KATHRIN WILDENBERGER
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ZwischenLand
Roman



Kathrin Wildenberger wurde 1971 in Sangerhausen/Sachsen-Anhalt geboren und lebt nach Lehr- und Wanderjahren in Göttingen und Heidelberg seit 2006 in Leipzig. Sie arbeitet als freischaffende Autorin und Medizinisch-Technische Assistentin in einer Forschungsgruppe am Uniklinikum Leipzig. Ihr Debütroman „Montagsnächte“ erschien erstmals 2007 im Plöttner Verlag Leipzig und erfuhr bei duotincta 2017 als Auftakt der Wende-Trilogie um Ania, Brit und Suse seine Wiederauflage.


www.montagsnaechte.de

IMPRESSUM


Dies ist ein Roman. Die Handlung und die Figuren der Geschichte sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.
Den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Geschehens hat die Autorin versucht, wirklichkeitsgetreu darzustellen. Personen der Zeitgeschichte und relevante Handlungsorte werden konkret benannt.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Erste Auflage 2018
Copyright © 2018 Verlag duotincta, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Typographie: Jürgen Volk | Verlag duotincta
E-Book: Jürgen Volk | Verlag duotincta
Einband: Jürgen Volk & Nadine Tsawalasilis
Cover Fotografie: Yvonne Rudisch, Waiblingen (www.yvonnerudisch.de)

ISBN 978-3-946086-28-4 (Print)
ISBN 978-3-946086-29-1 (E-Book)






Der Traum ist aus... Aber ich werde alles geben, 
dass er Wirklichkeit wird.

Rio Reiser



Anja
Mittwoch, 14. März 1990






März, Frühling, ein heller Tag.

Ich steige aus der überfüllten Straßenbahn, halte mein Gesicht in die Sonne. Die anderen strömen an mir vorbei, über die Ampel, mitten hinein in das Menschenmeer auf dem Karl-Marx-Platz.

Fahnen über Fahnen – Schwarz-Rot-Gold, soweit ich blicken kann. »Helmut! Helmut!«, schallt es über den Platz. Eine gute halbe Stunde wird es noch dauern, bis sich der Bundeskanzler auf der Bühne vor der Leipziger Oper zeigen wird.

Ich bleibe am Haltestellengeländer stehen, hole die Tüte aus der Tasche. Als ich die Fahne auseinanderfalte, kommt mir eine Staubwolke entgegen. Ich huste und lege mir das steife Tuch so um die Schultern, dass das Emblem auf meinem Rücken zu sehen ist. Ich fühle mich, als hätte ich mich ausgezogen, schaue mich nicht um, reihe mich in den Strom der Menschen ein.

An der Ampel ruft jemand hinter mir: »Hau ab, du rote Sau!

Ich zwinge mich, nach vorn zu schauen, den Rücken gerade zu halten. Soweit ich sehen kann, ist meine Fahne die einzige mit Emblem. Aber alles ist möglich, oder? Vielleicht geben sich die anderen noch zu erkennen. Vielleicht braucht es nur jemanden, der den Anfang macht.

Die Menschen um mich herum halten Plastetüten, Kugelschreiber, Broschüren in den Händen, auch hier Schwarz-Rot-Gold und die Logos der CDU und der Allianz für Deutschland. Die Autos, aus denen all das verteilt wird, ragen wie Inseln aus dem Menschenmeer heraus, auf ihren Dächern stehen Kameraleute.

Bernd kann ich schon von weitem sehen, er sitzt mit dem Fotoapparat in den Händen auf einer der Figuren des Mendebrunnens und schaut in meine Richtung. Ich nehme die Fahne von den Schultern, schwenke sie. Er scheint mich zu erkennen, doch er lächelt nicht.

»Die gilt doch nicht mehr«, spricht mich eine ältere Frau an. »Ich hab eine Schere dabei, sollen wir’s zurechtschneiden?«

Ich sage nichts und lege mir die Fahne wieder um die Schultern.

Es ist unsere Familienfahne, angeschafft für den 1. Mai und den 7. Oktober, sie ist ausgeblichen, knitterig und mindestens so alt wie ich. Ein Erinnerungsstück. Ich trage ein Erinnerungsstück, das zum Symbol geworden ist, nicht für das, wofür es ursprünglich stand, sondern für das, was ich mir wünsche, und deshalb habe ich in Blockschrift über das Emblem »Unser Land« geschrieben und drum herum: »Frei. Anders. Eigenständig.« Ich habe die Fahne aus der Vertikoschublade im Dachbodenzimmer meiner Eltern mitgenommen, als ich zu Vaters Geburtstag dort war. Niemand wird sie vermissen, da bin ich sicher.

Bist du von vorgestern oder was?«

Ein Typ mit Schnurrbart knufft mich in den Oberarm. Es tut weh, doch ich lasse mir nichts anmerken, und er drängt sich an mir vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich bin jetzt mittendrin, versuche, an der Litfaßsäule vorm Gewandhaus stehenzubleiben, habe keine Chance, treibe weiter bis zu einer Straßenlaterne vor der nächsten Ladenpassage. Ein paar Meter vor mir sehe ich Magnus’ Lockenmähne, seinen karierten Schal. Ich rufe, doch er dreht sich nicht um.

Ich lehne mich an das kühle Metall. Bernd habe ich aus den Augen verloren. Die Bühne vor der Oper ist so weit weg, dass ich den Bundeskanzler nur als Männchen sehen werde, harmlos, unangreifbar.


Vom Krochhochhaus her gongt es. Siebzehn Uhr. Eine Jubelwelle rollt auf uns zu. Die Leute um mich herum reißen die Arme hoch und johlen. Der Mast der Laterne im Rücken gibt mir Halt, ich pfeife auf zwei Fingern, es macht Spaß, und allein bin ich auch nicht mehr, denn von überall her kommen Pfiffe.

Da packt mich jemand am Arm und zieht mich zur Seite, aus der Menge heraus, unter das Dach der Ladenpassage. Bernd greift mit einer Kraft zu, die mich überrascht, ich reiße mich los, er packt mich wieder, mit diesem harten Gesicht, ich hasse es, wenn er mich so ansieht, und noch mehr, was er tut.

»Lass mich los!«

Die Fahne rutscht von meinen Schultern. Ich presse meine Fäuste gegen seine Brust. Er hält mir stand, greift meine Handgelenke und drückt sie nach unten. Seine Augen funkeln mich durch die Brillengläser an, blau und kalt. »Bist du lebensmüde?«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen!«

»Dann tu es!« Er lässt mich los und geht, verschwindet wieder zwischen den Menschen, und ich bleibe zurück, allein, und als ich die Fahne aufheben will, ist sie verschwunden.

Hinter mir Gelächter. Die zwei Männer habe ich schon in der Straßenbahn gesehen. Der eine hält meine Fahne an einem Zipfel hoch und brennt sie mit einem Feuerzeug an.

»Halt!«, schreie ich.

Die Typen schauen auf und lachen wieder, sie lachen mich aus, und ich sehe das Taschenmesser in der Hand des einen und gehe ein paar Schritte zurück, spüre hinter mir eine Hauswand, drücke mich dagegen, in den Schatten, meinen Herzschlag im Ohr.

»Brennt nicht mal, der Mist!«, ruft der Typ mit dem Feuerzeug.

Sein Kumpel sticht mit dem Messer in den Stoff hinein und zerfetzt das Emblem, schneidet es heraus, gibt es an den anderen weiter, der das Feuerzeug an den Fetzen hält, der aber auch nicht brennen will. Er lässt ihn fallen, tritt darauf herum.

»Erledigt«, ruft er und tritt noch einmal drauf.

Sein Kumpel lässt die Reste der Fahne vor mir auf den Boden fallen. Er sieht an mir vorbei und zieht die Nase hoch. Mit seinem faltigen Gesicht und den grauen Haaren könnte er mein Vater sein. Es stinkt verbrannt. Der Typ steckt sich eine Zigarette an, bringt die engen Jeans in Position und geht seinem Kumpel nach.

»Alles in Ordnung?«, fragt mich ein weißhaariger Mann, schaut auf die Fahnenreste und sagt: »Das hatten wir schon mal. Vor dem Krieg.«

Ich bücke mich, hebe die Fetzen auf, lasse sie wieder fallen.

»Seien Sie froh, dass nicht mehr passiert ist.«

Ich nicke, kriege kein Wort raus.

Kohl ist inzwischen auf die Bühne gekommen, im dunklen Anzug. Der Wind trägt seine Worte weg, und doch geht alles, was er ins Mikrofon sagt, in Jubel und Beifall unter. Allianz. Leipzig. Deutschland. Brüder und Schwestern. Neue Bundesländer.


»Warum bringst du dich so in Gefahr, Ania?«

»Weil ich was tun muss!« Ich liege auf der Matratze, die Arme unter dem Kopf verschränkt.

»Mach so was nie wieder!« Bernd steht am offenen Fenster, er raucht hastig.

Ich setze mich auf. »Aber nur so können wir was verändern.«

»Und wo willst du anfangen? Wenn wir schon wieder in einer Realität leben, die wir nicht wollen.« Er schmeißt die Kippe raus.

»Vielleicht geschieht ja wieder ein Wunder. Wir müssen nur fest daran glauben.«

Er lehnt sich ans Fensterbrett, legt den Kopf in den Nacken.

Stille.

Dann wieder seine Stimme: »Ich wandere aus.«

Die Worte füllen den Raum. »Nach Kanada. Oder nach Schweden.«

Seine Silhouette am Fenster bewegt sich nicht.

»Und was ist mit mir, mit uns?«, frage ich leise.

»Komm doch mit. Wenn du willst.«

Ich seufze, lasse mich zurück auf die Matratze fallen. »Über den Süden können wir reden, Italien, Spanien, irgendwann mal, vielleicht.«

Er winkt ab. »Ein paar Journalisten von drüben sind heute in der Redaktion aufgetaucht und haben gefragt, ob ich Revolutionsfotos hätte. Ich hab ihnen meine Demobilder gezeigt. Die waren nicht dramatisch genug. Angst wollten die sehen. Und Action!«

Er wird mit jedem Wort lauter.

»Weißt du, was die mit uns machen? Die zwingen uns ihre Vorstellung von einer funktionierenden Gesellschaft auf, ihren Konsumwahnsinn, überschwemmen uns mit Müll. Und die Leute lassen es zu. Die wollen es so.«

Er löst sich vom Fensterbrett, läuft auf und ab.

»Wir haben die Tür aufgemacht im Herbst. Und denen fällt nichts anderes ein, als in den nächsten Käfig zu tappen.«

»Aber die Tür bleibt offen, Bernd.« Ich versuche, ruhig zu bleiben. »Und jeder kann am Sonntag wählen, wen er will. Ist das nichts?«

»Es ist zu wenig!«

Er lehnt sich wieder ans Fensterbrett. Es passiert selten, dass er so aus sich herausgeht. Ich stehe auf, gehe zu ihm, lehne mich an ihn. Sein schmaler Brustkorb hebt und senkt sich, er trägt fast nichts, riecht nach frischem Schweiß, und ich lehne meine Stirn an seine Schulter und streiche mit dem Handrücken langsam vom Bauchnabel abwärts, über den Bund der engen Shorts. Wir ziehen aus, was uns trennt, und ich lasse mich fallen in seine Wärme, seinen Geruch, die Weite seines Mundes und den Geschmack seiner Haut.

Brit
Sonnabend, 17. März 1990






»Wie bei Nele bitte«, sag ich zu Neles Schwester.

Sie nimmt meine Locken in die Hände, hält sie hoch, guckt mich im Spiegel an: »Bist du sicher, Brit?«

Ich nicke. Einmal und nochmal. Nele, die hinter uns auf dem Badewannenrand hockt, grinst, pustet ihren Pony aus der Stirn. Ein bisschen komisch ist mir schon. Hat ein ganzes Jahr gedauert, bis meine Haare so lang waren. Aber ich bin nicht mehr Brit-Püppi. Und das sollen alle sehen.


Neles Schwester nimmt das Handtuch von meinen Schultern. Legt den Kamm zur Seite. Meine Haare sind nass und glatt. Riechen gut. Nach Apfelsinenshampoo. Wahrscheinlich aus dem Shop. Oder gleich aus dem Westen.

Neles Schwester guckt mich nochmal im Spiegel an. Dann nimmt sie die Schere. Sie ist eine gute Friseuse. Das sagt nicht nur Nele. Viele aus dem Dorf gehen zu ihr. Sie arbeitet eigentlich in einem Salon in der Stadt. Privat frisiert sie nur abends und am Wochenende. Und nicht jeden. Für mich ist das perfekt. Muss die Haare ja öfter nachschneiden lassen. Wenn sie dann kurz sind.

Ich mach die Augen zu. Hör die Schere. Kein Ritsch-Ratsch. Eher ein leises Klick-Klack. Und ein Ziepen. Immer wieder. Aus dem Kofferradio quatscht es. DT-64. Ich kenn die Stimme des Moderators. Aber ich kann nicht verstehen, was er sagt, weil der Badlüfter rasselt. Warum bringen die am Samstagnachmittag keine Musik?

Jetzt hör ich den Föhn. Warme Luft auf meinem Kopf. Im Gesicht.

Ich denk an Jonny. Ganz fest. Nochmal. Ganz fest. An den B-Club. Und wie er mich angucken wird. Und staunen.

Ich trau mich und mach die Augen auf. Seh mein Gesicht im Spiegel. So nackt. So groß. So anders.

»Gar nicht schlecht«, sagt Neles Schwester.

»Cool, Britti!«

Nele ist plötzlich hinter mir. Unsere beiden Gesichter, Wange an Wange, im Spiegel.

Für den Anfang wirklich nicht schlecht, denk ich. Guck nicht nach unten, auf das Linoleum, wo meine Haare liegen. Setz mich gerade hin. Schau Neles Schwester an.

»Die Farbe auch wie bei Nele. Geht das?«

Neles Schwester guckt auf die Uhr.

»Erst mal nur tönen? So zum Test? Kostet fünf Mark extra. Dann seht ihr aus wie Schwestern!«

»Passt doch!« Ich zwinkere in den Spiegel, Richtung Nele.

»Grufti-Schwestern!« Neles Schwester grinst.

»Nun beschwer dich noch! Wir könnten auch ne Glatze bei dir bestellen.«

»Noch was?« Neles Schwester rührt eine schwarze Pampe in einem Töpfchen zusammen.

Ich seh im Spiegel, wie Nele einen Schluck aus ihrer Colaflasche nimmt, am Lautstärkeknopf vom Radio dreht. Anne Clark. Mein Herz macht einen Sprung.

»Das würde Simon sicher cool finden, Britti.«

Ich hol meinen Arm unterm Frisierumhang vor, zeig Nele einen Vogel.

»Na, schräg drauf ist der schon.« Neles Schwester legt mir einen zweiten Umhang auf die Schultern. »So’n halber Nazi.«

» Nazi? Simon?«

»Also, sorry, ja? Ich hab den gestern mit ner Bomberjacke gesehen, da stand DEUTSCHLAND hinten drauf.«

»Bomberjacke! Das ist ne Lederjacke!«

Und bloß weil er für Deutschland ist, ist er noch lange kein Nazi. Das sag ich nicht, das denk ich nur. So für mich.

Warum sagt die so was? Sie kennt ihn doch gar nicht.

Neles Schwester guckt mir im Spiegel wieder in die Augen. Zu lang. Dann schmiert sie mir mit einem Spatel die Pampe auf den Kopf. »Ganz schön heftig, das Schwarz, bei deinem Hauttyp.«

»Jonny findet’s sicher schick.«

»Ach komm, Nele!«

Zu spät. Mein Gesicht läuft rot an.

»Ist er süß?«, fragt Neles Schwester.

»Geht so.« Ich hör mein Herz in den Ohren. »Robert Smith ist cooler.«

Suse
Sonntag, 18. März 1990






Vielleicht wäre das ein Geschäft für mich: Post hin- und herfahren, Telefonate vermitteln. Irgend so was. Dann würden die Briefe zu Ania nicht so lange brauchen. Und ich könnte sie anrufen, auch jetzt, in diesem Moment, wo wir vor dem Fernseher sitzen, auf die erste Wahl-Hochrechnung warten.

Zum Geburtstag habe ich ihr ein Päckchen geschickt.

»Happy Birthday, Ania Anni Annuschka Hochlinger«, habe ich ihr gesungen, so wie an jedem 27. Februar seit sechzehn Jahren. Auf die Glückwunschkarte habe ich einen Kuss gedrückt, ein orangefarbenes Glitzertuch und ihre Lieblingsschokolade in einen Karton gepackt, alles mit Geschenkbändchen verschnürt.

Neunzehn ist sie geworden, meine beste Freundin. Ein Vierteljahr vor mir. So war das schon immer. Und so wird es bleiben. Schön ist das. Auch wenn ich noch nicht mal weiß, ob das Päckchen bei ihr angekommen ist.

Auf dem Bildschirm eine Grafik. Der schwarze Balken am höchsten. Rüdiger springt auf.

»Über vierzig Prozent CDU! Suschen, jetzt mach ich einen Sekt auf!«

Wann hat er mich das letzte Mal Suschen genannt? Er stößt seine Bierflasche gegen meine Teetasse, drückt mir einen Kuss auf die Lippen. Ich trinke den warmen Tee. In meinem Bauch kribbelt es, auch ohne Sekt.

Wie es Ania jetzt wohl geht? Sie hat sich immer eine neue, andere DDR gewünscht. Aber wie soll die aussehen? Und wer soll da mitmachen? Wenn die Mauer nun auf ist. Der Westen so nah. Wenn man einfach rübergehen kann, Geld verdienen, reisen. All das.

Ein anderes Land? Solche Experimente sind doch sinnlos. Das hier, das funktioniert, das sehe ich jeden Tag. Auch wenn es Nachteile hat. Aber wenn ich dran denke, wie es vor einem Jahr war. Grau und dunkel und still. Nichts hat sich bewegt. Wie unter einer Käseglocke. Man konnte nur ausbrechen oder verschimmeln.

Ich bin ausgebrochen. Ania auch. Auf ihre Weise eben. Jeder von uns ist auf seine Weise mit all dem umgegangen.

»He, hältst du mal?«

Rüdiger drückt mir zwei Sektgläser in die Hand, öffnet die Flasche. Der Korken fliegt an die Zimmerdecke. Schaum fließt über meine Finger, tropft auf den Teppich.

»Es kommt, wie es kommen soll, Suschen«, sagt Rüdiger und trinkt sein Glas in einem Zug leer.


Später laufe ich mit Tobi, dem Terrier von Rüdigers Tante, durchs Dorf. Lüfte meinen Kopf aus. Mache Ordnung in meinen Gedanken. Versuche es wenigstens.

Ein wiedervereinigtes Land. So unterschiedlich wie wir sind. Was für eine Aufgabe das ist, spüre ich jeden Tag. Es wird Frühling, und ich fühle mich immer noch fremd hier. Nach über einem halben Jahr. Auch deshalb fehlt mir Ania so sehr. Manchmal rede ich mit ihr, in Gedanken, vorm Einschlafen oder wenn ich spazieren gehe, so wie jetzt.

Ob sie die Wahlergebnisse schon weiß? Vielleicht hat sie Spätdienst? Aber selbst dann – sie haben ja einen Fernsehraum. Und ein Radio im Stationszimmer. Und die Patienten werden alles mitkriegen und den Schwestern erzählen.

Tobi wedelt mit dem Schwanz und zieht an der Leine. Will zur Pferdekoppel. Ich zerre ihn zurück auf die Straße. Kein Mensch außer mir ist draußen. Alle hocken vor der Glotze. Tatortzeit. Rüdiger guckt sich irgend einen Actionkram auf Video an. Mampft Thunfisch-Pizza. Ich wollte nichts davon. Lieber rausgehen. Futtern ist herrlich, aber gegen das Heimweh hilft es nicht. Und wenn ich jetzt zu Hause geblieben wäre, dann hätte er wieder damit angefangen. Mich gefragt, was ich davon halte. Dabei ist alles längst entschieden.

Tobi schnüffelt an seiner Lieblingsstraßenlaterne. Dann hebt er sein Bein.

Morgen ist Montag. Mein Auszeit-Tag. Die Stadt wartet, der Kurs, Wegener.

»Komm, du Streuner!« Ich ziehe Tobi weiter, habe nun doch Lust, zur Pferdekoppel zu laufen, über den Feldweg zu den Wiesen.

Tobi hört mir zu. Darauf kann ich mich verlassen. Und manches versteht er, ohne dass ich es ihm sagen muss. Auch wie sehr ich mich freue, auf morgen, auf Osnabrück. Die Leute im Kurs. Und vor allem auf den Wegener mit seinen Rehaugen und dem drolligen Dialekt. Raus kommen. Andere Leute. Andere Gespräche. Selbst im Blumenladen trifft man immer die Gleichen.

Manchmal denke ich, ich hätte gar nicht weggehen müssen. Dorf ist Dorf, ob Ost oder West.

Sonntagabendstill ist es, so still, dass ich höre, wie beim Laufen meine Oberschenkel in den Jeans aneinanderreiben. Zugenommen habe ich wieder. Leider. Dir geht’s zu gut, hätte Paps gesagt. Und wem es zu gut geht, der ist nicht glücklich. Weil dann nichts mehr kommen kann. Weil es dann nur schlechter werden kann.

Ist das jetzt undankbar? Ich hatte doch so viel Glück.

Und morgen fahre ich in die Stadt.

Brit
Sonntag, 18. März 1990






Papa hört Beethoven. In voller Lautstärke.

Von wegen Rücksicht und gegenseitig. Freude schöner Götterfunken – ich kann’s bald mitsingen.

Was soll man da machen? Ich leg Annis The Cure-Kassette rein und dreh auf volle Lautstärke. BOYS DON'T CRY.

Die Tür geht auf. Ich blas den Rauch aus dem Fenster, wedel ein bisschen nach. Lass die Zigarette aufs Vordach fallen, zieh mir das Nachthemd über die Knie.

Er kommt ins Zimmer, stellt die Musik ab. Vom Flur her immer noch das Beethoven-Gedudel.

»Guten Morgen. Oder lieber Gute Nacht?«

Sein Atem riecht nach Bier. Früh um zehn. Immerhin hat er die frischen Sachen an, die Mama ihm rausgelegt hat. Zur Feier des Tages keine Jägerkluft. Das ist doch schon mal was.

»Warst du überhaupt im Bett?«

Er lehnt am Schreibtisch, guckt mich von der Seite an. Ich schau weiter aus dem Fenster, frier, aber nur ein bisschen.

»Du hast geraucht!«

»Und du Bier getrunken.«

»Jetzt werd nicht frech, Fräulein. Also?«

»Na ein, zwei gestern Abend.«

»Das glaubst du doch selber nicht.«

Ich zwing mich, ihm in die Augen zu gucken. Er kann mir nix beweisen.

Der Wind weht durchs offene Fenster und bauscht mein Nachthemd. Er greift mich am Arm, zieht mich von der Fensterbank. Ich mach mich los, er knallt das Fenster zu, verriegelt es. » Und wisch dir die Farbe aus dem Gesicht!«

Ich verdreh die Augen, geh an ihm vorbei in den Flur und die Treppe runter ins Bad. Die Kippen draußen auf dem Vordach hat er nicht gesehen. Hoffe ich.


Oma klopft an die Badtür. Sie steckt in einer Kölnischwasser-Duftwolke. Die Lockenwickler sind raus, kein Haarnetz mehr, und sie hat ihr graues Kostüm angezogen. Auf ihren Lippen rosa Farbe.

»So«, sagt sie. »Jetzt wähle ich wieder SPD.«

»Schön siehst du aus, Oma.«

»Ich hoffe, deine Mutter nimmt es mir nicht übel, aber ich habe immer SPD gewählt.«

Sie trippelt an mir vorbei, macht das Licht über’m Spiegel an, dreht den Kopf hin und her, dieselt sich mit Dreiwettertaft ein.

»In der Küche steht Frühstück. Und zieh dir was an, Mädchen.«


Die Tür klappt. Sie sind weg.

Ich gieß mir Pfefferminztee ein, geh die Treppe wieder hoch, drück auf die Play-Taste, spul vor.

LULLABY.

Schieb den Lautstärkeregler wieder bis zum Anschlag.  

Setz mich aufs Fensterbrett, hol die Zigarette aus der Gürteltasche. Riech dran. Leg meinen Mund drauf. Mach die Augen zu.

Der Song klingt aus, ich spring auf, drück die Repeat-Taste.

»Hat was, dein Look«, hat er gesagt und mir beim Tanzen die Selbstgedrehte hinters Ohr geschoben.

Tanzen. Mit Jonny. Den ganzen Abend. Der Wahnsinn.

Um drei, hat er gesagt. Vor der Kaufhalle im Neutal. Ich muss also in einer halben Stunde den Bus in die Kreisstadt kriegen. Es ist Mittagsschlafzeit. Oma und Papa pennen. Ich schleich die Treppe runter.

Draußen ist es warm. Frühling. Richtiger, echter Frühling.

»Na, Brit, diesmal ist die Mutti fürs Offizielle verantwortlich, was?«

Frau Mannher schließt das Hoftor auf, ihr Dackel zerrt an der Leine. »So ändern sich die Zeiten.« Sie wartet nicht drauf, dass ich irgendwas sage, der Hund zieht sie rein in den Hof. Das Tor fällt zu.

Ich lauf die Straße runter, setz mir die Kopfhörer auf, drück die Play-Taste vom Walkman.

An jeder Ecke Wahlplakate. Eins bunter als das andere. Kaum mehr Platz dazwischen. Am Telegraphenmast neben der Garage klebt ein Flugblatt vom Neuen Forum Paragraph 23 – kein Anschluss unter dieser Nummer. Kann nur von Mama kommen. Wahrscheinlich hat sie es gestern Abend noch geklebt. Oder heute früh auf dem Weg zum Gemeindesaal.

Rothmanns kommen mir entgegen. Untergehakt. Er im Anzug mit Schlips, sie im Blümchenkleid und mit Perlenkette. Sie nickt mir zu und lächelt. Er guckt an mir vorbei. Ich bin sicher, die haben CDU gewählt. Wollen, dass der Westen schnell kommt. So wie die meisten hier im Dorf. Mama sagt, es soll so langsam wie möglich gehen. Sonst bleibt nichts mehr von uns übrig. Aber das geht ja gar nicht, oder? Dass nichts von uns bleibt, mein ich. Schließlich sind wir nun mal da. Und so, wie wir sind. Und der Westen – das ist einfach irre. Und eigentlich kaum auszuhalten.

Vor dem Gemeindesaal zwei Blumentöpfe mit Osterglocken. Die Tür offen. Noch ein bisschen Zeit, bis der Bus kommt. Soll ich reingehen, Mama begrüßen? Sie muss die Wahllisten durchgucken und abhaken, wer schon da gewesen ist. Bestimmt hat sie rote Flecken am Hals, ihre Lesebrille auf. Kriegt mich gar nicht mit. Vielleicht ist sie aber auch noch sauer wegen meiner Haare. Sie hat gestern so getan, als hätt ich mir alles geschoren. Ich glaub auch nicht, dass ihr mein blutroter Lippenstift gefällt. Erzähl ihr also erst gar nicht, dass ich ihn von Nele habe. Genau wie die Ohrringe. Und dass ich stolz drauf bin.

Setz mich lieber ins Wartehäuschen. Die Zigarette von Jonny hab ich immer noch in der Gürteltasche. Ich rauch sie erst dann, wenn ich wieder eine von ihm krieg. Falls es überhaupt so kommt.

Es grummelt im Bauch. Als würd ich meine Tage kriegen. Dabei ist es noch gar nicht so weit. Und seit ich die Pille nehme, ist es vorbei mit den Schmerzen. Eigentlich. Also die Aufregung. Und das nächste Klo ist im Gemeindesaal. Ich versuch, an was anderes zu denken. Meistens hilft das.

Dreh die Musik lauter. Immer noch The Cure. JUST LIKE HEAVEN. Krieg nicht genug davon.


Das silberne Schiff hält direkt vor mir. Ein Mercedes, wie ihn die Westberliner haben. Aber mit viel mehr Menschen drin. Sie krabbeln nacheinander raus. Es hört gar nicht auf. Und es sind Brinkes. Das glaub ich nicht. Ich glaub es einfach nicht.

»Na, Brit, neues Outfit?«

Sabrina kommt auf mich zu, hält mir die Hand entgegen. An der anderen hat sie ihren Kleinen. Der hat dunkle Locken. Und wie er mich anguckt. Ich streichel ihm die Wange und geb Sabrina die Hand.

Warum kommt die zu mir? Sie ist mit Anni in eine Klasse gegangen, war ab und zu zur Nachhilfe bei uns, hat mit Anni Russisch und Mathe gepaukt. Sonst hatten wir nichts miteinander zu tun.

»Wie geht’s deiner Schwester?«, fragt Sabrina.

»Ania ist in Leipzig. Nur noch selten hier.«

Was fragt die mich das? Was will die von mir? Und wo bleibt dieser blöde Bus?

»Heute muss uns dein Vater nicht holen. Heute gehen wir freiwillig zur Wahl.« Sabrinas Vater zwinkert, als hätt er einen Witz gemacht, guckt mich so komisch an. Was soll das? Soll er doch Papa anstarren, soll er ihn doch nerven, wenn er noch eine Rechnung mit ihm offen hat.

Der Bus kommt. Endlich. Ich steig ein, zahl, setz mich nach hinten ans Fenster. Die Brinkefamily bewegt sich Richtung Gemeindesaal. Sabrina hat den Kleinen auf dem Arm. Wie haben die nur alle in das Auto gepasst? Sechs Menschen, der Kleine extra, also sechseinhalb.

Ein paar von den Dorfjungs stehen um den Schlitten rum. Der glitzert in der Sonne. Als wär ein Ufo auf dem Dorfplatz gelandet. Oder der Westen höchstpersönlich.

Der Bus schaukelt aus dem Dorf raus. An den Schweineställen vorbei, den Pferdekoppeln auf der anderen Straßenseite, wo das Gras schon grün ist. Noch drei Kilometer bis in die Stadt.

Immer diese alten Geschichten. Bei der letzten Wahl ist Papa nachmittags losgegangen, Richtung Neubaublock am Dorfrand, um die Brinkes zum Wählen zu überreden. Der Brinke hat ihn nicht reingelassen, ihm die Tür vor der Nase zugeknallt.

»Mein bester Traktorist«, hat Papa gesagt. »Und dann so was.«

Am nächsten Tag gab’s dann den Rüffel vom Parteisekretär. Für Papa, nicht für Brinke. Der war nie in der Partei, soweit ich weiß.

Fragt sich, wer da bei wem eine Rechnung offen hat. Ich will damit nix zu tun haben.

Der Bus fährt in die Stadt rein. Er wackelt immer doller und quietscht. Mir ist schlecht. Und immer noch dieses Grummeln im Bauch. Noch zwei Stationen, dann bin ich da.

Ania
Sonntag, 18. März 1990






Was soll ich nur machen? Weiß nicht, wohin mit mir.

Er ist weg. Seine Kraxe, die Klamotten aus dem Regal, ein paar seiner Bücher, die Fotoausrüstung, seine Waschtasche.

Auf dem Schreibtisch ein Zettel:

Vagabund bleibt Vagabund. Verzeih. Bernd.

Krakelig und schwer zu lesen.

Es ist kurz vor Mitternacht. Maik hört nebenan Punk. Das ganze Haus wackelt. Vielleicht sollte ich mitpogen. Nicht mal weinen kann ich, bin wie erstarrt, versuche, einen Brief an Suse zu schreiben, sitze vor dem leeren Blatt, kann mich nicht rühren. Zur Telefonzelle könnte ich laufen, Suse anrufen, um diese Zeit komme ich vielleicht durch, kriege eine Verbindung, aber das geht nicht, jetzt, mitten in der Nacht, auch wenn es ein Notfall ist.

Er ist ohne Abschied gegangen, er wollte nicht, dass ich mitkomme. Wenn es anders wäre, hätte er gewartet. Er hätte gewartet, bis ich nach Hause komme und mich dann gefragt. Dann hätte ich mich entscheiden können. Ich hätte wenigstens eine Chance gehabt.

Es muss alles ganz schnell gegangen sein. Heute Nachmittag, da war er doch noch da, wir sind zusammen aus dem Haus gegangen, er in die Redaktion, ich ins Krankenhaus. Arbeiten am Wahltag. Gelacht haben wir darüber. Und alles war noch in Ordnung, oder? Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich mehr.

Alles ist durcheinander in mir, großes, großes Durcheinander. Wenn ich doch nur endlich weinen könnte.

Im Wohnzimmerregal müsste noch eine Whiskyflasche sein.

Das ist sie, die Strafe.

Großmutter sagt: »Man bezahlt für alles im Leben.«

Er hat mich Stück für Stück verlassen. Und ich habe es die ganze Zeit gewusst.


Brit
Sonntag, 18. März 1990







Jonny wartet auf mich. Ich seh es schon von weitem. Trotz der Wärme hat er den Mantel an. Ich stolpere aus dem Bus. Er tritt die Zigarette aus. Streichelt meinen Nacken. Sein Mund warm auf meiner Wange.

»Komm«, sagt er und nimmt meine Hand.


Es dämmert. Die Sonne steht tief, macht ein warmes, orangefarbenes Licht. Wir sitzen auf den Stufen der kleinen Kapelle. Gucken auf die Hügel hinter dem Friedhofszaun, die noch braun sind vom Winter.

»Du Mädchen aus den Bergen«, sagt Jonny. Schaut mich von der Seite an.

Ich muss lachen. »Berge? Da musst du schon ein bisschen weiter in den Harz reinfahren. Nach Thale. Oder nach Stolberg.«

»Das hier ist viel schöner«, sagt er. Schaut mich immer noch von der Seite an.

Friedhofsstille. Ruhe. Die Zigarette vom Samstag haben wir zusammen geraucht. Er hat mir erzählt, dass er hierherkommt, weil er Ruhe sucht. Alles, was da draußen ist, vergessen will. In der Stille leben. Die Stille lieben.

Lieben. Ja.


Dieser Flash, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hab. Im Januar, es lag Schnee, und ich war zum ersten Mal mit Nele im B-Club. Da hatte er im Neutal eröffnet. Und war gleich so was von angesagt.

Den ganzen Nachmittag hab ich mit Styling verbracht, Annis schwarze Bluse, die Flatterhose, Neles Lippenstift, die Kette vom Flohmarkt. Trotzdem: blond bleibt blond. Zu hell. Zu grell. Scheinwerfergefühl.

Dann stand er vor mir. Robert Smith. Leibhaftig. Nein, viel schöner als leibhaftig. Der Mantel hörte kurz überm Boden auf. Haare wie ein Vogelnest, würde Papa sagen. Im Gesicht ein bisschen weiß geschminkt. Nicht zu viel, gerade so, dass man es sieht. Die Lippen rubinrot. Die Augen dunkel, mit ganz viel Schwarz drum herum. Ich musste ihn angucken. Konnte nicht aufhören. Ging einfach nicht.

Nele sagte: »Das ist Jonny, ein Kumpel aus Halle.«

Wir gaben uns die Hand. Seine Finger an meinen. So warm. Ich hörte mich »Brit« sagen.

Sisters of Mercy. TEMPLE OF LOVE.

Jonny bewegte sich langsam, fließend. Mit geschlossenen Augen. Dagegen war mein Tanzen ein einziges Gezappel. Und ich kam mir vor wie ein falsch programmierter Roboter. Alle mittendrin. Nur ich nicht.

Wollte nochmal anfangen. Den Film zurückspulen. Ging aber nicht. Also noch eine Cola. Die x-te Zigarette. An der Bar lehnen. Zuschauen. Ihm zuschauen. An diesem Abend. Und dann im Traum. Immer wieder. Tag und Nacht. Bis ich ihn wiedergesehen hab. Gestern.


Er hat seine Lehre geschmissen. Tontechniker wollte er werden, beim Radio. Aber da gab es keine Lehrstelle für ihn. Anlagenmonteur sollte er lernen. Berufsausbildung mit Abi in einer Fabrik in Halle. Nach ein paar Wochen ist er nicht mehr hingegangen.

»Ankommen will ich«, sagt er, »erst mal bei mir selbst.«

Ich erzähl ihm von Lukas. Wie er verschwunden war, von einem Tag auf den anderen, abgehauen, mit seinen Eltern, nach Bremen, in der Nacht als die Mauer fiel. »Auf der Weihnachtsdisko hab ich ihn wiedergetroffen. Ganz anders sah er aus, mit gegelten Haaren und spitzen Stiefeln. Er hat mich nicht mehr gekannt. Ich hab eine Cola Wodka nach der anderen getrunken. Mich von Simon einladen lassen.«

»Simon?« Jonny guckt mich fragend an.

»Ein Kumpel. War mit meiner Schwester in einer Klasse.«

Er nickt, lächelt vor sich hin, malt mit einem Stöckchen meinen Namen in die krümelige Erde des Friedhofsweges. Ich will nichts mehr sagen. Nur zusehen, wie er malt. Dann das Stöckchen nehmen. J O N N Y malen. Und ein Herz. Um unsere beiden Namen. Mehr nicht.

Und doch erzähl ich weiter.

Dass Simon plötzlich weg war, Anni und Bernd mich nach Hause gebracht haben und ich Bernds Auto vollgekotzt habe. Von der Dunkelheit erzähl ich, die plötzlich in mir war und geblieben ist. Von der Traurigkeit, die mich stumm gemacht hat. Und auch geblieben ist. Und dass es nur Nele war, die ich in meiner Nähe haben wollte.

Ich kann plötzlich erzählen, was ich noch niemandem so sagen konnte. Nicht mal Nele. Mit Jonny, da hab ich die Worte. Da fallen sie mir ein. Und manches muss ich auch nicht sagen. Weil ich weiß, dass er es weiß. Wie weh Tageslicht manchmal tut. Wie anstrengend ein sonniger Tag sein kann. Wie frei man in der Stille ist. Und wie man sich in der Nacht zu Hause fühlen kann.

»Ich fand Neles Outfit schon immer cool. Die langen, schwarzen Kleider, die Samtbänder, den Silberschmuck. Sie hat mir geholfen, meine Klamotten schwarz zu färben, hat mir Vorhänge für mein Zimmer genäht. Und sie hat mir ein Mixtape geschenkt. Joy Division. Sisters of Mercy. Anne Clark. Und The Cure. Hab nur noch das gehört. Rauf und runter. Und geheult. Bis ich leer war. Und ganz ruhig.«

»Und deine Eltern?«

»Ach, Mama war im Krankenhaus oder im Gemeinderat, Papa in der LPG, im Harz-Verein oder im Wald – eigentlich hat keinen interessiert, was ich so mach. Ob ich zur Schule geh oder nicht. Ob ich überhaupt noch da bin. Nur Oma, die hat nicht lockergelassen. Morgens an die Tür geklopft, wenn ich liegen bleiben wollte. Mich abgefangen, wenn ich aufs Klo musste, mir Pfefferminztee vorgesetzt. Und Weißbrot mit Nutella. Das ist das einzige, das ich runterkriege, wenn ich so früh aufstehen muss. Sie ist am Tisch sitzengeblieben, bis ich was davon gegessen habe. Und hat aufgepasst, dass ich aus dem Haus geh.«

Jonny malt immer noch. Malt meinen Namen nach. Langsam. Wieder und wieder.

»Mama kam erst abends. Hat nach den Hausaufgaben gefragt. Und wie es sonst so geht. Sie hat sich im Zimmer umgeguckt, die schwarzen Klamotten vom Stuhl genommen. Wieder fallen lassen. Und nichts gesagt. Nicht mal, als ich das LULLABY Poster überm Bett aufgehängt habe. Das hat sie mit ihrem Sorgengesicht angeguckt. Und sich das Gähnen verkniffen.«

Er schaut mich wieder fragend an. Ich mag es, wie er mir zuhört. Ich nehme ihm den Stock ab.

J O N N Y, ritz ich in die Erde.

»Sie schiebt Doppelschichten im Krankenhaus. Und ist im Neuen Forum. Mädchen für alles im Dorf. Und jetzt will sie auch noch Bürgermeisterin werden. Hat sich aufstellen lassen für die Kommunalwahl. Und zu Hause hat sie ja auch zu tun. Papa kümmert sich schon lang um nichts mehr, was mit dem Haushalt zu tun hat. Und dem Garten und so.«

Warum erzähl ich das jetzt? Warum fließt das so aus mir raus? Warum ist mir so leicht?

Ich tu es einfach. Mal das Herz um unsere Namen. Er sagt, dass er schon lange nicht mehr zu seinen Eltern geht. In einem Abrisshaus in Halle wohnt. Oder bei Freunden in Leipzig. Und manchmal besucht er eben Nele. Übernachtet dann bei Kumpels, hier in der Stadt. In einem der Blöcke im Neutal. Seine Stimme wird leiser. Dann hör ich ihn nicht mehr. Nur noch mein Herz.

Er legt seine Hand auf meine. Ich lehn mich an ihn. Zittere. Am ganzen Körper. Und innen drin. Ich glaub, er auch.

Ich mach die Augen zu. Und dann spür ich seinen Mund. Seine Zunge. So weich.

»Komm mit«, flüstert er. »Komm mit zu mir.«

Ania
Montag, 19. März 1990






Diese Stille im Elsapark. Eine Runde laufen, ein Schluck Whisky, wieder laufen, an meiner Lieblingsbank vorbei, der traurigen Weide, den Treppenstufen, dem Mülleimer voller Werbeprospekte und zerknüllter BILD-Zeitungen.

Zwischenstation auf der Wippe, die Füße im Sand, Balance suchen, weiterlaufen. Meine Beine sind schwer, mein Kopf auch.

Ich lecke den letzten Tropfen Whisky vom Flaschenhals.

In meinem Magen brennt es.

Desinfektion. Reinigung. Und ich friere nicht mehr.

Ich lege mich auf die Bank und schaue in den Himmel. Die Stadt wird wach. Auf der Thälmann-Straße fahren die ersten Bahnen und ab und zu ein Auto. Das tut gut, es ist so normal.

Ich ziehe mir die Ärmel seines Wollpullis über die Finger. Dunkelgrün, zwei links, zwei rechts gestrickt, Maschenfäden, Zigarettenlöcher und ausgeleierte Bündchen. Ein Geschenk seiner Mutter. Er wärmt. Und riecht nach ihm.

Sechs Uhr. Ich habe heute frei und mich eigentlich darauf gefreut.

Ich ziehe die Beine an, lege die Arme um den Körper, schließe die Augen.


Bernd auf der Treppe unseres Nachbarhauses. Jesuslatschen, selbstgedrehte Zigaretten, dieses Wahnsinnslächeln. Unser erster Kuss in seinem Lada. Der Geschmack seiner Lippen nach Rauch und Pfefferminz.

Sein Gesicht hinter der Kamera in der Nikolaikirche. Seine Stirn an meiner, an diesem warmen Oktoberabend nach der großen Demo. Die Nacht in seinem Atelier. Tanzen vor der Kamera. Die großgeblümte, stockfleckige Matratze der Hollywoodschaukel. Sein warmer, schmaler Körper. Zusammenleben in seinem Zimmer im zweiten Stock der Grauen Lady. Sein Job als Filmvorführer. Sein Leben als Fotograf. Meine Schichten im Krankenhaus. Immer seltenere Nächte, in denen ich die Krümmung seines Rückens betrachten konnte, die Flügel seiner Schulterblätter unter dem T-Shirt, die zerwühlten Locken. Stunden, in denen er sich nicht regte und ich nicht wusste, ob er schlief.

Dann das Thema Auswandern. Es klang ernst, von Anfang an, doch nicht ernst genug für mich, auch am Abend nach der CDU-Kundgebung nicht, als ich ihn wieder und wieder geküsst habe und so fest gehalten, wie ich nur konnte. Ineinander verbissen haben wir uns, verschlungen, waren eins, nicht nur mit unseren Körpern, die Doors-Platte lief in Endlosschleife, und Jim Morrison sang RIDERS ON THE STORM.

Vor fünf Tagen. Ja, genau vor fünf Tagen.

Aber das ist jetzt auch egal.


Jemand berührt mich an der Schulter. Ich hebe den Kopf, der Pullover wärmt nicht mehr, die Whiskyflasche liegt auf der Wiese neben der Bank. Vor mir Rosis Gesicht.

»Komm«, sagt sie.

»Wie spät ist es?«

»Halb sieben.«

Sie legt den Arm um mich, wir gehen in die Wohnung. In unser Zimmer will ich nicht, kann ich nicht, sie kocht mir einen Tee und ich darf mich in ihr Bett legen. Sie gibt mir eine Wärmflasche und eine zweite Decke. Irgendwann schlafe ich ein.

Brit
Montag, 19. März 1990






»Britti? Hier … Ania.«

»Anni? Hallo?«

»Bernd ist …«

»Was? Anni? Was ist mit Bernd?«

»… weg … weiß nicht, wo … Schweden … vielleicht … bin weg … Woch … .keine Sorgen, ja?«

»Anni? Hallo? Ania?«

Scheiße!

Ich lass den Hörer fallen. Lausch ihrer Stimme nach. Krieg sie nicht zu fassen. Krieg DAS nicht zu fassen. Wortfetzen. Rauschen. Wortfetzen.


Dabei ist es klar. Und ich hab’s gewusst. Seit Annis Geburtstag. Als wir sie in Leipzig besucht haben. Mama, Papa und ich. Im Hof der Grauen Lady saßen. Bei zwanzig Grad. Und das im Februar. Wie Anni da auf dem Gartenstuhl hockte. Ihn hin- und hergerückt hat wegen der Sonne. Auch wenn es nichts genützt hat. Es war kalt. Einfach nur kalt. Eben doch Februar.

Sie hat Mama und Papa Kaffee nachgeschenkt. Den Apfelkuchen auf ihrem Teller zerkrümelt. Zur Tür geschielt.

Nicht zum Angucken war das. Ich hab mich in ihr Zimmer verzogen. Auch, weil mich das Gelaber über Politik genervt hat. Vor allem aber, weil es mir wehgetan hat, sie so zu sehen. Das war nicht Anni im Glück. Das war Anni allein.

Ich hab dann auf ihrer Matratze gelegen, mit Kopfhörern auf, und das Poster überm Schreibtisch angeguckt. Meine Schwester barfuß. Im schwarzen Kleid. Mit offenen Haaren. Als würde sie fliegen. Dabei hat sie nur getanzt, sagt sie.

Was auch immer wird – hier gehört sie hin, hab ich mir gedacht. In den Leipziger Osten. In dieses stolze, alte Haus, das die, die hier wohnen, Graue Lady nennen. In diese Wohngemeinschaft mit Rosi und Maik. Hier ist Annis Platz. Ob mit oder ohne Bernd.

Ganz plötzlich hab ich das gewusst. Und es hat mich getröstet.

Ewig hätt ich da liegen können. Aufs Dach wär ich gern noch gestiegen, um die Birke anzugucken, die aus der Regenrinne wächst. Aber dafür war keine Zeit mehr an diesem seltsamen Geburtstagsnachmittag. Anni hat mich dann noch ausgefragt. Wegen Simon und so. Naja. Den Floh kann ihr nur Mama ins Ohr gesetzt haben.

Bernd ist weg. Und Anni? Wo will sie jetzt hin? Was macht sie jetzt? Muss sie wirklich weg aus der Grauen Lady? Scheißtelefon!

Und wie bring ich das Mama bei?

Ania
Dienstag, 20. März 1990






Neues Leben. Neue Zeitrechnung. Altes abziehen wie eine zu dünn gewordene Haut.

Halb drei. Es ist mitten in der Nacht, und ich habe alles angezogen, was ich an Klamotten dabeihabe, und mich in meinen Schlafsack gekuschelt. Nur langsam wird mir wärmer.

Der Kachelofen hier hat wahrscheinlich schon seit einer Ewigkeit kein Feuer mehr gesehen. Fünf Eimer Dreck, Asche und Müll habe ich vorhin nach unten getragen. Es qualmte und stank so sehr, dass ich das Fenster noch immer weit offen habe.

Sternenhimmel, Frühlingskälte, die Stimme des Russen in mir.

Annuschka.

Die Matratze hat eine Kuhle und ist wie für mich gemacht. Am Fenster ein wackeliger Campingtisch und ein Klappstuhl.

Der Typ, der vor mir in dem Zimmer gewohnt hat, ist in den Westen gegangen, bevor Wolfgang und Alex hierher kamen.

Ich höre mein Atmen. Wie laut wäre meine Stimme, wenn ich jetzt etwas sagen würde, einfach so, in den leeren Raum hinein?

Hier bin ich also. Im Süden der Stadt, in einer anderen Wohnung, einem anderen Zimmer, das jetzt mein Zimmer ist.

Nur für mich. Allein.

Hohe Decken wie in der Grauen Lady, verblasste Blümchentapete mit Rändern und Klebestreifenspuren.

Nicht mal mein Poster habe ich mitgenommen.


Als ich gestern in Rosis Bett aufgewacht bin, schien mir die Nachmittagssonne ins Gesicht, und der Traum, so nah, lief in meinem Kopf weiter, auch wenn ich mich sterbensmüde und schwer vor Schmerz fühlte.

Das verfallene Hexenhaus in einer stillen Straße im Süden der Stadt. Eine offene Balkontür im ersten Stock, wehende Vorhänge, Anton, der den Plüschbären Ferdinand im Puppenwagen auf dem Hof rumfährt, Irenes Lächeln, ihre Stimme: »Wenn ihr wollt, kommt doch her. Platz haben wir genug.«

Ich kroch aus dem Bett, ging in die Küche, duschte, kochte mir einen starken Kaffee. Dann riss ich in unserem Zimmer das Fenster weit auf, packte Klamotten für ein paar Tage in meinen Rucksack, Kosmetikkram, Bücher und den Walkman.

Den Zettel mit Bernds Nachricht schmiss ich erst in den Papierkorb, holte ihn dann wieder raus und schob ihn in die Hosentasche. Das Bettzeug warf ich auf Bernds verlassene Matratze, meinen Schlafsack rollte ich zusammen und band ihn am Rucksack fest.

»Nun bring doch mal die Ruhe rein!« Maik lehnte im Türrahmen. »Der kommt wieder, wetten?«

Ich schüttelte den Kopf, immer wieder, bis er es aufgab, noch mit vor die Tür kam, mich fest und lange umarmte.

Der Weg zum Bahnhof. Eine freie Telefonzelle. Anruf im St. Anna, Krankmeldung bei Schwester Rita. Dann wählte ich die Nummer meiner Eltern, hörte Brittis Stimme wie aus weiter Ferne. Die Verbindung brach zusammen, bis jetzt weiß ich nicht, ob sie verstanden hat, was ich gesagt habe.

Egal. Irgendwie alles egal.

Die ratternde Straßenbahn Richtung Süden, Aussteigen am Connewitzer Kreuz, die ruhige Seitenstraße, zaghafte Abendsonne auf den Pflastersteinen vor dem Hexenhaus, das keinen Hühnerfuß hatte wie im Traum, sondern wieder ein ganz normales Haus war, mit einem Erdgeschoss voller Schutt und einer Leiter in den ersten Stock.

Anton fuhr mir auf dem Dreirad entgegen, ließ den Lenker los, streckte die Arme nach mir aus, wollte mich lange nicht loslassen, zog mich ums Hexenhaus herum auf den Hinterhof.

»Mama, Ania ist da!«

Sein lachendes Gesicht verschwamm vor meinen Augen.

Irene hängte Wäsche auf. Als sie mich sah, ließ sie das Bettlaken zurück in den Korb fallen, nahm mich in den Arm.


Später schob Anton seine Hand in meine, und wir liefen durch die Lücke in der Mauer auf den Hof nebenan. Es war schon dunkel, doch die Haustür des Hinterhauses war offen, und in der Parterrewohnung brannte Licht. Ein grauhaariger Mann entlud eine Gummikarre und trug zwei Eimer, eine Mörtelkelle und Tapetenrollen ins Haus. Er hatte einen Arbeitshelm mit Grubenlampe auf dem Kopf, der Lichtkegel wanderte wie ein Spot auf einer Bühne. Als er uns bemerkte, blieb er stehen.

»Hallo, Opa Wagner«, sagte Anton.

»Hallo, Kollege!«

Der Grauhaarige wuschelte Anton über den Kopf, da rutschte ihm eine Tapetenrolle weg und fiel runter. Anton hob die Rolle auf, ich nahm den Rest des Werkzeugs von der Karre und ging den beiden nach in einen langgestreckten Raum. Laternen und brennende Kerzen warfen flackerndes Licht an die Wände.

»So, damit könnt ihr erst mal loslegen«, sagte der Grauhaarige zu den zwei Männern, die vorm Kachelofen knieten und Asche aus der Luke schaufelten.

»Sind ganz geschickt, die Burschen«, sagte er zu mir. »Aber sie haben nix da zum Renovieren.«

»Sie kriegen dann das erste Bier gratis«, sagte der eine.

Ich hatte seine Stimme schon mal gehört, auch wenn ich ihn nicht kannte. Oder doch?

»Nur das erste?« Der Grauhaarige schmunzelte.

»Quatsch, natürlich Freibier lebenslang«, sagte der andere. Er raffte seine Rastalocken im Nacken zusammen und puffte dem ersten in die Seite, der mich anguckte und anguckte und plötzlich sagte: »Na, kleine Cousine.«

Jetzt erkannte ich das Grinsen wieder. Der Westberliner. Der Hausbesetzer. Der Größenwahnsinnige. Onkel Volkers Lieblingsneffe. Der Lackaffe mit den französischen Zigaretten. Klar.