Verlag duotincta

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Birgit Rabisch

Duplik Jonas 7

Roman


Über die Autorin

Birgit Rabisch studierte Soziologie und Germanistik und lebt als Autorin in Hamburg. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Der utopische Roman „Duplik Jonas 7“ avancierte zum Bestseller und Standardwerk für den Schulunterricht zum Thema Gentechnologie.


Bei duotincta sind die Romane „Die vier Liebeszeiten“ und „Wir kennen uns nicht“ erschienen.


Impressum


Überarbeitete Auflage 2017

Copyright © Birgit Rabisch; Printausgabe: 1996 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co KG, München

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Typographie: Verlag duotincta, Berlin

Einband: Jürgen Volk, unter Verwendung von Motiven von © pixabay

ISBN 978-3-946086-25-3



Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.duotincta.de



Für Arne und Sönke,

meine einmaligen Söhne.







Der Hort

Eine Sensation! Unserem Kleeblatt wird ein Neugekommener anvertraut!

Bisher sind ja alle Dupliks von den Frauen großgezogen worden. Aber mit uns wird eine neue Ära beginnen! Das hat jedenfalls Frau Dr. Hellmann gesagt.

Als sie unser Kleeblatt 7 vor einem halben Jahr auf das bevorstehende freudige Ereignis vorbereitete, waren wir sehr stolz, aber auch ein wenig ängstlich, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sein würden.

Vor allem Tim hatte so seine Zweifel. Ob er in der Lage sein würde, dem Kind die Lehrsätze richtig zu erklären? Ob er für die Einhaltung der notwendigen Regeln sorgen könne? Mit einem Neugekommenen sei es ja sicherlich noch nicht so schwierig: füttern, wickeln, baden, trösten – das traue er sich nach genauer Anleitung ohne weiteres zu. Aber wenn so ein Kind dann größer würde, ins Fragealter käme! Warum sind die Tomaten rot? Was ist außerhalb der Kuppel? Warum kippt man um, wenn man den Rand der Kuppel berührt? Woher holen die Frauen die Neugekommenen? Also, er sei immer froh gewesen, wenn er diese Fragezeichen auf zwei Beinen an ihre Dadas verweisen konnte.

Frau Dr. Hellmann hat geschmunzelt. Sie könne seine Sorgen gut verstehen. Aber sie werde uns jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Außerdem würden wir bis zur Ankunft des Neugekommenen einen Vorbereitungskurs bei ihr absolvieren, so dass wir für unsere Aufgabe, aus ihm einen anständigen Duplik zu machen, bestens präpariert wären. Ich glaube noch heute, dass Tim seine Zweifel nur vorgeschoben hat. Wirkliche Angst hatte er wohl vor der zu erwartenden Beeinträchtigung seiner Bequemlichkeit. Er hockt am liebsten den ganzen Tag am Playdeck. Er lädt jedes neue Spiel aus dem Hortnet herunter und vergnügt sich damit, bis er den Spielverlauf in- und auswendig kennt. Nur Schach wird ihm nie langweilig. In immer neuen Partien misst er sich mit dem Chessmaster special. Außer Spielen hat Tim eigentlich keine Interessen. Die vorgeschriebenen drei Stunden Gesundheitstraining täglich absolviert er natürlich, aber freiwillig treibt er keinen Sport. Nicht mal Fußball!

Auch ist er der Einzige in unserem Kleeblatt, der grundsätzlich Conveniance-Food ordert, wenn sein Hausarbeitstag ist. Jan, Martin und ich dagegen kochen gern und ordern meistens Rohstoffe.

Martin ist unser Top-Sportler. Er ist Stürmer bei Fair Play und eine kleine Berühmtheit im Hort. Nahezu alle 1040 Dupliks des Horts kennen ihn und er hat sogar richtige Fans, die mich schon mal auf dem Weg ansprechen: »Hallo, Jonas 7, euer Kleeblatt 7 kann wirklich stolz sein! Martin 7 ist ein Klassefußballer! Seit er Stürmer bei Fair Play ist, haben die alle Chancen Hortmeister zu werden. Grüß ihn von Helmut 39!«

Jan ist ein sehr ruhiger Duplik. Er sitzt gern bei Kerzenschein und träumt vor sich hin. Er strickt unermüdlich, so dass wir schon nicht mehr wissen, wohin mit all den Pullovern. Jetzt ist er natürlich glücklich, eine neue Aufgabe zu haben. In kürzester Zeit hat er für den Neugekommenen Strampelhosen, Ausgehjäckchen, winzige Fäustlinge und Söckchen gefertigt.

Jan ist schon seit zwei Jahren Kursleiter für autogenes Training und Meditation. Mit ihm führe ich oft lange Gespräche, die sich nicht nur um Alltägliches drehen. Wir philosophieren gern über die uralten Fragen des Duplikdaseins. Woher die Dupliks kommen und wohin sie gehen. Warum die Dupliks im Hort leben und die Frauen draußen. Und was wohl außerhalb der Kuppel ist. Auf jeden Fall ein ganz anderer Hort, etwas, das sich ein Duplik gar nicht vorstellen kann. Und keine Nachricht von dort dringt zu uns.

Nur zweimal im Leben befindet sich ein Duplik außerhalb der Kuppel: wenn er von den Frauen als Neugekommener gebracht wird und wenn er nach seinem Tod den Hort durch die Endschleuse für immer verlässt.

Draußen ist die Welt, sagen die Frauen. Aber was das ist, erklären sie uns nicht. Ob dort nur Frauen leben? Oder auch Katzen, Hamster und Meerschweinchen wie in unseren Kleeblättern? Gibt es eine Himmelskuppel mit dem wunderbar milchigen Licht des Tages und der von sieben Monden beglänzten Dunkelheit der Nacht? Und woher kommen die Frauen? Ob sie auch sterben wie die Dupliks und die Katzen, Hamster und Meerschweinchen? Jan glaubt das, denn manchmal kommen Frauen nicht wieder, die uns jahrelang gehortet haben. Sie werden durch andere Frauen ersetzt. Außerdem altern die Frauen auch, das kann man eindeutig beobachten, sagt Jan. Und alles, was altert, stirbt auch.

Ich bezweifle das, denn man kann nicht einfach Erfahrungen aus unserem Leben auf die Frauen übertragen. Die Frauen sind ganz andere Lebewesen, das zeigt sich ja schon rein äußerlich. Obwohl noch niemand von uns eine Frau unbekleidet gesehen hat, steht zumindest so viel fest: Sie haben keinen Bart, ihre Stimmen sind höher und ihre Brust ist merkwürdig breit, was man selbst unter ihren weiten Kitteln sehen kann.

Jan betont gern die Gemeinsamkeiten: dass sie reden wie wir, essen wie wir, gehen wie wir.

Aber was bedeutet das schon?

Es gibt so viel, was ich von den Frauen wissen möchte: Schlafen sie auch? Haben sie Kinder? Müssen sie auch aufs Klo? Was machen sie, wenn sie nicht horten? Wenn man sie nur fragen könnte!

Aber schon die erste Regel, die jeder junge Duplik in der Schule lernt, lautet: Frage nie eine Frau nach den Frauen! Natürlich haben es immer wieder einige vorwitzige Dupliks versucht, aber sie haben alle die gleiche Antwort erhalten:

Darüber können wir keine Auskunft geben.

Ich muss zugeben, dass ich früher selbst zu diesen vorwitzigen Dupliks gehörte. Wie oft habe ich in meiner Schulzeit diese Antwort zu hören bekommen! Meine Lehrerin, Frau Dr. Jahnke, nannte mich Jonas Neunmalklug. Auch überkam mich oft die Unruhe und ich musste in die Klinik und Spritzen bekommen. Später haben sie mir häufig Entspannungstraining verordnet, weil die vielen Spritzen der Gesundheit schaden. Und Gesundheit ist unser allerhöchstes Gut. Aber das weiß ja wohl jeder. Jeden Tag drei Stunden Gesundheitstraining: Laufen, Gymnastik, Schwimmen, Kraftübungen; zweimal in der Woche in die Sauna; einmal Check-up in der Klinik. Das ist das Mindestprogramm. Aber die meisten tun freiwillig viel mehr. Sport und Spiel – das sind unsere Lebensinhalte.

Über etwas anderes kann man sich auch mit kaum einem Duplik unterhalten. Darum bin ich so froh über die Gespräche mit Jan. Er gehört zu den wenigen, die es nicht lassen können, sich Fragen zu stellen. Aber ihn macht es nicht so unruhig wie mich, dass es auf all die vielen Fragen keine Antworten gibt. Seine Philosophie ist: Wir sind nur dumme, kleine Dupliks. Uns ist es zwar gegeben, Fragen zu stellen, aber nicht, Antworten zu bekommen.

Ich dagegen will oft nicht einsehen, dass es keine Antworten geben soll. Die Frauen wissen die Antworten. Warum erlösen sie uns nicht von unseren Fragen?

Jan sagt: Eine Frage an eine Frau ist wie eine Frage an einen Baum.

Aber das ist falsch. Denn die Bäume können nicht antworten und die Frauen … wollen nicht? Warum wollen sie es nur nicht? Sie tun doch sonst alles für uns. Sie sagen, das Wissen über ihre Welt würde unsere Gesundheit ruinieren. Ist denn ihre Welt ein so schrecklicher Hort? Und warum ruinieren sie dann nicht ihre eigene Gesundheit? Sind Frauen überhaupt jemals krank? Erkältet habe ich jedenfalls schon einige von ihnen erlebt. Und wenn einer von uns erkältet ist, schützen sie sich mit einem Mundschutz. Also können sie sich bei uns anstecken, oder?

Ach, könnte ich nur aufhören zu fragen. Vielleicht hat Frau Dr. Hellmann Recht, und die Beschäftigung mit dem Neugekommenen wird mich von meinen unsinnigen Zweifeln ablenken und mich ruhiger machen. Wenn es doch erst so weit wäre!

Der Neugekommene

Hannes ist da!

Den Tag seiner Ankunft werde ich nie vergessen. Es war wirklich sehr aufregend. Im Gemeinschaftsraum waren die Bewohner unseres Hauses versammelt, alle vierzig Dupliks der Kleeblätter 1‒10 waren zur Feier gekommen. Der Raum war festlich geschmückt, wie sonst nur bei den Siegerehrungen der verschiedenen Sportwettbewerbe.

Frau Dr. Hellmann hielt eine ergreifende Ansprache. Sie sagte, dass bisher die Frauen die Erziehung der kleinen Dupliks geleistet hätten, dass es jetzt aber an der Zeit für uns sei, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Sie sprach von der Ehre, die es für unser Kleeblatt 7 sei, als Erstes einen Duplik erziehen zu dürfen, und dass sie voll Vertrauen und Zuversicht auf uns blicke, die wir wohl vorbereitet diese Aufgabe übernehmen würden.

Dann mussten Martin, Tim, Jan und ich aufs Podium kommen. Die Hausband spielte einen High-Emotion und eine Klinikerin brachte Hannes herein. Sie legte ihn in Martins Arme. Hannes schrie fürchterlich. Martin schaukelte ihn. Wir anderen drei standen hilflos herum. Frau Dr. Hellmann kam und gratulierte uns, und danach gratulierten uns auch alle anderen Hausbewohner. Hannes schrie weiter, bis Frau Dr. Hellmann endlich die Zeremonie beendete und wir in unsere Kleeblatt-Wohnung 7 zurückkehren konnten. Jetzt konnte ich zeigen, wie gut ich im Vorbereitungskurs aufgepasst hatte. Ich stellte ein Fläschchen in den Feeder, tippte, ohne vorher auf der Tabelle nachschauen zu müssen, 4:100 ccm, 36 Grad ein und sah zu, wie der Feeder nach einer Ultrakurz-Sterilisation das Fläschchen füllte und mit dem Silikon-Schnuller verschloss.

Martin hatte inzwischen Hannes ein Lätzchen umgebunden und sich auf einem bequemen Sessel niedergelassen. Feierlich überbrachte ich das Fläschchen. Martin als der Älteste durfte die erste Fütterung übernehmen. Andächtig schauten wir anderen drei zu, wie Hannes gierig die Flasche bis auf den letzten Tropfen leerte. Wir klatschten begeistert Beifall, umarmten und beglückwünschten uns. Martin übergab mir Hannes, ich legte ihn an meine Schulter und klopfte sanft auf seinen Rücken, um ihn sein Bäuerchen machen zu lassen. Das kam prompt, aber mit ihm ergoss sich auch der ganze Inhalt des Fläschchens über meinen Rücken.

Dieser Moment markiert für mich in der Erinnerung das Ende der Feierlichkeiten und den Beginn des Alltags mit Hannes, der bis jetzt viel chaotischer verläuft, als ich es mir nach der Schulung vorgestellt habe. Hannes hält absolut nichts von festen Fütterungszeiten, spuckt mindestens die Hälfte seiner Mahlzeit regelmäßig wieder aus und muss dann ein zweites Fläschchen bekommen. Unsere Wäsche hat sich verdreifacht. Die ganze Wohnung riecht säuerlich und unser Hauptgesprächsthema ist: Hat er oder hat er nicht? Denn Hannes’ Verdauung ist sehr unregelmäßig, und wenn er Blähungen hat, schreit er stundenlang.

Natürlich haben wir uns die Woche genau eingeteilt, so dass immer einer von uns ganz für Hannes da ist, während die anderen ihrem Gesundheitstraining, ihrer Hausarbeit oder ihren Hobbys nachgehen.

Theoretisch! Aber weder kann Jan meditieren noch Tim den Chessmaster special schlagen, wenn Hannes’ Gebrüll durch die Wohnung schallt. Auch nachts wechseln wir uns ab, denn Hannes ist ein unruhiger Schläfer. Zwei- bis dreimal füttern und trösten pro Nacht ist die Regel. Na ja, aber das legt sich später, hat uns Frau Dr. Hellmann versichert. Wir haben sie bisher sehr selten um Rat gefragt, denn wir haben alle ein bisschen den Ehrgeiz, allein mit Hannes zurechtzukommen. Und das klappt auch. Denn trotz allem ist Hannes ein liebes Kerlchen. Er hat fast noch keine Haare, hellblaue Augen, und wenn er so in meinem Arm liegt, wird mir immer ganz angenehm warm. Die Spazierfahrten mit ihm sind aber das reinste Spießrutenlaufen. Fast alle Dupliks, denen wir begegnen, wollen in seinen Wagen gucken und fragen, wie es denn so mit ihm läuft. Kleeblatt 26 soll auch bald einen Neugekommenen kriegen. Die Kleeblätter 13 und 17 machen einen Vorbereitungskurs.

Manchmal fahre ich mit Hannes zum alten Kinderhaus, in dem ich aufgewachsen bin. In meiner Gruppe waren wir fünfzehn Kinder und drei Dadas. Die meisten Dadas waren sehr streng, aber an eine erinnere ich mich gern zurück: Dada Mirdal. Zu ihr ging ich, wenn die anderen Kinder mich gehauen hatten, wenn ich hingefallen war oder wenn ich einfach nur auf ihrem Schoß sitzen und gestreichelt werden wollte. Sie sprach wenig, aber sie schimpfte auch selten. Und als ich später anfing, ihr Löcher in den Bauch zu fragen, wurde sie nicht böse, sondern sagte nur ruhig: Darauf kann ich dir nicht antworten. Fast klang es ein wenig traurig.

Leider verließ sie das Kinderhaus, als ich zehn Jahre alt war. Sie arbeitet heute in der Klinik. Ich habe sie dort einmal beim wöchentlichen Check-up getroffen. Sie hat mich sogar wiedererkannt und gesagt: »Hallo, Jonas 7, schön, dass du immer noch gesund bist!« Und da war genau dieser traurige Klang in ihrer Stimme, an den ich mich seit meiner Kindheit erinnere.

Seit Hannes da ist, denke ich wieder öfter an meine eigene Kindheit und an Dada Mirdal. Ich möchte ihm ein guter Dada sein und ich glaube nicht, dass man dazu mit einem Kind so viel schimpfen muss, wie die anderen Dadas es mit uns getan haben. Am schlimmsten war es natürlich, wenn wir uns gegen unsere Gesundheit versündigten, etwa das Zähneputzen vergaßen oder es beim Training an Eifer fehlen ließen. Aber ich glaube, das ewige Schimpfen nützt gar nichts. Mit Liebe und Geduld erreicht man mehr. Das sagt auch Frau Dr. Hellmann. Sie meint, die neuesten Erkenntnisse der Duplikologie wiesen ebenfalls in diese Richtung. Sie könne mein Anliegen nur unterstützen, Hannes mit möglichst wenig Zwang aufwachsen zu lassen. Am wichtigsten sei unser Verhalten. Wenn wir ein vorbildliches Leben führten, würde er auf ganz natürliche Art und Weise die Regeln und Gesetze des Hortes befolgen lernen.

Ich glaube, unser Kleeblatt braucht sich da keine Sorgen zu machen. Selbst ein kleines Kind besitzt ja schon genug gesunden Duplikverstand, um zu begreifen, wie wichtig es ist, alles zur Erhaltung seiner Gesundheit zu tun.

Sehr früh werden wir Hannes auch vor der schlimmsten Krankheit warnen müssen: dem Fraß. Nun passiert es zum Glück äußerst selten, dass der Fraß Kinder befällt. Aber mit zunehmendem Alter wächst die Gefahr. Das Heimtückische am Fraß ist, dass der Betroffene von seiner Krankheit überhaupt nichts merkt. Aber die Klinik kann ihn bei den wöchentlichen Check-ups erkennen und handelt sofort. Die Krankheit kann praktisch alle Körperteile und Organe befallen. Die fressen sich dann selbst auf, und wenn sie nicht rechtzeitig entfernt werden, greift der unheimliche Selbstverdauungsprozess auf den gesamten Körper über. Manchmal ist es allerdings zu spät und der Kranke kann nicht mehr gerettet werden. Manche überleben auch die Operation nicht. Viele können geheilt werden, bleiben aber von der Krankheit gezeichnet. Ihnen fehlt eine Niere, ein Bein musste amputiert werden, sie leben mit einer künstlichen Blase oder einem verkürzten Darm.

In Haus C lebt zum Beispiel der zweiundvierzigjährige Walter 6, dem vor zwei Jahren beide Beine amputiert wurden. Danach hat man ihm die Gehörorgane herausoperiert und seit einem Vierteljahr lebt er mit einem Kunstherzen. Er lebt, aber wie! Er wird von den drei anderen seines Kleeblattes aufopfernd gepflegt, aber es ist ein Bild des Elends.

Dass ausgerechnet er so schwer am Fraß erkrankt ist, hat mich erschüttert, denn er war geradezu verbissen um seine Gesundheit besorgt und ließ sich nie die geringste Nachlässigkeit zu Schulden kommen.

Wenn einer von uns Jüngeren mal über Langeweile geklagt hat, pflegte er zu sagen: »Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt! Zu meiner Jugendzeit mussten wir laufen, springen, Kniebeugen und Liegestützen machen. Immer wieder dieselben Übungen. Und den Rest des Tages hatten wir nichts zu tun. Jeder wohnte allein in seinem Zimmer. Das Essen wurde geliefert. Wir langweilten uns buchstäblich zu Tode. Immer wieder drehten welche durch und mussten mit Spritzen beruhigt werden. Aber das ruinierte unsere Gesundheit und ließ uns immer unzufriedener werden.

Erst nachdem die damalige Leiterin des Hortes, Frau Dr. Bolt, von Frau Dr. Hellmann abgelöst wurde, brach eine neue Zeit an. Als Erstes durften wir unsere Häuser umgestalten. Aus den Einzelzimmern wurden Kleeblattwohnungen, in denen je vier Dupliks zusammen wohnten. Das große Gewächshaus, in dem wir heute unser Gemüse anbauen, wurde angelegt. Wir lernten alles über gesunde Ernährung, durften selbst unser Essen kochen. Frau Dr. Hellmann richtete die Hobbyschulen ein. Jeder konnte dort nach seinen Interessen Kurse besuchen: Malen, Töpfern, Musizieren, Tanzen. Wir stürzten uns damals auf diese Angebote wie Verdurstende. Heute sind ja die Kursleiter selbst Dupliks. Aber seit wir alle unser Playdeck zu Hause haben, hat das Interesse an diesen Kursen ziemlich nachgelassen. Ihr jungen Leute lebt ja fast nur noch in euren virtuellen Spielhorten! Hört bloß auf, euch über Langeweile zu beklagen. Ihr wisst gar nicht, was das ist. Wer sich hier langweilt, hat selber Schuld!«

Vielleicht hat er Recht. Aber ich bin eben manchmal trotzdem unzufrieden. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, hat daran auch Hannes’ Ankunft nichts geändert. Natürlich ist es schön, so ein kleines Wesen versorgen zu dürfen und es heranwachsen zu sehen. Dennoch geht mir die Frage nach dem Sinn meines Lebens nicht aus dem Kopf. Da strampelt man sich ab, nur um endlich möglichst gesund zu sterben? Jan sagt, seit Duplikgedenken fragten die Dupliks nach dem Sinn ihres Lebens. Dabei sei das Leben selbst der Sinn.

Das hört sich gut an. Aber trotzdem! Mir genügt es nicht. Ich will mehr. Aber was will ich eigentlich?

Der Fraß

Ich kann es nicht fassen!

Es ging alles so schnell. Vor zwei Wochen – ich beobachtete gerade Hannes’ Versuche, sein Köpfchen von der Wickelunterlage hochzuheben – kam der Krankenwagen und holte mich ab.

Ich saß im Aufnahmebüro und die Ärztin telefonierte. Ich betrachtete das Bild über ihrem Kopf, es war eine Sonnenblume vor einer Mauer, und ich ahnte, dass etwas Furchtbares auf mich zukommen würde. Ich schaute wieder das Bild an, als könne es die Gefahr bannen, denn wie kann eine Gefahr drohen, wo es dieses zufrieden-satte Sonnenblumengelb gibt. Doch dann legte die Ärztin den Hörer auf und blickte mich an:

»Du hast den Fraß! Er sitzt in deinen Augen!«

Ich wollte protestieren. Vor zwei Tagen war ich doch erst beim Check-up gewesen und alles war in Ordnung. Aber meine Stimme versagte. Ich senkte den Kopf.

»Es ist noch nicht zu spät. Wir können dein Leben retten. Aber deine Augen wirst du verlieren. Wir müssen den Fraß mit Stumpf und Stiel ausrotten. Und wir müssen schnell handeln. Das Operationsteam ist bereit.«

Mir wurde schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Trage und wurde in den Operationssaal gerollt. In meinem Gehirn hämmerte es immer wieder: »Das ist das Letzte, was du siehst.«

Meine Augen starrten auf alles, als könnten sie es in sich hineinsaugen, als könnten sie Bilder sammeln, in den wenigen verbleibenden Minuten noch einen Vorrat anlegen. Weiße Kacheln, das grelle Licht, ein Infusionsgerät, vermummte Ärztinnen – und plötzlich diese Augen über mir. Dada Mirdal! Obwohl der Mundschutz ihr halbes Gesicht verdeckte, erkannte ich sie sofort. Das traurige Lächeln ihrer Augen. Es war das Letzte, was ich in meinem Leben sah.

Jetzt liege ich in einem Klinikbett. Ein Verband bedeckt meine Augen – oder besser gesagt den Platz, an dem einmal meine Augen waren. Sie werden mir eine Augenplastik einsetzen, haben sie gesagt. Damit ich nicht so abschreckend aussehe. Aber sehen – sehen werde ich nie wieder können.

Ich bin blind. Ich liege im Bett und sage mir immer wieder diese Worte: Ich bin blind. Blind. Blind.

Aber es will mir nicht in den Kopf. Mich umgibt totale Finsternis. Aber immer noch denke ich: Gleich schlägst du die Augen auf und guckst dich um. Siehst dir deinen Bettnachbarn an, mit dem du schon gesprochen hast, den du nachts schnarchen hörst und am Tage sich räuspern, mit Papier rascheln, hin- und herlaufen.

Er heißt Heinz 139, ist vierundvierzig Jahre alt. Ihm haben sie die Bauchspeicheldrüse entfernt. Er erzählt viel von sich. Ich höre zu, aber ich habe das Gefühl, ihn überhaupt nicht kennenzulernen. Er bleibt ja unsichtbar. Er ist ein Phantom. Wie alle anderen auch. Was ist das für ein Geisterhort, den ich nur hören, fühlen und riechen kann? Das ist ein fremder Hort und ich selbst bin mir auch fremd. Ich war ein Sehender. Jetzt bin ich ein Blinder. Ich bin nicht mehr ich. Wir Dupliks sind doch auf unsere Augen angewiesen. Was bin ich ohne Augen denn noch?

Versinke nicht in Selbstmitleid. Sei froh, dass du den Fraß überlebt hast, sagt mein Bettnachbar.

Wir werden deine Augen sein, wenn du wieder zu Hause bist, sagt Tim.

Ich stelle ein Spezial-Gesundheitsprogramm für dich zusammen, sagt Frau Dr. Hellmann.

Ich werde dir vorlesen, sagt Jan.

Bei Blinden schärfen sich die anderen Sinne, sagt Martin.

Ich weiß, sie meinen es alle gut mit mir, aber ihre Worte trösten mich nicht. Sie bestätigen mir nur, was ich nicht glauben kann: Die Finsternis wird bleiben.

Mein einziger Trost kommt merkwürdigerweise von Dada Mirdal. Sie arbeitet auf meiner Station. Ob sie meinen Verband wechselt, das Essen bringt oder Fieber misst, ich unterscheide sie schon am Gang von den anderen Klinikerinnen. Und wenn ich ihre Stimme höre, sehe ich ihr Gesicht vor mir, wie ich es zuletzt sah. Und dieses Bild weckt eine Sehnsucht in mir. Ich weiß nicht wonach.

Ich weiß nur, ich möchte weinen. Auch das kann ich nicht mehr.

Die Schwester

Als Jonas Helcken aus der Narkose aufwacht, ist seine Schwester Ilka bei ihm. Er betastet immer wieder den Verband um seine Augen.

»Hast du Schmerzen?«

»Es geht. Was ist mit meinen Augen?«

»Du bist operiert worden.«