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Über die Autorin

Kathrin Wildenberger wurde 1971 in Sangerhausen/Sachsen-Anhalt geboren und lebt nach Lehr- und Wanderjahren in Göttingen und Heidelberg seit 2006 in Leipzig. Sie arbeitet als freischaffende Autorin und Medizinisch-Technische Assistentin in einer Forschungsgruppe am Uniklinikum Leipzig. Ihr Debütroman „Montagsnächte“ ist erstmals 2007 im Plöttner Verlag Leipzig erschienen und erfährt nun bei duotincta als Auftakt einer Triologie seine Wiederauflage.


www.montagsnaechte.de


Dies ist ein Roman. Die Handlung und die Figuren der Geschichte sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Geschehens hat die Autorin versucht, wirklichkeitsgetreu darzustellen. Personen der Zeitgeschichte und relevante Handlungsorte werden konkret benannt.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Erste Auflage 2017
Copyright © 2017 Verlag duotincta, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Typographie: Verlag duotincta
Einband: Nadine Tsawalasilis
Cover Fotografie: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0

ISBN 978-3-946086-19-2

Die Erstauflage erschien 2007 im Plöttner Verlag, Leipzig

Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.duotincta.de



"Einmal im Leben, zur rechten Zeit, sollte man an Unmögliches geglaubt haben."

Christa Wolf "Nachdenken über Christa T."


Sonntag, 31. August 1986,

G./Südharz

Wenn ich es doch nur jemandem erzählen könnte. Drei Stunden habe ich geschlafen und bin immer noch müde. Aber wenigstens ist die Zeit schneller vergangen. Im Haus ist es still. Sie scheinen also noch nicht angekommen zu sein.

„Ania!“ Mama ruft schon zum zweiten Mal. Ich ziehe meine Jeans an und gucke aus dem Fenster. Die Straße ist menschenleer. Sein Auto steht nicht auf dem Parkplatz. Aber es ist auch erst fünf Uhr. Einfach zu früh. Viel zu früh.

Aus unserem Wohnzimmer dringt Musik. Beethovens Neunte, Papas Lieblingssinfonie. Er hat sich zurückgezogen, wird mit geschlossenen Augen auf der Couch liegen und seine Finger im Takt auf dem Bauch tanzen lassen. Am liebsten würde ich mich zu ihm setzen. Aber ich gehe die Treppe hinunter, am Gästezimmer vorbei, das Mama hergerichtet hat, als wäre es eine Suite im Interhotel.

In den letzten Tagen haben Brit und ich die Fenster im ganzen Haus geputzt, während Mama und Oma Gardinen wuschen, die Holzmöbel polierten und über den Speiseplan stritten. Papa tat alles, was sie ihm auftrugen und schmunzelte gelegentlich in seinen Bart, was Mama noch nervöser machte.

Die Tür von Omas Küche ist nur angelehnt, und als ich hereinkomme, sitzen sie schweigend am Küchentisch.

„Was ist denn los?“ Mama pickt eine Fussel von meinem T-Shirt.

„Nichts.“ Ich setze mich zu Brit aufs Sofa. Sie schaut nur kurz von der „FRÖSI“ auf und blitzt mich aus ihren Puppenaugen an. Irgendetwas in ihrem Blick warnt mich.

„Hast du jetzt wenigstens ausgeschlafen?“ Mama gießt sich Kaffee nach und dreht hastig den Verschluss der Thermoskanne zu. „Reiß dich nachher bloß zusammen.“

Oma legt zwei Handvoll schrumpelige grüne Gurken vor mich hin und nimmt eine Salatschüssel aus dem Schrank. Das Armband der silbernen Uhr ist an ihrem fülligen Arm kaum zu erkennen. Ihre Füße stecken in den Pantoletten mit Plateauabsatz, die sie sich vor ein paar Tagen gekauft hat.

„Ania, du schnippelst, und Brit, du holst Dill aus dem Garten“, sagt sie.

Wahrscheinlich geht das schon seit Stunden so. Es gibt kaum noch etwas zu tun, die Kittelschürzen hängen seit dem Mittagessen hinter dem geblümten Vorhang in Omas Küche, und so trinken sie eine Tasse Kaffee nach der anderen, gucken immer wieder auf die Wanduhr, und Mama zupft an ihrer neuen gelben Bluse. Ich könnte wetten, dass sie im letzten Moment doch noch das Bügeleisen aus dem Schrank holt.

„Sie kommen“, ruft Oma.

Mamas Hände huschen über ihre auftoupierte Frisur. Ich höre Papas Schritte auf der Treppe und spähe aus dem Fenster. Tatsächlich, der Mercedes rollt die holprige Gasse herab. Ich schiebe die Salatschüssel in den Kühlschrank, renne nach draußen, und als sich die Autotüren öffnen, ist er da, dieser Duft nach guter Seife, nach Schokolade, nach Orangen. Onkel Volker drückt mich so fest, dass ich kaum noch Luft kriege.

„Na, Kleine, ach, was sage ich, du bist ja schon eine richtige junge Dame. Wie alt bist du jetzt?“

„Fünfzehn“, sage ich, betäubt von der Parfümwolke, die ihn umgibt.

„Und schon größer als Tante Ute“, stellt er fest und lässt mich frei, um Brit hochzuheben. „Und du?“

„Zwölf“, ruft sie und grinst ihn an.

„Was, erst zwölf?“

Tante Ute tippelt in ihrem türkisfarbenen Kostüm auf mich zu. Ihre Löckchen kitzeln an meiner Wange. Über ihre Schulter kann ich Lehnes Haus auf der anderen Straßenseite sehen. Für mich fängt das Warten jetzt erst richtig an.

Onkel Volker isst schon die zweite Portion Kirschkompott mit Sahne. Er hat den Gurkensalat gelobt. Wie jedes Jahr. Er hat mich wieder gefragt, warum ich davon nichts esse, und ich habe ihm wieder erklärt, dass ich gegen Gurken allergisch bin. Ich trinke mein Wasserglas aus und frage, ob Brit und ich aufstehen dürfen.

„Geht nur, Kinder“, sagt Tante Ute, bevor Mama den Mund aufmachen kann. Ich ignoriere ihre Blicke und gehe zusammen mit Brit in Omas Küche, wo die Kiste mit den Geschenken steht. Ich greife mir eine der dunklen Flaschen, und wir huschen die Treppe hinauf in unser Zimmer.

„Was meinst du, sollen wir sie aufmachen?“, fragt Brit und betrachtet andächtig das rotweiße Etikett.

„Wenn wir jeden Tag ein kleines Glas trinken, ist sie am Mittwoch leer.“

„So wenig ist da drin?“

Ich zucke mit den Schultern. „Einteilen ist alles. Wir könnten sie auch mit Wasser verdünnen.“

„Hast du noch alle Tassen im Schrank? Dann bleib ich lieber gleich bei Club-Cola.“

„Nun tu mal nicht so. Außerdem sollst du gar nicht so viel davon trinken.“

„Was?“

„Mama will das nicht. Weißt du doch.“

„Du willst bloß alles für dich alleine haben, blöde Kuh!“

„Du spinnst ja!“ Ich nehme meinen blauen Pullover und knalle die Tür hinter mir zu.

Aus Omas Wohnzimmer kommen Stimmen. Sie sitzen also noch beim Abendessen. Ich hole meine Turnschuhe aus dem Schränkchen und hocke mich auf die Treppe.

„Dieter, hol uns doch noch einen Kognak zur Verdauung.“ Mama klingt aufgekratzt. Ich sehe vor mir, wie Papa die gute Flasche aus dem Vertiko holt und bedächtig den Schnaps in die polierten Gläser gießt.

„Dann seid ihr einigermaßen durchgekommen, Volker?“, höre ich seine Stimme.

„Ja. Keine Probleme an der Grenze.“

„Von Berlin geht es doch schnell. Die Dortmunder haben es weiter.“ Ich muss grinsen, wie immer, wenn Oma versucht, hochdeutsch zu sprechen.

„Es ist schön, wieder bei euch im Harz zu sein. Diese Ruhe. Und alles so gepflegt“, sagt Tante Ute.

„Hier kümmern sich die Leute noch um ihre Anwesen. Was man da zum Teil in Ostberlin sieht“, sagt Onkel Volker.

Ich höre leises Gläserklirren, binde die Schnürsenkel meiner Schuhe zu und seufze. Heute Abend werden meine Mundwinkel vom Lächeln spannen. Und mein Kopf wird sich dumpf anfühlen vom Dankesagen und Nicken. Wenn sie ihre Gläser ausgetrunken haben, werden sie zusammen zu einem Spaziergang aufbrechen, den Kirschberg hinter unserem Haus hinauf zur neuen Eigenheimsiedlung und auf dem Rückweg über Rothmanns Wiesen, von wo aus man bis zur Kreisstadt S. gucken kann. Ich glaube, wenn Tante Ute und Onkel Volker mit mir spazieren gehen würden, würden wir ein ganzes Stück die Hauptstraße entlanglaufen, an den Fachwerkhäusern vorbei, deren Fenster hinter Brennnesseln und Löwenzahn verschwinden, zum mausgrau verputzten Wohnblock, wo Bettdecken auf den Fensterbrettern liegen und Brinkes Kinder barfuß auf den Treppenstufen sitzen. Am Ufer des Flusses würde ich ihnen die Stelle zeigen, wo Brit und ich heimlich gebadet haben, bis zum Bauch im schlammig aufgewühlten Wasser. Ich würde darauf achten, dass Tante Ute mit ihren Pumps nicht in den Löchern des Bürgersteigs steckenbleibt und ihnen erzählen, dass ich es kaum erwarten kann, nach der Schule wegzugehen, nach Halle oder nach Leipzig oder gleich nach Berlin.

In Omas Wohnzimmer werden Stühle gerückt. „Wie wäre es mit einem kleinen Verdauungsspaziergang über den Kirschberg?“, fragt Mama.

„Wo willst’n du hin? Falls es dich interessiert, Bernd Lehne sitzt nicht draußen.“

Brit kauert über mir am anderen Ende der Treppe. „Meine Schwester geht mit nem Assi. Was Papa dazu sagen wird?“

Ihre kräftige Stimme hallt durch den Flur. Ich stürme die Treppe hinauf:

„Das geht dich einen Dreck an!“

„Was man so alles erfährt, wenn man zufällig am Treff vorbeikommt. Schwesterchen, Schwesterchen, ein bisschen mehr Geschmack hätte ich dir schon zugetraut.“

Sie weicht mir aus und schlägt die Tür vor meiner Nase zu. Hinter der geriffelten Glasscheibe erkenne ich ihre verschwommene Gestalt.

„Pennerbraut“, ruft sie. Ich haue gegen die Scheibe und renne nach draußen in den Vorgarten. Es hat sich also herumgesprochen. Was habe ich auch erwartet? Pennerbraut. Ich kauere mich auf der Holzbank zusammen und lege den Kopf auf die Knie.

Ich kenne ihn, seit ich denken kann. Früher war er ein Typ, der nie den Mund aufbekam. Spargeldürr, strähnige Locken, dicke Hornbrille. Bei Wind und Wetter fuhr er mit seinem klapprigen Fahrrad ins Nachbardorf zur Schule. Im Sommer wie im Winter trug er Jesuslatschen und eine verwaschene grüne Kutte.

„Oh, dein Nachbar kommt“, sagte meine beste Freundin Suse, wenn er an uns vorbeiradelte. Wir prusteten los. Er ignorierte uns. Er schien überhaupt kaum etwas mitzukriegen.

Ich glaube, niemand wusste wirklich etwas über ihn. Alle hier guckten ihn immer nur schräg an. Selbst sein eigener Vater. Vor drei Jahren ging er weg. Zur Lehre, hieß es. Erst vor einigen Wochen tauchte er wieder im Dorf auf. Und damit fing alles an.

Es war Anfang Mai, Suse und ich kamen von der Schule, ihr Fahrrad war kaputt, und wir gingen den einen Kilometer zu Fuß. Die Sonne schien und es war schon richtig warm, da hockte er auf der Steintreppe vorm Haus seiner Eltern und blätterte in einem Buch. Ich habe ihn fast nicht wiedererkannt. Die dunkelblonden Locken hingen ihm ins Gesicht. Und als er uns ansah, leuchteten seine blauen Augen hinter der kleinen Nickelbrille. Er trug ein schwarzes T-Shirt, zerschlissene Jeans mit aufgekrempelten Beinen und natürlich Jesuslatschen, sagte „Hallo“ und lächelte. Ich spürte seinen Blick bis in den Bauch. Noch nie hatte mich ein Junge so angeschaut. Ich war völlig fertig, während Suse nur sagte: „Was macht’n der wieder hier?“

Seitdem war nichts mehr wie vorher. Das Herzklopfen ging schon in der letzten Schulstunde los. Ich konnte kaum noch still sitzen, und auf dem Weg nach Hause hoffte ich nur noch, dass er draußen sitzt, liest oder Zigaretten dreht, egal was, wenn er mich nur anschaute und lächelte, dieses Lächeln, es ließ mich nicht mehr los.

Suse setzte ihr spöttischstes Grinsen auf und nannte ihn den Dorfintellektuellen. Sie lästerte über seine Klamotten und regte sich auf, dass er den ganzen Tag herumsaß, abends im Kino von S. ein paar Filme zeigte und dafür noch Geld bekam. „Mit uns würde der sich doch nie abgeben“, sagte sie und erzählte mir, was sie von ihrem Bruder über ihn wusste. Bernd hatte keinen Abi-Platz gekriegt, weil er nicht in die FDJ eingetreten war und ständig die Lehrer provoziert hatte. Zur Lehre wurde er ins tiefste Erzgebirge geschickt. In der Kirche soll er aktiv sein und sich mit seinem Onkel, dem Pastor, besser verstehen als mit seinem Vater. Sein Onkel hatte ihm auch die Lehrstelle als Filmvorführer besorgt. Außerdem soll er oft in Leipzig unterwegs sein und in einer dieser Umweltgruppen mitmachen.

„Kein Wunder, dass der bewacht wird, der Penner“, sagte Suse. Ich glaube, sie hätte am liebsten die Straßenseite gewechselt, um nicht direkt an ihm vorbeilaufen zu müssen. Aber die Typen im Lada waren auch ihr unheimlich. Seit Bernd zurück war, stand das Auto auf dem kleinen Platz neben der Bushaltestelle. Und die zwei Männer, die drin saßen, waren starr wie Puppen. Ich wurde das Gefühl nicht los, Suse plapperte nur nach, was sie irgendwo aufgeschnappt hatte. Sie würde es nie verstehen. Zum ersten Mal hatte ich ein Geheimnis vor ihr.

Als es im Juni tagelang regnete und er nicht auf der Treppe saß, war in mir alles leer. Ich schlich durch die Gegend, konnte nicht schlafen und fühlte mich schlecht wie noch nie. Suse fragte, was mit mir los sei, und ich war ein paar Mal kurz davor, es ihr zu erzählen, aber ich hatte solche Angst, dass sie mich dann heimlich auslachen und verachten würde, so wie ihn.

Nachmittags stand ich in meinem Zimmer hinter der Gardine und nahm mir vor, zu ihm zu gehen. Es war doch ganz einfach, nur diese paar Schritte über die Straße, an der Tür klingeln und … Aber ich war wie festgewachsen und hätte verrückt werden können, wenn ich daran dachte, wie mir Suse jetzt helfen würde, wenn es jemand anderes wäre. Wie sie mir vor Begeisterung um den Hals gefallen wäre. Wie wir mit Feuereifer einen Plan geschmiedet hätten.

Warum musste ich mich auch gerade in ihn verknallen? Was war mit den anderen, die in ihren Jeansanzügen auf dem Schulhof standen und Sprüche klopften? Die mir in der Buswartehalle oder beim Zusammentanzen ihre Zungen tief in den Mund schoben und entweder aufdringlich nach Rasierwasser oder nach Schweiß rochen? Ach, ich hatte es einfach satt. Bernd war so anders, außerdem war er schon achtzehn, und als die Sonne wieder schien und er draußen saß und mich anstrahlte, hätte ich heulen können vor Glück.

An einem dieser Abende fingen meine Eltern an, über die Männer im Lada zu reden.

„Eine Zumutung“, sagte Mama, während Papa stumm die Leberwurst auf seinem Brot verteilte. „Der tut doch keinem was, der Bernd.“

„Harmloser Spinner“, murmelte Papa und biss in sein Brot. Ich verschluckte mich an meinem Tee und rannte hustend raus. Als ich zurückkam, redeten sie zum Glück über etwas anderes. Mir waren die Ladatypen mehr als unheimlich. Aber Bernd schien sie gar nicht zu bemerken. Ob er jemals Angst hatte? Er roch förmlich nach Freiheit, nach Abenteuer, nach ich weiß nicht was.

Ein roter Wartburg fährt vorbei. Es ist schon nach acht Uhr. Die anderen kommen vom Spaziergang zurück. Sie winken mir, und ich winke zurück, während ich darüber nachdenke, ob er nicht doch den Abendfilm zeigen muss und von Leipzig gleich nach S. gefahren ist. Vielleicht habe ich gestern etwas falsch verstanden. Es ist kühler geworden, aber das Holz der Bank ist noch warm. Durch die Lücken zwischen den dichten Zweigen des Apfelbaums habe ich die Straße im Blick. Vielleicht war das gestern nur ein Traum. Vielleicht ist es gar nicht passiert.

Es war mal wieder Disko im Nachbardorf. Mama und Papa waren nicht zu Hause, und Suses Bruder Frank hatte bei der Ordnungsgruppe ein gutes Wort für uns eingelegt, so dass wir bis Mitternacht bleiben konnten, obwohl wir noch keine sechzehn sind. Alle waren aus den Ferien wieder da, große Wiedersehensfreude, wir tanzten wie besessen, und der Abend war schon fortgeschritten, als Bernd auf einmal vor mir auftauchte. Er hielt ein Bierglas in der Hand und lächelte. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder, ich stand stocksteif da, ich konnte es einfach nicht glauben. Der Saal war voll, stickig und heiß, ich hatte zu viel Wodka-Cola getrunken, meine Bluse klebte am Rücken, die Frisur löste sich auf, das Make up war längst hinüber. Außerdem musste ich dringend an die frische Luft. Suse war zum Glück mit einem rothaarigen Typen unterwegs. Ich hatte Bernd schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Was machte er hier? Gerade heute? Gerade jetzt?

Er stand vor mir und lächelte noch immer, und um mich herum versank alles. Ich nahm ihm das Bierglas ab, stellte es auf einen der Tische und zog ihn auf die Tanzfläche. Es war alles so einfach, ich hatte wirklich jede Menge getrunken, legte die Hände auf seine Schultern und spürte seine an meiner Hüfte. Der DJ spielte „Hunting High And Low“ von a-ha. Ich zitterte am ganzen Körper und hatte Angst, dass er es merkt. Er roch nach Rauch und Pfefferminzkaugummi. Ich wünschte mir so sehr, dass er mich küsst, und gleichzeitig kriegte ich die nackte Panik bei dem Gedanken, dass alle hier zusehen würden.

„Ich habe dich noch nie hier getroffen“, sagte ich in sein Ohr, Im flackernden Licht erkannte ich die Stoppeln an seinem Kinn.

„Ich kann nur herkommen, wenn ich Urlaub habe“, sagte er. Ich kam mir völlig bescheuert vor, aber er fragte nur: „Findest du die Musik gut?“

„Ja, schon.“

„Ist nicht ganz mein Stil“, meinte er.

Sein Atem streifte mein Gesicht.

„Ich würde gern was trinken“, sagte ich schnell. Als wir uns nach vorn durchdrängelten, starrte ich auf den winzigen Hintern in der engen Jeans und die Locken, die sich fast bis auf die Schultern kringelten. Er war einen halben Kopf größer als ich, und ich dachte die ganze Zeit: Es ist ein Traum, und du bist mittendrin, und hoffentlich hört es nicht auf.

Er holte zwei Cola, und wir kämpften uns bis zum geöffneten Fenster durch. Erst jetzt fiel mir auf, wie hell seine Haare geworden waren und wie viele Sommersprossen er hatte, auf der Nase, auf der Stirn und auf seinen schmalen Armen. Wir lehnten uns gegen das Fensterbrett, und ich umklammerte mein Glas, während er vom Zelten in Bulgarien erzählte. Ich musste dicht an ihn heranrücken, um alles zu verstehen, unsere Arme berührten sich, und ich traute mich kaum zu sagen, dass ich mit meinen Eltern in Lichte war. Thüringer Wald. Wenn’s wenigstens die Ostsee gewesen wäre.

„Ania? Wo bist du? Du sollst reinkommen, hat Mama gesagt.“

Brit winkt am Fenster, sie ist schon im Nachthemd, und mir fällt auf, dass die Sonne bereits untergegangen ist. Bevor ich hineingehe, werfe ich noch einen letzten Blick über die Straße.

An der Haustür kommt mir Mama entgegen. „Ihr habt euch noch gar nicht bei Tante Ute und Onkel Volker bedankt.“

„Klar haben wir das.“

„Na dann.“ Sie hat die Lippen mit rosa Lippenstift nachgezogen. Die Bluse und der braune Popelinerock sitzen tadellos, doch ihr Mund zuckt, und ich nehme sie in den Arm. „Warum bist du denn so nervös, Mama, es läuft doch alles super.“

Sie versucht zu lächeln. Ihr Atem riecht nach Wein.

„Du musst jetzt ins Bett.“

Im Flur stoße ich mit Tante Ute zusammen. Sie wünscht mir eine gute Nacht und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Als ich an unserem Wohnzimmer vorbei gehe, höre ich Onkel Volkers Stimme.

„Wirst du wegen uns wieder Schwierigkeiten kriegen, Dieter? Du kannst es ruhig zugeben.“

„Ach was. Ich sage es dir zum letzten Mal, das ist nicht so schlimm, wie es bei euch immer erzählt wird. Klar gab es Zeiten, wo sie mich zum Parteisekretär zitiert haben, aber inzwischen …“

Spätestens jetzt hat ihn Mama unterm Tisch getreten. Spätestens jetzt hätte sie Brit und mich ins Bett geschickt.

„Möchte noch jemand etwas trinken? Volker? Aber du nimmst noch ein Glas, Ute, oder?“

Ich gehe in unser Zimmer und schaue, ob das Fenster angekippt ist. Er wird noch vorbeikommen. Er hat es mir doch versprochen. Und wenn sein Auto kommt, werde ich mich hinausschleichen.

Auf dem Schreibtisch steht die Colaflasche. Selbst im Dunkeln kann ich sehen, dass sie nur noch halbvoll ist. Kein Wunder, dass sich die kleine Hexe im Bett herumwälzt. Jetzt, wo sie das mit Bernd weiß, denkt sie wohl, sie kann sich alles erlauben. Am liebsten würde ich sie aus dem Bett zerren, aber ihre Kommentare würden mir gerade noch fehlen.

Ich schließe die Augen und denke an gestern.

Er schaute mir so lange in die Augen, bis ich weggucken musste. Die anderen steckten die Köpfe zusammen und grinsten. Aber das kümmerte mich nicht. Unsere Arme berührten sich immer noch, als wir am Fenster lehnten und auf die Straße guckten. Irgendwann sah ich Suse Arm in Arm mit ihrem Typen aus der Wartehalle kommen.

Im Saal lief die nächste Schmuserunde. Und er so nah bei mir. Ich hätte gern noch mal getanzt, aber ich traute mich nicht, ihn zu fragen.

Plötzlich ging das Deckenlicht an. Ich schielte auf meine Armbanduhr. Tatsächlich schon zwölf.

„Darf ich dich nach Hause bringen?“, fragte er.

Ich zögerte nur kurz: „Na, gut.“

Während wir geredet hatten, war ich ein bisschen ruhiger geworden, aber jetzt, wo ich in sein Auto einsteigen und mit ihm allein sein sollte, wenn auch nur für ein paar Minuten, wurde mir schlecht vor Aufregung.

Er hatte ein Kassettenradio im Skoda seines Onkels. Wir hörten „Bohemian Rhapsody“.

Freddie Mercurys Stimme ging mir unter die Haut. Überall lagen mit krakeligen Buchstaben beschriftete Kassetten rum. Jimi Hendrix, The Who, Frank Zappa und Marillion. Ich kannte das alles nur flüchtig, doch es passte zu ihm, genau wie das zerfledderte Buch, das auf dem Rücksitz lag. Dostojewski, Erzählungen.

„Ich leihe es dir gern, wenn du magst“, sagte er. Ich beobachtete seine Hand auf dem Schalthebel. Von seinen Fingern bis zu meinem Knie war es nicht weit, und mein Magen zog sich zusammen von dem Geruch nach kaltem Rauch und Leder. Er parkte auf dem Platz, wo sonst der unheimliche Lada wartete. Die Straßenbeleuchtung war schon ausgeschaltet, das Dorf lag fast völlig im Dunkeln. Ich wollte den Gurt lösen, fingerte nach der Schnalle. Plötzlich spürte ich seine kühle Hand auf meiner. Wir sahen uns an, er war mit einem Mal so ernst und sein Mund leicht geöffnet und seine Finger in meinen Haaren, sein Gesicht kam näher, und ich schloss die Augen. Er flüsterte meinen Namen, nahm mich in den Arm, und alles, was ich mit anderen Jungs bisher erlebt hatte, war vergessen. Seine Haare waren so weich, und seine Hände strichen manchmal, nur ganz kurz und wie zufällig, über meine Brust. Das ließ das Ziehen in mir noch stärker werden. Als die Kirchturmuhr zwei Mal schlug, löste ich mich aus seinen Armen. Ich musste nach Hause, sonst konnte ich das Ausgehen an den nächsten Samstagen vergessen.

„Sehen wir uns morgen Abend?“, fragte er und meinte dann: „Kann später werden, ich muss mittags nach Leipzig fahren.“

„Musst du abends nicht im Kino arbeiten?“

Er schüttelte den Kopf.

„Wieso nicht? Machst du jetzt was anderes?“

„So ähnlich“, sagte er und wich meinem Blick aus, umfasste mein Gesicht mit seinen Händen, und wir küssten uns wieder und wieder. Er war plötzlich traurig, das spürte ich, aber ich fragte lieber nicht nach.

Ich schlich mich ins Haus, ohne Licht zu machen, mit den Schuhen in der Hand. Als ich im Bett lag, fiel mir auf, dass ich mein Haarband verloren hatte.

Ich drücke mein Kissen an mich. Brit atmet leise.

Was ist, wenn er morgen wieder auf der Treppe sitzt und so tut, als wäre nichts gewesen? Oder wenn er gar nicht mehr da ist? Und was werden meine Eltern sagen? Papa kennt viele Leute. Irgendwer erzählt ihm immer, was auf den Diskos so passiert. Spätestens in ein paar Tagen wird er wissen, dass ich mich mit dem Spinner von nebenan eingelassen habe. Eigentlich muss ich Onkel Volker und Tante Ute dankbar sein, dass sie für so viel Aufregung gesorgt haben. Bis jetzt fiel nämlich noch kein Wort über letzte Nacht.

Ein Auto kommt. Mein Herz bleibt vor Aufregung fast stehen, und ich springe aus dem Bett. Scheinwerferlicht wandert über unsere Zimmerdecke. Es fährt vorbei.

Was habe ich nur falsch gemacht? Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so aufregend ist, dem so egal ist, was alle über ihn denken. Und der so gut küsst. Bestimmt ist ihm aufgefallen, wie wenig Erfahrung ich habe. Oder haben ihn meine Fragen genervt? Er könnte mir wenigstens meine Haarschleife vorbeibringen. Bestimmt will er nie wieder etwas mit mir zu tun haben. Wahrscheinlich bin ich für ihn nichts weiter als ein kleines Mädchen, gut genug für einen Abend.


Montag, 1. September 1986,

G./Südharz

Der Pfefferminztee ist lauwarm. Ich trinke in kleinen Schlucken.

„Ania, hast du denn gar nicht geschlafen?“

„Doch, Oma“, sage ich und krempele die Ärmel meiner FDJ-Bluse hoch. Brit versucht mit vorgeschobener Unterlippe, einen geraden Pionierknoten zu binden.

„Lass das, ich krieg´s alleine hin“, mault sie, als Oma ihr helfen will.

„Wir müssen los“, sage ich. Wenn der Fahnenappell nur erst vorbei wäre. Zu Beginn des Schuljahres dauert er besonders lange. Eine halbe Stunde stillstehen, endlose Reden anhören, immer wieder „Freundschaft“ rufen. Ich kann nur hoffen, dass ich mich nachher nicht mehr so müde fühle.

Draußen ist es noch nicht richtig hell. Grauer Himmel, feiner Nieselregen. Wir trotten die Straße hinauf. Der Riemen der Schultasche reibt auf meiner Schulter. Auf dem Parkplatz wartet der beigefarbene Lada mit laufendem Motor. Einer der Männer schraubt eine Thermoskanne auf.

Die leben ja, denke ich.

„Was wollen die denn jetzt schon hier?“, fragt Brit.

Als ich Bernds Auto vor der Garage entdecke, verfliegt die Müdigkeit, und ich bin voller Freude und Angst.

An der Bushaltestelle kommt uns Suse entgegen. „Wie siehst du denn aus, Ania? Alles klar?“

„Ist wegen ihrem Typen“, sagt Brit.

„Halt du doch die Klappe.“

Suse grinst. „Hättest dich gestern ruhig mal melden können.“

„Keine Zeit. Westbesuch.“

„Ach, ja.“

Ich kann Suse nicht in die Augen schauen.

„Der Bus kommt“, ruft Brit.

Meine Beine zittern, als ich einsteige. Ich lasse mich auf einen Sitz am Fenster fallen, meine Hände hinterlassen feuchte Abdrücke auf dem Leder der Schultasche. Der Bus füllt sich rasch. Um uns herum schwatzende und kichernde Schüler. Warum habe ich nur das Gefühl, dass alle mich anstarren? Pennerbraut.

Suse bleibt neben mir stehen. „Mensch, Anni“, sagt sie leise.

Ich gucke durch die staubige Fensterscheibe und kriege einen Schreck, als sich Lehnes Haustür öffnet. Bernd hat einen Pferdeschwanz, er trägt Jeans und einen schwarzen Pulli. Auf seiner Schulter hängt eine blaue Reisetasche. Er umarmt seine Mutter, und sie küsst ihn auf die Stirn.

Suse legt ihre Hände auf meine Schultern. Ich verstehe nicht, was sie sagt. Der Bus fährt langsam an. Ich presse meine Hände an die Fensterscheibe. Bernd geht auf sein Auto zu. Er hebt den Blick, und als er mich erkennt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Er winkt mir zu. Da fährt der Bus um die Ecke. Ich kann Bernd nicht mehr sehen, aber meine Hände kleben noch immer an der Scheibe. Tränen laufen aus meinen Augen. Suse nimmt mich in den Arm. Jetzt muss ich hemmungslos weinen, und mir ist egal, dass alle es mitkriegen. Suse drückt mir ihr Taschentuch in die Hand.

„Wusstest du nicht, dass er heute weg muss? Er geht zur Fahne, wie Frank auch. “

„Aber …“

„Er wird Bausoldat.“

„Was?! ... Warum ...?“

Suse streichelt meine Schultern.

„Er hat den Wehrdienst verweigert, Anni. Nun beruhige dich doch, hör auf zu weinen, komm.“


August 1989,

Baabe/Rügen

„Das war mehr als knapp“, sagt Tom und nimmt mir den Rucksack ab. Ich lasse mich auf einen der Sitze fallen, wische mir den Schweiß von der Stirn.

„Dieser Scheißbummelzug … ne ganze Stunde … und dann noch von Bahnsteig elf auf Bahnsteig neunzehn …“

Tom schiebt das Fenster herunter. Die Türen knallen zu. Der Schaffner hebt die Kelle, und wir fahren langsam an einem Schild mit der Aufschrift „Leipzig Hbf“ vorbei.

„Wenn wir morgen früh aufwachen, sind wir da!“, sagt Tom und schnürt seine Schuhe auf. Ich ringe noch immer nach Luft, gebe ihm einen flüchtigen Kuss und strecke mich mit meiner Jeansjacke unter dem Kopf auf der Sitzbank aus.

Das gleichmäßige Rattern des D-Zugs macht mich müde. Ich döse vor mich hin. Als die Abteiltür mit einem Ruck geöffnet wird, schrecke ich auf. Ein Mann schiebt Koffer herein.

„Entschuldigung, aber wir haben reserviert.“

Zwei kleine Jungen schauen mich mit großen Augen an. Tom wuchtet die Rucksäcke von der Gepäckablage, der Mann hilft ihm, sie nach draußen zu tragen. Ich finde meine Schuhe unter dem Sitz, tappe auf Strümpfen hinaus, stoße mit einer zierlichen Frau zusammen.

„Tut uns leid“, sagt sie.

Der Zug fährt wieder an. Der Mann schließt die Abteiltür und zieht die roten Vorhänge zu.

Ich zeige Tom die vergilbten Schildchen „Reserviert Leipzig – Binz“.

„Konnte doch keiner wissen, dass man so was braucht“, sagt er. „Ich gucke mal, ob irgendwo noch was frei ist.“

Es ist unser erster gemeinsamer Urlaub. Es ist überhaupt der erste Urlaub, den ich mit einem Jungen verbringe.

Tom kommt zurück und schüttelt den Kopf, also machen wir es uns, so gut es geht, auf dem Gang bequem. Ich kuschele mich an ihn. Schlafen kann ich nicht. Leute drängeln sich an uns vorbei. Raucher lehnen am Fenster, und ihre glimmenden Kippen kommen mir manchmal gefährlich nah. Die Tür der Toilette, nur ein paar Meter entfernt, klappt ständig auf und zu, und als sie irgendwann halb offen stehen bleibt, wird der Uringestank unerträglich. Ich stehe auf, um das Fenster zu öffnen.

„Bald haben wir´s geschafft, Schatz“, sagt Tom. Ich setze mich wieder, streichele seine Hand und gehe in Gedanken einen sandigen, mit Kiefernzapfen bedeckten Weg entlang. Es ist ein warmer und sonniger Tag. Der Wald lichtet sich, vor meinen Augen glitzernde Weite, ich streife die Badeschuhe von den Füßen, grabe meine Zehen in den kühlen Sand und renne in die Sonne. Ich war zwölf, als ich meinen ersten Sommer an der Ostsee erlebte. Nach jahrelanger Wartezeit hatte Papa einen Ferienplatz auf Rügen ergattert, zwei Augustwochen auf dem Campingplatz in Göhren. Morgens um vier verließen wir in unserem senffarbenen Trabant das Dorf. Obwohl Papa einen Dachgepäckträger von einem Kollegen ausgeliehen hatte, türmten sich zwischen Brit und mir die Essensvorräte. Rucksäcke und vergilbte Plastetüten stapelten sich auf dem Boden neben unseren Füßen. Immer wieder musste Papa anhalten, und wir krochen ins Freie, um unsere Beine auszuschütteln und den Rücken durchzustrecken. Noch vor dem Mittag erreichten wir die schattigen Alleestraßen nördlich von Berlin, und am frühen Abend kamen wir in Göhren an. Ich erinnere mich, wie blass Mama wurde, als sie den Wohnwagen sah, an die Flecken, die an ihrem Hals blühten, als sie verlangte, wieder nach Hause zu fahren, denn hier könne man doch nicht bleiben mit dem ganzen Gepäck. Erst als sie das Meer sah, wurde sie ruhiger, und so begann der Urlaub, in dem ich erfuhr, wie salzig Meerwasser schmeckt und wie es sich auf sonnenverbrannter Haut anfühlt. Ich wurde zum ersten Mal so heftig von einer Welle umgeworfen, dass mir der Atem wegblieb, und übte mit Brit um die Wette Rolle vorwärts im Wasser. Jeden Morgen stellten wir uns am Kiosk nach Brötchen an, an jedem Morgen grub Papa eine frische Mulde in den Sand. Mama und ich wärmten in der Kochnische Dosenfleisch auf, wir tranken literweise Orangenbrause. Der Wohnwagen stand in der Nähe der Stranddüne. Zwischen den Kiefern schimmerte das Wasser, und ich erinnere mich an die Weite und das Licht, an die Schiffe, die, klein wie Spielzeug, auf der Horizontlinie entlangkrochen, den tiefen weißen Sand und das ununterbrochene beruhigende Rauschen der Wellen, das bis in den Wohnwagen zu hören war.

Ich ziehe die Jeansjacke fester um die Schultern. Immerhin kann ich hier auf dem Gang die Beine ausstrecken. Toms Kopf ist vornüber gekippt. Er schnarcht leise, und ich betrachte sein entspanntes Gesicht, die aufgeworfenen Lippen, die dunklen Wimpern.

Schon im Januar, als wir gerade zwei Monate zusammen waren, hatte er sein Zweimann-Zelt auf dem Campingplatz in Baabe angemeldet. Jetzt ist August, und er hat sein Abi in der Tasche und ich meine Semester-Zwischenprüfungen. Es kommt mir vor, als wären sie schon ewig her, diese Tage zwischen überquellenden Heftern, Lehrbüchern und Stößen bekritzelten Papiers, ohne Appetit und Schlaf, voller Selbstzweifel und ohne Tom, den ich am Abend vor der ersten Prüfung nach Hause geschickt hatte. Ich schlief nicht in dieser Nacht, fuhr mit dem Fünfuhr-Zug nach Halle, und als ich den Prüfungsraum betrat und die Anatomiedozentin in ihrem Arztkittel sich neben das Skelett aus Plaste stellte, auf den Schädel zeigte und mich auffordernd anblickte, spürte ich, dass ich verloren hatte. Ich schwieg so lange, bis die Dozentin ihre Stirn runzelte und nach den Muskelsträngen und Knochen des Oberarmes fragte, doch ich bekam noch immer kein Wort heraus. Von ihrem Lavendel-Parfüm wurde mir schwindelig, und in meinem Gehirn wirbelten alle auswendig gelernten lateinischen Begriffe durcheinander.

„Was ist denn los?“, fragte die Dozentin, „Sie sind doch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Versuchen wir es anders. Was wissen Sie denn über den Aufbau und die Funktionsweise des Herzmuskels?“

Ich war kurz davor, in Tränen auszubrechen und aus dem Raum zu laufen, doch plötzlich hatte ich eine passende Abbildung aus dem Anatomieatlas vor Augen und begann stockend zu reden, so lange, bis sie mich unterbrach und sagte: „Na, bitte. Geht doch. Sie können froh sein, dass Sie so eine gute Vornote haben.“

Ich ging mit erhobenem Kopf hinaus und weinte erst, als ich das Schulgebäude verlassen hatte und auf dem Weg zum Bahnhof war.

„Ich muss als Labor- MTA doch nicht alle Knochen und Muskeln auf Lateinisch wissen!“, schimpfte ich zu Hause.

„Aber als Ärztin“, sagte Mama. „Oder hast du deine Pläne an den Nagel gehängt?“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, doch sie lockte mich mit einer Tafel Milka-Schokolade, die aus unserem eisernen Vorrat stammte, und fragte: „Was ist übermorgen dran?“

„Hämatologie- Methodik“, sagte ich, und sie antwortete: „Das ist doch ein Klacks für dich.“

Zwei Tage später saß ich im Lehrlabor, zählte und analysierte rote und weiße Blutzellen, führte einen Gerinnungstest durch und kreuzte eine Blutkonserve ein. Ich kam nicht ins Schwitzen, obwohl die Luft draußen vor Hitze flirrte, war vor der Zeit fertig, erhielt die volle Punktzahl und fühlte wieder festeren Boden unter den Füßen.

Achtundvierzig Stunden später fragte mich der als „Vollstrecker“ gefürchtete Biochemiedozent nach der Struktur der DNA und dem Prinzip der Proteinbiosynthese, die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, auf dem hageren Gesicht des Dozenten zeigte sich ein Lächeln, und er sagte: „Fräulein Hochlinger, ich glaube, Sie haben verstanden, worum es geht.“

Auf dem Weg zum Bahnhof summte ich vor mich hin, und am Abend fuhr ich mit einer Flasche Sekt zu Tom. Wir saßen bis in die Nacht am See und liebten uns auf Toms Wolldecke, bis es Morgen wurde und ich wieder nach Hause fuhr und meinen Rucksack packte. Noch immer kann ich nicht glauben, dass wir tatsächlich an die Ostsee unterwegs sind.

Ich schrecke auf und stupse Tom mit dem Ellenbogen an.

„Geht schon.“ Der Junge macht einen großen Schritt über Toms Beine, er ist schlank und rothaarig, und ich mag sein Lächeln. Tom scheint tief zu schlafen. Draußen ist kaum ein Licht zu sehen. Mecklenburger Niemandsland. Meine Armbanduhr zeigt halb drei, ich nehme den Walkman aus dem Rucksack und entwirre die dünnen Kabel der Kopfhörer.

„Hungry Eyes“, singt Eric Carmen. Ich lehne den Kopf an die Wand hinter mir.

„Der Rügendamm! Anni, wach auf, wir sind da!“

Vorsichtig bewege ich meine Beine, kriege die Augen kaum auf, geblendet von den Sonnenstrahlen, blinzele und erkenne die Kräne der Stralsunder Werft und Dunst über blassblauem, stillem Wasser, ja, nur noch Wasser bis zum Horizont. Ich schlinge die Arme um Toms Hals.

„Soll ich uns einen Kaffee holen?“, flüstert er mir ins Ohr. Ich nicke und küsse ihn, und als ich das Fenster öffne, belebt mich die frische Luft, und ich halte mein Gesicht so lange ins Freie, bis ich mich wach fühle.

„Wenn wir das Zelt aufgebaut haben, gehen wir ans Meer.“

„Lieber gleich, komm.“

„Ania! Hör auf mit dem Quatsch! Hilf mir lieber.“

Aber ich höre nicht darauf, was er ruft und laufe schon Richtung Düne. Unter den Sohlen meiner Turnschuhe knirscht der Sand.

„Ania! Ich glaub’s ja nicht.“ Seine Stimme wird leiser, ich drehe mich nicht mehr um, und als ich auf dem Gipfel des Hügels angekommen bin, ist alles, wie es sein soll. Gleißendes Licht, Strandkörbe, regenbogenfarbene Wasserbälle und die Ostsee in der Farbe des Himmels. Ich laufe noch ein paar Schritte, dann lasse ich mich in den warmen Sand fallen und vergesse die Fahrt. Ich vergesse auch, dass ich eigentlich nur noch schlafen wollte, endlich schlafen, und dass unsere Abmachung, nicht wegen jeder Kleinigkeit zu streiten, für Tom schon nicht mehr zu gelten scheint. Ich breite die Arme aus, höre das Rauschen, nehme den Geruch des Meeres in mich auf. Dann gehe ich zum Wasser und halte meine Finger hinein. Es ist kristallklar und kalt, und mit den Händen voller Sand renne ich zu Tom zurück. Das Zelt steht schon, er schlägt mit verbissenem Gesicht Heringe in den Boden und schiebt mich zur Seite. Der Sand rinnt mir durch die Finger, ich habe keine Kraft für eine Entschuldigung und fange an, meine Luftmatratze aufzublasen, während mir die Tränen übers Gesicht laufen. Ich blase mehr Speichel als Luft hinein, und als ich ins Zelt krieche, räume ich unser Gepäck von einer Ecke in die andere, bis ich endgültig genug habe und alles hinschmeiße und mein Gesicht in ein Kissen presse.

„Ach, Anni ...“

Seine Hand auf meinen Rücken fühlt sich warm und fest an. Er nimmt mich in den Arm, und langsam werde ich ruhiger.

Ich puste vorsichtig in Toms Haar, doch er reagiert nicht, und so verschränke ich die Arme unter dem Kopf und schaue in den blassblauen Himmel.

Wir haben vor einer Stunde gefrühstückt. Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Tom ist neben mir eingeschlafen, er liegt auf dem Bauch, sein Hintern leuchtet rot, und ich decke ein Handtuch darüber. Hier kann sich jeder sonnen und baden, wie er mag, und für uns gab es vom ersten Tag an nichts Schöneres, als nackt ins Wasser zu laufen und uns dabei wie Adam und Eva zu fühlen.

Seit wir hier sind, vergeht ein Tag wie der andere. Ausschlafen, Frühstück mit frischen Brötchen, für die sich Tom am Kiosk anstellt, während ich im Zelt aufräume. Baden und sonnen und lesen, Mittagsschlaf im Zelt, wieder baden und sonnen und lesen und Radio hören. Wir können kein NDR2 empfangen, denn an Toms Kassettenrekorder ist die Antenne abgebrochen. Aber immerhin reicht es für DT64. Unser Zelt steht unter einem Baum in der Nähe der Düne. Bis zum Wasser sind es nur ein paar Minuten, und wenn wir uns abends auf unseren Matratzen zusammenkuscheln, hören wir das Meer rauschen, als würden wir am Strand liegen. Alles könnte so schön sein, wenn der Weg zu den Toiletten und Waschräumen nicht so weit wäre. Nachts traue ich mich nicht hinaus, und wenn ich es nicht mehr aushalten kann, kauere ich mich hinter einen Baum. Wenn ich abends müde vom Nichtstun und fröstelnd vom Wind zum Waschen gehe, den Wasserhahn aufdrehe und das Wasser so lange laufen lasse, bis es lauwarm ist, dann sehne ich mich nach einer heißen Dusche.

Tom sagt, ich solle mich nicht so anstellen, schließlich sei das hier ein Campingplatz. Ich nicke nur und bin froh, dass es so warm ist und ich Badelatschen dabei habe.