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Kapitel 1     Der Feuertopf im Kleiderschrank

Kapitel 2     Das Zeichen

Kapitel 3     Eine wild gewordene Biene

Kapitel 4     Willkommen in Algravia!

Kapitel 5     Geistertheater

Kapitel 6     Das magische Ritual

Kapitel 7     Der älteste Algravier

Kapitel 8     Das Bild im Stein

Kapitel 9     Mit Stumpf und Stamm

Kapitel 10   Große Klappen unter sich

Kapitel 11   Auge um Auge

Kapitel 12   Ganz dicht dran

Kapitel 13   Mit letzter Magie

Kapitel 14   Abwärts

Kapitel 15   Alles geschafft und alles verloren

Kapitel 16   Eine riesige Überraschung

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Wie ein schwerer, schwarzer Mantel legte sich die Silvesternacht über die kleine Stadt Mühlfeld.

Vicky lehnte am Geländer auf der Dachterrasse ihres Hauses, stützte den Kopf in ihre Hände und seufzte tief. »’ne Zeitmaschine müsste man haben …«, murmelte sie sehnsüchtig. Vor einem Jahr hatte Vicky Silvester auch auf einem Dach gefeiert, aber damals war die Aussicht eine ganz andere gewesen: hohe Häuser, so weit das Auge reichte, bunt blinkende Lichter und in der Ferne etwas, das aussah wie eine riesige Spargelstange aus Metall – der Berliner Fernsehturm.

Heute Abend sah Vicky nur niedrige Häuser, eine kleine Kirche und einen verwitterten Wachturm, der wie ein Stinkefinger in den Himmel ragte. Vicky vermisste ihr altes Zuhause so sehr, dass es fast wehtat. Auch den großartigen Lärm dort!

Alles, was sie jetzt hörte, war das Dudeln der Musik, die auf der langweiligsten Party der Welt gespielt wurde. Vor dieser Party war Vicky aufs Dach geflohen.

Nur passierte hier oben leider auch nichts Spannendes.

Vicky lauschte. »Komisch«, meinte sie und schaute auf ihre Armbanduhr. 18 Uhr 30. »Hab ich Brokkoli in den Ohren? Wieso böllert hier nix?!«

Aus Berlin war Vicky es gewöhnt, dass Eltern mit kleineren Kindern bereits am frühen Abend Feuerwerke zündeten. Doch hier in Mühlfeld – Totenstille. Noch. Das würde sich bald ändern!

Über Vickys Gesicht huschte ein Grinsen. Im Schrank in ihrem Zimmer lagen richtig coole Feuerwerkskörper bereit! Die Böller waren noch vom letzten Jahr übrig geblieben und warteten nur auf ihren Einsatz. Conrad und Mila würden Augen machen …

Fünf Minuten später sah Vicky ihre beiden Freunde den Fußweg zum Haus entlangkommen. Sie winkte fröhlich, dann flitzte sie voller Vorfreude die Treppen hinunter. Schnell huschte sie an der offen stehenden Wohnzimmertür vorbei, aus der einschläfernde Musik und Stimmengemurmel drangen. Zum Glück wurde sie von keinem der Gäste bemerkt.

Als sie die Haustür öffnete – so leise wie möglich –, trompetete Conrad zur Begrüßung: »Hallo, Vicky!«

Vicky drückte ihrem Freund die Hand auf den Mund. »Pst, Mann! Geht’s auch bisschen leiser als in Elefantenlautstärke?«

Conrad schüttelte verwirrt den Kopf und schob Vickys Finger aus seinem Gesicht. »Hm? Ich hab doch ganz normal …«

»Klappe, echt jetzt!«

Mila kicherte. »Du benimmst dich ja wie eine Einbrecherin in deinem eigenen Haus.«

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Vicky blickte prüfend zur offenen Wohnzimmertür. »Ich glaub, sie haben nix gemerkt. Noch mal Glück gehabt«, flüsterte sie.

»Lauern da wilde Löwen im Wohnzimmer?«, fragte Mila.

»Ich wünschte, meine Mutter hätte ein paar Löwen zur Silvesterparty eingeladen«, seufzte Vicky. »In Wirklichkeit ist es schlimmer. Viel schlimmer, glaubt mir, Leute. Und jetzt macht schnell und zieht eure Jacken aus. Aber bitte leiiise …«

Nachdem Conrad und Vicky ihre Jacken und Stiefel ausgezogen hatten, lotste Vicky sie an der offenen Wohnzimmertür vorbei. »Hier alle auf mein Kommando. Es sei denn, ihr seid scharf drauf, vor Langeweile abzukratzen. Also, auf drei: Eins – zwei …«

Bei »drei« huschte Vicky los. Ihre Freunde folgten ihr und warfen beim Vorbeilaufen einen kurzen Blick ins Wohnzimmer. Als sie in Vickys Zimmer angekommen waren, gluckste Conrad: »Ach so, deine Mutter hat unsere Lehrer eingeladen.«

Vicky nickte stöhnend. »Jeden einzelnen. Völlig verrückt.«

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»Als Rektorin muss man das wohl. Entweder alle oder keinen«, verteidigte Mila Vickys Mutter, die seit einem halben Jahr die Mühlfelder Schule leitete. »Meinst du, wir sollten unten nicht wenigstens kurz Hallo sagen?«

Energisch schloss Vicky die Zimmertür. »Dir ist wohl da draußen der Verstand eingefroren. Sag einem Lehrer mal kurz Hallo, und du kommst aus der Kiste ’ne Stunde nicht mehr raus!«

»Jetzt übertreibst du aber …«

»Du hast ja keine Ahnung. Ich hab das vorhin schon mitgemacht.« Vicky verstellte die Stimme, sodass sie wie eine Erwachsene klang: »Ooooh, Viktoria, wie reizend, dich einmal außerhalb des Klassenzimmers zu sehen. Was für ein entzückendes Haus ihr habt! Und dieses Foto von dir, ist das etwa in Rom? Findest du nicht auch, dass Rom eine ganz faszinierende Geschichte hat?«

Conrad und Mila lachten.

»Habt ihr was zu essen mitgebracht?«, stutzte Vicky und beugte sich neugierig über einen Topf, den Mila in den Händen hielt. Darin lagen kleine bunte Stummel. »Ist das etwa Knete?«

»Nein, Wachs!«, sagte Mila lächelnd. »Das sind Kerzenreste. Fürs Wachsgießen!«

»Wachsgießen?«, fragte Vicky. »Ist das so was wie Bleigießen?«

Conrad nickte. »Nur weniger giftig.«

Vicky zuckte die Schultern. »Ob Wachs oder Blei, das ist doch nur was für Babys, oder? Ich hab was viel Besseres vorbereitet! Hehe …« Mit wichtiger Miene ging Vicky zu ihrem Kleiderschrank. Sie öffnete die Tür und zog eine Plastiktüte unter den T-Shirts hervor. Die Tüte knisterte verheißungsvoll.

»Was ist denn da drin?« Conrad schaute neugierig in die Tüte und zog einen Feuerwerkskörper daraus hervor. Er war fast so lang wie Conrads Arm. »Feuertopf«, las er die Beschriftung laut vor.

»Toller Name für ’ne Rakete, oder?«, lachte Vicky. »Und die hier sind auch super!« Sie wühlte weiter in der Tüte. »Vulkan, Superkreisel, Höllenböller …«

»Du lagerst Feuerwerk in deinem Kleiderschrank?«, fragte Mila unbehaglich. »Hast du keine Angst, dass es losgeht und alles in Brand setzt?«

Vicky winkte ab. »Quatsch, ohne Zündung geht da gar nix los. Oh Mann, ich kann’s kaum erwarten!«

»Was kaum erwarten?«, wunderte sich Conrad.

»Die Raketen steigen zu lassen! Was denn sonst? Das wird der Knaller des Jahrhunderts!!«

»Ähm, Vicky«, bremste Conrad sie vorsichtig. »Also, ich sag’s dir nicht gerne, aber …«

Was Conrad ihr dann verriet, ließ Vickys Augen so groß werden, als wäre draußen am Himmel ein Feuertopf explodiert.

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»Verboten? Wie jetzt … verboten?«

Vicky starrte Conrad und Mila an wie zwei verspätete Weihnachtswichtel.

»Verboten wie nicht erlaubt«, sagte Conrad trocken. »Jedenfalls nicht, wenn es höher als einen Meter fliegt.«

»Seit wann gilt denn so eine bescheuerte Regel?!«, fragte Vicky empört.

Conrad zuckte mit den Schultern. »Immer schon, solange ich mich erinnern kann.«

»Feuerwerk ist ja auch nicht ganz ungefährlich«, schob Mila nach.

»Hallo, geht’s noch? Das ist ja gerade das Spannende, dass es gefährlich ist«, beharrte Vicky. »Und überhaupt, Silvester ohne Feuerwerk, das ist ja wie ein Haifisch ohne Zähne!«

»Es gibt ja Feuerwerk«, erwiderte Conrad. »Die Stadt macht eins, sogar ein ziemlich großes. Von eurem Dach aus kann man es bestimmt prima sehen!«

»Pah, wenn man das Feuerwerk nicht selber zündet, macht’s keinen Spaß. Das ist mal wieder typisch Mühlfeld! Alles was nach Spaß riecht, wird verboten. Ein richtiges Langweiler-Dorf.« »Mühlfeld ist eine Stadt. Und du musst ja nicht hierbleiben, wenn’s dir nicht gefällt«, gab Conrad mit funkelnden Augen zurück. »Zieh doch wieder nach Berlin, wenn da alles so viel toller ist.«

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Vicky holte Luft, um Conrad eine gepfefferte Antwort zu geben, doch Mila ging dazwischen: »Schluss jetzt! Wenn man sich an Silvester streitet, bringt das Unglück für das nächste Jahr.«

»Das hast du dir doch gerade ausgedacht«, brummte Vicky. »Tja, und was machen wir stattdessen?«

Zur Antwort ließ Mila die Kerzenstummel in ihrem Kochtopf klappern.

Am Anfang fand Vicky das Wachsgießen cooler als gedacht. Das Wachs auf Löffeln über einer flackernden Kerze schmelzen zu lassen und dann mit Schwung in den wassergefüllten Topf zu kippen, war irgendwie lustig. Die Figuren, die dabei herauskamen, gefielen ihr allerdings weniger.

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»Was ist denn das für ein doofer Knubbel?«, stöhnte sie, als sie ihre erste Wachsfigur aus dem Wasser fischte.

»Die Wachsfigur zeigt dir deine Zukunft«, sagte Mila vollkommen ernst.

Vicky musste lachen. »Meine Zukunft sieht aber ziemlich matschig aus!«

»Du musst schon etwas deine Fantasie anstrengen«, belehrte Conrad sie.

»Oookay, wenn’s euch Spaß macht …« Lustlos drehte Vicky die unförmige Wachsfigur zwischen den Fingern. »Hmmm. Sorry, bei mir macht’s gerade echt nicht klick.«

»Ich hab eine Idee!« Conrad schnipste. »Vielleicht wenn wir das Licht ausmachen …« Er huschte zum Lichtschalter. Klack. Im nächsten Moment erfüllte nur noch Kerzenlicht das Zimmer.

Conrad zupfte Vicky die Wachsfigur aus den Fingern und hielt sie zwischen die Flamme und die Wand.

»Was für ein Monsterschatten!«, hauchte Vicky. »Das ist ja …« Auf einmal stockte sie und atmete tief ein. Auch ihre Freunde schnappten hörbar nach Luft.

Der Schatten an der Wand hatte nichts mehr mit dem rundlichen Wachsknubbel, den sie aus dem Wasser gefischt hatte, zu tun. Er besaß eindeutig fünf Zacken, die ein wenig schräg in verschiedene Richtungen zeigten.

»Leute …«, murmelte Vicky, »findet ihr auch, dass das verdammt so aussieht wie …«

»… der Drei-Magier-Stern«, wisperten Conrad und seine Schwester.

Der Drei-Magier-Stern stand für ein gewaltiges Geheimnis der drei Freunde. Er zeigte sich immer, wenn ein Abenteuer in der magischen Welt Algravia kurz bevorstand. Eine Welt, die Conrad, Vicky und Mila schon dreimal heimlich besucht hatten. Seit der letzten Reise nach Algravia waren allerdings schon einige Wochen vergangen.

Umso aufgeregter wurde Vicky, als sie den sternförmigen Schatten an der Wand betrachtete. Im flackernden Kerzenschein wirkte er beinahe lebendig.

In Vickys Bauch kribbelte es. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance auf ein richtig spannendes Silvester! Sie streckte ihre Hand nach dem Schatten aus …

Plötzlich flog die Tür auf und Vickys Mutter platzte ins Zimmer. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte und ein Partyhütchen saß schräg auf ihrem Kopf.

»Sagt mal, habt ihr keinen Hunger?«, fragte sie aufgedreht. »Das Buffet ist eröffnet! Kommt, sonst futtern wir euch alles weg!« Sie lachte laut und sah sich um. »Warum habt ihr es so dunkel hier drin? Ist deine Lampe kaputt, Vicky?«

Klack. Das Licht ging wieder an.