Cressida Cowell

Drachenzähmen leicht gemacht

Der letzte Drachenkönig

In der Reihe »Drachenzähmen leicht gemacht« von Cressida Cowell sind im Arena Verlag erschienen:

Band 1 Drachenzähmen leicht gemacht

Band 2 Drachenzähmen leicht gemacht. Wilde Piraten voraus!

Band 3 Drachenzähmen leicht gemacht. Strenggeheimes Drachenflüstern

Band 4 Drachenzähmen leicht gemacht. Mörderische Drachenflüche

Band 5 Drachenzähmen leicht gemacht. Brandgefährliche Feuerspeier

Band 6 Drachenzähmen leicht gemacht. Handbuch für echte Helden

Band 7 Drachenzähmen leicht gemacht. Im Auge des Drachensturms

Band 8 Drachenzähmen leicht gemacht. Flammendes Drachenherz

Band 9 Drachenzähmen leicht gemacht. Jagd um das Drachenerbe

Band 10 Drachenzähmen leicht gemacht. Suche nach dem Drachenjuwel

Band 11 Drachenzähmen leicht gemacht. Verräterisches Drachenmal

Band 12 Drachenzähmen leicht gemacht. Der letzte Drachenkönig

www.drachenzaehmen.de

Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte

war ein Furcht einflößender Schwertkämpfer, ein Drachenflüsterer und überhaupt der größte Wikingerheld, der jemals lebte. Doch seine Memoiren entführen dich in die Zeit, als er noch ein ganz gewöhnlicher Junge war und sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass aus ihm mal ein Held werden würde.

Cressida Cowell

verbrachte ihre Kindheit in London sowie auf einer unbewohnten Insel an der schottischen Westküste. Sie war überzeugt, dass es dort nur so von Drachen wimmelte, und ist seither von ihnen fasziniert. Neben den Aufzeichnungen von Hicks’ Memoiren hat sie mehrere Bilderbücher geschrieben und illustriert. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern im englischen Hammersmith.

Clara Vath

liebte es schon als Kind, bunten und verrückten Fantasiewesen eine Gestalt zu geben. Dass ihr dabei auch der ein oder andere Drache begegnet ist, kam ihr bei der Arbeit an Hicks’ Memoiren sehr gelegen. Seit 2012 arbeitet sie als freie Illustratorin für verschiedene Unternehmen.

Cressida Cowell

Der letzte Drachenkönig

Aus dem Englischen
von Karlheinz Dürr

Mit Illustrationen
von Clara Vath

Dieses Buch widme ich meinem Vater.

WAS BISHER GESCHAH

Als ich ein Junge war, gab es noch Drachen.

Mit diesen Worten begann unsere lange Geschichte.

Auf einer kleinen Insel namens Berk lebte einmal ein Junge namens Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte zusammen mit seinem Jagddrachen Ohnezahn und seinem Reitdrachen Espenlaubler. Wild und glücklich lebten sie, in einer Welt, in der es vor Drachen nur so wimmelte.

Hicks war der Sohn von Haudrauf dem Stoischen, des Stammeshäuptlings der Räuberischen Raufbolde, allerdings war er so ziemlich das Gegenteil von einem Wikingerhelden, wie du ihn dir vielleicht vorstellst. Aber so bohnendürr er auch sein mochte, war er doch ein Furcht einflößender Schwertkämpfer und geschickter Drachenflüsterer, einer der wenigen Menschen, die jemals Drachenesisch sprechen konnten, die Sprache der Drachen.

Eines schicksalhaften Tages unterlief Hicks der Fehler, einen riesigen Seedrachen namens Wildwut zu befreien, der seit hundert Jahren in einem grausam engen Waldgefängnis auf der Insel Berserk gefangen gehalten worden war. Ein Jahr später zettelte Wildwut einen Aufstand der Drachen an, denn aus Rache hatte er sich geschworen, die gesamte Menschheit auszurotten. Das war der Grund, warum Menschen und Drachen nun erbittert gegeneinander kämpften, denn wer will schon ausgerottet werden?

Die Drachen fackelten das kleine Dorf der Räuberischen Raufbolde auf der Insel Berk ab, in dem Hicks aufgewachsen war, und das taten sie auch auf den anderen Inseln, die von den Wikingern bewohnt wurden. Sie vertrieben die Menschen aus ihren Häusern … und heute haben sie sich alle auf der Insel des Neuen Tages versammelt und warten auf die letzte, die große Entscheidungsschlacht.

Nur eins kann die Menschen noch retten: wenn auf der Insel des Neuen Tages ein neuer König von Wilderwest gekrönt wird. Sobald der König gekrönt ist, erfährt er das Geheimnis des Drachenjuwels und dieses Juwel hat die Macht, sämtliche Drachen für alle Zeiten zu vernichten. Aber nur der kann zum König gekrönt werden, der alle Zehn Verlorenen Dinge des Königs gefunden hat, zehn Dinge, die seit Jahrhunderten überall im Archipel versteckt gewesen waren.

Im Verlauf von elf aufregenden Abenteuern war es Hicks dem Hartnäckigen vom Hauenstein dem Dritten gelungen, wenn auch nur unter großen Mühen und Qualen, die Verlorenen Dinge zusammenzutragen, mithilfe seiner besten Freunde Fischbein und Kamikazzi, seines Jagddrachen Ohnezahn, eines uralten Seedrachen namens Wotansfang und eines wunderschönen Dreiköpfigen Todesschattens, der sich so wirkungsvoll tarnen kann, dass er praktisch unsichtbar wird.

Aber der Bösewicht Alwin der Verräter (schon der Name sagt doch glasklar, was für ein Typ dieser Kerl ist) stahl Hicks alle Verlorenen Dinge. Und jetzt befindet sich Alwin bereits auf der Insel des Neuen Tages und wartet auf seine Krönung, die unmittelbar bevorsteht. Sobald Alwin König ist, wird er die Macht des Drachenjuwels benutzen, um alle Drachen auf einen Schlag auszurotten.

Alle glauben, dass Hicks tot sei, dass ihn ein Pfeil, abgeschossen von den Kriegern Alwin des Verräters, direkt ins Herz getroffen habe. Aber in Wirklichkeit hat Hicks überlebt und liegt jetzt bewusstlos auf dem schmalen Sandstrand der kleinen Insel Heldenhaftes Ende, die nur ein paar Steinwürfe von der Insel des Neuen Tages entfernt ist.

Aber Hicks hat keinen Reitdrachen mehr, kein Boot und besitzt kein einziges der Verlorenen Dinge des Königs. Und nur der, der alle zehn besitzt, darf auf der Insel des Neuen Tages an Land gehen; andernfalls würde er sterben. Würde Hicks jetzt auch nur einen Fuß auf den Strand setzen, würden sich die furchtbaren Drachenhüter des Neuen Tages aus dem Sand erheben und Hicks in das Luftreich der Vergessenheit entführen.

Wahrhaftig, Hicks steckt in der Zwickmühle. Heute ist der letzte Tag vor dem Julfest, dem Tag der Schlacht zwischen den Drachen und den Menschen. Ihm bleibt nur ein einziger Tag, um König von Wilderwest zu werden und die Drachen zu retten.

Nur ein einziger Tag …

GELINGT ES HICKS, DIE DRACHEN ZU RETTEN?

DIE WELT BRAUCHT EINEN HELDEN

Es war eine der dunkelsten Stunden der Wikinger. Ein furchtbares Verhängnis hatte sich über den Archipel gesenkt.

Vor nicht allzu langer Zeit waren die grünen Inseln noch voller Leben gewesen und auf fast jedem Hügel hatte ein Dorf gelegen. Doch nun waren die vielen Dörfer bis auf die Grundmauern niedergebrannt; riesige Löcher klafften in den verkohlten Hängen, selbst Berggipfel waren zertrümmert und Flüsse in andere Täler umgelenkt worden. Unzählige Bäume waren entwurzelt worden, das Harz quoll aus der Rinde ihrer Stämme. Und die vor Wut rasenden Drachen hatten den Boden aufgerissen und mit tiefen Furchen durchzogen.

Der Rauch, der von den brennenden Dörfern und den lodernden Wäldern aufstieg, vermischte sich mit dem Morgendunst, sodass ein unheimlicher, finsterer Nebel entstand. Und in diesem Nebel wurden nun gespenstische Gestalten sichtbar: der Drache Wildwut und die unzähligen Drachen des Roten Zorns, wie der Drachenaufstand genannt wurde, die sich in der Schiffbruchbucht zusammengerottet hatten. Noch schliefen die meisten, warteten mit halb geschlossenen Augen und gierigen Krallen auf die Letzte Schlacht zwischen Drachen und Menschen.

Es war der Letzte Tag und die Welt brauchte einen Helden.

Aber nicht irgendeinen Helden, sondern den einen Helden, dem es gelingen musste, den Lauf der Weltgeschichte zu ändern.

Und so gab es diejenigen, die gerade in diesem Moment, in den frühesten blassesten Morgenstunden des letzten, zwölften Tages des Julfests, dort draußen waren und nach einem solchen Helden suchten.

Zwei junge Wikingerkrieger, ein Junge und ein Mädchen, saßen auf dem Rücken eines wunderschönen Drachen, eines dreiköpfigen Todesschattens. Beide waren nur noch in Fetzen gekleidet. Sie waren weit, weit von zu Hause entfernt, diese jungen Krieger, denn ebenjenes Zuhause war von der Wut und dem heiß glühenden Atem der Drachen in Schutt und Asche gelegt worden.

Nur ein Held konnte sie jetzt noch retten. Beide hatten Angst – oh, so große Angst –, obwohl das Mädchen so tat, als sei ihr das Wort Angst völlig unbekannt.

Dieses Mädchen war eine wilde kleine Sumpfdiebin, mit Haaren, die so wirr und unzähmbar um ihren Kopf standen, als seien sie von einem Wirbelwind zerzaust worden. Das Mädchen lehnte sich seitwärts über den Todesschatten und schrie ihre unbändige Verzweiflung in den dichten Nebel hinaus.

»Hicks? Hicks? Wo bist du, Hicks? Hicks, wo bist du???«

Der Junge, der neben ihr saß, hieß Fischbein. Er war schlaksig, mager, mit dünnen Armen und Beinen, versengtem schwarzem Haar und einer halb zerbrochenen Brille, die ihm schief auf der Nase hing. »Hicks ist tot, Kamikazzi«, sagte er leise, müde und schicksalsergeben. »Weiß doch jeder, dass er tot ist. Sie haben sogar gesehen, wie es geschah …«

»Er ist nicht tot!«, widersprach Kamikazzi heftig und sie war wütend, weil sie befürchtete, dass Fischbein recht hatte. »Ich weigere mich zu glauben, dass er tot ist! Ich weiß, dass er noch lebt! Im tiefsten Herzen weiß ich es … Hicks! Wo bist du, Hicks? Hicks, wooo biiist duuu?«

Aber es waren auch andere unterwegs und auch sie suchten nach einem Helden. Es war einer der Vampir-Spiondrachen, die die Hexe auf Hicks gehetzt hatte. Die übrigen Spiondrachen waren ertrunken, aber dieser eine nicht. Mit weit ausgebreiteten Fledermausflügeln, rot glühenden Augen und gierigem Affengesicht schnüffelte er im Nebel, suchte den Helden, jagte ihn. Aber im Unterschied zu Kamikazzi suchte der Spiondrache nicht blind in der nebligen Finsternis: Er suchte mit größter Genauigkeit nach ihm, er suchte systematisch und mit absoluter Sicherheit, dass er ihn finden würde. Denn am Tag zuvor hatte er Hicks gebissen und zwei seiner Lieblingszähne in dessen Arm zurückgelassen und deshalb konnte er nun hören, wie diese Zähne nach ihm riefen, irgendwo dort unten in den nebelbedeckten Weiten des Meeres.

Tirrrck-tarrrck, tirrrck-tarrrck!, machten die Zähne des Spiondrachen, tirrrck-tarrrck, tirrrck-tarrrck, tickten sie im Arm des Helden vor sich hin.

Das Geräusch drang durch die Dunkelheit und hoch oben spitzte der Spiondrache seine Ohren, die das Geräusch auffingen und sich in die Richtung drehten, aus der es kam.

Nein, nein, dachte sich der Spiondrache. Der Held ist furchtbar verwundet, aber er ist nicht tot. Nur wird er schon SEHR BALD tot sein, oh ja, das wird er, dafür werde ich sorgen!

Und noch einer wusste, dass der Held nicht tot war: der große Drache Wildwut.

Deshalb ließ er seine Suchtrupps überall im gesamten Archipel, im dichten Nebel und weit über das endlose Meer nach ihm suchen.

Hicks, wo bist du?

Über das Trübe Meer waren sie geflogen, die ganze, lange Nacht hindurch, mit schleimtropfenden Zähnen, hell leuchtenden Katzenaugen, nach Norden bis über das Eisländische Nirgendwo, nach Osten bis zur Bucht der Gebrochenen Herzen, nach Süden bis hin zum Flammenden Wald und nach Westen bis über die Insel der Geheimnisse und die Brackwasserlande, wie rachsüchtige Geister und grausige Schemen der Vergangenheit, und alle hatten ständig ihren unerbittlichen Gesang ausgestoßen: »Jagt die Menschen … jagt die Menschen … jagt die Menschen …« Und: »Hicks? Wo bist du? Hicks? Wooo biiist duuu?«

Einer der Suchtrupps bestand aus einer Bande von Giftsandrochen. Sie hatten den Spiondrachen entdeckt, der jemanden jagte, in dessen Gliedern seine Zähne steckten, und weil sie genau wussten, wer dieser Jemand war, folgten sie im Nebel einfach dem Spiondrachen.

»Hicks? Wo bist du? Hicks? Wooo biiist duuu?«

Oh ja, die Welt braucht einen Helden und sie braucht ihn dringend! Denn in ein paar wenigen Stunden wird auch der Rest des Drachenheeres erwachen und dann würde das Inferno erst richtig losbrechen.

Aber wer würde Hicks zuerst finden? Heute, am letzten Tag des Julfests? Würde er von seinen Freunden gefunden, mit ihren helfenden Händen, ihren liebenden Herzen – oder würde er von den Feinden gefunden, mit ihren Reißzähnen und ihrem brennenden Feueratem?

Folgt mir, liebe Leserinnen und Leser, wenn ihr genug Mut habt. Nehmt meine Hand, denn wir können schneller fliegen als der Vampir-Spiondrache und unsichtbarer als der Todesschatten und wir können dem tickenden Geräusch der Spiondrachenzähne schneller folgen als alle anderen und den Helden dort aufspüren, wo er liegt: am Strand der kleinen Insel Heldenhaftes Ende.

Denn diese Insel ist der Ort, an dem alles endet und alles beginnt.

Aber wir wollen mit dem Anfang anfangen, obwohl das in diesem Fall auch das Ende ist.

1. KANN ES NOCH SCHLIMMER KOMMEN?

Am letzten Tag des Julfests lag Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte bewusstlos auf dem Strand der kleinen Insel Heldenhaftes Ende.

Es war ein bitterkalter Tag, die Sonne kämpfte sich mühsam über den Horizont, während der Winterwind wie hundert Geister heulte, der Morgennebel undurchdringlich über Meer und Land lag und der Rauch des Krieges so dicht über alles waberte, dass man kaum noch die eigene Hand vor Augen hatte.

Doch der Nebel war auch ein Segen, denn er verhüllte die Zerstörung, die ringsum herrschte. Er verbarg die Drachen, die in der Nacht aufgestiegen waren, um unseren Helden zu jagen. Er verhüllte die mächtige Armee des Drachen Wildwut, die nun allmählich erwachte und sich aus ihrem Lager in der Schiffbruchbucht auf die Suche machte.

Und er verbarg den Helden selbst.

Hicks war schon immer ein unauffälliger Junge gewesen, jedenfalls für einen Wikingerhelden; sein Gesicht war so völlig normal, dass es schwer war, sich daran zu erinnern. Aber im Moment bot er einen wahrhaft elenden Anblick – wie eine Vogelscheuche, die jemand versehentlich zertrampelt hatte. Halb lag er noch im Wasser, bedeckt mit Tang, und die Kleider hingen ihm zerfetzt am Leib. Beide Augen waren fast zugeschwollen und blutunterlaufen, das Gesicht zerkratzt von den Krallen der Drachen, der ganze Körper vom Meersalz verkrustet. Der Spiondrache hatte ihn am Tag zuvor in den linken Arm gebissen, der nun angeschwollen war, und auf seiner linken Körperhälfte hatte sich eine üble, unheimliche Rötung ausgebreitet.

Er bot einen seltsamen Anblick, dieser Held, aber wenigstens lebte er noch … ein bisschen jedenfalls.

Auf Hicks’ Brust hockte ein sehr alter Jagddrache namens Wotansfang. Er hatte schon über tausend Jahre auf dem Buckel und war so verrunzelt wie braunes, zerbröselndes Laub.

Der Wotansfang hatte vergeblich versucht, Hicks weiter auf den Strand zu ziehen. Er hatte ihn am Kragen gepackt und mit aller Kraft an ihm gezogen, hatte sich mit seinen altersschwachen Beinen in den Sand gestemmt, aber er war nun mal kaum größer als ein Kaninchen, weshalb er es nicht geschafft hatte, den bewusstlosen Jungen auch nur einen Fingerbreit von der Stelle zu bewegen.

»Ach du meine Güte, ach du meine Güte«, stöhnte der Wotansfang verzweifelt, wärmte Hicks’ Herz mit seiner eigenen Körperwärme und blies ihm warmen Drachenatem ins Gesicht, um ihn aufzuwecken. »Viel schlimmer kann es wirklich nicht mehr kommen … sie werden uns finden, wenn wir nicht bald von hier verschwinden. Und außerdem habe ich Angst, dass die Flut bald kommt und dass du darin ertrinkst. Wach endlich auf, Hicks, wach auf! Du musst aufwachen!«

Und tatsächlich zuckten die Augenlider des Jungen. Voller Verzweiflung spuckte ihm der kleine Drache ein wenig Meereswasser ins Gesicht. Prustend und hustend, drehte der Junge den Kopf weg.

»Danke, ihr mächtigen Himmelsflügel!«, rief der Wotansfang aus und hüpfte vor Begeisterung umher. »Er lebt!«

Der Junge öffnete die Augen. Oder eines davon. Das andere war so zugeschwollen, dass es sich kaum zu einem Schlitz öffnen ließ.

»Oh, Hicks«, seufzte der Wotansfang, »es tut mir so leid, aber du musst so schnell wie möglich aus dem Wasser heraus … die Flut kommt!«

Stöhnend richtete sich Hicks auf, hustete, keuchte, fasste sich an den Kopf, der so sehr schmerzte, als würde Thor mit seinem mächtigen Hammer auf die Schädeldecke einschlagen.

»Wo … wo bin ich?«, flüsterte Hicks benommen, während er um Atem rang.

»Auf der kleinen Insel Heldenhaftes Ende«, erklärte der Wotansfang. »Dein Boot ist gesunken, mitsamt den Verlorenen Dingen, fürchte ich. Aber Alwin hat sie geborgen, und das bedeutet, dass wir es eigentlich ein bisschen eilig haben …«

»Boot? Welches Boot? Und warum war ich auf einem Boot?«, unterbrach ihn Hicks. »Wer ist dieser Alwin? Was sind die Verlorenen Dinge? Wer bist du? Und, was noch wichtiger ist … wer bin ich?«

Der Wotansfang starrte ihn fassungslos an.

»Äh … wie bitte?«

»Wer bin ich?«, wiederholte Hicks.

»Du … du weißt nicht mehr, wer du bist?«, quiekte der Wotansfang entsetzt. »Willst du mir allen Ernstes sagen, dass du nicht weißt, wer du bist?«

Hicks schüttelte den Kopf.

»Ach du meine Güte. Ach du meine Güte«, stöhnte der Wotansfang. »Als wäre alles nicht schon schlimm genug … Kann es wirklich noch schlimmer kommen? Der Junge hat das Gedächtnis verloren!«

Der Wotansfang hatte recht, fürchte ich. Als sein Boot im Meer versank, war der Mast auf Hicks’ Kopf heruntergekracht. Der Schlag hatte ihm das Gedächtnis genommen.

»Tut mir leid«, stieß Hicks zitternd vor Kälte hervor. »Ich kann mich an nichts erinnern – wer ich bin, warum ich hier bin, überhaupt nichts!«

Er versuchte, sich zu erinnern, aber es war, als wäre der dichte, alles erstickende Nebel in seinen Kopf gedrungen und hätte dort heillose Verwirrung gestiftet.

Hicks wusste nur noch eins: dass er entsetzlich fror, dass seine Wunden schmerzten, dass etwas Furchtbares geschehen war und dass er irgendetwas tun musste, das sehr, sehr wichtig war.

»Du meine Güte – das ist eine Katastrophe! Und außerdem eine sehr, sehr lange Geschichte!«, jammerte der Wotansfang und hüpfte vor Angst von einem Bein auf die drei anderen. »Ich kann nur immer wieder betonen, dass wir es sehr eilig haben. Ich bin Wotansfang und du bist Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte und außerdem bist du ein sehr großer Held!«

»Bin ich das?«, fragte Hicks überrascht und blickte auf seine armselige, zerlumpte Gestalt hinunter. »Kommt mir ein bisschen unwahrscheinlich vor.«

»Du kannst es mir ruhig glauben«, sagte der Wotansfang. »Natürlich siehst du im Moment nicht grad wie ein Held aus, aber du bist einer. Na ja, vielleicht nicht grad der übliche Typ eines Wikingerhelden, aber du bist clever und sprichst Drachenesisch, eine seltene Gabe unter den Menschen. Es ist übrigens sehr seltsam, dass du dich an nichts erinnern kannst, aber immer noch Drachenesisch sprichst …«

»Ja stimmt!«, rief Hicks überrascht, denn tatsächlich hatte er dem Wotansfang auf Drachenesisch geantwortet.

»Du wirst dich konzentrieren müssen«, jammerte der Wotansfang weiter und versuchte, nicht in Panik zu geraten, was ihm allerdings nicht sehr gut gelang. »Wir sind nämlich grade in keiner günstigen Lage. Schau mal, dort! «

Damit deutete der Wotansfang mit zitterndem Drachenflügel nach Nordosten. Hicks konnte mit dem einen Auge nichts sehen, so zugeschwollen, wie es war, deshalb legte er den Kopf ein wenig nach links und schaffte es, mit den Fingern das verschwollene rechte Augenlid zu öffnen, sodass er nun wenigstens etwas erkennen konnte.

»So weit kann ich nicht sehen«, klagte Hicks. Das lag allerdings auch am dichten Nebel, in dem kein Mensch sehr weit sehen konnte.

»Na gut – dann wirst du mir eben glauben müssen«, quiekte der Wotansfang. »DORT DRÜBEN, im Mordsgebirge, hat der Drache Wildwut ein Heer von Drachen versammelt, ein so riesiges Heer, wie es die Welt noch nie gesehen hat. Er hat eine Unmenge Drachen zusammengerufen, mit einem einzigen Ziel. Und dieses Ziel ist … die Vernichtung der gesamten Menschheit!«

Danach herrschte eine Weile bedrücktes Schweigen.

Hicks schluckte heftig, während ringsum der Nebel waberte, ihm in die Nase stieg und einen neuen Hustenanfall auslöste. Das eiskalte Meereswasser war ihm bis in die Knochen gedrungen, weshalb er nun unbeherrschbar zitterte und das Herz bis zum Hals pochen hörte: bumm, bumm, bumm.

»Julfest …«, flüsterte Hicks, während ihm nun allmählich wieder Erinnerungsfetzen einfielen und die grauenhafte Wahrheit heraufdämmerte, so grausam wie der Anblick einer Haiwurmflosse, die durch das Wasser schnitt und wieder verschwand. »Julfest – der letzte Tag des Julfests … die letzte große Schlacht zwischen Menschen und Drachen.«

Unsicher starrte Hicks in den Nebel. »Bist du dir sicher?«

»Absolut sicher«, stotterte der Wotansfang. »Und du, Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte, bist die einzige und letzte Hoffnung der Menschen und der Drachen.«

»Bin ich das?«, stammelte Hicks. »Ich?«

Er stieß ein ungläubiges Lachen aus und blickte noch einmal an sich hinunter: auf seine Beine, so dünn wie Bohnenstroh, der rechte Arm mager wie ein Hähnchenflügelknochen, während der linke von etwas angegriffen worden sein musste, denn er war auf die doppelte Größe angeschwollen. Und er war auch sehr stark gerötet, genau wie seine ganze linke Körperhälfte.

»Helden müssen mit dem Schwert kämpfen und Streitäxte schwingen und Speere werfen und so weiter. Was kann ich schon gegen eine ganze Drachenarmee ausrichten, so wie ich aussehe?«, fragte Hicks verzweifelt.

»Also, eigentlich bist du ein erstaunlich guter Schwertkämpfer.«

Hicks wedelte mit einem Arm. »Aber im Moment eben nicht! Ich könnte das Schwert nicht einmal halten! Was soll ich machen – soll ich mit den Armen flattern, bis die Feinde tot umfallen? Ich könnte ihnen höchstens ins Gesicht niesen, vielleicht kriegen sie dann Angst.«

Aber der Wotansfang hörte ihm gar nicht mehr zu. »Wir müssen dich von dieser Insel wegbringen, so schnell wie möglich. Ich habe beobachtet, dass die Drachenrebellen Suchtrupps losgeschickt haben und … Ach du meine Güte!«

Der kleine Drache riss die Augen auf und stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus, als er den Pfeil spürte, der plötzlich in einer seiner knochigen Schultern steckte.

»Bei den Drachengöttern, ich bin getroffen!«, quiekte er. Es gab viele Drachenarten, die Pfeile mit einem schwachen Gift an der Spitze verschossen, sodass das Opfer betäubt wurde. Wotansfang deutete mit einem Flügel in das hohe Gras hinter dem Strand. »Alarm! Alarm! Drachensuchtrupp im Anmarsch!«

Hicks wirbelte herum. Im Gras hinter dem Strand war nichts zu sehen oder zu hören, nur schwarzer Rauch und der im Wind wehende Strandhafer und das Geschrei der Möwen.

ZINGGG!

Ein zweiter Pfeil zischte dicht an Hicks’ Nase vorbei und verfehlte ihn nur um einen Fingerbreit. Er schien von den Klippen zu kommen, die hinter dem Grasland aufragten. Da blieb keine Zeit, um lange zu überlegen: Hicks musste sofort etwas tun!

Er sprang auf, machte dabei aber eine höchst unwillkommene Beobachtung: Seine ganze linke Körperhälfte war nicht nur tiefrot, sondern auch völlig taub; sein Arm und sein Bein hingen so schlaff herab wie die Tentakel einer Qualle.

Er taumelte ein paar Schritte und fiel wieder in den Sand – genau in dem Moment, in dem ein weiterer Pfeil knapp über seinen Kopf hinwegschoss. Hicks kroch weiter zum Wotansfang, zog ihm den Pfeil aus der Schulter und stopfte den kleinen Drachen hastig unter die Fetzen, die von Hicks’ Wams übrig geblieben waren.

»Alles in Ordnung?«, fragte Hicks stotternd.

»A-alles prima«, quiekte der Wotansfang. »Fühlt sich ein bisschen taub an, aber sonst ist alles gut.«

ZINGGG! ZINGGG! ZINGGG!

Hicks rollte sich hinter einen großen Felsbrocken, der am Strand lag. Die Pfeile kommen aus den Dünen hinter dem Sandstrand, dachte Hicks. Sein Herz hämmerte wie verrückt vor Entsetzen. Er hob den Kopf und versuchte, mit seinem guten Auge über den Felsbrocken hinwegzuspähen.

Und dann sah er sie.

Augen. Drachenaugen, die im Halbdunkel glühten.

Oh, bei Thors mächtigem Doppelkinn! Die Drachen jagten ihn.

2. JA, ES KANN NOCH SCHLIMMER KOMMEN

»Was ist los?«, flüsterte Hicks dem Wotansfang zu.

»Warum wollen mich die Drachen töten?«

Die Lider des Drachen senkten sich, als würde er gleich ohnmächtig werden. »Ich hab’s dir doch gesagt«, quiekte er. »Die Drachen gehören zur Drachenrebellion und sie wollen verhindern, dass du König wirst, weil du der Held bist, der die Verlorenen Dinge gefunden hat …«

»Was?«, schrie Hicks entsetzt, gerade als … ZINGGG! … weitere Pfeile am Felsbrocken vorbeischossen.

»Ach du meine Güte«, stotterte der Wotansfang sehr, sehr leise, denn er spürte, dass er jeden Augenblick einschlafen würde. »Hicks, hör mir zu. Das ist eine lange Geschichte, aber sie ist wichtig! Wo soll ich bloß anfangen? Vor langer Zeit tötete König Grimmbart der Abscheuliche auf der Insel des Neuen Tages seinen eigenen Sohn Hicks den Zweiten, weil er glaubte, dass sein Sohn einen Drachenaufstand gegen ihn angezettelt habe. Danach ließ Grimmbart den Drachen seines Sohnes, Wildwut, in einem Waldgefängnis einsperren …«

»Wir haben jetzt keine Zeit für die ganze Geschichte!«, schrie Hicks, während immer mehr Pfeile über sie hinwegsausten – Zzzing zing zing zing zing. »Ich will nur hören, was wirklich wichtig ist!«

»Aber in dieser Geschichte ist ALLES wichtig!«, quiekte der Wotansfang in panischer Angst.

»Ich muss erst ein sicheres Versteck finden«, sagte Hicks. »Der Fels hier ist nicht groß genug.«

In diesem Moment geschah etwas so völlig Unerwartetes, dass Hicks’ Herz beinahe zu schlagen aufhörte. Etwas schlängelte sich über Hicks’ Nacken und eine tiefe Stimme sagte: »Wo ist mein Keks?«

»Ahhhh!«, schrie Hicks erschrocken auf und wollte das Etwas von seinem Nacken wegschlagen, weil er im ersten Moment glaubte, dass ihn etwas angreife.

»Keine Angst«, beruhigte ihn der Wotansfang schnell, »das ist nur ein kleiner Drache, wahrscheinlich hast du ihn in den Rucksack gesteckt, um ihn zu schützen, als das Boot unterging. Hab keine Angst, er ist ungefährlich, er ist auf unserer Seite! Wahrscheinlich ist er gerade aufgewacht.«

Tatsächlich trug Hicks seinen alten, sehr zerschlissenen Rucksack und aus diesem Rucksack flatterte nun ein fast kugelrunder Drache heraus.

Es war eine Schweinshummel.

Schweinshummeln waren so ziemlich die dümmsten, aber auch gutmütigsten Drachen im ganzen Archipel, so dumm, dass sie einem Feind eher die Hand schleckten, statt ihn zu beißen.

»Wuff, wuff!«, bellte die Schweinshummel glücklich und begeistert. (Diese Schweinshummel bildete sich nämlich ein, sie sei ein Hund.) »Hallo, Mama! Was gibt’s zu essen? Ich kann dir helfen! Ich kann ganz irre toll helfen!«

»Ach du liebes bisschen«, seufzte Hicks. »Ja, bestimmt bist du gut im Helfen. Aber im Moment musst du bei uns hinter dem Felsen bleiben, damit du nicht erschossen wirst.«

»Zurück zur Geschichte«, fuhr der Wotansfang fort. »Grimmbart der Abscheuliche bereute alsbald seine Tat und verfügte, dass es keinen König von Wilderwest mehr geben solle – es sei denn, der neue König wäre ein viel besserer König, als er selbst gewesen war. Und so schuf Grimmbart die Unmögliche Aufgabe: Er versteckte Zehn Verlorene Dinge. Nur ein wahrer Held kann die Dinge zusammentragen und zum nächsten König gekrönt werden.«

Hicks hörte nur mit halbem Ohr zu, während er hinter dem Felsen zu den Klippen hinüberspähte.

Schwarze Gestalten kletterten inzwischen den steilen Abhang auf den Strand hinunter. Dort gruben sie sich in den Sand ein, bis nur noch die Finnen auf ihren Köpfen herausragten, und diese Finnen bewegten sich durch den Sand immer näher heran. Ab und zu reckte der eine oder andere Drache den Kopf aus dem Sand, um einen vergifteten Pfeil abzuschießen.

Das gibt’s doch nicht!, dachte Hicks. Hier war er, neben ihm hockte ein komischer Drache, der ihm weismachen wollte, er, Hicks, sei ein großer Held, obwohl er sich gerade so schwach wie nie zuvor fühlte. Er konnte sich kaum bewegen, von einem Kampf gegen eine Horde haifischähnlicher Drachen ganz zu schweigen.

In diesem Augenblick sprang plötzlich eine Erinnerung wie aus dem Nichts in seine Gedanken.

Giftsandrochen. Er wusste, was diese Drachen waren, nämlich Giftsandrochen! Und wie er jetzt entdeckte, wusste er nicht nur ein bisschen über die Giftsandrochen Bescheid. Nein – er wusste alles über sie.

Er wusste, dass sie immer im Rudel jagten, dass sie ungefähr so groß wie Wölfe waren. Dass ihre Beute sogar größer als sie selbst sein konnte, weil sie zuerst Giftpfeile abschossen, die das Opfer einschläferten. Hatten sie es erst einmal mit einem Dutzend Pfeile getroffen, fiel das Opfer normalerweise in Tiefschlaf; die Giftsandrochen konnten dann über ihre Beute herfallen und sie ohne jede Gegenwehr töten.

»Aber leider, leider«, quiekte der Wotansfang, der sich verzweifelt bemühte, die Geschichte weiterzuerzählen, obwohl ihm niemand zuhörte, »hast du zwar alle Verlorenen Dinge gefunden, aber Alwin der Verräter hat sie dir wieder gestohlen und deshalb wird es nicht mehr lange dauern, bis er zum König gekrönt wird, und sobald er gekrönt ist, wird er das Geheimnis des Drachenjuwels erfahren, des Juwels, das die Macht hat, alle Drachen für alle Zeiten zu vernichten. Hörst du mir überhaupt zu, Hicks?«

Nein, komischerweise hörte Hicks im Moment überhaupt nicht zu! Ihm ging das viel dringendere Problem durch den Kopf, wie er und die beiden Drachen am Leben bleiben konnten.

Der Wotansfang war immer noch wach; Hicks vermutete deshalb, dass die Giftsandrochen mindestens fünf oder sechs ihrer kleinen braunen Pfeile abschießen mussten, um ein größeres Lebewesen wie ihn selbst zu betäuben. Nicht weit entfernt lag das Wrack eines Boots; es lag nahe genug, um sich hinüberrollen zu können. Wenn er es hinter das Wrack schaffte, ohne von zu vielen Pfeilen getroffen zu werden, würde er vielleicht ein wenig Zeit gewinnen, um sich einen Fluchtweg auszudenken.

Leider hatte die Schweinshummel einen ganz anderen Einfall. »Oh, schau doch nur, die Drachen wollen Fangen spielen!«, quiekte sie aufgeregt. »Fangen ist mein Lieblingsspiel! Viel besser als Versteckspielen! Darin bin ich so was von gut!«

Bevor Hicks sie aufhalten konnte, flog die Schweinshummel hinter dem Felsbrocken hervor und flatterte mal hierhin, mal dorthin, wobei sie versuchte, die heranschwirrenden Pfeile mit dem Maul zu fangen.

»Nein!«, schrie Hicks entsetzt. »Nein, Schweinshummel! Komm zurück! Keine Pfeile fangen! Sie sind vergiftet!«

Aber die Schweinshummel hörte nicht auf ihn. »Sooo süße Pfeilchen!«, sang sie fröhlich und wedelte vor Begeisterung und Freude mit dem kleinen Ringelschwänzchen. »Ach, ihr kleinen Pfeilchen! Kommt zur Schweinshummel!«

»Die Pfeile sind schlecht für dich, Schweinshummel, ganz schlecht!«, schrie Hicks nur.

Wenn die Schweinshummel aufgeregt war, summte sie noch lauter und sie war von dem neuen Spiel so begeistert, dass sie über dem eigenen Summen Hicks’ Stimme nicht hören konnte. »Mist!«, quiekte sie, als sie noch einen Pfeil knapp verfehlte. »Fast!«, kreischte sie, als ihre Schweinszähne erneut ins Leere schnappten.

Glücklicherweise war die Schweinshummel keineswegs so gut im Fangen, wie sie glaubte, sondern sogar ausgesprochen tollpatschig. Aber inzwischen schwirrten die Pfeile so dicht heran, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, bis sie getroffen würde.

»Ah, den hier erwische ich ganz bestimmt!«, sagte sich die Schweinshummel, als ein Pfeil direkt auf sie zuflog. Sie kniff die Augen zusammen und flatterte so in die Flugbahn, dass der Pfeil sie unmöglich verfehlen konnte.

Hicks verlagerte das Gewicht auf das rechte Bein und mit aller Kraft, die er noch hatte, schnellte er in einem heroischen Sprung zur Schweinshummel hoch, schwang den linken Arm herum, sodass nicht die Schweinshummel, sondern sein gelähmter Arm den Pfeil auffing – und fiel mit dem Gesicht nach unten in den Sand zurück.

»Mama spielt auch mit!«, quiekte die Schweinshummel fröhlich. »Guter Fang, Mama!« So begeistert war sie, dass sie sich aufblähte und wie ein dicker Mond direkt über Hicks in der Luft schwebte. Hicks erwischte die äußerst aufgeregte Schweinshummel an ihrem Ringelschwänzchen. Dann packte er auch den schläfrigen Wotansfang, sprang hinter dem Felsen hervor und rollte sich zu dem Wrack hinüber. Kaum war er hinter dem Bootsrumpf in Deckung, schlug auch schon ein Pfeilhagel in die Holzplanken ein.

ZINGGG! ZINGGG! ZINGGG!

Drei Pfeile gruben sich in das Holz, doch einer erwischte die Schweinshummel, bevor Hicks sie hinter dem Rumpf in Deckung bringen konnte. Aber in ihrem aufgeblähten Zustand prallte der Pfeil harmlos an ihr ab.

Das Wrack bot eine etwas bessere Deckung, aber als Hicks durch ein Astloch spähte, sah er, dass die Finnen der Giftsandrochen nun einen Halbkreis um das Boot bildeten. Keuchend vor Angst, untersuchte Hicks die Schweinshummel. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s prima!«, quiekte der Drache glücklich. »Einer hat mich erwischt, aber ich war grade DICK und deshalb hat es nur BONG gemacht und er ist an mir abgeprallt! Hast du das gehört? BONG hat es gemacht!«

Beruhigt wandte sich Hicks seiner eigenen Verletzung zu, dem Pfeil, der in seinem Unterarm steckte. Aber seine ganze linke Körperhälfte war längst so taub geworden, dass es keinen großen Unterschied mehr machte.

Aber als er den Pfeil herauszog, entdeckte er zwei weitere widerliche Dinge, die in seinem Arm steckten. Diese Dinge waren weiß und sahen wie Zähne aus. Würg!

»Wotansfang, warum stecken da ZÄHNE in meinem Arm?«, fragte Hicks.

»Ach so, ja«, sagte der Wotansfang, »das hab ich ganz vergessen zu erwähnen: Du bist gestern von einem Vampir-Spiondrachen gebissen worden.«

Ein VAMPIR-SPIONDRACHE? Bei Thors Zehennagel! Hicks legte das weniger geschwollene Auge wieder an das Astloch im Bootsrumpf. Kein Zweifel: Die Giftsandrochen waren inzwischen aus dem grasbewachsenen Teil des Strands heraus; ihre Finnen schoben sich auf das Boot zu, immer näher kamen sie …

Aber warte mal … was war das? Dort, am Rand der Gruppe? Das war ganz bestimmt kein Giftsandrochen!

Denn dort glommen zwei glühendrote Augen im Strandhafer. Es sah fast so aus, als schwebten sie zwischen den Halmen, und um die beiden Augen herum wurde nun ganz langsam ein Tier sichtbar, das viel Furcht einflößender war als alle Giftsandrochen zusammen. Es war ein Chamäleondrache mit dem Kopf einer Fledermaus und dem Körper eines Affen …

Ein Vampir-Spiondrache, meldete Hicks’ Gehirn. Das war die Erklärung dafür, warum ihn die Jäger so schnell gefunden hatten! Denn Vampir-Spiondrachen jagten mit ganz ähnlichen Methoden wie die Giftsandrochen.

Nur schossen Vampir-Spiondrachen keine Pfeile ab, sondern ließen vergiftete Zähne in ihrer Beute zurück. Danach warteten sie ab, bis das Gift das Opfer lähmte. Dank des Zahns konnte der Spiondrache das hilflose Opfer jederzeit aufspüren, denn der tickte wie eine Uhr im Körper der Beute und schickte damit dem Drachen ein Signal, wo sich der Zahn befand.

»Um Thors willen, um Thors willen«, stöhnte Hicks. »Die Sache wird immer schlimmer!«

»Zurück zur Geschichte«, quiekte der Wotansfang mit großen, vor Angst geweiteten Augen. »DU musst auf jeden Fall sofort zur Insel des Neuen Tages, Hicks, um dich dort anstelle von Alwin zum König krönen zu lassen!«

»Vergiss deine blöde Geschichte!«, blaffte ihn Hicks an. »Die ist doch jetzt völlig unwichtig! Du kannst sie mir später erzählen.«

»Geschichten sind immer wichtig!«, widersprach der Wotansfang. »Die Drachen hier sind im Moment das kleinere Problem! Ich versuche doch nur, dir die größeren Zusammenhänge zu erklären!«

»Dieses kleinere Problem wird uns aber in ein paar Minuten töten!«, schrie Hicks in panischer Angst. Mit zitternden Händen hob er ein paar faustgroße Steine auf, die unter dem Bootswrack lagen, und warf sie, so weit er konnte, auf die herankriechenden Drachen. Er hörte das dumpfe Geräusch, als die Steine im Sand aufschlugen, ohne auch nur einen Giftsandrochen zu treffen.

»DU MUSST MIR ZUHÖREN, HICKS!«, rief der Wotansfang flehend, inzwischen aber so verzweifelt, dass er sich mit ungeheurer Anstrengung in Hicks’ Wams hochzog, bis er ihm direkt ins Gesicht blicken konnte. Er legte ihm beide Flügel an die Wangen und starrte ihm direkt in die Augen. Und damit schaffte er es endlich, dass Hicks ihm zuhörte. Denn die gelben Augen eines Seedrachen haben eine geradezu hypnotische Wirkung und forderten absolute Aufmerksamkeit.

»Wenn Alwin der Verräter zum König gekrönt wird, fällt ihm das Drachenjuwel in die Hände – und damit kann er die Drachen FÜR ALLE ZEITEN vernichten!«, sagte der kleine braune Drache, halb verrückt vor Angst. »Nur DU kannst Alwin noch aufhalten! DU musst auf die Insel des Neuen Tages gehen und DU musst an seiner Stelle König werden! Und dann kannst DU hinausziehen und mit dem Drachen Wildwut sprechen! DU musst ihn überzeugen, dass er den Drachenaufstand beendet! Die Sache ist unglaublich dringend! Deshalb dürfen wir keine Zeit verlieren!«

»Schon gut, schon gut«, murmelte Hicks und streichelte dem Drachen den Rücken, weil er sich so furchtbar aufregte. »Ich mache das, ich mache das …«

»Aber das ist ZIEMLICH SCHWIERIG!«, rief der Wotansfang. »Weil du nämlich kein Boot hast, weil du kein einziges der VERLORENEN DINGE hast, und du hast ja nicht mal eine WAFFE!«

»Mach dir keine Sorgen«, versuchte Hicks, ihn zu besänftigen. »Ich schaffe das.«

»Der Grund, warum uns das Schicksal hierher, auf die Insel Heldenhaftes Ende, geführt hat, ist auch wichtig, Hicks. Ich kann dir nicht genau sagen, warum, aber auf dieser Insel liegt Grimmbart der Abscheuliche begraben. Die Menschen wissen noch nicht, dass du noch am Leben bist. Alwin hat gestern deinen Vetter Rotznase getötet, aber alle glauben, er habe dich getötet!«

Die Stimme des Wotansfangs wurde immer schwächer, denn er war jetzt sehr, sehr müde. Trotzdem plapperte er weiter, so schnell er konnte, weil er wusste, dass er bald einschlafen würde. »Kurz und gut: Vertraue NIEMANDEM. Alle wollen dich töten. Der Drache Wildwut, Alwin, die Hexe … ALLE WERDEN VERSUCHEN, DICH ZU TÖTEN!«

»Ich werde niemandem vertrauen«, versprach ihm Hicks mit heißerer Stimme.

»Und wenn du dann auf die Insel des Neuen Tages kommst, Hicks«, fuhr der Drache fort, »darfst du auf keinen Fall am Stra…«

Aber mehr konnte er nicht mehr sagen. Das Gift hatte die Oberhand gewonnen. Dem Wotansfang fielen die Augen zu und die Zunge hing schlaff aus seiner Schnauze.

Trotzdem versuchte er es noch einmal. »Du darfst auf keinen Fall am Stra…«

Aber dann ging gar nichts mehr.

Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, wurde der Wotansfang völlig schlaff.

Und das war leider ein sehr, sehr ungünstiger Zeitpunkt, milde gesagt, weil der Satz, den er noch sagen wollte, ziemlich wichtig gewesen wäre: »Wenn du dann auf die Insel des Neuen Tages kommst, Hicks, darfst du auf keinen Fall am Strand an Land gehen, denn der Strand wird von furchtbaren, grausamen Schutzgeistern bewacht, den Drachenhütern des Neuen Tages.«

Ja, das wäre wirklich ein verdammt wichtiger Satz gewesen.

Der Wotansfang hatte recht: So schlimm die Dinge auch sein mochten, sie konnten immer noch schlimmer werden.