Meißner, Regina Seductio – Von Dunkelheit getragen

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Kapitel 1

Die Luft kühlte mit jeder Sekunde ab. Wohin ich auch sah, aus allen Ecken krochen Unheil und Angst. Nacheinander stellten sich die feinen Härchen auf meinen Armen auf. Das Wort, das ich nie mehr hören wollte und von dem ich mir in letzter Zeit sicher war, es besiegt zu haben, hallte in meinen Ohren wider, als lachte es mich aus. In diesem Moment prasselten Tausende Emotionen auf mich ein, sie kämpften miteinander, doch einen Sieger gab es nicht. Wütend, traurig und schockiert zugleich sah ich Kilian Aven an, der in die Ferne starrte, als würde es mich nicht geben. Vielleicht war es untypisch, dass ich nicht sofort an Flucht dachte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wegzulaufen, solange der Hauch einer Chance dazu bestand. Doch genau jenes normale Verhalten war mir nun unmöglich. Statt nach einem geheimen Weg zu suchen, stand ich bewegungslos neben ihm, während Gefühle auf mich einschlugen wie die Peitsche eines Zirkusdompteurs. Ich kam mir dumm und naiv vor, doch diese Empfindungen schrumpften, als ich daran dachte, aus welchem Grund mein Herz wirklich klopfte.

»Kil …«, noch immer gewohnt und sicher entschlüpfte das Wort meinen Lippen, doch dann schüttelte ich den Kopf, besann mich eines Besseren. Was tat ich hier überhaupt? Was wollte ich ihn fragen? In mehr als einer Hinsicht waren die Tatsachen offensichtlich. Zorn stieg in mir auf, mischte sich zu den anderen Gefühlen und verwandelte meinen Charakter in etwas, das jede Minute in die Luft gehen konnte. Und dann, endlich, begriff ich. Mit dem Verstehen kam der Drang, zu fliehen. Panisch, zu schnell, als dass Kil es wirklich mitbekommen konnte, blickte ich um mich herum. Der Weg, auf dem wir uns befanden, war lang und schmal, dadurch, dass Häuser ihn säumten, machte er mir eine Flucht nach links oder rechts unmöglich. Wahrscheinlich würden die engen Wege zwischen den Gebäuden lediglich in Sackgassen münden, und das durfte ich nicht riskieren. Also blieb nur noch die Möglichkeit, den Weg zu benutzen, den wir auch eben genommen hatten. Obwohl mein Herz vor Angst immer lauter schlug und ich nicht wusste, was als Nächstes geschehen konnte, arbeitete mein Gehirn insoweit, dass ich noch fähig war, einzuschätzen, wie lange wir etwa gelaufen waren, bevor wir nach Embonis kamen. Der Weg, so überschlug ich schnell, hatte kaum eine Minute gedauert. Kil blickte noch immer starr geradeaus. In einer einzigen, blitzschnellen Bewegung drehte ich mich um. Ich hörte das Blut in mir rauschen, während ich berstenden Atems die Straße hinablief. Jeder Meter, den ich hinter mich brachte, wäre ein Geschenk. Unangenehm laut hallten meine Schritte in meinen Ohren wider, sie waren so geräuschvoll, dass sie mich für jedes andere Geräusch taub machten. Tränen traten in meine Augen, so schnell rannte ich. Abwechselnd wurde mir heiß und kalt, als ich spürte, dass ich dem Ziel immer näherkam. Schon erkannte ich das Tor, durch welches wir Embonis betreten hatten, wieder. Zehn, höchstens fünfzehn, Meter trennten mich noch von dem Ausgang. Ich spürte, wie meine Lunge kollabierte. Unkontrolliert fuchtelten meine Arme in der Luft herum.

Ich hörte die Schritte wenige Sekunden bevor ich es hätte schaffen können. Mit dreifacher Geschwindigkeit laufend, spürte ich, wie jemand auf mich zurannte. Nur für einen Moment blieb ich stehen, nur für einen Moment versagten meine Beine ihren Dienst. Doch genau dieser Augenblick war es, der meinen Plan zerstörte. Kraftlos sank ich in mich zusammen, ob vor Angst oder Schmerz, ich wusste es nicht. Schon versuchte ich mich wieder zu erheben, wollte die Beine durchdrücken, doch die Schritte waren zu laut in meinen Ohren. Sie überdeckten alles, ließen mich nicht mehr klar denken. Ich begann zu schreien, obgleich kein Ton meinen Lippen entwich. Ich begann zu wimmern, obwohl sich mein Gesicht nicht verzog. In der nächsten Sekunde spürte ich sie. Grob packte mich einer der beiden Männer am Arm und drehte ihn mir schmerzhaft auf den Rücken. Nur mit Mühe konnte ich einen Aufschrei unterdrücken. Bevor mein Bein hochschnellte, hatte ein anderer Mann mich von hinten bewegungsunfähig gemacht. Ich biss, spuckte, schrie und tat alles, was mir einfiel, aber die Griffe der Fremden waren unerbittlich. Grob zog mich der Mann, der meinen Arm festhielt, auf die Beine. Sogleich kam ihm sein Freund zu Hilfe. Zusammen schafften sie es, meine Hände zu fesseln. Mehrere Male war es mir gelungen, dem Strick zu entkommen, doch letztlich war ich nicht schnell genug und gab auf. Ich musste ihnen nur ein einziges Mal in die kalten Augen schauen, um zu erkennen, was sie waren. Decessaren. Schatten.

Fünfzehn Jahre meines Lebens war ich davongelaufen. Fünfzehn Jahre lang hatte ich es immer wieder geschafft. Aber nun, wenige Monate vor meinem zwanzigsten Geburtstag, war es für immer zu spät.

Ich spürte, wie mich der kleinere der Männer am Nacken fasste. Immer, wenn ich wegzulaufen versuchte, griff er ein bisschen fester zu. Er zeigte mir die Richtung, in die ich zu gehen hatte. Schafften meine Füße es nicht, sich schnell genug zu bewegen, wurde mir hart in den Rücken geschlagen.

»Ganz ruhig, Mädchen«, flüsterte mir der Fremde ins Ohr, doch sein hämisches Grinsen strafte ihn Lügen. »Es wird dir viel weniger wehtun, wenn du uns einfach gleich gehorchst.« Zu gern hätte ich ihm einen bissigen Blick geschenkt, aber meine Wange pochte noch von der Ohrfeige, die der Mann mir eben verpasst hatte, als ich ihm ausweichen wollte.

»Na los, geht das auch ein bisschen schneller?«, schrie der andere. Im Gegensatz zu seinen Kumpanen war er groß und stattlich gebaut, hatte lange, schwarze Haare. Etwas Wildes lag in seinem Gesicht. Unter anderen Umständen hätte ich ihn vielleicht hübsch gefunden, aber nun empfand ich nur Abscheu. Kil stand noch immer da, wo ich ihn verlassen hatte, aber nichts glich mehr der unentschlossenen Haltung von eben. Stattdessen begrüßte er die beiden Männer selbstsicher, sein Kopf war in die Höhe gereckt, die Lippen streng aufeinandergepresst. Verzweifelt suchte ich nach einer Regung, die ihn verriet. Ein nervöses Flackern, das in seinen Augen aufblitzte. Schwitzende Hände. Doch egal, wie genau ich hinsah, nichts strafte seine Haltung Lügen. Gleichgültig schaute er auf mich herab, als die Wachen mich vor seine Füße warfen. Bevor ich einen erneuten Fluchtversuch starten konnte, umkreisten sie mich.

»Verdammt!«, entwich es mir, auch wenn ich mir vorgenommen hatte, zu schweigen. Genauso wenig wollte ich abwartend auf Kilians Gesicht schauen, doch genau das tat ich.

»Hier ist die Kleine«, sagte der untersetzte Mann und strich sich durch die fettigen Haare. »Ganz, wie Sie befohlen haben.« Stolz reckte er seine Brust.

»Danke, Jupiter«, erwiderte Kil knapp. Noch immer starrte ich ihn einfach nur an. Mir war es, als hätte ich einen anderen Menschen vor mir. Er schenkte mir keinen Blick mehr, sondern wandte sich direkt an die beiden Männer.

»Bringt sie in den Kerker.«

»WAS?«, schrie ich. Irgendwie schaffte ich es, mich aufzurichten. Nur kurz blickte Kil zwischen den Männern auf mich herab, ging auf meinen Protest aber nicht ein. Wut manifestierte sich in mir, heiß und lodernd wie ein Feuer.

»Was ist mit dir los?«, setzte ich meine Schimpftirade fort. »Was fällt dir eigentlich ein? Ich dachte, ich bin eure Retterin, da kannst du … au!«

Sterne tanzten vor meinen Augen, als ich den Schlag von Jupiters Hand auf meiner Wange spürte. Hitze stieg in meinem Gesicht auf, mir wurde übel. Kurz glaubte ich, mich übergeben zu müssen, doch als ich langsam meine Lider hob, verschwand das Schwindelgefühl.

»Wage es nicht, so mit dem …«, zeterte Jupiter, aber Kil fuhr ihm ins Wort.

»Ich glaube nicht, dass du irgendetwas sagen musst«, zischte er ihn von der Seite an. Augenblicklich verstummte der dicke Wachmann. Schuldbewusst senkte er den Kopf, was ihn allerdings nicht daran hinderte, mich weiterhin hasserfüllt anzuschauen.

»Wie gesagt. Bringt sie in den Kerker! Mein … Eure Hoheit entscheidet, wie weiter mit ihr verfahren wird.« Kil deutete auf ein verlassen wirkendes Gebäude, das auf einem Hügel lag.

Kerker. Wie falsch man doch »Ich will nicht mehr ohne dich leben« interpretieren kann.

Ich wollte ihn nicht mehr anschauen, wollte ihn nicht mehr vor mir sehen. Fest kniff ich die Augen zusammen und wartete auf mein Schicksal.

»Sollen wir Eurer Hoheit ausrichten, dass das Mädchen da ist?«, hörte ich die Stimme des Dunkelhaarigen.

»Nein«, verkündete Kil sofort. »Ich werde den Fürsten selbst aufsuchen. Es wäre nicht klug, wenn er die Neuigkeit aus zweiter Hand erfährt. Ich habe ohnehin einiges mit ihm zu besprechen.«

Aufgeblasener, von sich selbst überzeugter Idiot!

»Wenn ich eine persönliche Frage äußern dürfte …« Erneut hatte Jupiter das Wort ergriffen.

»Was gibt es denn?« Kil klang arrogant, gelangweilt und fremd.

»Haben Sie vor, in Embonis zu bleiben? Nun, da …« Er stoppte.

»Ich wüsste nicht, in welcher Hinsicht dich meine Pläne tangieren könnten.«

»Ich … war nur neugierig.«

»Du weißt, was der Fürst mit denen macht, die neugierig sind.« Drohend drang Kils Stimme an mein Ohr.

»Es wird nicht wieder vorkommen«, beeilte sich Jupiter zu sagen. Als ich die Augen zufällig öffnete, sah ich, wie er sich halb verbeugte. Irritiert blickte ich von Kil zu ihm. Welche Rolle spielte Kil in Embonis?

»Was steht ihr noch hier herum? Ergreift sie!«

Die nächsten Minuten nahm ich alles wie in Trance wahr. Zwar spürte ich, wie die Wachen sich zu mir hinunterbeugten, mich aufhoben und quer durch das Dorf schleiften, aber nichts von all dem berührte mich wirklich. Es war, als hätte mein Körper eine Art Schutzmechanismus aufgebaut, der es mir erlaubte, mein eigenes Leben durch die Augen einer anderen wahrzunehmen.

»Ich kann kaum glauben, dass er es endlich geschafft hat«, meinte der Dicke fassungslos. Er hatte Mühe, sich dem Tempo des groß gewachsenen Mannes anzupassen. Keuchend hielt er knapp mit ihm Schritt.

»Der Fürst wurde auch langsam ungeduldig«, pflichtete ihm der Langhaarige bei. »Ich weiß nicht, wie lange das noch gut gegangen wäre.«

»Soweit ich es mitbekommen habe, hat er sich nicht an die Anweisungen gehalten. Zum Schluss soll er sich gar nicht mehr gemeldet haben.«

»Na ja, er musste ihr volles Vertrauen gewinnen. Sonst hätte er sie nicht in unsere Arme geführt.« Er lachte laut und schallend. Jeder Ton stach auf mich ein wie ein Messer. Sie sprachen über mich, als wäre ich nicht anwesend.

Unzählige Male hatte ich mir ausgemalt, wie ich mich in Embonis fühlen würde. Wut, Angst und Ungerechtigkeit waren durch meine Gedanken gegeistert. Wut, weil ich nie hatte nachgeben wollen. Angst, weil ich mich davor fürchtete, was passieren würde, wenn das Tor geöffnet wäre. Und Ungerechtigkeit, weil von allen Frauen auf dieser Welt das Schicksal ausgerechnet mich hatte auswählen müssen. Nun, wo ich mich in Embonis befand, fühlte ich all das: Wut, Angst, Ungerechtigkeit. Aber war es eine andere Emotion, die sich nun an die Oberfläche drängte. Anfangs klein und unbedeutend, war sie in den letzten Minuten um das Tausendfache gewachsen: Verrat. Ich fühlte mich verraten.

»Irgendwie habe ich sie mir anders vorgestellt. Nicht so … menschlich. Sie sieht echt aus wie ein Mensch.«

»Aber genauso wurde es uns doch prophezeit. Außerdem ist sie ein Mensch. Eine Frau unter vielen, die wir nun endlich gefunden haben.«

Jupiter schaute auf mich herab.

»Sie wehrt sich gar nicht mehr. Hätte nicht gedacht, dass sie so leicht aufgibt.«

Als auch der Dunkelhaarige meinen Blick suchte, schloss ich die Augen. Obwohl ich es war, wollte ich nicht als schwach gelten. Sie sollten mich nicht als das kraftlose Mädchen einstufen, das ich vorgab zu sein. Sie sollten Angst vor mir haben, zur Seite weichen, kaum, dass sie mich sahen. Doch in Wirklichkeit würde niemand mehr vor mir erzittern. Ich war Kil in die Falle gelaufen. Auf eine erschreckend einfache Art und Weise hatte er es geschafft, all meine Zweifel zu zerstreuen. Er hatte es geschafft, dass ich mich ihm wie eine liebeskranke Jungfer hingab. Meine Hand ballte sich zu einer Faust, doch ich schaffte es nicht, dem Druck standzuhalten. Schwach lösten sich die Finger aus dem Griff.

»So ist es doch bei den meisten. Große Klappe und nichts dahinter. Wir haben viel zu viel Zeit mit der Suche verschwendet.«

Der Weg unter meinen Füßen veränderte sich. Er wurde steiniger. Irgendwann gingen wir eine kleine Anhöhe hoch.

»Ich bin gespannt, wann sich der Fürst mit ihr vereinen wird. Glaubst du, wir dürfen dabei sein?«

»Das wage ich sehr zu bezweifeln, Jupiter.«

»Warum, Ayden? Es ist das Größte, was je für das Volk getan werden wird. Ich finde es nur logisch, dass wir da auch anwesend sind.«

Spöttisch antwortete der Dunkelhaarige: »Du kannst ja um eine Audienz bei dem Fürsten bitten und ihm dein Anliegen vortragen.«

»Musst du immer jedes meiner Worte auf die Goldwaage legen? Es war doch schließlich nur ein Vorschlag. Den wird man ja wohl äußern dürfen.« Scheinbar beleidigt verstummte Jupiter.

Es kostete mich zusehends mehr Kraft, den Hügel zu erklimmen. Ab und an mussten mich die Wachen stützen, auch wenn ich darauf beharrte, allein zu gehen. Ungelenk stolperte ich über einen Stein auf dem Boden.

»Kannst du nicht aufpassen, wo du langgehst?«, schrie mich Ayden an. Stumm schüttelte ich den Kopf. Nein, anscheinend konnte ich das nicht mehr. Überhaupt fühlte ich mich wie zerfallen und wieder zusammengesetzt. Ich hatte keine Ahnung, wie es weiterging. Ob es überhaupt weitergehen würde. Kil hatte von einem Kerker gesprochen. Genau diesen erreichten wir jetzt. Erst ließ Jupiter von mir ab, dann öffnete er umständlich eine schwere Tür. Meine Augen waren wieder geöffnet. Manchmal schien es leichter, den Tatsachen mit wachem Blick zu begegnen. Ayden schob mich in einen kalten Raum, der mich spontan an eine Gruft erinnerte. Kahle Steinwände erzählten die Geschichten des Todes. Eine lange Wendeltreppe teilte den Raum auf – einmal führte sie nach oben, einmal nach unten.

»Bloß keine Müdigkeit vortäuschen, Mädchen!«, drängte Ayden mich.

Ich wurde in den unteren Teil des Kerkers geführt. Meine Knie schmerzten mit jeder Stufe, die ich nahm. Auch hier, im Inneren des Hauses, war es mir unmöglich, zu fliehen. Wie ein Bodyguard schlich Ayden hinter mir her, während Jupiter mich von vorn einzäunte. Einhundertsechsundzwanzigmal musste ich meine Knie nach unten beugen, bevor wir einen breiten Gang erreichten, der von mehreren Zellen gesäumt war. Vorsichtig warf ich einen Blick in die winzigen Räume, doch keiner von ihnen schien besetzt zu sein. Ayden schob mich unsanft nach vorn, bis wir eine Zelle erreichten, deren Boden mit etwas Stroh ausgelegt war. Ohne ein Wort der Erklärung zog Jupiter einen gewaltigen Schlüsselring aus seiner Hosentasche. Forsch griff er nach meinen Händen und entknotete die Fesseln. Aus einem Reflex begann ich, mir die schmerzenden Stellen zu massieren. Ayden beobachtete mich aufmerksam.

»Na los, schließ schon auf!«, herrschte er dann Jupiter an.

Dieser entsperrte das Schloss umständlich. Ayden riss die Tür auf. Er war es auch, der mich losließ und mir einen Schubs versetzte, sodass ich mit den Knien zuerst auf dem Boden aufkam. Mühsam unterdrückte ich einen Schmerzensschrei. Die Zähne zusammenbeißend, drehte ich mich um, doch die beiden Männer hatten bereits abgeschlossen und mir den Rücken zugedreht.

»Wartet!«, rief ich ihnen hinterher und merkte, dass meine Stimme klein und brüchig klang. »Was passiert jetzt mit mir?« Doch meine Frage verhallte in dem großen Gefängnis. Auf ihrem Weg zur Treppe drehten sich die Wachen kein einziges Mal um.

Mein erster Impuls war, an den dicht angeordneten Gitterstäben zu rütteln. Anschließend überprüfte ich das Schloss der Tür, hatte aber auch da keinen Erfolg. Verzweifelt sah ich mich nach einem anderen Fluchtweg um und spürte schon eine kleine Hoffnung, als ich ein winziges Fenster schräg über mir sah, das einen Spalt offen stand. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um es näher zu inspizieren. Das positive Gefühl verschwand schneller, als es gekommen war, denn das Fenster war ebenfalls vergittert und erwies sich für eine Flucht als viel zu klein. Noch immer nicht aufgeben wollend, rannte ich in der Zelle auf und ab, klopfte die Wand ab, war auf der Suche nach Löchern oder zumindest Rissen im Putz. Wie eine Wahnsinnige durchwühlte ich das Stroh auf dem Boden. Vielleicht hatte ein Insasse vor mir ein Messer hinterlassen oder einen spitzen Gegenstand. Es musste doch irgendetwas geben, mit dem ich die Wand so bearbeiten konnte, dass ich fliehen konnte. Ekel überkam mich, als meine hektischen Hände unter dem nassen Stroh das Skelett einer Maus fanden. Schnell wandte ich mich ab. Ein Teil von mir wusste, dass ich durchdrehen würde, wenn ich mir eingestand, dass Weglaufen nicht möglich war. Daher ging ich noch einmal alle Möglichkeiten durch. Vielleicht hatte ich ja etwas übersehen. Vielleicht war ich beim ersten Mal einfach zu hektisch vorgegangen. Doch schon bald hatte ich keine andere Wahl, als aufzugeben.

Seufzend ließ ich mich auf den Boden sinken. Eines wusste ich nun mit Sicherheit: Aus der Zelle gab es kein Entkommen. Wie lange sie mich wohl hierlassen würden? Wer würde nach mir schauen, um zu überprüfen, dass es mir gut ging? Automatisch verzog sich mein Gesicht. Von gut gehen konnte man wohl kaum sprechen. Ich genügte ihnen lebendig, also würden sie auch nicht viel mehr tun, als mich am Leben zu halten.

Sobald sich meine Gedanken an Flucht gelegt hatten und ich nicht mehr vernahm als mein noch immer klopfendes Herz, prasselten Hunderte Gefühle auf einmal auf mich ein. Schon oft war es mir gelungen, den Schatten in letzter Sekunde zu entkommen, aber nach Embonis war ich noch nie gekommen. Freudlos lachte ich auf, als ich an Kils Frage auf dem Spaziergang dachte. Mehrmals sollte ich ihm versichern, dass ich ihm vertraute. Und ich dumme Gans hatte genau das getan. Ich hatte mein Herz offen vor ihn gelegt, mich ihm als die zu erkennen gegeben, die ich war, und ihm sogar meine geheime Gabe gezeigt. Etwas zog sich in mir zusammen, als ich an den Moment zurückdachte, in dem ich Kil an meinen Erinnerungen teilhaben ließ. In dem ich ihm gestattete, das zu fühlen, das ich damals empfunden hatte. Unweigerlich begann ich zu frösteln.

Kil war ein Schatten. Die Tatsache lag auf der Hand, aber die Logik sprach gegen ihn. Er war zu … menschlich, um ein Schatten zu sein. Er aß, schlief und sprach wie jemand meiner Art. Ein Mensch konnte er aber nicht sein, denn niemals würde ein gewöhnlicher Homo sapiens hinter die Tore von Embonis kommen.

Ein tropfendes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Neugierig starrte ich nach oben, um herauszufinden, woher es kam. Erst jetzt sah ich, dass ein Sturm vor dem Fenster wütete. Dicke, große Tropfen regneten schräg durch die Gitterstäbe auf das Heu. Schnell erhob ich mich. Eine Fensterscheibe fehlte, davon abgesehen gab es nichts, das mich vor dem Unwetter schützte. Hektisch schob ich das Stroh in eine Ecke, die vom Regen verschont blieb. Frierend sank ich zurück auf den Boden und befühlte meine schmerzenden Wangen. Noch immer glühten sie von der Wucht der Ohrfeigen, der sie eben ausgesetzt waren. Auch mein Rücken stach unangenehm. Tante Grace und ich hatten damals oft darüber gesprochen, wie mein Empfang in Embonis ablaufen würde. Zwar unterschieden sich unsere Vorstellungen in den Details voneinander, aber waren wir nie auf die Idee gekommen, dass man mich einsperren würde. Eher hatten wir mit einem großen Empfang gerechnet, da ich ja eine Art Retterin darstellte.

Die Widersprüchlichkeit der Ereignisse stahl sich in meine Gedanken. Wenn Kil es darauf angelegt hatte, mich den Schatten auszuliefern, wieso hatte er es nicht viel früher getan? Schon der Tag, als ich zu ihm in das Auto gestiegen war, wäre eine Möglichkeit gewesen. Aber nein. Stattdessen hatte er sich Monate für ein Problem Zeit genommen, das von großer Dringlichkeit erzählte. Übersah ich etwas oder ergaben seine Handlungen tatsächlich keinen Sinn? Und vor allem: Wieso hatte er vorgespielt, mich zu lieben? Stärkte es sein männliches Ego, Frauen schwach zu sehen und sich selbst unwiderstehlich zu fühlen? Irritiert schüttelte ich den Kopf.

Als Schritte laut wurden, erwachte ich aus einer Art Schlummer. Erschrocken richtete ich mich auf und spähte in die Dunkelheit hinein, die nur von wenigen Wandfackeln durchbrochen wurde. Dass in Embonis moderne Technik keinen Einzug gehalten hatte, passte zu seiner düsteren Geschichte. Ich war darauf bedacht, keinen Laut von mir zu geben, und doch raschelte das Stroh verräterisch unter meinen Füßen. Scharf zog ich die Luft ein. Die Schritte kamen immer näher. Mittlerweile konnte ich hören, dass es sich um mehr als einen Schatten handeln musste. Wussten sie, dass ich hier unten eingesperrt war? Waren sie möglicherweise gekommen, um mir Nahrung und etwas Wasser zu bringen? Da ich nicht wusste, was auf mich zukommen würde, bekam ich Angst. Instinktiv presste ich mich enger gegen die kalte Gefängniswand. Bald waren die Schritte ganz nah. Mir gelang es, einen Blick auf die Männer zu erhaschen, als sie unter eine Fackel traten. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ein eingefallenes, faltiges Gesicht und die Schatten zweier weiterer Personen, die neben dem anderen herliefen. Drei Männer, nur um mir etwas zu essen zu bringen? Etwas hochgegriffen. Ich hielt den Atem an, als sie vor meiner Zelle haltmachten. Einer der Fremden trug eine Fackel in der Hand. Ich hoffte, dass nur ich sein, er aber nicht mein Gesicht sah. Innerlich tausend Tode sterbend, wartete ich auf den Moment, in dem sie endlich verschwanden.

»Cal, ich übernehme die erste Schicht. Koral, positioniere dich dort, wo eben Evan gestand hat«, polterte einer der Männer.

»Ist Evans Schicht schon vorbei?«

»Seit dreißig Minuten.«

»Heißt das, die Gefangenen waren eine halbe Stunde unbeaufsichtigt?« Die Stimme des Fremden klang gefährlich.

»Ich habe euch schon hundertmal gesagt, dass wir die Dinge etwas ernster nehmen müssen.« Ich erkannte den ersten Sprecher wieder. Vorsichtig atmete ich aus, weil ich andernfalls einen Kollaps bekommen hätte.

»Ach, ich weiß gar nicht, wieso ihr euch so aufregt.« Dies war der dritte Mann im Bunde, der, der sich vorher noch nicht geäußert hatte.

»Der Fürst achtet schon darauf, dass die Gefängnisse sicher sind. In den letzten siebzig Jahren hat niemand es geschafft, zu entfliehen.«

Mir klappte die Kinnlade herunter. Innerlich verabschiedete ich mich von Fluchtplänen jeglicher Art.

»Trotzdem. Dies hier ist unsere Aufgabe und der müssen wir Folge leisten«, meinte der erste Mann dienstbeflissen.

»Ich verstehe einfach nicht, wieso man drei Wachen für vier Gefangene braucht. Zwei würden es auch tun.«

Überrascht riss ich die Augen auf. Hatte ich eben nicht aufmerksam genug hingeschaut? Nein, die Zellen waren leer gewesen. Die einzige Möglichkeit bestand darin, dass ich noch nicht alles von den Katakomben gesehen hatte.

»Nicht vier. Fünf«, verbesserte ein anderer Mann die Wache.

»Fünf? Willst du mich verarschen? Jack, Harrison …«

»Sie haben heute jemand Neues gefangen.«

Mir stockte der Atem. Meine Brust hob und senkte sich nicht mehr regelmäßig.

»Was?« Der Wachmann klang überrascht, doch schnell wechselte sein Tonfall wieder. »Ach, es ist doch eh wieder nur Gus, der alte Trunkenbold. Nichts für ungut, dass der schon wieder …«

»Weit gefehlt, Koral. Weit gefehlt.«

Nun mischte sich der Dritte im Bunde ein.

»Wer ist es dann? Hemigno?«

»Es ist überhaupt kein er«, erklärte der Erste. »Es ist ein Mädchen.«

»Ein Mädchen?«, schrien die beiden anderen im Chor. Ich konnte ihr Missfallen hören.

»Richtig. Ein Mädchen.«

»Aber was sucht ein Weib hier unten? Hat der Fürst nicht mal gesagt, dass Frauen im Gefängnis …«

Bevor er Spekulationen anstellen konnte, unterbrach der große Wachmann ihn.

»Ich weiß es ja selbst nicht genau. Es wurde mir nur gesagt. Aber genug der Worte. Ich übernehme Gang eins. Teilt ihr euch auf zwei und drei auf.«

»Hat das Mädchen schon etwas zu essen bekommen?«

»Koral, nur weil sie ein Weib ist, musst du sie noch lange nicht verweichlichen. Sie wird wie alle anderen ihre Ration morgen früh bekommen.«

»Es ist nur ungewöhnlich, ein weibliches …«

»Habe ich nicht gesagt, du sollst dir deinen Gang suchen? Na los, wird’s bald?«

Es dauerte nur eine Schrecksekunde, bis Schritte zu vernehmen waren. Ein Teil meiner Anspannung sank, da zwei Drittel der Gefahr sich aufgelöst hatten, und doch erlaubte ich es mir noch nicht, durchzuatmen. Schließlich stand der Anführer der Truppe noch immer in der Nähe meiner Zelle.

»Du kannst dich ruhig zeigen, Mädchen«, sagte er in diesem Moment. Alles in mir spannte sich an. Wie hatte er es geschafft, mich ausfindig zu machen?

»Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe. Jupiter hat mir gesagt, wo er dich hingebracht hat. Also los, zeig dich!«

Das Licht seiner Fackel, mit der er die Zelle beleuchtete, traf genau mein Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er mich.

»Da bist du ja«, grummelte er und trat näher an die Gitterstäbe heran. Noch immer wagte ich es nicht, mich zu rühren.

»Vielleicht hast du Koral ja gehört. Es ist ungewöhnlich, Frauen hier unten im Gefängnis zu haben. Ihre Verbrechen werden normalerweise anders vergolten.«

Der Inhalt seiner Worte brachte mich zum Schaudern.

»Was hast du getan, dass man dich eingesperrt hat?«

Vorsichtig trat ich einen Schritt von der Wand weg, behielt aber meinen Sicherheitsabstand bei. Neugierig musterte ich den Fremden, der die Fackel so hielt, dass sein Gesicht von ihr erleuchtet wurde. Es handelte sich um den Mann, auf den ich schon eben einen Blick im Gang erhaschen konnte. Sein Gesicht wirkte alt und abgestumpft, die langen, strähnigen Haare schauten unter seiner braunen Mütze hervor. Er trug ein weit geschnittenes, beigefarbenes Oberteil und eine Hose mit Gummizug, der seinen Bauch nicht ganz verbarg.

»Jupiter hat gesagt, man hat dich an der Grenze zur Außenwelt gefunden. Dachtest du, du kannst fliehen?« Sein Blick wurde ungläubig, aber war auch wachsam. Anscheinend wusste er nicht, wer ich war. Anscheinend hatte man sich darauf geeinigt, die Bürger noch ein bisschen im Unklaren zu lassen. Ich legte den Kopf schief. Dieser Mann sah nicht so aus, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Ob vielleicht sogar ein Herz in seiner großen Brust schlug? Ich musste es versuchen.

Scheu senkte ich den Blick auf den Boden und zog an meinem Pullover. Wenigstens trug ich Kleidung, die man nicht unbedingt mit dem einundzwanzigsten Jahrhundert assoziieren würde. So hätte man mein einfarbiges Oberteil auch in Embonis tragen können. Allein die Hosen waren für ein Land, in dem die traditionelle Rollenverteilung herrschte, etwas zu gewagt. Immerhin waren die Lichtverhältnisse nicht die besten.

»Mein Name ist Maya«, flüsterte ich schüchtern. Unsicher fuhr ich mir durch die Haare und hielt meine Finger verschränkt.

»Und was hast du getan, Maya?«, kam die prompte Erwiderung des Mannes.

Ja, was habe ich getan?

Brot gestohlen, meinen Mann betrogen, ein Kind getötet?

Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Komischerweise kam mir gerade jetzt Charles Dickens’ Roman Große Erwartungen in den Sinn. In einer Geschichte voller Verrat und Sünde würde ich doch etwas finden, für das man bezahlen musste. Mit Dickens kam der Gedanke an Kil. Ich konnte nichts dagegen tun, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Ich biss mir auf die Lippe, um so die Tränen zu unterdrücken. Bis mir einfiel, dass Weinen vielleicht nicht das schlechteste Mittel war, um Mitleid zu erwecken.

Und so stand ich in den Katakomben von Embonis: klein, unsicher und mit einem Herzen, das tausend Mal brach. Ich benutzte meinen eigenen Schmerz und legte ihn in eine Geschichte, die ich zum ersten Mal erlebte. Ich litt fürchterlich und weinte mit solcher Inbrunst, dass ich kaum sprechen konnte.

»Ich habe einen Fehler begangen«, presste ich mühsam hervor.

Um Mitleid zu erwecken, schlang ich beide Arme um meine schmerzende Brust und atmete tief ein und aus. Ich war mir sicher, dass der Mann mir zuhörte.

»Meine … Eltern sind …« Nein, nicht gestorben. Schatten sterben nicht.

»Sie … ich weiß nicht, wo sie sind. Ich muss mich schon so lange allein durchschlagen. Ich … habe in den Wäldern gelebt …«

Wie unkreativ. Werde deutlicher.

»… aber die ständige Abwesenheit von … Decessaren hat mir nicht gutgetan. Ich … war allein und ganz ohne …«

»Du hast da draußen ohne das Mittel überlebt?«, unterbrach der Mann mich. Verwundert stoppte ich und sah ihn an. Das Mittel? Vorsichtig, da ich anscheinend wissen musste, wovon er sprach, nickte ich.

»Ja.«

»Das muss ja schrecklich gewesen sein!« Er trat näher an das Gitter heran.

»Aber nun hat man es dir gegeben, oder?«

Ich nickte wieder, erneut nicht sicher, wovon der dicke Wachmann sprach.

»Rettung in letzter Sekunde, was?«

Ich beschloss, nicht mehr auf seine Fragen zu antworten.

»Ich … habe kein Haus hier gefunden in Embonis. Ich … war ganz allein. Ich habe mich in das Schloss … des Fürsten geschlichen …« Stumm betete ich, dass es sich um einen x-beliebigen Herrscher handelte und er auch wirklich einen Palast besaß. Kurz blickte ich auf das Gesicht des Mannes, das jedoch keine Regung zeigte. Dieser Ausdruck verlieh mir den Mut, weiterzuerzählen.

»Ich wollte nur ein Dach über dem Kopf haben, weil es draußen so kalt war. Ich … bin krank, habe bestimmt eine Lungenentzündung und …« Zur Bestätigung hustete ich dreimal laut.

»Ich wollte den Fürsten nicht belästigen. Die Tür zu einem Bedienstetenzimmer stand offen. Vor Erschöpfung fiel ich auf das Bett und habe nicht an die Konsequenzen gedacht.«

Vor Scham vergrub ich mein Gesicht in den kalten Händen. »Es tut mir so leid«, wimmerte ich leise und sank auf den Boden.

Was bedeutete, dass nun der schwierigste Teil kam.

»Ich kann verstehen, wieso der Fürst so mit mir verfahren ist. Ich habe einen Fehler begangen, den ich zutiefst bereue. In keiner Weise war mein Verhalten gerechtfertigt. Ich bin nur eine einfache Magd. Aber es ging mir so schlecht in dieser Nacht, ich sah keinen Ausweg …«

In der folgenden Gesprächspause sollte der Wachmann über meine Geschichte nachdenken. Allerdings gab ich ihm nicht genug Zeit, um auf Logikfehler oder Unstimmigkeiten aufmerksam zu werden.

»Wäre mein Schicksal ein Einzelfall, würde ich nichts tun. Ich würde still in diesem kalten Kerker ausharren und auf das warten, was mir bevorsteht. Aber ich bin nicht allein für mich verantwortlich.« Schwer schluckte ich. »Ich musste meinen kleinen Bruder in den Wäldern zurücklassen. In dieser Nacht habe ich ihm versprochen, dass ich Essen …« Stopp, nein! Kein Essen! Moment. Hatte der Wachmann von eben nicht gefragt, ob man mir Essen reichen konnte? Waren die Schatten doch in der Lage, Nahrung zu sich zu nehmen?

Für einen Augenblick hielten mich meine Gedanken gefangen. Dies führte dazu, dass ich mir meiner Rolle als erschrockene Magd nicht mehr sicher war. Erwartungsvoll stand der Mann vor mir, nun mit verschränkten Armen und einem Gesichtsausdruck, der mich straucheln ließ.

»Mein Bruder ist sehr klein. Er braucht … gewisse Dinge …«

Oh, Ivory, was redest du da?

»Ich habe ihm in dieser Nacht ein besseres Leben versprochen. Er hat es nicht verdient, sein Dasein in den Wäldern fristen zu müssen. Ich wollte ihm wirklich helfen, aber ich war so krank … und dann kam die Müdigkeit …«

»Du sagst also, du hast eine Lungenentzündung?«, hakte der Mann plötzlich nach.

»Ja.«

»Wieso geht es dir dann so gut?«

»Wie bitte? Mir … geht es nicht gut. Ich … fühle mich ganz schwach und …«

»Maya, ich kann dir nicht glauben.«

»Bitte!« Ich durfte nicht aufgeben. Auch wenn meine Hoffnungen immer kleiner wurden, durfte ich den letzten Strohhalm nicht loslassen.

»Mein Zustand vernebelt meine Gedanken. Sie kreisen ständig um meinen Bruder. Er ist erst vier Jahre alt und so allein. Irgendwo im Wald. Ich habe meine Strafe verdient, aber er soll nicht auch darunter leiden. Bitte, ich muss ihn suchen! Jemand muss sich um ihn kümmern. Ich werde meine Bestrafung entgegennehmen, aber zuerst muss H…arry gerettet werden.« Verzweifelt presste ich die letzten Tränen aus meinen Augen, doch gerade versiegten sie. Aufregung war kein gutes Motiv für Gefühlsausbrüche dieser Art.

»Du glaubst also, ich lasse dich frei, damit du deinen Bruder suchen kannst?«

Äh, ja. Zumindest war das der Plan.

Als ich nichts erwiderte, lachte der Wachmann schallend. Dabei hüpfte sein Bauch auf und ab. Mich machte es wütend, ihn so selbstgefällig vor dem Kerker stehen zu sehen. Zorn trieb mich in die Höhe, ließ mich meine Hände zu Fäusten ballen.

»Maya«, sagte er gedehnt. »Ich bin nicht dumm. Falls du glaubst, dass ich die Kerkerzelle aufsperre, muss ich dich auch enttäuschen. Und glaube nicht, dass ich dir nur ein Wort deiner Geschichte abnehme!«

Er fuhr fort:

»Viele Gefangene haben es schon auf diese Art versucht, nicht wissend, dass man als Wache gegen so etwas immun ist.«

Er schien sich unglaublich klug zu fühlen, so, wie er dort im Gang stand. Jemand sollte ihn von seinem hohen Ross stoßen. Noch einen Moment lang schaute ich ihn an, seufzte dann und wandte mich ab. Ich hatte meine Chance verschenkt.

»Ich wüsste wirklich gern, was du tatsächlich angestellt hast. Es ist nicht üblich, dass der Fürst Frauen einsperrt. Überhaupt ist in den letzten Monaten hier nicht viel los. Mir kommt es vor, dass immer dieselben hinter Gitter kommen.«

Der Wachmann sprach munter weiter vor sich hin. Ein Teil von mir hörte ihm nicht zu. Wie Autos auf der Schnellstraße rauschten seine Äußerungen an mir vorbei, zu rasant, als dass sie mich hätten tangieren können.

»Aber anscheinend willst du nicht recht mit der Sprache raus. Mir wäre es auch unangenehm, festgehalten zu werden.«

Seufzend drehte ich mich noch einmal zu ihm um. Mir kamen die Dinge seltsam grotesk vor. War ich in der Menschenwelt nur bei Erwähnung eines Schattens zusammengezuckt, wirkte dieser Mann nun völlig ungefährlich. Jetzt, wo er mir Auge in Auge gegenüberstand, war ich ruhig. Es ging sogar so weit, dass ich mich durch seine Anwesenheit eher genervt als bedroht fühlte. Das bekannte Gefühl der Angst stellte sich nicht ein.

»Irgendwann werde ich es aber sowieso herausfinden, Maya«, verkündete er gerade. »Heute vielleicht nicht mehr, aber morgen bestimmt. Normalerweise werden wir darüber aufgeklärt, warum ihr hier seid.« Stolz reckte er seine Brust, welche unter all dem Fett kaum erkennbar war.

Ich hatte keine Angst mehr, weil ich in Sicherheit war. So seltsam es auch klang, es stimmte. In der Menschenwelt lebte ich mit der ständigen Furcht, gefangen zu werden. Nun, wo ebendies geschehen war, konnten die Decessaren mir für den Moment nichts anhaben. Außerdem wusste dieser Wachmann nicht, wer ich war, sonst wäre seine Reaktion anders ausgefallen.

»Sehr gesprächig bist du ja nicht gerade. Eigentlich darf ich mich auch gar nicht mit dir unterhalten. Nur ist es hier unten immer so langweilig. Wie wäre es, wenn …«

Nein. Egal, was es ist, ich will es nicht.

Statt ihm eine Antwort zu geben, ließ ich mich auf den Boden sinken und raschelte hörbar mit dem Stroh. Nie und nimmer würde ich schlafen können, aber für den Moment musste ich nur so tun, als überkam mich Müdigkeit. Vorsichtig wanderten meine Finger den Boden entlang. Es war ein komisches Gefühl, allein und schutzlos dazuliegen, ganz ohne Decke und für jeden sichtbar. Auch die Dunkelheit trug nicht maßgeblich zur erhofften Anonymität bei. Bei jedem Atemzug fühlte ich mich den neugierigen Augen des Wachmannes ausgeliefert. Zwar verstummte er irgendwann, aber seine Anwesenheit spürte ich in jeder Faser meines Körpers. Und genau deshalb konnte ich es nun nicht zulassen. Auch wenn es ruhig war und ich meine Gedanken für mich hatte, erschien es mir unmöglich, nun an das zu denken, das mir genommen worden war.

Kapitel 2

Kilian

In einer vollkommen dunklen Kammer erstrahlte plötzlich ein helles Licht. Sein Funke verbreitete sich rasch, schon bald ließen sich die Konturen des Raumes erkennen. Vor einem kleinen Fenster standen ein ramponierter Tisch und ein Stuhl. Anstelle eines Bettes gab es nur eine Art Pritsche, auf der eine löchrige Decke lag, die von Zeiten erzählte, die lange zurücklagen. Der Teppich, der den schimmeligen Boden bedeckte, war lilafarben und an den Enden leicht ausgefranst.

Er stand mit beiden Beinen auf ihm und hielt die Öllampe fest in der Hand. Eigentlich durfte er sich nicht hierhin zurückziehen, zumindest sollte er es nicht. Vor vielen Jahren hatte Glancore diese Kammer bewohnt, seitdem stand sie leer. Wahrscheinlich wusste der Fürst schon lange nicht mehr, dass es das Zimmer am Ende des Ganges überhaupt gab. Nur wenige Bedienstete maßen den gesamten Flur mit ihren Schritten. Es hieß, Glancores Tür wurde nur passiert, wenn in der Nähe Reinigungsarbeiten zu verrichten waren. Ihm schien ein solches Verhalten nur recht. Ihn kümmerten die Gerüchte um das Verschwinden des Kammerdieners nicht, viel mehr halfen sie ihm, einen Ort aufzubauen, an dem er allein sein konnte. Stunden des Nachdenkens hatte er hier bereits verbracht und mehr als einmal daran gedacht, über seinen Stand hinaus zu handeln. Glancores Schicksal verhalf ihm zu ein wenig Privatsphäre. Seufzend ließ er sich auf die Pritsche sinken, die Öllampe wurde auf den Tisch gestellt. Es tat gut, die Füße hochzulegen, vor allem nach diesem anstrengenden Tag. Ihm war bewusst geworden, dass man wochenlang auf etwas hinfiebern konnte, das dann immer zu schnell kam. Mühsam schälte er sich aus dem Mantel und beäugte die verblichene Jeans skeptisch. Er sollte sich umziehen. Die freie Wahl der Kleidung stellte einen der vielen Vorteile der Menschenwelt dar. Im einundzwanzigsten Jahrhundert war so ziemlich alles erlaubt. Er hatte wenig Lust, sich in umständliche Roben zu hüllen – aber genau so würde es kommen. Gerade daher genoss er die gestohlene Zeit, die er in Glancores Kammer verbrachte. Nach und nach streckte er seinen Körper, bis er ganz auf dem Rücken lag. Früher einmal hatte er die Betten der Bediensteten als Qual empfunden, mittlerweile schätzte er ihre Härte. Es ließ sich besser nachdenken, wenn man nicht in einem Meer aus Decken versank. Nach einer Zeit der Stille drehte er sich nach links und erhob sich so weit, als dass er seine Hand als Stütze für den Kopf benutzen konnte. Wie spät es wohl sein mochte? Allerhöchste Zeit, schrie die alarmierte Stimme in seinem Bewusstsein, aber er ignorierte sie, obgleich er merkte, dass sein Herz nicht mehr so regelmäßig und stetig schlug wie noch vor ein paar Stunden. Wie lange würde er es dieses Mal schaffen? Er wollte die Fragen, die durch seinen Kopf schossen, ausblenden, doch mit jeder verstrichenen Sekunde wurden sie größer. Zornig presste er die Lippen aufeinander, seine Hand ballte sich schon zu einer Faust. Das Gefühl konnte plötzlich auftreten, von jetzt auf gleich. Manchmal kündigte es sich leise an und war unter Kontrolle zu bekommen, andere Male prasselte es auf ihn ein wie ein Unwetter. Es war falsch gewesen, derart menschlich zu werden. Er hatte es gewusst und es dennoch getan. War der Drang nun die Strafe für sein törichtes Verhalten? Immerhin war er auf den ältesten Trick hereingefallen. Doch das Gefühl, ganz zu sein, war einfach zu mächtig. Er zwang sich dazu, aufzustehen. Manchmal half es, im Geiste Listen aufzustellen. Listen zu banalen Themen. Trivialität unterdrückte den Drang in einem gewissen Maß. Noch konnte man dagegen ankämpfen. Seine Stirn legte sich in Falten, als er sich auf den klapprigen Stuhl setzte. Länder, überlegte er, schüttelte dann aber den Kopf. Zu oft hatte er sich alle Orte der Welt in Erinnerung gerufen. Neue Themen mussten her. Doch während er nachdachte, schlich sich das Gefühl tiefer in seine Eingeweide. Wie eine giftige Schlange umschloss es den Bereich, an dem der Mensch eine Seele hatte, und vergiftete sein Herz. Kilian bekam Atemnot, seine Kehle wurde eng. Würgend und spuckend presste er beide Hände an seinen Hals, hustete, versuchte, den Drang irgendwie zu unterdrücken. Doch genau in diesem Moment trafen ihn die Bilder. Eines nach dem anderen stahl sich in sein Bewusstsein. Einzeln waren sie wie kleine Messerstiche, zusammen töteten sie. Kils Augen wurden glasig und leer, er fand sich in Krämpfen wieder. Die Sehnsucht nach etwas Menschlichem war größer und mächtiger als all seine Gedanken zusammen. Gleich, wie erbost er dagegen anzukämpfen suchte, das Gefühl hatte ihn. Vor seinen Augen erschienen Bilder der Menschen, die er getötet hatte, doch nicht wie sonst empfand er Reue. Viel mehr löste der Gedanke an Animus eine Sehnsucht in ihm aus, die zu groß war, als dass er sie hätte ertragen können. Blind fanden seine Finger den Weg in die Hosentasche. Zitternd umgriff er das winzige, gläserne Fläschchen, in dem sich nicht mehr als wenige Tropfen einer Flüssigkeit befanden. Gierig drehte er den Verschluss lose. Noch bevor der Deckel scheppernd auf den Boden fiel, setzte er die Flasche an seine Lippen. Es glich einem Hauch von nichts, und doch konnte er erst aufatmen, als der letzte Tropfen seinen Gaumen heruntergeflossen war. Kilian brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass sich die Farbe seiner Augen änderte. Das Leere, Tote verschwand und verwandelte sich in etwas, das man annähernd als menschlich bezeichnen konnte. Wütend darüber, schwach gewesen zu sein, schleuderte er die Flasche aus seiner Hand. Sie prallte gegen die hölzerne Pritsche und rollte schließlich über den gesamten Boden. Kil stampfte zweimal mit dem Fuß auf. Er schaffte es einfach nicht, standhaft zu bleiben. Aber konnte er es sich selbst übel nehmen? War es nicht normal, dass man gegen Umwelt und Anlage schutzlos schien? Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Als er aufstand, fühlte er sich lebendig. Keineswegs gut, denn dazu war das Mittel nicht in der Lage. Es überdeckte nur, es hüllte ein und machte taub. Kilian hasste sich dafür, dass der Inhalt eines Fläschchens über seinen Zustand entschied. Doch wer einmal von der verbotenen Frucht gekostet hatte, kam nie mehr von ihr los.

 

Ich weiß, dass ich träume, entscheide mich aber dagegen, aufzuwachen. Ich stehe auf einer großen, grünen Wiese, die friedlich wirkt. Erste kleine Blumen kämpfen sich ihren Weg durch die Erde. Vereinzelt haben sich schon Knospen geöffnet. Vorsichtig streiche ich mit meiner Hand über die zarten Gewächse. Während ich in völliger Stille den Frühlingstag genieße, kitzelt mich die Sonne. Es ist schön, von etwas so Mächtigem angestrahlt zu werden. In diesem Moment frage ich mich, wieso ich den Mond immer magischer als die Sonne fand. Ist es manchmal nicht besser, dem Licht zu folgen? Genüsslich schließe ich die Augen. Für einige Momente scheint die Zeit stillzustehen. Ich vergesse das Leben, aus dem ich komme, ich vergesse den Schmerz, der mir einst den Atem raubte. Stattdessen nehme ich diesen ersten Frühlingstag ganz in mir auf, koste ihn mit all meinen Sinnen. Das Zwitschern der Blaumeisen wird zu meiner persönlichen Melodie. Summend versuche ich, den Tönen gerecht zu werden, doch sie klingen falsch aus meinem Mund. Umständlich trenne ich mich von der dünnen Jacke, die ich trage. Mit dem Stoff fällt auch eine Last von mir, von der ich gar nicht weiß, dass ich sie noch immer mit mir herumtrage. Nur kurz öffne ich die Augen.

Der Stand der Sonne hat sich verändert; der glühende Ball am Himmel ist tiefer gesunken. Auch der Himmel ist nicht mehr so blau wie eben. Der Morgen geht in einen Nachmittag über. Von fern höre ich das Plätschern eines Wasserfalls. Eine fremde Macht treibt mich in die Höhe. Wie bezaubert bin ich von der Melodie der Tropfen, die einzeln ihren Weg auf die Erde finden, aber nur zusammen wirklich gigantisch sind. Mit nackten Füßen folge ich dem Geräusch. Eine Abkühlung tut an heißen Tagen gut. Schemenhaft erkenne ich bald den Wasserfall, vor dem eine Reihe Steine liegt. Weil ich das Kind in mir nie besiegt habe, hüpfe ich übermütig von einem zum anderen und lache, als ich schwanke. Irgendwie hat mich die Gefahr schon immer fasziniert.

Als meine Hände beinahe den Wasserfall berühren, passiert es. Von fern her dringt eine Stimme an mein Ohr.

»Folgst du mir?«

Augenblicklich spannt sich alles in mir an. Meine Ohren spitzen sich ganz von selbst, obgleich ich meine Antwort schon kenne.

»Wohin du auch gehen willst.«

Ich schlucke schwer, kann nichts dagegen tun, dass sich die Bilder plötzlich in mein Gedächtnis drängen. Sie kriechen aus allen Ritzen, setzen sich fest und bringen mich zum Wanken. Meine Beine fühlen sich wie Pudding an, unnötigerweise suche ich nach Halt, bevor ich vornüber auf die Steine falle.

Wut steigt in mir auf. Wut auf das, was geschehen ist. Wut auf Kilian Aven, dem ich zu Unrecht traute. Aber mein Zorn verpufft so schnell, wie er gekommen ist. An seine Stelle tritt ein Gefühl, das ich bisher nicht gekannt habe.

Mein Herz bricht.

 

Ein salziger Geruch stieg in meine Nase. Irritiert schlug ich die Augen auf. Nach einem Moment des Schocks realisierte ich, dass ich auf dem kalten Gefängnisboden lag. Irgendwie musste es mir gelungen sein, einzuschlafen. Kaltes Licht schien durch das Fenster und ließ mich frösteln. Die salzige Nuance ließ sich nicht aus meinem Geruchsfeld vertreiben. Verwirrt blickte ich um mich herum. Der dicke Wachmann von gestern Abend saß noch immer vor der Zelle, mit dem Unterschied, dass er mir den Rücken zugekehrt hatte. Ich musste die Zeit, in der er mich schlafend vermutete, unbedingt nutzen. Mehr Privatsphäre würde ich hier nicht bekommen. Meine Haare hingen mir ins Gesicht, weswegen ich sie mir so gut es ging hinter die Ohren steckte. Dabei stieß meine Hand gegen mein Gesicht. Als hätte mich ein gefährliches Insekt gestochen, zuckte ich zusammen. Wieso waren meine Wangen nass? Was war …? In diesem Moment setzte der Schmerz ein. Ich erinnerte mich nicht nur an den Traum, sondern auch an alles, was geschehen war. Die eisige Hand des Verlustes legte sich um meine Kehle und raubte mir den Atem.

»Du bist wach«, brummte der Wächter prompt. Schwerfällig drehte er sich zu mir um, inspizierte mich genau. Ein wenig zu spät wandte ich mich von ihm ab. Das Licht hier unten war nicht das beste, dennoch hätte er meine Tränen bemerken können. Hektisch fuhr ich mir mehrmals über die Augen, betend, dass sie noch nicht gerötet waren. Der Traum hatte mir all meine Schwächen offenbart, er verletzte mich und machte mich zu etwas, das ich nie sein wollte: schwach. Entschlossen reckte ich den Kopf. Nie im Leben würde ich Schwäche vor den Decessaren zeigen. Obwohl mein Körper zitterte, drehte ich mich um, sodass ich den Wachmann anschauen konnte. Sekundenlang starrten wir uns einfach nur an, bis er schließlich den Blick senkte.

Wenigstens ein kleiner Erfolg.

»Mir wurde gesagt, dass du Essen brauchst«, brummte der Wachmann. Ich sah, wie er auf einen hölzernen Teller und einen Becher zeigte, die neben seinem Stuhl standen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass meine Kehle wie ausgetrocknet war. Gierig fingen meine Augen das Wasser ein, welches sich in dem Gefäß befand. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich der Mann erhoben und mir den Becher gereicht hatte. Obwohl ich so durstig war und die Flüssigkeit am liebsten an mich gerissen hätte, achtete ich genau darauf, den Decessar in keiner Weise zu berühren. Elegant glitten meine Finger an ihm vorbei und schlossen sich nur um das Gefäß. Ich trank schneller, als ich schlucken konnte. Wohltuend rann das Wasser meine Kehle hinab. Bevor ich mich dazu zwingen konnte, mir den Rest für später aufzuheben, war der Becher leer. Erschrocken blickte ich auf das hölzerne Gefäß.

»Leer?«, grunzte der Wachmann, wartete die Antwort jedoch nicht ab. Seine speckigen Finger hatten sich schon durch das Gitter gequetscht und nach dem Becher gegriffen. Verzweifelt suchte ich den Boden nach einer Karaffe oder Ähnlichem ab, aber anscheinend hatte man nicht vor, mir mehr als ein Glas Wasser zu überlassen.