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Über dieses Buch:

Wenn du denkst, du hast dein Leben im Griff, zeigt es dir einen Vogel – oder einen Horst … Eigentlich läuft alles super für Mona: Sie hat ihre beste Freundin Eske, eine coole Lieblingsbar und ist glücklicher Single aus Überzeugung. Und niemals, niemals, nie denkt sie noch an jenen Vollpfosten, der ihr das Herz gebrochen hat. Das wäre ja noch schöner! Aber dann findet Eske endlich ihre Traumwohnung, der Hauptgewinn für jeden Großstadtmenschen – ausgerechnet neben dem Haus, in dem der Mega-Horst lebt. Für Mona ist klar: Der Kerl muss weg, und zwar sofort. Also schmiedet sie einen Plan, der möglicherweise brillant ist … möglicherweise aber auch nicht.

Eine hinreißende Komödie über starke Frauen, bindungsunfähige Mistkerle und die Konfetti-Seiten des ganz normalen Gefühlschaos.

Über die Autorin:

Tine Wittler, geboren 1973, studierte Kultur- und Kommunikationswissenschaften, bevor sie als Redakteurin und TV-Moderatorin arbeitete; ihre Erfolgssendung »Einsatz in 4 Wänden« wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Die vielseitige Künstlerin ist heute als Roman- und Sachbuchautorin, Sängerin und Songschreiberin sowie als Filmproduzentin erfolgreich. Die »Wirtin Wittlerin« betreibt außerdem in Hamburg die »parallelwelt KULTURBAR« und im kleinen Dörfchen Jabel bei Lüchow »Wittlerins Wohnzimmer«. Sie pendelt zwischen ihren Wohnsitzen in Hamburg und dem Wendland.

Bei dotbooks veröffentlichte Tine Wittler neben Horst go home! auch ihre Romane Die Prinzessin und der Horst, Parallelwelt, Irgendwas is immer und Wir wär’n dann so weit.

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eBook-Neuausgabe Februar 2019

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Bildmotive von © Shutterstock/Olga Angelioza und © Shutterstock/OllyMolly

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-252-8

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Tine Wittler

Horst, go home!

Roman

dotbooks.

Inhalt

Kapitel 1

Eske

Mona

Kapitel 2

Eske

Mona

Kapitel 3

Eske

Mona

Kapitel 4

Eske

Mona

Kapitel 5

Eske

Mona

Kapitel 6

Eske

Mona

Kapitel 7

Eske

Mona

Kapitel 8

Eske

Mona

Kapitel 9

Eske

Mona

Kapitel 10

Eske

Mona

Lesetipps

Für meine Freunde, die mir die Welt bedeuten.

Wie in Romanen nun mal so üblich, ist selbstverständlich auch in diesem hier alles frei erfunden, und sämtliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Ereignissen sind entweder völlig an den Haaren herbeigezogen oder aber total zufällig. Wer mit dem Gedanken spielt, Klage zu erheben, sei darauf noch einmal explizit hingewiesen.

Tine Wittler, Hamburg im Dezember 2002

»Wer das liest, ist zwar nicht unbedingt doof, aber hinterher auch nicht unbedingt schlauer. Trotzdem, es lohnt sich. In diesem Buch gibt es so viele Bekloppte auf einem Haufen, dass man sich beim Lesen ganz automatisch besser fühlt.«

Almuth Kook, Co-Autorin und weiterhin beste Freundin, denn manche Dinge ändern sich nie.

Kapitel 1

Eske

Ich habe die Schnauze voll. Eigentlich könnte alles so schön sein: Ich bin frisch verliebt, habe eine tolle Wohnung, einen Wagen, der trotz allem äußeren Anschein funktioniert, sogar einen Job, der mich ernährt, und morgen versuche ich, mir das Rauchen abzugewöhnen. Zu dumm, dass ich auch Freunde habe. Eine beste Freundin namens Mona zum Beispiel. Und exakt hier verdunkelt sich mein kleines Glück.

Mona hat zwar endlich eingesehen, dass es sie und vor allem auch mich zermürbt, wenn sie gedanklich immer noch ihrer verflossenen Liebe hinterherhängt. Das ist schön, das Thema ist überwunden. Aber jetzt ist Mona glücklicher Single. Und das ist mindestens genauso schlimm.

Am glücklichsten war Mona gestern. Wir waren im Familieneck, wo sie mir mitteilte, wie super ihr ihr neues Leben gefalle. Im Laufe des Abends und nach eigentlich gar nicht so vielen Getränken stand Mona dann in der Mitte des Raumes und sang laut ihren eigenen Text zu einer mir unbekannten Melodie. Thematisch ging es darum, wie toll es wäre, ein Single zu sein. Der Beifall war eher verhalten, und ich hatte das Gefühl, dass Mona nicht sehr überzeugend war. Das sagte ich ihr selbstverständlich nicht, denn wer schießt sich schon gerne selber ins Knie. Außerdem brach sie von ganz allein in Tränen aus und wiederholte noch einmal, wie glücklich sie sei.

Zu allem Übel will Mona wieder ein Buch schreiben. Das hat sie schon einmal getan, und ich hatte nur begrenzten Spaß dabei. Denn erstens gab es für lange Zeit kein anderes Thema mehr, und zweitens hatte ich das Gefühl, vom Semialkoholiker zum Schnapsprofi zu werden. Keine schöne Zeit.

Gut, Mona und ich haben sie miteinander durchgestanden. Wie Freundinnen eben, mit Geben und Nehmen (vor allem gegenseitigem Schnapsausgeben und –annehmen). Aber ich kann das nicht schon wieder. Ich bin eindeutig zu alt und auch viel zu reif dafür. Zumindest ist mein neuer Freund dieser Meinung. Vielleicht sollte er mal mit Mona darüber reden. Er ist ja so sensibel.

***

Mona

Alles fing damit an, dass Eske mal wieder den Hals nicht voll kriegen konnte. Sie war schuld. Wie immer. Und so was will meine beste Freundin sein!

Wir hatten uns auf einen Feierabenddrink im Familieneck verabredet, als Eske verkündete, sie wolle sich eine andere Wohnung suchen.

Im Grunde war das absurd, denn in unserer Stammkneipe verbrachten wir sehr viel mehr Zeit als zu Hause. Wir hätten uns also eher um eine angemessene Schlafstatt im Eck kümmern müssen als um neue Wohnungen.

Aber Eske legte seit neuestem Wert aufs Repräsentieren. »Ich brauche was, wo ich auch mal jemanden mit hinnehmen kann«, sagte sie und wiegte würdevoll den Kopf.

Ich fragte mich natürlich sofort, wer außer mir das wohl sein sollte, aber ich hielt den Mund.

»Sag doch auch mal was dazu«, forderte Eske mich auf, als ich mich nach Minuten noch immer nicht zu ihren Umzugsplänen geäußert hatte.

»Deine Wohnung ist doch ganz schön«, bemerkte ich also lapidar.

»Sie war mal schön«, korrigierte mich Eske. »Jetzt ist sie das nicht mehr. Der Duschabfluss ist total verstopft, die Küche muss gestrichen werden, und der Dreck macht mich einfach fertig.«

»Putz doch einfach mal«, schlug ich vor. »Besorg dir Abflussfrei oder einen Klempner. Und renovier halt. Das tut man normalerweise in solchen Fällen. Aber man zieht doch nicht gleich um.«

Eske schnaubte empört. »Damit, dass ich nicht putze, hat das gar nichts zu tun. Nee. Die Bude ist total verwohnt.«

»Das ist doch wohl deine Schuld«, erklärte ich triumphierend. Ich hatte es ja immer gesagt. »Du wohnst da. Und das nicht erst seit gestern.«

Eske rollte mit den Augen. »Und überhaupt«, argumentierte sie weiter, »ich brauch was Größeres.«

Ich biss mir auf die Lippe, denn das war schlichtweg gelogen. Eske hatte sich sehr Platz sparend eingerichtet. Sie besaß zwar alles, was man brauchte, aber immer in der kleinsten Variante. Kühlschrank 40 cm, Kleiderschrank 80 cm, Computertischchen 50 cm und so weiter. In ihr Bett (140 cm, immerhin) passten zwar zwei Leute, aber das fand selten statt.

Außer mit Rocko, dem Werbefilmfuzzi, der mit seinem Tequilakonsum im Familieneck die Pacht vermutlich allein finanzierte. Rocko parkte seinen Hintern seit über zwei Jahren von Zeit zu Zeit über Nacht bei Eske. Aber außerhalb des Familienecks hatten die beiden sich bis heute nicht getroffen.

Und Eske brauchte in ihrem dritten Stock eher einen Aufsitzrasenmäher als mehr Platz.

»Kurz: Es ist Zeit für Veränderung«, schloss Eske ihre Ausführungen. »Neues Jahr, neues Glück.«

Dieser Veränderungsdrang hatte sich schon vorher bemerkbar gemacht: Seit drei Monaten war Eske blond, und zwar noch blonder als ich. Am Anfang war ich entsetzt gewesen, aber mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt und den Plan, mir aus Protest die Haare dunkelbraun zu färben, auf unbestimmte Zeit verschoben.

Mein Friseur und bester Freund Alf hatte mir davon abgeraten. »Mona«, hatte er gesagt, »nerv nicht. Mit braunen Haaren sähest du stinklangweilig aus.«

Also waren Eske und ich uns jetzt noch ähnlicher. Es war erschreckend, aber es war so. Und Rocko und sein Kumpel Thomas nannten uns nur noch »Duo infernale«.

Zu Unrecht, denn sie waren immer noch besoffener als wir, meistens jedenfalls, aber die Bezeichnung schmeichelte uns. Jawohl, so waren wir: Femmes fatales. Ha.

Jetzt zog Eske eine Zeitung aus ihrer Tasche und wedelte damit herum. »Es ist Mittwoch«, sagte sie. »Tag der Wohnungsanzeigen. Wir suchen mir jetzt was Neues.«

Ich seufzte ergeben. »So lange es in der Nähe ist, meinetwegen. Aber du weißt, was das heißt«, warnte ich sie. »Das wird anstrengend.«

»Egal«, sagte Eske und schlug schwungvoll die Zeitung auf. »Ich bin nicht sehr anspruchsvoll. Ich hab schon überlegt, zur Not zieh ich auch mit jemandem zusammen. In so einen Riesenaltbau oder so. Am besten mit einem sexy Boy«, überlegte sie.

»Du spinnst doch.« Ich tippte mir an die Stirn.

»Oder eine Frau mit Kind vielleicht?«, sinnierte Eske weiter.

O Gott. Der unterdrückte Kinderwunsch.

Da war er wieder.

Eskes unterdrückter Kinderwunsch hatte uns schon einmal ins Unglück gestürzt.

Immerhin hatte ich nur deshalb Niels kennen gelernt. Niels, auch Horst genannt.

Jenen Scheißkerl, der mich dazu gebracht hatte, haarscharf am totalen Wahnsinn vorbeizuscheppern und anderthalb Jahre aus Liebeskummer in meinem eigenen Elend zu ertrinken.

Nur damit Eske endlich in Ruhe schwanger werden konnte, hatte ich mich im Internet auf die Fahndung nach einem Vater für ihre Kinder begeben. Ich war nämlich eigentlich eine extrem gute beste Freundin. Im Gegensatz zu Eske.

Und dann hatte ich Niels gefunden.

Woher hätte ich auch wissen sollen, dass ich mich in ihn verlieben würde und nicht Eske?

Aber ich hatte keine Chance gehabt. Niels hatte aus der Ferne alle Register gezogen.

Aus Hannover, um genau zu sein, wo er als Ingenieur Autoteile vertickt hatte. Und aus Walkenhorst bei Bremen, wo er seine Wochenenden verbrachte, um zur Abwechslung mal seiner Mutter auf die Nerven zu gehen. Oder die Landluft zu genießen. Die hatte er auch nötig. Völlig verstrahlt, der Gute.

Zu blöd nur, dass es auch auf dem Land Computer gab, mit denen man E-Mails und SMSen verschicken konnte. Scheiß Kommunikationstechnik! Genau die hatte Niels sich zu Nutze gemacht. So lange, bis ich ihm und seinem romantischen Geschwafel hoffnungslos verfallen war. Meine Schwäche für Männer ohne Kommafehler beschleunigte das Geschehen vermutlich sehr.

Nach unserem dritten Treffen hatte ich dann Crispin verlassen, im sechsten Jahr unserer Beziehung. Wegen Niels. Waaaah. Wie bekloppt kann man sein.

Und dann – hatte Niels einfach dicht gemacht.

Auf immer und ewig.

War einfach verschwunden aus meinem Leben.

Zack, weg.

Peng.

An sich eine unmissverständliche Ansage.

Ich hätte mich vielleicht damit abfinden können, wenn da nicht noch was nachgekommen wäre. Etwas, das Niels endgültig zum gestörten Vollhorst machte. Und mich in eine Art mehrmonatigen Schockzustand versetzt hatte.

Ein Umzug nach Hamburg zum Beispiel. Nach Hamburg-Ottensen, um präziser zu sein.

In meine direkte Nachbarschaft.

Und in die von Crispin. Die beiden konnten sich quasi gegenseitig ins Fenster spucken. Und wussten doch nichts voneinander.

Crispin hatte keine Ahnung, dass er ständig Gefahr lief, in die gleiche Hundescheiße zu treten wie unser Trennungsgrund.

Jedenfalls, da wohnte er jetzt, der Horstniels Nielshorst, keine fünfhundert Meter von mir entfernt, und nahm keine Rücksicht auf meine Gebietshoheit und auf meine Nerven, und auf mein Seelenheil schon gar nicht.

Er war einfach da und machte sich breit und tat so, als würde es mich gar nicht geben. Als wäre nie etwas gewesen! Er sprach nie wieder mit mir, nicht ein Wort, während ich verzweifelt versuchte, eine Erklärung für sein Verhalten zu finden, Crispin zu vergessen und vor Eske nicht als mindestens ebenso unzurechnungsfähig dazustehen wie der Horst.

So viel also zu Eskes unterdrücktem Kinderwunsch.

Da meint man es gut und ist hinterher die Gelackmeierte. Sorgenvoll runzelte ich die Stirn.

Eske roch den Braten prompt.

»Nicht was du denkst«, beeilte sie sich zu sagen. »Aber ein bisschen Gesellschaft wäre vielleicht gar nicht verkehrt. Ich könnte das mal wieder üben. Wie das ist mit jemandem. Warum also nicht eine Frau mit Kind?«

Nee, is richtig. Ich sah Eske schon stolz wie Oskar mit einer fremden Brut auf dem Rücken durch Ottensen spazieren. Vielleicht würde sie sogar vorgeben, das Blag sei ihr eigenes. Die Hand an der Wiege. Ich schüttelte mich.

»Los jetzt.« Eske reichte mir den Teil mit den Dreizimmerwohnungen. »Zwei Zimmer übernehm ich«, erklärte sie.

Zwei Zimmer? Ich dachte, sie wollte mehr Platz?

Dumme Ausreden. Sie wollte nicht putzen. Das war alles.

Ergeben bat ich Aram, den Wirt, um zwei Kugelschreiber.

»Auf Wohnungssuche?«, fragte er mitleidig, als er sie uns über den Tresen reichte.

»Jo«, antwortete Eske. »Es ist mal wieder an der Zeit.«

Aram wiegte den Kopf. »Man muss ja auch ans Alter denken«, konstatierte er dann zustimmend.

Eske guckte blöd aus der Wäsche.

»Ist wahr«, fügte Aram erklärend hinzu. »Ich hab jetzt auch eine neue Wohnung. Im Erdgeschoss, auf dem Land. Schnauze voll von dem Zirkus hier. Und da kommt man später im Notfall sogar mit dem Rollstuhl gut rein.«

Praktisch denken, Särge schenken.

Aaaargh.

Ich wohnte auch im Erdgeschoss! So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Wow.

»Das ist gut«, antwortete ich ehrfürchtig.

Ich war bestimmt die Einzige in meinem Freundeskreis, die so vorausschauend plante. Ich war beeindruckt.

»Jau«, bekräftigte Eske. »Tucker, tucker, is man drin.«

Dann wandte Aram sich wieder der Inventarisierung seiner Schnapsvorräte zu, und Eske und ich machten uns schweigend an die Arbeit. Ab und zu raschelte das Zeitungspapier.

Angestrengt studierten wir die Angebote.

»3 Zi., 80 qm, Kü., Bad, renov., Nsp., Altb., PVC, Balk., 5. St. o. Fst., 610 Euro netto kalt«, so oder ähnlich lauteten die Anzeigen.

Das meiste verstand ich: 5. St. o. Fst. bedeutete, viel Treppen steigen zu müssen, aber man konnte sich dafür das Fitnessstudio sparen. PVC bedeutete ziemliche Geschmacklosigkeit, war aber recht einfach aus dem Weg zu räumen. Buchstäblich. Nsp. hingegen hieß Nachtspeicherheizung, bedeutete in der Nacht Affenhitze und tagsüber blau gefrorene Hände zu einem horrenden Preis.

Ich war mir nicht sicher, ob Eske so etwas in Kauf nehmen wollte.

»Nachtspeicher?«, fragte ich sie also knapp.

Sie hatte die Augen zusammengekniffen, und dazwischen bildete sich eine tiefe Falte.

Ich schlug ihr mit dem Kugelschreiber zwischen die Augenbrauen. »Lass das«, sagte ich. »So kriegst du nie einen Mann.«

»Du mit dem Make-up auch nicht«, versetzte Eske. Charmant wie immer. »Ach ja: Nein.«

Gut. Also keine Nachtspeicherheizung.

Ich strich alle Angebote in Altona mit Nachtspeicherheizung durch. Übrig blieben nur noch vier Wohnungen. Davon brauchte man für eine einen Dringlichkeitsschein, zwei waren maßlos überteuert, und die vierte war ein derartiger Traum, dass Eske sie sowieso nie ergattern würde.

Es war eindeutig eine Pärchenwohnung: Drei Zimmer, fast achtzig Quadratmeter, renoviert, Dielenboden, Dachterrasse (!). Der Preis war akzeptabel. Noch nicht mal Courtage sollte anfallen. Angeblich. Und es gab sogar eine Badewanne.

Das sollte ja wohl ein Scherz sein!

Es war zu gut, um wahr zu sein. Ich war mir sicher, dass die Sache irgendwo einen Haken hatte.

Solche Wohnungen hatten immer einen Haken. Befristete Knebelverträge oder noch keinen Stromanschluss oder die Pflicht, jeden Dienstag und Freitag in der Früh um halb sieben den Müllmännern die Tür aufzumachen zum Beispiel. Ohne Türsummer natürlich.

Der Haken an dieser Wohnung lag woanders, aber das begriff ich erst, als ich die Anzeige zum dritten Mal gelesen hatte: »Abbestraße 44«, lautete die Adresse, »Besichtigung Samstag, 14.30 Uhr, Hausverwaltung Behnke.«

Bingo. Da war der Haken. In der Abbestraße 46 wohnte Niels. Direkt daneben also nach meinen Berechnungen. Horst-Alarm. Örks.

Mir wurde heiß. Unruhig rutschte ich auf meinem Barhocker hin und her.

Eske hatte noch nicht bemerkt, auf was für einen Schatz ich soeben gestoßen war, und ich gab mir alle Mühe, mir nichts anmerken zu lassen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte.

Gut, ich war Eskes beste Freundin. Ihre Wohnkultur hätte mir wichtiger sein sollen als alles andere, das war mir schon klar. Aber auf der anderen Seite – nein, das ging nicht.

Eske konnte auf gar keinen Fall die Nachbarin von Niels werden. Es ging einfach nicht.

Es reichte schon, dass er überhaupt hier im Viertel wohnte. Ich könnte mich nie, nie, nie wieder entspannen bei Eske, wenn sie ausgerechnet dem Horst so dicht auf die Pelle rückte mit ihrer neuen Bleibe. Und das würde sie ja wohl auch nicht wollen. Oder?

Wie auch immer, ich konnte Eske auf keinen Fall davon erzählen. Sie hätte mich für verrückt erklärt, wenn sie erfahren hätte, dass ich auch nur noch einen Gedanken an Niels verschwendete. Eske hatte ihn nicht umsonst immer nur den »Schizo« genannt. Natürlich hatte sie Recht damit gehabt.

Auch wenn ich fand, dass »Horst« immer noch am allerbesten zu ihm passte. Niels war so horstig, das ging auf keine Kuhhaut mehr.

Was sollte man auch von so einem halten?

Mit dem ich im Übrigen noch nicht einmal geschlafen hatte, weil er wie ein geprügelter Hund reagierte, wenn man ihn woanders anfasste als an den Händen oder im Gesicht.

Der drei Jahre lang in seiner leeren Hannoveraner Wohnung gehaust hatte, wo es keine Möbel gab. Noch nicht einmal einen Küchenstuhl.

Der Reißaus nahm, wenn Besuch drohte, und so launisch war, dass er allen damit wehtat. Insbesondere mir.

Und den ich nicht allein deshalb mit Hilfe therapeutischer Fachliteratur schließlich als hochgradigen Bindungsphobiker entlarvt hatte.

Als ich so darüber nachdachte, was ich da überhaupt angestellt hatte, hätte ich mir am liebsten sofort wieder links und rechts ein paar runtergehauen.

»Magere Ausbeute«, seufzte Eske jetzt und schob mir ihren Teil der Zeitung zu. »Hier, drei oder vier kämen in die engere Wahl, aber die sind mir eigentlich alle zu weit weg. Daimlerstraße! Phhht. Wer will da schon hin?«

Ich pflichtete Eske geflissentlich bei. Ich wollte ja auch, dass sie in der Nähe blieb.

»Und was hast du gefunden?«, erkundigte sie sich jetzt und schnappte nach meinem Teil der Zeitung.

Zum Glück hatte ich die in Frage kommenden Anzeigen nicht markiert. Es gab also Hoffnung. Vielleicht würde sie die Wohnung in der Abbestraße gar nicht entdecken!

Das war ein frommer Wunsch. Und dabei blieb es dann auch.

Denn weil ich die Wohnungen mit Nachtspeicherheizung durchgestrichen hatte, fand Eske natürlich schnell, was sie suchte. Mit ihren Röntgenaugen graste sie die Spalten systematisch nach der magischen Buchstabenkombination »O-T-T-E-N-S-E-N« ab.

»Zu teuer«, murmelte sie vor sich hin, während sie die Seite scannte, »zu teuer – zu weit weg – zu teuer – Dringlichkeitsschein, Scheiße – haaaa! Perfekt!«

Entnervt sank ich in mich zusammen. Ich winkte Aram und bestellte mir einen Schnaps.

»Super!«, kreischte Eske aufgeregt. »Hör dir das an: Altbau, 77 Quadrat, Badewanne, Pitchpine-Dielen und – waaaah! Dachterrasse!«

Aufgeregt tippte sie mir auf die Schulter.

»Abbestraße! Welche ist das noch mal? – Ach, ich weiß. Mannomann. Das ist es. Wie cool. Dachterrasse! Die muss ich haben! Mona, du bist mein Glücksbringer.«

Dann streckte sie mir krakenartig ihre Arme entgegen. Ich wusste, was das bedeutete. Oh, nein. Nicht auch das noch.

Ich drehte mein Gesicht zur Seite, aber es war zu spät. Eske beugte sich zu mir hinüber, dass ihre Nase fast an meine stieß, und kniff mir in die Wangen, dass es wehtat.

»Nicht wahr, meine kleine Goldmarie? Du bist doch meine kleine Goldmarie?«

Dabei patschte sie mir mit ihren unegalen Fingern weiter im Gesicht herum. Wie sie das nun mal gerne tat.

Sie wusste genau, wie sehr mich das auf die Palme brachte. Fehlte nur noch, dass sie mich ableckte. Oder mir mit ihrer eigenen Spucke den Bierschaum aus den Mundwinkeln wischte. Wie meine Mutter früher. Nichts hatte ich so sehr gehasst wie den Geruch fremder Spucke an der eigenen Nase.

Bis ich das Küssen entdeckt hatte zumindest.

»Lass das«, herrschte ich Eske an, aber sie grinste nur.

»Prost«, entgegnete sie, lehnte sich zurück und hob ihr Bierglas. »Auf meine neue Wohnung. Samstag gehen wir zur Besichtigung. Du kommst natürlich mit. Du musst mir Glück bringen.«

»Keine Lust«, krächzte ich kraftlos. »Ich will da nicht hin.«

»Klar kommst du mit. Spinnst du?«, motzte Eske. »Willst du mir die Laune verderben? Oder bist du jetzt schon neidisch? Jaja! Da kann dein Garten nicht mithalten. Mit einer Dachterrasse.« Zufrieden steckte sie sich eine Zigarette an.

»Pfft«, machte ich und nahm ihr das Feuerzeug aus der Hand.

Ich war extrem stolz auf meinen Garten. In Ottensen überhaupt einen zu besitzen war schon eine Frechheit. Und dann auch noch so viel Platz zu haben, eigene Kartoffeln ziehen zu können, grenzte an Dekadenz.

Aber ich hatte das verdient. Der Umzug in die neue Wohnung war das einzig Positive gewesen, das die Trennung von Crispin mit sich gebracht hatte.

Hatte die Bude im Übrigen nicht gemietet, sondern gleich gekauft. Ich war nämlich überhaupt nicht gestört und hatte keine Bindungsphobie und kein Problem damit, Verantwortung zu tragen oder einen Kredit aufzunehmen oder mich sonstwie langfristig zu verpflichten.

Im Gegensatz zu Niels.

»Und überhaupt. Freu dich doch mal mit mir. Was ziehst du für eine Schnute?«, schimpfte Eske weiter. »Den Gesichtsausdruck kenn ich doch. Den hattest du übrigens zum letzten Mal, als wir unten an der Elbe deine Schizo-Memoiren ...«

Ich ächzte. Das waren noch Zeiten gewesen. Damals, im Oktober 2000.

Mit Eskes Hilfe hatte ich alles, was mich an Niels erinnerte, schreiend im Fluss versenkt.

All seine E-Mails, die ich ausgedruckt hatte.

Und vor allen Dingen »Prinzessin Horst«. Das kleine Pixi-Büchlein, das er mir geschenkt hatte und das dazu geführt hatte, dass ich nur noch ihn wollte. Und keinen anderen. Nie wieder einen anderen.

Eigentlich hatte ich gedacht, dass es das gewesen wäre: Zack, Treffer versenkt.

Und danach nie wieder dran denken.

So wie es in der Zwischenzeit aussah, war dieses ehrenwerte Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Wir schrieben immerhin Frühjahr 2001. Und was machte ich? Saß im Familieneck und dachte an Niels.

Na prima.

Ich hatte ihn zwischenzeitlich ein paar Mal von weitem auf der Straße gesehen, aber wirklich begegnet waren wir uns nie. Dabei war es extrem schwierig, sich in Ottensen aus dem Weg zu gehen.

Zum Glück hatten wir noch drei Straßenzüge zwischen uns. Und unterschiedliche Stammkneipen.

Weiß der Teufel, wo Niels herumhing. Ins Familieneck traute er sich nicht. Und das sollte auch so bleiben.

Aram und Rocko und Thomas und all die anderen hatten jedenfalls Order, ihn zu verprügeln, wenn er sich jemals blicken ließ. Ich hatte aus diesem Grund sogar von einem ehemaligen Polizeizeichner ein Phantombild anfertigen lassen.

Er hatte Niels extrem gut getroffen. Aram bewahrte die Zeichnung hinten im Kabuff bei den Saftflaschen auf. Für alle Fälle. Gleich und gleich gesellt sich gern.

Eske hatte innegehalten und den Kopf schief gelegt. Jetzt pfiff sie durch die Zähne und schlug sich an die Stirn.

»Aaaah. Daher weht der Wind«, sagte sie. »Abbestraße. Na klar. Schon verstanden. Horst-Alarm.«

Ich nickte. »Ich will da wirklich nicht hin«, wiederholte ich kläglich.

»Reiß dich zusammen«, befahl Eske brüsk. »Der Schizo ist Vergangenheit. Und das nicht erst seit gestern. Ganz egal, wo er wohnt. Vergiss das nicht. Du kommst am Samstag mit. Basta.«

Dann wechselte Eske das Thema.

Sie hatte nicht nur ein Wohnproblem.

»Lesben an die Macht: Männer bringen's nicht!«, hieß die nächste Talkshow, die sie vorbereiten musste, und die Lesbenrecherche machte ihr schwer zu schaffen.

Da war ich doch froh, dass ich mich – obwohl ebenfalls TV-Redakteurin – nur noch darum kümmern musste, Popstars auf den Bildschirm zu bringen. Die waren selten lesbisch, sondern höchstens mal schwul, und das war ja für eine reibungslose Zusammenarbeit nicht unbedingt das Schlechteste.

Eskes Wunsch war mir also Befehl; ich versuchte wirklich, mich zusammenzureißen, und überlegte mir sogar ein paar Recherchetipps für ihre Lesbenproblematik. Mehr als die Frauenkneipe an der Stresemannstraße fiel mir allerdings nicht ein, denn trotz aller aufrichtigen Versuchsanordnungen war ich mit meinen Gedanken woanders.

Nicht im Familieneck, sondern bei Niels.

Ich wollte das nicht, aber es war so.

Scheißendreck.

Es kam mir so vor, als würde er mich beobachten und sich heimlich die Hände reiben darüber, dass er es mal wieder geschafft hatte: Er war wieder da. In meinem Kopf. Die Geister, die ich rief.

Und Eske war wirklich schuld.

Während wir das fünfte Bier in uns hineinkippten, rief Lukas an und lud uns zu seiner Geburtstagsparty ein.

»Super«, sagte Eske vergnügt, »da gehen wir hin.«

»Da gibt's bestimmt wieder nur Korn, Kurze und Cola«, warnte ich sie.

»Ich hasse Cola«, knurrte Eske.

Manchmal hatte sie wirklich eine merkwürdige Sicht der Dinge.

Bis Samstag hatte Eske sich einen regelrechten Schlachtplan zurechtgelegt. Sie war bereit, für die Dachterrasse zu töten. Als sie um halb zwei bei mir eintraf, trug sie einen biederen Rock unter ihrem Mantel sowie einen ganzen Stapel gefälschter Unterlagen unter ihrem Arm: in akribischer Kleinstarbeit geschönte Gehaltsabrechnungen und ein angebliches Empfehlungsschreiben von ihrem bisherigen Vermieter.

Fehlte nur noch die eidesstattliche Versicherung, sie würde nicht rauchen und nicht trinken. Die hatte sie zwar nicht geschrieben, aber als ich mir zum Kaffee eine Zigarette anzünden wollte, nahm Eske sie mir aus der Hand.

»Nicht«, sagte sie. »Sonst stinken wir gleich nach Rauch.«

»Du hast sie doch nicht alle«, erboste ich mich. »Glaubst du, auf so was achten die?«

»Klar«, antwortete Eske. »Die achten auf alles. Und deshalb habe ich dir das hier mitgebracht.«

Sie nahm ein kleines Kästchen aus ihrer Tasche. »Da«, sagte sie und überreichte es mir.

Ich öffnete es vorsichtig. Und fiel fast vom Glauben ab. »Perlenohrringe?«, fragte ich entsetzt. »Was soll das denn? Hast du einen Knall?«

»Die legst du natürlich an für die Besichtigung«, erklärte Eske ernsthaft. »Es gibt nichts, was Hamburgerinnen seriöser erscheinen lässt als ein paar kleine dezente Perlenstecker unter den blonden Haaren.«

»Du spinnst«, stellte ich fest. »So was trage ich nicht. Warum nimmst du die nicht?«

»Weil ich schon seriös genug aussehe. Im Gegensatz zu dir. Und jetzt zieh dich endlich um. Wir müssen gleich los.«

»Umziehen?«

Ich sah an mir herunter. Sah anständig aus, fand ich. Keine Löcher, keine Flecken. Und hochmodern. Gewagte Farben jedenfalls. Rosa Pulli, unter dem ein orangefarbenes Top hervorlugte, Jeans und rote Stiefel.

Nur die Perlenohrringe würden nicht dazu passen.

Eigentlich passten Perlenohrringe zu überhaupt nichts.

Außer vielleicht zu marineblauen Blazern mit Goldknöpfen, hellbraunen Mokassins und blasierten Milchgesichtern, die sich durch viel zu viel Solariumbräune alle Mühe gaben, eben nicht mehr milchgesichtig zu wirken.

Wäre ich Immobilienmakler gewesen, ich hätte alle Bräute mit Perlenohrringen sofort auf die schwarze Liste gesetzt. Wusste doch jeder, dass die die Quadratmeterzahl der Wohnung mit dem Lineal nachmessen und bei der Hausverwaltung sofort nach ihrem Einzug neue Lärmschutzfenster beantragen würden.

Aber Eske wollte es nicht anders. Also fügte ich mich in mein Schicksal. Raus aus der Jeans. Ich schnappte mir meine Nadelstreifenhose und das weiße Hemd mit dem Riesenkragen und verschwand im Bad.

Hoffentlich begegnete ich auf dieser Wohnungsbesichtigung niemandem, den ich kannte. Erst recht nicht Crispin. Oder Niels.

»Halt dich beim Make-up zurück«, schrie Eske mir hinterher. »Und such dir anständige Stiefel raus.«

Ich hätte sie umbringen können.

Als wir in der Abbestraße ankamen, war dort bereits die Hölle los. Alles war zugeparkt, die Autos stapelten sich geradezu. Auch Crispins Renault-Kastenwagen stand im absoluten Halteverbot.

Nur Niels' blauer BMW war nirgendwo zu sehen. Ich wusste auch, warum. Samstag war Bundesliga-Tag. Wahrscheinlich stand Niels also bei Werder Bremen im Weserstadion, feuerte Marco Bode an und stopfte Bratwürste in sich hinein.

Meinetwegen.

Das war eh sein einziger Spaß. Viel mehr hatte ich von ihm nie erfahren. Ich wusste so gut wie nichts über Niels! Er hatte kaum etwas Persönliches preisgegeben.

Und so einem trauerte ich auch noch hinterher. Das muss man sich mal vorstellen.

»Oh, nein«, stöhnte Eske, als nur kurz vor uns ein ganzer Pulk von Menschen im Gebäude Nr. 44 verschwand.

Das Haus war hübsch. Sehr hübsch sogar. Weißer Jugendstil mit großen Fenstern. Niels' Haus, ein grauer, klobiger Kasten, sah daneben aus wie hingeschissen.

»Die wollen bestimmt alle dahin.«

»Natürlich wollen die alle dahin«, antwortete ich triumphierend. »Was denkst du denn? Dir war ja wohl klar, dass das hier kein Spaziergang wird.«

Eigentlich hatte ich gehofft, dass Eske noch vor unserer Ankunft die Sinnlosigkeit ihres Vorhabens erkennen und mich stattdessen auf einen Prosecco ins Insbeth einladen würde. Meinetwegen auch auf einen ordinären Milchkaffee.

Aber das würde selbstverständlich nicht geschehen. Ich kannte Eske. Sie würde das Ganze als Herausforderung sehen. Jetzt erst recht.

»Also gut. Auf in den Kampf«, verkündete sie.

Wie ich es vermutet hatte.

Dann öffnete sie schwungvoll die Eingangstür.

Oder vielmehr das herrschaftliche Portal. Die Bude war der Hammer. Geradezu majestätisch. Überall waren Schnörkel: am Geländer der breiten, dunkelbraunen Holztreppe; auf den Bodenfliesen und an der Wand; am Metall der alten Briefkästen. Die Schnörkel hingen sogar von der Treppenhauslampe, die fast wie ein Kronleuchter aussah und ein schmeichelndes Licht von sich gab. Sehr ungewöhnlich für Treppenhäuser. Und der dicke Knauf am unteren Teil des Geländers war aus Mahagoni gedrechselt. Mindestens.

Das Einzige, was das idyllische Bild störte, war die lange Schlange von Menschen, die sich vom obersten Stockwerk bis an den Fuß des ersten Treppenabsatzes zog.

»Scheiße«, zischte Eske und zog mich hinter sich her ans Ende der Schlange. Skeptisch sah sie nach oben. »Pärchen«, ächzte sie. »Das sind alles nur Pärchen.«

In der Tat. Es waren nur Pärchen. Und sie waren verdammt gepflegt. Spießig geradezu. Allesamt.

Aber da konnten wir mithalten. Ich räusperte mich, strich mein Hemd glatt und schob mir die Haare hinter die Ohren, damit man die Perlenohrringe sah.

»Tja«, entgegnete ich. »Wohnraum ist knapp. Da sollte auf über siebzig Quadratmetern ja wohl auch mehr als eine Person wohnen.«

Eske schwieg beleidigt.

Wir warteten. Um Viertel vor drei standen wir immer noch an der gleichen Stelle. Die Schlange hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt. Aber sie war nach hinten noch ein wenig länger geworden. Ein paar Leute mussten sogar vor der Tür stehen. Wir müssen draußen bleiben. Wuff.

Hihi.

Langsam machte sich Unruhe breit, und das zuvor unverhohlene Konkurrenzgebaren wich langsam einem kollektiven Gefühl der Ungeduld. Statt sich gegenseitig verstohlen zu mustern, fingen einige sogar an, miteinander zu sprechen.

»Unverschämtheit.« – »Das war bestimmt nur eine Verarschung.« – »Ob da wohl überhaupt noch jemand kommt?« Solche und andere Gesprächsfetzen waberten durch das Treppenhaus.

Es war also noch nicht einmal jemand da, der überhaupt befugt war, uns in die Wohnung zu lassen! Ich verlagerte mein Gewicht zum hundertsiebzigsten Mal auf den anderen Fuß. Eskes Gesicht wurde immer länger. Ich blieb gelassen, mir sollte es recht sein. Ich hatte schließlich alles andere als Bock drauf, dass Eske sich ausgerechnet hier häuslich niederließ.

Dann kam von hinten Unruhe in die Menge. Die Eingangstür hatte sich geöffnet, und durch sie hindurch schob sich an den Wartenden ein Typ mit einem Stapel Zettel unter dem Arm vorbei.

Er sah gar nicht aus wie ein Makler oder ein Verwalter, jedenfalls trug er weder einen billigen Anzug noch einen Aktenkoffer, aber es gab keinen Zweifel.

Er musste es sein, denn er guckte genau so, wie jemand guckt, der einen Haufen Arbeit vor sich hat. Und das auch noch an einem Samstagnachmittag. Wenigstens grinste er dabei noch schief. Gar nicht unsympathisch eigentlich. Fünfunddreißig war er vielleicht. Oder noch ein paar Tage älter. Aber nicht viel.

Eske starrte ihn an, als wäre er eine Erscheinung. Sie glotzte ihm noch hinterher, als er sich schon längst an uns vorbeigedrückt hatte.

Die Wartenden auf der Treppe machten ihm bereitwillig Platz. Übertrieben höflich geradezu. Elende Schleimer.

»Heee«, flüsterte ich Eske zu und stieß sie mit dem Ellbogen an.

Ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf, und sie hatte wieder diese unsägliche Falte auf der Stirn.

»Krieg dich wieder ein. Soooo sexy war er auch wieder nicht.«

»Ich kenn den«, sagte Eske. »Ich bin mir ganz sicher. Den kenn ich irgendwo her.«

»Kann doch gut sein«, sagte ich leichthin. »Wahrscheinlich vertickt der überall in Ottensen Wohnungen und rennt hier ständig durch die Gegend.«

»Nee«, quengelte Eske. »Nicht von hier. Von woanders. Und ich hab schon mal mit ihm gesprochen, das weiß ich. Scheiße, verdammte. So was macht mich wahnsinnig.«

Ich seufzte. »Weiterhelfen wird dir das jetzt eh nicht.«

»Wer weiß«, sinnierte Eske. »Ich denk da noch mal drüber nach.«

Damit verfiel sie in grüblerisches Schweigen, während wir uns innerhalb der nächsten zehn Minuten ungefähr vier Treppenstufen weiter hocharbeiteten. Immerhin.

Der Typ da oben leistete ganze Arbeit. Er ließ sich offenbar nicht stressen, sondern die Interessenten paarweise vortreten. Immer schön eines nach dem anderen.

Ich kramte in meiner Tasche und förderte stolz zwei Äpfel zutage, die ich als Wegzehrung eingesteckt hatte. Das mit der vorausschauenden Planung hatte ich mir gemerkt.

»Da«, sagte ich und hielt Eske den kleineren Apfel hin.

»Nee«, antwortete sie und winkte ab. »Ich ess nur Fleisch.«

Haha. Undankbares Pack.

Die Wohnung schien zu halten, was das Treppenhaus versprach. Jedenfalls hatten die, die wieder runterkamen, ein seliges Lächeln auf den Lippen und hoffnungsvolles Bangen in den Augen.

»Ich hab's«, kreischte Eske plötzlich und riss mich damit jäh aus meinen Gedanken.

Ich hatte an Crispin gedacht, während ich auf meinem Apfel herumkaute. Und daran, dass ich ihn auf dem Rückweg eigentlich besuchen könnte. Nur so. »Hm?«, machte ich desinteressiert.

»Ich hab's«, wiederholte Eske. »Ich weiß, woher ich den kenne!«

»Dann ist es ja gut«, stellte ich fest. »Dann kannst du dich ja jetzt endlich mal entspannen.«

»AC/DC«, sagte Eske versonnen.

»Bitte was?«, fragte ich.

Hatte sie den Verstand verloren?

»AC/DC«, erklärte Eske. »Trabrennbahn Bahrenfeld. Im letzten August. Der hat hinter mir gestanden. Und tierisch abgerockt. Und mir dabei sein Bier über den Rücken gegossen. Das Schwein. Deshalb sind wir ins Gespräch gekommen.«

»Hat er dir wenigstens die Reinigung bezahlt?«

»Quatsch«, sagte Eske entrüstet. »Darauf ist man ja wohl vorbereitet, wenn man zu Angus geht. Da zieht man nichts an, was in die Reinigung muss.«

»Na schön. Dann kannst du ja darauf hoffen, dass der Typ dich gleich erkennt«, entgegnete ich.

Und wünschte mir gleichzeitig, dass gerade das nicht eintreten würde. Das hatte mir noch gefehlt: Ein dummer Zufall zu viel, und Eske würde tatsächlich bis ans Ende ihrer Tage direkt neben dem Horst hocken.

Nein, nein und nochmals nein.

»Darauf werde ich nicht nur hoffen«, verkündete Eske jetzt, »dafür werde ich sorgen. Halt mal.« Dann drückte sie mir ihre Unterlagen in die Hand, drehte sich um und sprintete die Treppe hinunter.

»Heee!«, brüllte ich verdutzt hinter ihr her. »Wo willst du hin?«

Das Pärchen hinter uns grinste debil. Die hielten uns bestimmt für zankende Lesben. Fantastisch. Trotzig reckte ich ihnen meine Perlenohrringe entgegen. Eine Lesbe mit Perlenohrringen hatte ich noch nie gesehen.

Die hoffentlich auch nicht.

»Bin gleich wieder da«, brüllte Eske zurück, »halt die Stellung!«

Ja ja. Vielen Dank. Die hatte doch echt den Schuss nicht gehört. Was sie wohl vorhatte? Den Maklertypen mit einer Kiste Bier bestechen? Dazu eine Runde Luftgitarre spielen und »TNT« grölen?

Das hätte ihn beeindruckt. Keine Frage.

Missmutig verzog ich den Mund. Dann lehnte ich mich an die Wand und langweilte mich. Wenigstens ging es jetzt ein wenig schneller voran. Es war Viertel nach drei, und bald hatte ich immerhin schon den zweiten Stock erreicht. Ich schielte nach oben. Bis zum fünften war es noch ein weiter Weg. Der Nachteil von Dachterrassen.

Als ich im vierten Stock angelangt war, wurde ich langsam unruhig. Am Ende musste ich mich noch allein mit dem Altrocker abgeben!

Altrocker waren noch nie meine Kragenweite gewesen. Auf der anderen Seite waren Eskes Chancen auf die Bude verschwindend gering, wenn nur ich da oben auftauchte. Allein. Ohne Pärchenberechtigung. Und dann auch noch in Vertretung für jemand anderen.

Vielleicht war das die Lösung!

»Trödel ruhig noch ein bisschen«, knurrte ich vor mich hin und setzte triumphierend den linken Fuß auf den ersten Treppenabsatz zum fünften Stock.

Aber da hatte ich natürlich die Rechnung ohne Eske gemacht, die jetzt japsend und keuchend die Treppen heraufhechtete, während sie nach links und rechts entschuldigende Darf-ich-mals abfeuerte.

»Na? Hab ich was verpasst?«, fragte sie und strahlte mich an.

Ich musterte sie fassungslos. Sie hatte sich komplett abgeschminkt, eine dämliche AC/DC-Kappe auf dem Kopf und den Rock gegen alte Jeans eingetauscht.

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, fragte ich.

»Na klar«, sagte sie vergnügt und zog ihren Mantel aus. »Eines steht fest: Wenigstens werde ich auffallen.«

Das würde sie in der Tat, denn sie trug zu allem Überfluss auch noch ein uraltes AC/DC-T-Shirt. Es war so ausgeblichen, dass man den Schriftzug nur noch erahnen konnte. Aber für einen wahren Fan würde das nicht das Problem sein. Und in der Jeans hatte sie ein Loch.

Mir fiel plötzlich auf, wie verdammt unwohl ich mich in dieser Kack-Nadelstreifenhose und dem albernen weißen Hemd fühlte. Ich war sauer.

Eske. Echt.

Dumme Nuss.

»Du hast sie doch nicht alle«, stellte ich mürrisch fest.

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, mir die blöden Perlenohrringe aus den Ohren zu nesteln. Und dann waren wir dran. Geduldig warteten wir in der Wohnungstür auf Zuwendung und Einlass.

»Hallo«, sagte der Maklertyp freundlich, als er das Pärchen vor uns verabschiedet hatte.

»Behnke junior. Ich bin der Verwalter.«

Eske strahlte ihn an. »Hallo«, zwitscherte sie und streckte ihm die Hand hin.

»Hallo«, brummte ich.

Als ich ihm ebenfalls die Hand geben wollte, fiel mir einer der Perlenstecker runter. Er kullerte in eine Dielenritze und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Das war's dann wohl gewesen mit der Perlenherrlichkeit.

»Hoppla«, sagte der Verwalter und lachte mich an. Er sah wirklich ganz nett aus. »Was war denn das?«

»Ach, nicht so wichtig«, winkte ich ab und streckte Eske in Gedanken die Zunge raus.

Das hatte sie jetzt davon.

Sie warf mir einen warnenden Blick zu. Dann wandte sie sich wieder dem Verwalter zu.

»Sagen Sie mal«, sagte Behnke junior jetzt und starrte Eske geradewegs auf ihr doofes T-Shirt, »kennen wir uns nicht? Ich glaube, wir sind uns schon mal begegnet.«

Eske lachte, reckte ihm ihre beeindruckende Brust entgegen und deutete auf den verblichenen Schriftzug. Es war viel zu kalt in der Wohnung dafür, nur ein T-Shirt an zu haben. Den Rest kann man sich denken. Der Verwalter bekam Stielaugen.

»Ich glaube auch«, entgegnete sie dann mit einem Augenaufschlag.

Ich stöhnte innerlich auf.

Alles klar. Die Sache war gelaufen. So ein Scheiß. Zerknirscht folgte ich den beiden durch die Wohnung. Sie verstanden sich prächtig.

»Und?«, fragte Behnke junior. »Wollen Sie zu zweit einziehen?«

»Nein«, antwortete Eske. »Ich bin allein. Mona hat mich nur begleitet.«

Pfffft. Diesen Müll musste ich mir nicht länger anhören. Ich ließ die beiden ölen, setzte mich ab und schlenderte auf eigene Faust durch die Zimmer.

Keine Frage, die Wohnung war ein Traum. Die Dielen waren frisch abgezogen. Es roch noch nach frischem Holzstaub. Die hohen Wände waren frisch getüncht, und, was noch viel wichtiger war, alle Details stimmten: Die Lichtschalter waren weiß und nicht ätzend braun, und es hatte auch niemand im Wahn der Fünfzigerjahre-Stromlinienförmigkeit die alten Kassettentüren mit Spanplatten zugenagelt, billige Goldimitat-Türklinken angebracht oder gar die Flurdecke abgehängt. In der Küche klebten sogar noch die Originalfliesen an der Wand, und der Terrazzo-Boden war frisch gewienert.

Ich checkte die Fensterlage. Das Küchenfenster lag zur Straße. An das Wohnzimmer mochte ich gar nicht denken. Aber ich kam nicht drum herum.

»Mona«, rief Eske prompt, »komm her. Das musst du dir ansehen!«

Ergeben zockelte ich ihrer Stimme hinterher.

Eske stand mit Behnke junior auf der Dachterrasse. Obwohl Dachterrasse eigentlich die falsche Bezeichnung war.

Es war mehr so ein überdimensionaler Balkon, der fast so groß war wie das Wohnzimmer selbst. Achtzehn Quadrat mindestens, eingefasst von einer einfachen taillenhohen Betonbrüstung und leuchtend blau gestrichen, auch der Boden. Das Ding sah aus wie ein in der Luft hängender Swimming-Pool.

Cool.

»Ja«, sagte Behnke junior, »das ist das große Plus der Wohnung.«

Ich weiß ja nicht, was der Typ für Wohnungen gewohnt war, aber ich fand, die ganze Bude war ein einziges Plus. Ich lehnte mich an die Brüstung.

Genau gegenüber lag der Kinderspielplatz. Eindeutig ein Haken. Ich machte Eske darauf aufmerksam.

»Das macht doch nichts«, flötete Eske. »Lieber Kindergeschrei als Verkehrslärm.«

»Das sehe ich auch so«, ergänzte Behnke junior, und Eske war entzückt.

Wie die den anguckte! Er war genau ihr Typ. Groß. Breitschultrig. Kinderliebhaber. Und AC/DC-Fan. Das würde ein Nachspiel haben. Da war ich mir sicher.

Ich sah nach rechts. Lauter Balkone.

Und einer davon gehörte zweifelsohne zu Niels.

Ich war mir ziemlich sicher, welcher es war: der zweite ein Stockwerk tiefer. Denn der war leer. Komplett.

Bis auf eine Kiste Beck's Alkoholfrei. Des Horsts Lieblingsgetränk.

Bingo.

Es war der einzige Balkon, auf dem es weder Blumenkästen mit albernen Windrädern noch Regenbogenflaggen noch Plastikstühle gab. Die Situation war eindeutig.

Und Niels hatte sich nicht einen Deut geändert in der Zwischenzeit. Seine Wohnung war garantiert genauso leer und trostlos wie der Balkon.

Die Gemütlichkeit eines neurotischen Bindungsphobikers eben. Eines Extremhorsts. Extrem heimelig.

Meine Laune verschlimmerte sich schlagartig.

»Guck mal, wer da wohnt«, sagte ich zu Eske und nickte zu dem leeren Balkon hinüber.

Eske kniff die Augen zusammen. Ihr Blick blieb an der Beck's-Kiste hängen.

Sie wusste sofort Bescheid und verzog kritisch das Gesicht.

»Ach«, sagte sie nur.

Ihr Glück. Mehr hätte ich auch nicht ertragen.

Endlich bereitete der Verwalter dem Ganzen ein Ende. Er sah auf die Uhr.

»Dann haben Sie ja alles gesehen«, stellte er geschäftig fest und trat zurück ins Wohnzimmer. »Füllen Sie doch bitte einfach diesen Bogen aus. Dann kann ich schon mal die Nächsten hereinbitten.«

»Dann bitten Sie mal«, schnurrte Eske, nahm Behnke junior galant den Zettel aus der Hand und huschte in die Küche.

Über die Spüle gebeugt fing sie an zu schreiben. Wegen der Wellen von der Geschirrablage unter dem Zettel sah ihre Schrift noch tausend Mal krakeliger aus als sonst. Eske fluchte.

»Kann man das lesen?«, fragte sie und hielt mir das Papier unter die Nase.

»Klar«, sagte ich, obwohl ich mir keinesfalls sicher war. Ich wies sie auch nicht darauf hin, dass sie beim Feld »Bankverbindung« wohl besser ihre Kontonummer hätte angeben sollen als lediglich das Wort »vorhanden«.

Das hier war schließlich die letzte Chance für meinen inneren Frieden. Den horstfreien.

»Gut«, sagte Eske. »Und was mach ich damit?«, fragte sie dann und hielt ihre gefälschten Dokumente hoch.

Ich zuckte mit den Schultern. »Die werden sich schon melden, wenn sie so etwas sehen wollen«, antwortete ich.

»Recht hast du«, bekräftigte Eske.

Dann machte sie sich vom Acker, um Behnke junior zu suchen.

Ich lief ihr nicht hinterher. Ich wollte mich gar nicht von ihm verabschieden. Hier hatte ich eh nichts zu melden. Ich war ja nur die Begleitung. Pah.

Außerdem wusste ich irgendwie, dass ich ihn bestimmt bald wiedertreffen würde. Und für den Anfang hatte ich die Schnauze von ihm gestrichen voll.

Auf dem Rückweg hüpfte Eske wie ein Gummiball neben mir her. Ich hatte mich dagegen entschieden, Crispin zu besuchen. Ich wollte lieber ganz schnell nach Hause.

»Das wird was«, frohlockte Eske. »Ich hab's im Gefühl, das wird was. Bestimmt.«

»Wie schön für dich«, entgegnete ich sarkastisch.

»Hossa«, sagte Eske und musterte mich erstaunt. »Was ist denn los?«

»Das weißt du genau«, pfiff ich sie an.

Eske stöhnte. »Mona, das ist nicht dein Ernst. Mein Gott! Und wenn der Horst mein Mitbewohner wäre! Vergiss den Typen endlich! Du bist doch sonst nicht so begriffsstutzig! Idioten sind Idioten sind Idioten!«

»Und von Idioten sollte man sich fern halten«, ergänzte ich. »Da hast du's.«

»Guuuuut«, lenkte Eske ein. »Das wäre wirklich ein blöder Zufall, wenn ich die Wohnung kriegen würde. Aber dann könntest du ihm wenigstens mal eine Stinkbombe auf den Balkon schmeißen. Zur Not würde ich das auch machen. Und noch habe ich die Wohnung ja nicht.«

»Das wird was«, äffte ich sie nach. »Ich hab's im Gefühl, das wird was. Bestimmt.«

»Weißt du was?«, sagte Eske.

Sie hatte einen ganz gemeinen Unterton.

»Dann geh doch nach Hause. Ein bisschen weiter herumjammern. Aber bitte allein.«

Und genau das tat ich dann auch.

Beleidigt rauschte ich ab.

Zu Hause feuerte ich den übrig gebliebenen Perlenstecker in irgendeine Ecke und schälte mich aus der Nadelstreifenhose. Dann legte ich mich ins Bett. Mit dem weißen Hemd.

Als Leichenschmaus kredenzte ich mir eine Packung Kartoffelbrei aus der Tüte. Ich vergaß das Salz. Strafe muss sein. Wenigstens war ich wohl nicht mehr verliebt.

In wen auch.

Am Abend bekam ich eine SMS von Eske.

»Behnke junior hat angerufen«, schrieb sie. »Ich hab die Wohnung.«

Das war ja klar gewesen. So war das also. Schöner wohnen leicht gemacht. Scheiß AC/DC.

Eine halbe Stunde später fiepte mein Telefon wieder.

»Lass uns ins Familieneck gehen. Ich zahle«, hatte Eske diesmal getippt.

Ich antwortete nicht darauf. Es war mir ernst. Und das sollte Eske ruhig merken. Verräterin.

Gegen vier am nächsten Tag rief Alf an. Mein bester Freund. Friseur. Schwul. Natürlich.

»Na, Schnecke?«, posaunte er mir gut gelaunt ins Ohr.

Wie immer am Sonntagnachmittag. Sonntags war es extrem schwer, mit Alf befreundet zu sein. Während alle missgelaunt über den bevorstehenden Montag stöhnten, zuckte Alf nur mit den Schultern und grinste schadenfroh. Was Friseure können, können nur Friseure.

»Na?«, machte ich zurück.

»Was treibst du?«, fragte Alf.

»Platten sortieren«, sagte ich.

Mein Vater hatte mich vor kurzem zum ersten Mal an sein musikalisches Heiligtum gelassen. Er hatte endlich eingesehen, dass es unverantwortlich war, Vinyl ungespielt im Keller verrotten zu lassen. Sein Plattenspieler war längst im Nirwana verschwunden, und ich war stolz wie Oskar mit vier Tüten voller Kostbarkeiten nach Hause zurückgekehrt.

Jetzt war es an der Zeit, ihnen einen angemessenen Platz im Plattenschrank zuzuweisen. Soeben hatte ich mich dagegen entschieden, die Filmmusiken von Winnetou und Dr. Schiwago in der Kuriositätenabteilung unterzubringen. Stattdessen überlegte ich, eine neue Kategorie zu eröffnen. Ich wollte sie »Melodien für Millionen« nennen.

»Aha«, stellte Alf fest. »Also nichts Wichtiges.«

»Das will ich überhört haben«, entgegnete ich empört. Manchmal hatte Alf wirklich keine Ahnung.

»Schon gut«, sagte er. »Trotzdem. Ich komm gleich rum auf'n Kaffee.«

»Mach das«, antwortete ich ergeben. Manche Dinge ändern sich nie. »Bis dann. Bring Kuchen mit.«

»Verfressenes Biest«, konstatierte Alf und legte einfach auf. Wo er Recht hatte, hatte er Recht.