreppe vor dem Haupteingang lispelnde alte Weiber und verhutzelte Greise mit eingefallenen Mündern, deren lahme Glieder an krumme Wurzeln erinnerten. Der Zutritt zum Garten war ihnen verwehrt, da über die Vergissmeinnicht, Stiefmütterchen, Büsche und Obstbäume der Verwalter Wagenknecht herrschte, der peinlich genau darauf achtete, dass ihm auch ja nicht einmal ein Stück Fallobst verlorenging. Er war ein muskulöser Mann mit kurzen Beinen und kurz geschorenem Kopf, rege und eifrig, da der Wunsch nach ständigem Gewinn und Vorteil ihn ununterbrochen in Bewegung hielt. Über seine linke Gesichtshälfte lief ihm eine furchterregende Narbe, die leicht mit Blut anlief. Er bewachte auch die Obstbaumalleen der Bauern und legte sich dafür mit einem Sacktuch zugedeckt in eine Strohhütte. Auch als Nachtwächter war er bestellt worden, und man konnte, wenn alles

Zu seinen Schützlingen gehörte die Bettlerin Glatte Ančka; vor vielen Jahren hatte sie Frau Kafuňková geheißen und war die Gattin eines vermögenden Tuchhändlers gewesen. Einst hatte Frau Kafuňková einen Wachtraum gehabt. Den hatte sie sich deuten lassen und dementsprechend in der Prager Lotterie beim Lotteriekollektanten Gustav Štědrý auf drei Nummern gesetzt. Sie hatte dann auf Terno gewonnen und setzte von da an so lange, bis sie sich in die Glatte Ančka verwandelt hatte. Aber auch jetzt noch hielt sie sich für eine reiche Frau; ständig wurde sie von Wachträumen heimgesucht, die, in Zahlen ausgedrückt, ein Vermögen bedeuteten.

Der Bettler Maryčka Gib’s! erhielt Almosen, weil er leicht Wutanfälle bekam und dann in einer Art Versgesang stundenlang schimpfen konnte. Amtlich hieß er Emanuel Pěchota; allerdings kannte niemand in der Bezirksstadt seinen Namen und jeder rief ihm »Maryčka Gib’s!« hinterher, um seine obszönen Verse hören zu können.

Der schwachsinnige Hynek unterhielt die Bürger durch seine fehlerhafte Aussprache. Er hatte eine gottesfürchtige Seele, nahm an allen Prozessionen teil und verfiel beim Singen von Kirchenliedern in süße Verzückung.

An jenem Tag machte sich Majorchen auf den Weg zum Bahnhof. Schon viele Jahre lang stellte er sich zweimal täglich bei der Ankunft des Zuges ein, als ob er Besuch erwarten würde. Natürlich kam niemand; er hatte weder Verwandte noch Freunde; Leere umgab ihn wie einen Despoten.

Hoch aufgeschossen, mit hervorstehenden Schulterblättern, ging er seines Weges, das Gesicht mit grauen Stacheln bedeckt, einem Bettlervollbart, der nie wächst. Seine triefenden Augen blickten starr vor sich hin; der grünliche Schnauzbart bewegte sich auf und ab. Die weiße Morgensonne leuchtete ihm auf den Weg. Er ging mitten auf der Straße, denn die Bürgersteige waren für die wohlhabenden Leute errichtet. Hinter ihm her zog ein dumpfer Gestank, der die Hunde zur Raserei brachte.

Auf dem Bahnhof saß eine Frau vom Lande auf einer Bank und hielt ein Baby im Arm; das Kind wimmerte, und die Mutter murmelte »Husch, Kusch, Husch, Kuschkusch«, um es zu beruhigen.

Ein Herr im Touristenanzug schaute sich die Fotografien an, die an den Wänden hingen. Ein junger mit Kalk bespritzter Mann, der eine Papiermütze auf dem Kopf trug, kam aus der Amtsstube und schleppte eine Leiter. Als er den Bettler sah, drehte er sich um und stieß diesem wie zufällig mit der Leiter in den Bauch. Majorchen trat beiseite, brummelte etwas, und der Arbeiter lachte.

In der Ferne erscholl gedämpft das Pfeifen des Zuges. Der Bettler bemerkte den Kaufmann Štědrý und zog seinen Hut. Der Kaufmann tippte an den Rand seiner Melone. Er stand da, gestützt auf seinen Sonnenschirm aus Mohair, und glich mehr einem Beamten als einem Kaufmann. Auch sein langer, schwarzer Gehrock, der schon ins Grünliche verschossen war, erinnerte an einen Kanzlisten im Ruhestand. In seinem Gesicht

Das Pfeifen des Zuges erklang jetzt lauter, und dieses Geräusch zerschellte an einem Abhang, der mit Akazien und Nussbäumen bewachsen war. Aus der Amtsstube trat ein Herr mit roter Kappe und nahm seinen Zwicker ab. Der Kaufmann strich sich über seinen gelben Schnauzer. Die Dampflok stampfte mit Keuchen in den Bahnhof ein.

Der Bettler erblickte einen jungen Mann, der einen zimtfarbenen, glockenförmig geschnittenen Raglan trug und sich mit tänzelndem Schritt dem Kaufmann näherte. Der Kaufmann ging ihm entgegen und breitete seine Arme aus. Seine Augen wurden feucht: Mit dem Alter war er rührselig geworden und neigte zu Tränen. Der junge Mann nahm mit einem preziösen Griff seinen glänzenden Zylinder ab und küsste den Kaufmann auf die Wange. Der grünliche Schnäuzer des Bettlers fing an, sich zu bewegen, und aus seinem eingefallenen Mund kamen Worte.

– Ach so … Sieh mal einer an … Der Kamil ist gekommen, der Sohn des Kaufmanns Štědrý …

Er beobachtete, wie der junge Mann dem Vater liebkosend über den Rücken streichelt und beide den Bahnhof verlassen. Er schlich hinter ihnen her und spitzte die Ohren, denn er war neugierig wie ein Huhn. Er wusste, dass auch seine Gefährten aus dem Armenhaus begierig auf Neuigkeiten waren und er ihnen Nachrichten mitbringen musste.

– Sieh da, der Kamil ist gekommen, der Sohn des Kaufmanns Štědrý … Na was denn, was denn? Freut sich der Papa? Freut er sich über den Sohn?

Er blickt auf den gekrümmten Rücken und den zerfurchten Nacken des Kaufmanns, kann so aber nicht ergründen, ob dieser sich über die Ankunft des Sohnes freut. Misstrauisch schaut er auf die zitronengelben Halbschuhe, den glänzenden Zylinder und darauf, wie der junge Mann einen silberbeschlagenen Rohrstock schwingt.

Er blieb stehen, da er bemerkte, wie der Kaufmann seinen Schritt verlangsamte und heftig gestikulierte. Er hörte ihn sagen: »Mit einem Zylinder darfst du mir hier nicht herumlaufen.«

Der junge Mann wollte etwas einwenden, der Vater wiederholte aber störrisch: »Das ist mir egal, was man im Ausland trägt. Zu Hause darfst du mir damit nicht herumlaufen.«

– Gut so, lobt der Bettler, du bist kein solcher Großkopferter, dass du mit einem Zylinder herumlaufen könntest. Für mich bist du ein Rotzlöffel …

Aus dem Tor des Spediteurs Wachtl fuhr ein schwerer Wagen, der von Pferden mit glänzenden Hinterteilen gezogen wurde. Der Kutscher glotzte mit dumpfem Erstaunen auf den Zylinder, den glockenförmigen Raglan und die gelben Halbschuhe.

Und der Kaufmann, auf das bleiche, verlebte Gesicht seines Sohnes zeigend, sagt entrüstet: »Und was ist das?«

»Das sind Koteletten«, antwortet Kamil eitel.

»Das muss runter«, befiehlt der Vater drohend.

»Bei uns in Olmütz …«, will der Sohn einwenden.

»Kein Wort mehr! Du gehst gleich zum Sedmidubský, dass er dir das abnimmt. Mit Pejes will ich dich nicht sehen. Das ist mein letztes Wort!«

Unter dem graugrünen Schnäuzer kommen Worte hervor: – Recht so … Meine Rede … Dem haben Sie’s richtig gegeben. Die würden sich sonst heutzutage viel zu viel erlauben …

Der Kaufmann trippelt unsicher auf seinen wackligen Beinen, die zitronengelben Halbschuhe aber tänzeln kokett übers Pflaster, und der Rohrstock wirbelt zwischen den Fingern. Kamil dreht sich von einer Seite zur anderen; er will der Bezirksstadt imponieren mit seinem Raglan und dem glänzenden Zylinder. Aber die Stadt liegt schweigend da; hier und da sind

Der Bettler konnte hören, wie der junge Mann sagte: »Wie ich sehe, hat sich hier nichts verändert.«

Der Kaufmann blieb stehen und zeigte mit dem Sonnenschirm auf den Neubau des Finanzamtes.

»Was heißt, nichts verändert?«, wandte er ein. »Schau doch mal dieses Gebäude da, das ist doch wohl eine Errungenschaft.«

Kamil verzog den Mund: »Errungenschaft! So was nennt man hier wohl ein Ereignis. Bei uns in Olmütz hingegen …«

Der Kaufmann hört es nicht gern, wenn jemand die Bezirksstadt herabsetzen möchte. Es empört sich in ihm der Stolz des Alteingesessenen.

»Im Ausland sollen die machen, was sie wollen«, knurrt er, »wir hier wissen uns schon zu helfen.«

Ihm missfiel das Grinsen des jungen Mannes, und er donnerte los:

»Die Pejes müssen runter! Du gehst gleich zum Friseur! Nicht, dass ich es zweimal sagen muss.«

– Gut so! So muss man mit dem Jüngelchen umgehen, lobt Majorchen.

»Aber klar doch«, brummt Kamil niedergeschlagen, »wenn ich dann nur meine Ruhe hab’.«

Aus einem Haus stürzte plötzlich ein Herr, als ob er nur darauf gelauert hätte, dass der Vater mit dem Sohn vorbeikommen würde. Er hatte stark gerötete Wangen, als ob er ständig ein Lachen unterdrücken müsste. Seine kleinen Äuglein bewegten sich unentwegt hin und her wie die Blase in einer Wasserwaage. Kamil zog mit dem Zylinder einen eleganten Bogen, und der Vater tippte an den Rand seines Hutes.

Ungern sah er Herrn Raboch, diesen heimtückischen Schwätzer.

– Zylinder, Raglan, Koteletten, beunruhigte er sich, das wird ein Gerede geben …

Kamil verbeugte sich und drückte Herrn Raboch die Hand.

Herr Raboch fuhr mit seinen bösartigen Äuglein abschätzig über Zylinder, Raglan und die zitronengelben Halbschuhe. Sein Gesicht lief vor unterdrücktem Lachen rot an.

»Na, was denn, was denn?«, stieß er nach. »Sind Sie etwa für länger gekommen?«

»Nur für kurz«, antwortete statt seines Sohnes der Kaufmann.

Kamil zwirbelte seinen rötlichen kleinen Schnurrbart und bemühte sich, das Selbstbewusstsein eines unabhängigen Mannes von Welt auszustrahlen. Er fühlte vor dem Herrn mit dem geröteten Gesicht eine große Unsicherheit. Er erinnerte sich, wie ihn Herr Raboch vor Jahren einmal auf der Straße ergriffen, nach Hause geschleppt und dort seinen dreckigen Hals vorgeführt hatte. »Schauen Sie nur, Frau Štědrá, der Junge kann sich nicht mal richtig waschen. Nehmen Sie doch mal eine Scheuerbürste und schrubben ihm den Hals. Wie sieht denn das Dreckschwein aus?« Herrn Raboch fällt alles auf, nichts bleibt seinen beweglichen, bösartigen Äuglein verborgen. Unwillkürlich fuhr Kamil sich mit der Hand über den Nacken.

»Nur für kurz, also, nur für kurz … Auf Urlaub etwa?«, attackierte Herr Raboch.

»Auf Urlaub«, bestätigte Kamil.

Herr Raboch wurde nachdenklich und wiederholte langsam: »Auf Urlaub …«

Der Bettler, der die Unterhaltung aus einiger Entfernung mitgehört hatte, sprach den Gedanken des Herrn Raboch laut aus:

– Ist denn jetzt eine Zeit für Besuche? Das kannst du jemand anders erzählen. Nach Hause fährt man nur über die Feiertage.

»Also viel Spaß noch, Herr Kamil«, zwitscherte Herr Raboch und verschwand hinter seiner Tür.

»Was hast du denn die ganze Zeit?«, wimmerte der Sohn.

»Nichts … nichts … ich meine ja bloß …«, murmelte der Kaufmann, »und was den Raglan angeht … es ist jetzt warm, und du kannst ohne Mantel herumlaufen.«

– Hier herrscht einfach keine Kultur, dachte Kamil niedergeschlagen.

Und der Bettler konnte beobachten, wie der Zylinder, der glockenförmige Raglan, die zitronengelben Halbschuhe und der Pensionistengehrock, der ins Grünliche spielte, in der Tür eines Hauses verschwanden.

Frau Štědrá begrüßte sie in der Tür, riss die Arme hoch, in ihrem Gesicht spiegelte sich Erstaunen. Die Ankunft eines Gastes rief bei ihr immer eine besondere Aufregung hervor, und im Körper spürte sie eine Anspannung wie ein Akrobat vor einem gefährlichen Auftritt. Sie wünschte sich, dass Kamil ihr die Hand küssen möge. (– Nicht wegen mir, ich brauche das nicht, es gehört sich aber so.) Der Sohn allerdings nahm nur den Zylinder vom Kopf, verbeugte sich umständlich und gab ihr die Hand.

Sie setzten sich an den gedeckten Tisch. Der Kaufmann hatte zugunsten des Gastes auf seinen Ehrenplatz verzichtet. In der Küche zischte und dampfte es. Kamil atmete schwer, denn sein Hals wurde von einem hohen, gestärkten Kragen eingezwängt.

»Benimm dich ganz wie zu Hause«, sagte der Kaufmann und befahl Kamil, das Jackett auszuziehen. Der Sohn weigerte sich und legte nur seine violett gestreiften Manschetten ab. Aus der Küche hörte man: »Ich muss noch zwei drei Stück Kohlen nachlegen.« Frau Štědrá hatte die Angewohnheit, am Herd Selbstgespräche zu führen. Der Esstisch war klein, deswegen hatte man für Viktor, den anderen Sohn, am Schreibtisch gedeckt. Ohnehin sah man ihn nur ungern an der gemeinsamen Tafel, vor allem wenn ein Gast anwesend war. Er stank nach Öl und Rauch. Sein Benehmen regte den Vater auf. Er hatte grobe, schwielige Hände, in die sich Lack und Ruß eingefressen hatten; außerdem waren zwei Finger durch einen Unfall entstellt. Den Vater störten sein runder Kopf, sein kurzer, herabhängender Schnurrbart und das blaue Arbeitshemd. Er schmatzte und schnaufte beim Essen, verschlang es gierig wie einer, der durch schwere Arbeit entkräftet ist. Viktor war es egal, dass man ihn aus der Gesellschaft ausgeschlossen hatte. So konnte er beim Essen das Buch »Fünf Wochen im Ballon« lesen, etwas, das der Vater an der gemeinsamen Tafel nicht geduldet hätte.

Neben dem Vater saß der jüngste Sohn Jaroslav. Er war ein schweigsamer Junge, hatte dieses Jahr die Matura abgelegt und war sich nicht sicher, ob er Medizin oder Jura studieren sollte. Das Antlitz des Vaters lächelte, und seine Augen glänzten vor Zärtlichkeit, wann immer er auf den Studenten schaute.

Die Mutter brachte eine Suppenschüssel und goss zuerst ihrem Ehemann ein. Der Kaufmann zog die Augenbrauen in die Höhe, schlürfte kurz kostend vom Löffel und sagte dann: »Die Suppe, Mutti, ist delikat. Selbst Seine Majestät der Kaiser könnte sie essen.«

Frau Štědrá atmete so erleichtert auf wie ein Mensch, der einer großen Gefahr entronnen ist. Ständig rannte sie zwischen Küche und Esszimmer hin und her. Dem Kaufmann missfiel das, und er äußerte den Wunsch, sie möge sich zu ihnen setzen. Um ihm einen Gefallen zu tun, setzte sie sich für einen Augenblick auf den Rand eines Stuhls. Sie pickte aus dem Teller wie ein Vogel, wischte den Bräter mit einer Brotrinde aus und rannte dann wieder mit einem angespannten, sorgenvollen Gesichtsausdruck davon. Essen war nichts für sie; ihr stand es nur zu, die Speisen zuzubereiten; die Mannsbilder waren dann verpflichtet, eindeutig kundzutun, dass es ihnen schmeckte. Dem Kaufmann und der übrigen Familie legte sie das Besteck geradezu zeremoniell vor; auf den Schreibtisch hingegen warf sie die Teller, dass es nur so klirrte, und brummte dazu: »Schlag dich nur voll, du Ferkel!« Viktor achtete nicht darauf; auf irgendwelche Förmlichkeiten kam es ihm nicht an, nur auf gutes Essen. Zuerst zerschnitt er das Fleisch, dann ergriff er mit der ganzen rechten Hand die Gabel, stach Bissen für Bissen auf und schaute dabei in das aufgeschlagene Buch.

Wann immer der Kaufmann auf Kamils Teller eine Lücke erblickte, legte er ihm nach. Der junge Mann stöhnte, er könne nicht mehr. Ein gebildeter Mensch könne doch nicht so schlingen wie ein Bauer. Mit dem verwöhnten Ausdruck eines

»Essen muss man«, erklärte der Vater, wobei er genüsslich einen Knochen abnagte, »ohne Essen kann kein Mensch und auch sonst kein Lebewesen existieren. Auch Jaroušek hat nur wenig gegessen.«

»Jaroušek hat nur wenig gegessen!«, wiederholte die Mutter erschrocken.

»Ich hab genug«, erklärte der Student.

»Du musst viel essen«, ermahnte ihn der Vater. »Du arbeitest, strengst deinen Kopf an, dann musst du auch dem Körper geben, was ihm zusteht. Ja, ja, die Studien, die Studien«, seufzte er.

»Den da drüben«, er zeigte in Richtung Schreibtisch, »den muss man gar nicht erst auffordern. Der spachtelt ganz von allein.«

Die Mutter räumte die leeren Teller ab, und man begann zu plaudern. Kamil fragte den Vater nach seinem Befinden. Der Kaufmann seufzte. Auf dem Marktplatz habe sich ein Konkurrent niedergelassen, der die Kunden mit süßlichem Geschwätz anlocke. Er begleite die Kundschaft bis auf die Straße hinaus und führe dabei laute Reden. Ein schädlicher Mensch! Er wolle in der ganzen Stadt der Größte sein, er inseriere sogar in der Zeitung.

Kamil vertrat die Meinung, dass der moderne Handel solche Dinge erfordere, und tadelte den Vater für seine altmodischen Ansichten. Ihr Geschäft in Olmütz solle er mal sehen. Große Schaufenster. Ständig klingele das Telefon. Die Handlungsgehilfen würden nur so um das Verkaufspult herumflitzen. Die Tür gehe in einem fort auf und zu; wie in einem Bienenstock sei das.

»Ich bin, wie ich bin«, wandte der Vater ein; »ihr könnt es einmal weiter bringen. Deswegen habe ich euch ja etwas lernen lassen.«

»Und einen Haufen Geld habt ihr dabei gekostet«, schloss sich die Mutter an.

Zum Ausklang des Mittagessens schenkte Frau Štědrá schwarzen Kaffee ein. Kamil hielt die geblümte Tasse in der Hand, indem er anmutig seinen kleinen Finger ausstreckte, der mit einem langen Nagel verziert war, und redete prahlerisch den Laden seines Vaters schlecht. Er riet ihm, sein Geschäft mit Schaufenstern auszuschmücken und die Kunden mit Reklamen anzulocken. Auf dem Pult wollte er eine Registrierkasse sehen; beim Anblick einer solchen Maschine wäre die Kundschaft ganz baff. Der Kaufmann hörte dem Geschwätz unaufmerksam zu und ließ seinen Blick nicht vom überlangen Fingernagel weichen. Plötzlich unterbrach er Kamil mit einem wütenden: »Was sehe ich denn da?«

Kamil verstand nicht. »Der Fingernagel, der Fingernagel«, brüllte der Vater.

Der Sohn blickte mit Wohlgefallen auf seinen kleinen Finger. »Was hat du denn gegen meinen Fingernagel? Das ist jetzt große Mode.«

»Sofort abschneiden! Und zwar plötzlich!«, brauste der Vater auf.

»Aber Papi!«

»Wenn der Papa das wünscht, dann muss der Nagel runter«, schritt die Mutter ein.

Der junge Mann wurde traurig. Er würde auf seinen Schmuck verzichten müssen, den er doch mit einer solchen Liebe herangezogen hatte. Wehmütig dachte er sich nur:

– Es hat alles keinen Sinn. In dieser Stadt gibt es einfach keine Kultur.

Das Mittagessen war zu Ende. Viktor erhob sich, griff nach seiner Ledertasche, in der die Metallwerkzeuge klimperten, und rannte davon. Der Vater schaute ihm hinterher und brummte feindselig: »So einer hat mir noch gefehlt. Der ist wirklich wohlgeraten, dieser Sohnemann.«

Die Mutter seufzte nur.

Die Häuser auf dem Marktplatz waren dickleibig wie Buchteln auf einem Backblech. Ihr Ehrgeiz drängte nicht in die Höhe, sie waren zufrieden mit ihrer Fülligkeit. Nur das Gebäude der Bezirkshauptmannschaft war zweistöckig. Auf dem Dach trug es eine Aufschrift aus hellen Schieferziegeln: »Erbaut A. D. 1902«. Alle Gebäude aber überragte das Rathaus mit seinem Turm, auf dem das Wappen der Stadt abgebildet war.

Die bläuliche Abenddämmerung hüllte die Häuser mit ihren Laubengängen, das Rathaus und das Gebäude der Bezirkshauptmannschaft ein. Der Sommerabend roch erregend nach blühendem Weißdorn, warmem Roggenbrot und mit Wasser besprengtem Straßenstaub. Über die Straße fuhren mit Heu beladene Leiterwagen, beim Hydranten hatten sich die Dienstmädchen versammelt, Kinder kreischten herum, und zwischen ihnen liefen fröhlich Hunde umher, deren Schwanz verdreht war wie eine Uhrfeder.

Der Kaufmann Štědrý stand vor seinem Laden und sog an seiner Pfeife, auf deren Porzellankopf der Landesherr in Jägertracht abgebildet war. Unfroh blickte er nach gegenüber, wo der Kaufmann Zoufalý seinen Laden hatte. Alle Geschäfte hatten schon geschlossen, nicht jedoch das des Kaufmanns Štědrý und das seines Konkurrenten. Zwischen beiden Unternehmen herrschte ein verborgener, aber bitterer Kampf. Štědrý wollte nicht eher zumachen als Zoufalý; der Konkurrent wiederum wollte es mit gleicher Münze heimzahlen. Zoufalý kapitulierte schließlich und machte zu. Štědrý tat es ihm nach und befahl dem Dienstmädchen, Stühle vor das Haus zu stellen. Es stellte sich auch Herr Raboch ein, mit seinen bösartigen kleinen Äuglein, die alles und jeden sahen, und machte den zufriedenen Eindruck eines Menschen, der ausgesorgt zu haben meint. Aus seinem Mund hing schief eine Zigarre, und er klimperte in seiner Hosentasche mit Kleingeld herum. Begleitet wurde er von seiner

Auf dem Marktplatz wurden zwei Bogenlampen angezündet. Die Promenaden rauschten. Auf der Nordseite promenierten die Beamten der Bezirkshauptmannschaft, die Richter und die Advokaten; man konnte unter ihnen die Uniform des Postbeamten mit seinen weißen Hosen sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite fand die geräuschvolle Promenade der Handwerker, Handlungsgehilfen und Studenten statt. In der Mitte des Platzes über die gepflasterte Diagonale gingen schaukelnd die israelitischen Kaufleute auf ihren Plattfüßen spazieren. Jedes Mal, wenn bei ihnen die Rede auf geschäftliche Probleme und Familienangelegenheiten kam, verfielen sie ins Deutsche.

An der Ecke des Platzes stand Kamil. Über den Rücken hatte er den zimtfarbenen Raglan geworfen; auf dem Kopf trug er eine Reisekappe. Er rauchte eine Zigarette mit Bernsteinmundstück, fuhr mit seinem silberbeschlagenen Rohrstock durch die Luft und hielt Ausschau in Richtung der Promenade auf der Nordseite. Herr Raboch entdeckte ihn und fragte Herrn Štědrý gleich, wie lange Kamil sich noch in der Stadt aufzuhalten gedenke. Der Kaufmann antwortete unbestimmt; Raboch blinzelte mit seinen bösartigen Äuglein. Als es vom Rathaus zehn Uhr schlug, standen sie auf und verabschiedeten sich voneinander. Frau Štědrá begleitete Frau Rabochová noch ein Stück des

Der Kaufmann Štědrý und seine Gattin setzten sich an den Tisch. Frau Štědrá fing an, Strümpfe zu stricken, und kratzte sich dabei ab und zu gedankenverloren in den Haaren. Aus dem Mund des Kaufmanns hing eine Pfeife; er paffte vor sich hin und las den Roman »Fünf Wochen im Ballon«. Man konnte hören, wie im Gasthaus »Auf dem Rasen« das Orchestrion rasselte. Im Laden wehklagte der Kater. Er verstand nicht, warum man ihn einsperrte, und sehnte sich nach seinem nächtlichen Herumstreunen.

Der Kaufmann blickte von seiner Lektüre auf, nahm den Kneifer ab und brummte: »Ein schlechter Kater. Hat keinen guten Charakter. Du kannst sagen, was du willst, Mäuse fangen will der nicht.«

Seine Frau war derselben Meinung.

»Wann es aber Zeit zum Mittagessen ist, das weiß er nur zu gut«, fügte sie an, »o ja, das ist ein ganz berechnendes, ausgebufftes Tierchen.«

»Er muss mir aus dem Haus«, verhärtete sich der Kaufmann. »Ich will ihn hier nicht haben. Jeder muss seine Pflichten erfüllen.«

Er legte die Pfeife ab und nahm einen Schluck Wasser. Dann schlurfte er in die Küche, um zu prüfen, ob sich die Dienstmagd nicht draußen herumtreibe. Das Mädchen schlief in seiner gestreiften Bettwäsche, und ihr roter Zopf hing über den Bettrand. Der Kaufmann überzeugte sich davon, dass alle Türen ordnungsgemäß vor den Angriffen schädlicher Menschen verschlossen waren. Laut gähnend zog er sich aus und legte sich hin. Seine Frau breitete zahlreiche Unterröcke aus und löschte dann

Frau Štědrá unterbrach die Stille.

»Hat er nichts gesagt?«

»Was hätte er sagen sollen?«, brummte der Kaufmann. »Geredet hat er eine Menge, aber auf diese Weise hat er gerade nichts gesagt.«

»Warum ist er gekommen? Auf Urlaub oder nur so? Und wie lange will er zu Hause bleiben?«

»Weiß ich nicht«, sagte müde und langgezogen ihr Mann.

– Wer aber sollte das wissen? Warum sagt keiner ein Sterbenswörtchen? Bin ich etwa so schlecht, dass mit mir keiner reden will?

Im Herzen von Frau Štědrá nagte innere Verletztheit. – Kommt plötzlich angefahren, so als ob nichts wäre, nimmt den Zylinder vom Kopf und begrüßt sie wie eine Fremde. Ich denke, es würde sich wohl ein Handkuss schicken, so wie es andere Kinder machen. Das habe ich mir doch wohl verdient, oder? Ich möchte nur zu gerne wissen, ob sich auch eine andere so aufgeopfert hätte …

Sie hatte einen Witwer mit drei Kindern geheiratet. – Och, ich habe ja nicht geahnt, in was ich mich da hineinbegebe, ich dummes, dummes Ding … Tja, und gleich den zweiten Tag nach der Hochzeit … Sie sieht das, als sei es gestern gewesen. Sie sitzt mit ihrem Mann beim Frühstück. Da kommen die zwei Jungs, Kamil und Viktor, und stellen ihre zwei Kaffeebecher vor sie hin. Sie blicken verstockt. Was ist los? Die junge Frau bekommt einen Schrecken. Was ist passiert? Die Jungs jammern: Den Kaffee wollen wir nicht, da schwimmt Milchhaut oben drauf … Oh! … Oh! So eine Ungehörigkeit! So eine Beleidigung ist ihr in diesem Hause gleich in den ersten Tagen ihrer Ehe widerfahren. Stiefmutter – das sagt sich dann so leicht …

Jawohl, diese zwei Jungen waren schon immer gegen sie. Haben Grimassen hinter ihrem Rücken gezogen, ganz besonders

Die Pendeluhr an der Wand schlägt die Stunde. Sie hat eine ernste, tiefe Stimme, als ob sie sagen wollte: Gedenke, o Mensch … Im Gasthaus klirrt immer noch das Orchestrion. Frau Štědrá seufzt unter dem Eindruck ihrer Erinnerungen tief auf. Damals, als Jaroušek so krank war, kam immer der Doktor Vinklář zu ihm. Machte ein hämisches Gesicht und brüllte furchtbar herum. Er pflegte Patienten durch Anschnauzen zu heilen. Die Leute haben ihn verehrt wie einen Zauberer. Dieser Arzt hat es verdient, dass sie für ihn betet, weil er den Jaroušek gerettet hat. Brüllte, schrie, tobte so lange, bis er den Tod aus der Tür gejagt hatte …

»Ich habe ihm untersagt«, sagt der Kaufmann brummig, »in diesem Raglan auf der Straße herumzulaufen. Das will ich nicht, habe ich gesagt, in unserer Stadt gehört sich so etwas nicht. Er sieht darin so aus, als ob er aus einem Zirkus entlaufen sei. Und dieser Zylinder … Ich dulde keinen Zylinder. Erlaube ich nicht. Raboch hat schon das Gesicht verzogen, als er Kamil ansah, das habe ich nur zu gut beobachtet …«

Der Kaufmann seufzte, weil ihn sein juckender Ausschlag beunruhigte.

»Kratz mich da mal«, stöhnte er.

Seine Frau fing an, seinen Rücken zu kneten, und dachte dabei gedankenverloren: – Den grauen Hahn sollte ich endlich schlachten.

Die Stadt kam zur Ruhe, aber der Bettler Chleboun, genannt »Majorchen«, irrte immer noch durch die Straßen. Er brummelte vor sich hin, als ob man einen verlorenen Gegenstand sucht; weich trat er auf mit seinen in Sackleinen eingehüllten Füßen, und sein Stock klopfte auf das Pflaster. Die erleuchteten Fenster des Restaurants »Nationalhaus«, aus denen er Gelächter und Stimmen hören konnte, zogen ihn an.

Er drückte die Nase an die Fensterscheibe und blickte starr und triefäugig in den Gastraum. Er sah, wie Kamil, der Sohn des Kaufmannes Štědrý, um den Billardtisch herumlief. Er spielte eine Partie gegen einen jungen Mann, der eine gestickte Hemdbrust trug. Der Handlungsgehilfe hatte sein Jackett abgelegt und stolzierte in einem violettgestreiften Seidenhemd umher. In der Ecke saßen vier Stiernacken über ein Kartenspiel gebeugt. Kamil spielte mit einem gezierten Gesichtsausdruck; jedes Mal, wenn er einen Stoß verfehlte, breitete er die Arme aus und schüttelte ungläubig den Kopf. Der picklige Kellner schaute dem Spiel zu. Vier Herren schlugen ständig mit ihren Fingerknöcheln auf den Tisch und brachen zuweilen in polterndes Lachen aus.

Das Licht teilte den Bettler in der Mitte. Er glich einer silbernen Büste in einem Schaufenster. Er schaute unentwegt, und sein graugrüner Schnauzbart bewegte sich auf und ab. Mächtig zogen ihn die Orte an, wo sich die Herren zu ihrem Vergnügen versammelten.

Er murmelte: – Ihren Spaß haben sie … Billard spielen sie … Geld schmeißen sie raus … gönnen sich alles … Ach was, Herrschaften, Herrschaften, Herrschaften … und junge Herren, junge Herren … Einer ist Herr, ein anderer Bettler … Ordnung oben, Ordnung unten …

Aus der Ecke, wo die vier Kartenspieler saßen, hörte man: »So, meine Herren, für mich die letzte Runde. Da kann man nichts machen, ich muss morgen früh den Zug nehmen!«

Majorchen hört dem Gespräch eine Weile zu und mahlt wütend mit dem Kiefer. Er missbilligt, dass Nobilis den Seiler überreden möchte, vom Glauben abzufallen. Was katholisch ist, sollte katholisch bleiben. Alles möge seinen angestammten Platz behalten.

– Den Behörden sollte man das melden … So etwas darf man

Aus der Dunkelheit ragen die zahnartigen Mauerzinnen des Armenhauses der Gemeinde empor. Über dem mächtigen Gebäude wölbt sich der dunkle Himmel mit seinen eiskalten Sternensplittern. Der abnehmende Mond gleicht einem angeschnittenen Brotlaib. Majorchen trat zwischen die Bettler, die sich auf der Freitreppe versammelt hatten wie Hühner auf einer Hühnerleiter. Sie stammelten mit lautlosen Stimmen Worte ohne Sinn, verstummten, sobald sie Majorchen erblickten, und machten ihm Platz. Der Bettler Chleboun maß mit heroischem Blick seine Gefährten, setzte sich behäbig zwischen sie und begann:

»Tja, Kamil, der Sohn des Herrn Štědrý, des Kaufmanns, ist gekommen. Und alle fragen sich, warum das Jüngelchen gekommen ist. Das weiß keiner. Und er hatte so eine Art Hopsasa-Frack an und auf dem Kopf so ein Ofenrohr. Der Papa, also der Herr Štědrý, der Kaufmann, hat das nicht gern gesehen. Weil er zu sehr angibt. Das gehört sich nicht. Lauf lieber herum wie alle anderen Leute …«

»Lauf herum wie alle anderen Leute«, pflichtete der schwachsinnige Hynek bei.

»In der Stadt, wo er sich aufgehalten hat, hat er sich zu viel erlaubt … und … und … vielleicht sogar, dass er sich mit leichten Weibsbildern … wie sagt man … vergnügt hat.«

»Mit leichten Weibsbildern hat er sich vergnügt …«, wiederholte einfältig Hynek.

»Alle fragen sich, warum er gekommen ist. Die Feiertage sind vorbei, warum also bleibst du nicht, wo du warst? Das deutet auf nichts Gutes hin, sondern auf etwas Schlechtes. Aber anstatt dem Papa eine Freude zu machen und mit ihm zu reden, geht er ins Wirtshaus … spielt Billard.«

Der Bettler verstummte und fuhr dann wieder mit seiner düsteren Prophetenstimme fort: »Es war einmal vor vielen Jahren ein sehr reiches Jahr. Eine Unmenge Getreide war

Aus der Dunkelheit tauchte der Verwalter Wagenknecht auf. Er fuchtelte mit dem Knotenstock durch die Luft, öffnete weit seinen Mund und begann zu brüllen: »Was sehe ich da? Ich dulde keine Versammlungen! Ab ins Bett, verdammtes Gesindel! Sonst werde ich euch …!«

Die Bettler stoben auseinander.

Der Bettler Chleboun, genannt »Majorchen«, machte sich auf den Weg, die Häuser seiner Wohltäter abzuklappern. Im Stadtviertel »Am Sand« machte er nicht halt, denn in diesen krummen Häuschen mit ihren zerzausten Dächern wohnten Menschen, die durch ihre schwere Arbeit verhärtet waren; sie hatten selbst einen allzu hungrigen Magen, und ihre Herzen waren mit Blech beschlagen. Ihre Rücken waren vom ständigen Bücken gekrümmt, und auf ihren missmutigen Gesichtern war die Wut über ihr mühseliges Leben zu sehen. Aber selbst wenn er sich dort in einen Garten getraut hätte, wäre er von einem misstrauischen Hund nicht durchgelassen worden, der in dem Alten mit seiner geflickten Kleidung einen Dieb witterte.

Also blieb er an den solide verputzten Steinhäusern stehen, zog am Klingelgriff und wartete, auf die schlurfenden Schritte im Inneren lauschend, an der Tür. Sobald er bemerkte, dass der Türspion sich öffnete und dahinter ein argwöhnisches Auge auftauchte, begann er, mit seinen eingefallenen Kiefern zu mahlen und unter dem graugrünen Schnauzbart die Worte des Vaterunsers hervorzubringen. In Häusern, wo hinter dem Fenster Spargel oder Fuchsien blühten, bekam er einen Kanten Brot. Fromme Witwen, Pensionärswitwen von Staatsbeamten und alte Jungfern gaben ihm gewöhnlich eine Tasse mit Suppe oder dünnem Milchkaffee, der nach Zichorie schmeckte. Vor der Tür stehend trank er seinen Kaffee und aß auf der Treppe sitzend seine Suppe; bis er alle Häuser abgeklappert hatte, war er ganz aufgedunsen, da er so angefüllt mit Kaffee und Einbrennsuppe war. Er konnte es sich jedoch auf keinen Fall erlauben, in der Schüssel auch nur einen winzigen Rest zurückzulassen, weil seine Wohltäter das als Lästerung empfunden hätten. Für einen Bettler gehört es sich, immer hungrig zu sein, gierig zu essen und nach dem Essen das Haupt aller wohltätigen Menschen zu segnen. Die Brotkanten versteckte er unter seinem Hemd und

An der Hauptstraße befindet sich eine Konditorei, vor deren Schaufenster der Bettler immer eine längere Zeit stehen blieb. Wenn er die mit Cremerollen, Mandelhörnchen und Torten beladenen Platten ansah, begannen seine eingefallenen Kiefer noch schneller zu arbeiten, und sein Schnauzbart hob und senkte sich. Er blickte auf die aufgehäuften Leckerbissen wie ein Raubfisch, der im Wasser steht und, mit seinen Flossen wedelnd, seinen gierigen Blick auf ein Opfer geworfen hat. Er betrat den Laden in der Hoffnung, der Konditor würde ihm ein Stück Torte schenken, der Konditor aber griff in die Schublade und gab ihm einen Dreier. Er verließ den Laden mit trödelndem Schritt und drehte sich noch in der Tür um. Draußen blieb er wieder vor dem Schaufenster stehen und brummte: – Süßkram … Süßkram … So was ist nur für die Herrschaften. Ich könnte mir damit auch den Wanst vollschlagen. Ja, das will ich wohl meinen …

Dann riss er sich fort und lief weiter, seinen missgestalteten Schatten hinter sich her schleppend. Auf dem Marktplatz erblickte er den Kaufmann Štědrý; er stand vor dem Haus und rauchte aus einer Pfeife, auf deren Porzellankopf der Landesherr in Jägertracht abgebildet war. Der Kaufmann trat einige Schritte zurück, um einen Blick auf sein Haus nehmen zu können. Er schaute gerne auf dieses Gebäude, das zu den größten in der Bezirksstadt gehörte. Es war ein einstöckiges Haus mit acht

Plötzlich aber sah er Kamil an der Ladentür und öffnete verwundert seinen Mund. Der fesche Handlungsgehilfe hatte sich verändert. Er trug eine blaue Schürze, und seine Füße steckten in ausgetretenen, geflickten alten Latschen. Der Bettler bemerkte, dass der junge Mann rote Ohren hatte und sein Bärtchen an einer Seite mit der Spitze nach unten hing. Der Kaufmann trieb den Handlungsgehilfen gerade mit einer drohenden Faustbewegung in das Gebäude zurück.

Der Bettler blieb stehen und dachte nach. Wo ist denn der hohe, steife Kragen hin? Wohin sind denn die zitronengelben Halbschuhe verschwunden? Warum ist der Kaufmann Štědrý so wütend?

– Und … und … so … so …, brabbelte er vor sich hin. Hat sich nicht benehmen können, das Söhnchen. Hat den Kopf zu weit oben getragen. Hätte gar nicht kommen sollen. Ist jetzt nicht die Zeit für Besuche. Hat hier nichts zu suchen. Hat nichts Gutes mitgebracht …

Er näherte sich dem Kaufmann und brummelte ein paar Gebetsworte. Er wusste, dass dieser ihn vertreiben würde; in all den Jahren, die er bettelnd um die Häuser zog, hatte er von Štědrý noch nie ein Almosen bekommen, weil der Kaufmann umherziehendes Volk verabscheute. Dennoch führte Chleboun

Er blieb stehen, berührte seinen Hut und fing an, mit seinem Kiefer zu mahlen. Der Kaufmann herrschte ihn an: »Hier gibt es nichts. Gehen Sie in Gottes Namen weiter!«

Der Bettler murmelte einen Gruß, zog den Rotz in der Nase hoch und entfernte sich einige Schritte. Der Kaufmann schaute ihm feindselig hinterher, und ganz plötzlich, als ob ihm etwas eingefallen wäre, rannte er ins Haus. Chleboun aber bog um die Ecke und schlich sich dann zurück zum Haus, neugierig, zu erfahren, was dort drinnen jetzt geschehen würde.

In dem Augenblick schlug das Dienstmädchen die Tür zu, und in der Wohnung hörte man das Getrappel hastiger Schritte. Immer wenn in der Familie Štědrý ein Krawall bevorstand, wurden alle Fenster und Türen geschlossen, damit zu den Nachbarn kein Geräusch dringen konnte. Dennoch konnte der Bettler jedes Wort hören und stellte sich die Szene vor, die sich jetzt hinter der verschlossenen Tür abspielte. Er kannte die Familiengeheimnisse der dickwandigen Häuser.

Er hörte die Stimme des Kaufmanns: »Wo ist dieser Vagabund? Hierher! Zu mir! Ich habe mit ihm mal ein Wörtchen zu reden!«

»Vati, reg dich doch nicht so auf!«, schluchzt Frau Štědrá.

Der Bettler spitzte die Ohren. Was war passiert?