Cover

Früher war unsere Welt friedlich gewesen … Zumindest friedlich genug, um glücklich darin leben zu können. Niemand musste vor Angst zittern, wenn er nachts durch dunkle Straßen, Parks oder Felder ging, oder brauchte sich Gedanken zu machen, ob er es rechtzeitig in den sicheren Schutz eines Gebäudes schaffte. Niemand fragte sich, ob er den nächsten Tag überleben würde.

Dies änderte sich jedoch, als ein Wissenschaftler durch ein gedankenloses Experiment das Tor zu einer anderen Welt öffnete. Dadurch drang eine Dunkelheit zu uns, die unsere als so selbstverständlich erachtete Sicherheit in der Luft zerriss. Leben verloschen, Kriege brachen aus und selbst die modernsten Waffen nützten nichts gegen die Wesen, die mit der Finsternis kamen. Es ging sogar so weit, dass wir – die Überlebenden – die Vernichtung der Menschenwelt befürchteten.

Doch neben dem Grauen drang auch eine neue Gabe zu uns. Eine Gabe, die dafür geschaffen war, die verzweifelte Menschheit zu schützen. Einige neugeborene Babys zeigten außergewöhnliche Fähigkeiten, die sie nur der Magie der anderen Welt zu verdanken hatten. In einer Zeit ohne andauernden Kampf würde man sie vielleicht Zauberer nennen, aber unsere Herrscher erwählten sie zu ihren Kriegern. Ihnen bot sich die Möglichkeit, ihre innere Kraft zu bündeln und sich gegen die dunklen Kreaturen zu behaupten.

Anderen Kindern wiederum war es nicht vergönnt, ihre neu erhaltene Energie für den Kampf zu nutzen, allerdings fand man auch schnell für sie eine Aufgabe. Denn ihre Fähigkeit lag in der Unterstützung. Sie wurde je nach Art der Kraft in eine von vier Kategorien eingeteilt: Heilung, Wandlung, Schutz und Kampf. Kinder mit einer dieser Gaben wurden Quellen genannt und im Gegensatz zu den Kriegern gab es nur sehr wenige von ihnen. Doch gemeinsam waren sie der Schutz der Menschheit vor der Dunkelheit.

Kapitel 1

Vignette

»Noreana, lauf schneller!«

Die Worte klangen so einfach, doch ihre Beine weigerten sich, noch mehr Geschwindigkeit aufzunehmen. Das Atmen bereitete ihr bereits jetzt große Probleme und ihre Lungen brannten vor Qual, weil sie so rasant durch die Gänge hetzten, dass sie kaum genug Sauerstoff bekommen konnten. Jedes Mal, wenn sie Luft einsog, hatte sie das Gefühl, dass weniger davon den Weg in sie hineinfand, und ihre Muskeln verloren bei jedem Schritt mehr Kraft. Der dunkelblaue Mantel, der um sie herumwehte, machte auch nichts besser. Doch Samuel trieb sie immer weiter an, versuchte sie aus dieser Hölle hinauszulotsen und irgendwie eine Rettung für sie beide zu finden. Sie hingegen wusste, dass sie diese Jagd nicht mehr lange durchhalten würden.

Vielstimmiges Getrappel und das Klappern von Waffen folgten ihnen zusammen mit gebrüllten Befehlen, stehen zu bleiben. Aber wenn sie das täten, drohte ihnen Schlimmeres als der Tod – zumindest ihr.

Ihre Schritte hallten laut durch die hohen Gänge mit den hellen Steinböden. Rechts und links gingen hölzerne Portale ab, aber Noreana und auch Samuel wussten, dass es Sackgassen waren. Sie führten in Aufenthaltsräume, Büros oder Trainingshallen. Jahrelang waren sie hier ein- und ausgegangen, immer von allen freundlich und respektvoll behandelt. Doch nun hatte sich das schlagartig geändert.

Da stolperte Noreana plötzlich und schrie überrascht. Samuel reagierte darauf blitzschnell, warf einen fauchenden Feuerzauber über seine Schulter, um ihre Verfolger abzulenken, und griff nach ihrer Hand. Er schleifte sie regelrecht hinter sich her und sie schaffte es, wieder in einen sicheren Tritt zu gelangen.

»Wir halten das nicht mehr lange durch«, rief sie keuchend, als er um eine Kurve hetzte und sie durch den nächsten Gang zog.

»Ich weiß«, knurrte Samuel mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Magie musste bald aufgebraucht sein, doch ihre Verfolger würden ihnen nicht die Zeit geben, um sie wieder aufzufüllen.

Erneut löste sich ein Schrei aus Noreanas Kehle, als ein magischer Angriff von hinten gegen ihren kuppelartigen Schild prallte. Natürlich brach er nicht hindurch, dafür war sie eine viel zu starke Quelle. Aber die widrigen Umstände brachten ihre Konzentration so durcheinander, dass sie nicht wusste, wie lange sie ihre Fähigkeit aufrechterhalten konnte.

Noch einmal warf Samuel einen Feuerzauber nach hinten und heller Stein barst auf, als die Energie in einer erschütternden Explosion niederging. Sie achteten jedoch gar nicht darauf, sondern stürmten nun doch durch eine der Türen, die sie in einen großen Saal führte. Samuel warf das Portal zu und verschloss es mit einem großen Schwall seiner Macht, während sich Noreana keuchend vorbeugte und sich auf ihren Knien abstützte. Ihre Verfolger würden nur Minuten, wenn nicht gar Sekunden brauchen, um das Siegel zu brechen, das wussten sie beide.

Da hörten sie überrascht, wie jemand ihre Namen rief.

Sofort wirbelten sie herum und sahen durch einen der anderen Zugänge zur Halle vier Gestalten hereinstürmen, die sie trotz der dunklen Mäntel, die sie genauso verhüllten wie es Noreanas und Samuels taten, erkannten.

»Schnell, ihr müsst hier entlang«, rief eine von ihnen.

Samuel legte Noreana eine Hand in den Rücken und schob sie vorwärts, ohne auch nur eine Frage an die Neuankömmlinge zu stellen. Stattdessen blickte er finster über seine Schulter zurück.

»Warte«, brachte die Frau an seiner Seite hervor, hielt inne und legte ihm ihre gespreizten Finger an die Brust.

Er versuchte sich zu wappnen, aber wie stets, wenn Noreana seine Magie auflud, wurde er von ihrer unendlichen Energie überwältigt. Sein Körper bäumte sich auf und der Saal wurde in glühendes, goldenes Licht getaucht, das in der nächsten Sekunde bereits in seiner Brust verschwand. Kurz taumelte Samuel, spürte jedoch, wie seine magische Kraft in voller Stärke zurückkam.

»Danke«, flüsterte er atemlos und schob Noreana sogleich weiter auf ihre Freunde zu, die ungeduldig auf sie warteten.

Mit ihrer Hilfe würden sich ihre Chancen ein wenig steigern, aber als der Boden unter ihnen von einem magischen Angriff derart erschüttert wurde, dass nicht nur die gesamte Wand hinter ihnen vibrierte, sondern sie einzig mit Mühe auf den Beinen bleiben konnten, wusste er, dass es ihnen nicht helfen würde. Am Ende nahm man sie nur allesamt gefangen. Und das konnte er nicht zulassen. Entschlossen blieb er stehen und blickte zurück zu der Tür, hinter der ihre Gegner gegen seine Magie anzukommen versuchten.

»Samuel, worauf wartest du?«, fragte Noreana gehetzt und blieb ebenfalls stehen, weswegen er ihr das Gesicht zuwandte. Ihre schönen braunen Augen waren angstvoll aufgerissen und sie blickte ihn flehend an.

»Ich werde euch den Rücken decken«, erklärte er ernst.

Noreana kannte ihn inzwischen lang genug, um zu wissen, was er vorhatte. Entsetzt starrte sie ihn an und ihr gehauchtes »Nein« fand kaum den Weg an sein Ohr.

»Es tut mir leid, aber ich sehe keinen anderen Ausweg.« Als er die Tränen in ihren Augenwinkeln erkannte, hob er die Hand, legte sie an ihre Wange und nahm ein letztes Mal jedes einzelne Detail von ihrem Gesicht auf. »Ich werde immer bei dir sein, Noreana. Aber jetzt gebe ich dich wieder frei.«

Entsetzen trat in ihre Augen und sie wollte sich von ihm entfernen, Distanz zwischen sie bringen, damit er die Verbindung zwischen ihnen beiden nicht kappen konnte. Doch Samuel war stärker als sie, zog sie zu sich heran und küsste sie mit all der Zuneigung, die er für sie empfand. Dabei löste er sich innerlich von seiner geliebten Quelle und spürte sofort den leeren Platz, den Noreana bereits seit Jahren mit ihrem warmen Licht in ihm gefüllt hatte. Gleichzeitig wob er einen mächtigen Zauber auf sie und mit einem Seufzen verlor sie das Bewusstsein.

»Bist du wahnsinnig geworden? Was hast du denn damit bezwecken wollen?«, fragte Samuels bester Freund, der ihm einen Schritt entgegenkam, und auch die anderen begehrten gegen sein Vorhaben auf. Sie wussten nicht, dass er sich von seiner Quelle getrennt hatte, aber sie durften es auch noch nicht erfahren. Sie würden ihn nur aufhalten wollen.

Kurz zog ein Schmerz bei dem Gedanken, was nun folgen würde, durch ihn hindurch. Doch er hatte sich entschieden, weswegen er seine Quelle auf die Arme hob.

Schnell ging er auf seine Freunde zu, überreichte Noreana dem größten von ihnen und deutete voraus in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Sie war zu erschöpft, um weiterzugehen, und hätte sich nur dagegen gesträubt, getragen zu werden. Los, wir müssen hier weg.«

Als hätten sie seine Worte gehört, erschütterte ein weiterer Angriff ihrer Verfolger das Portal in seinem Rücken und sie alle nahmen das deutliche Knacken wahr. Gleich würde hier die Hölle ausbrechen und dann sollten sie verschwunden sein.

»Los«, sagte eine der Frauen unter seinen Freunden und eilte in den angrenzenden Flur.

Die anderen beiden und somit auch Noreana folgten ihr, nur Samuels bester Freund blieb im Türrahmen stehen und blickte zu ihm zurück. Undeutlich konnte er seine Augen unter der Kapuze ausmachen und entdeckte die Zweifel darin.

»Irgendwas stimmt hier doch nicht, oder? Was hast du vor?«, fragte er auch schon, was Samuel einerseits freute und andererseits schmerzte. Denn sein Freund kannte ihn nicht nur gut, es würde auch das letzte Mal sein, dass sie sich sahen.

»Passt gut auf sie auf und lebt wohl, okay?«, bat Samuel und packte den Arm seines Freundes, der ihn fassungslos anstarrte. Bevor er sich allerdings fangen konnte, stieß Samuel ihn durch die Tür, warf das schwere Holz zu und versiegelte das Schloss.

»Es tut mir leid«, flüsterte er, als er sogleich das wütende Schlagen von Fäusten wahrnahm, das jedoch durch eine weitere Explosion in seinem Rücken unterging. Deutlich hörte er, wie ihre Verfolger durch das Portal brachen und sogleich auf ihn zustürmten. Eine letzte Sekunde dachte Samuel an seine Freunde und seine geliebte Quelle. Dann wandte er sich den Feinden zu.

Kapitel 2

Vignette

Liz

Fröstelnd blickte Liz hoch in den stahlgrauen Himmel und zog sich die Jacke etwas enger um die Schultern. Obwohl sie bereits seit einer Stunde Kisten in ihre neue Wohnung im vierten Stock schleppte, fror sie. Der November zeigte sich dieses Jahr ausgesprochen hart. Bereits jetzt lag eine fast einen Meter hohe Schneeschicht an den Straßenseiten, die den Winterdienst mitten in der Stadt inzwischen ordentlich behinderte. Für einen Umzug gab es also weit bessere Zeitpunkte.

Und nun begann es bereits zu dämmern.

Wenn die Nacht hereinbrach, musste sie die restlichen Kisten im Wagen lassen und sich in die schützende Wohnung begeben, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, auf Schatten oder Dunkle zu treffen.

»Was starrst du denn so in den Himmel?«, fragte Bea, die eine weitere Kiste aus dem Transporter zog. Sie war Liz’ beste Freundin, die ihr nicht nur beim Schleppen half, sondern ihr auch noch einen neuen Job besorgt hatte, nachdem sie, Liz, ganz plötzlich gekündigt worden war.

»Ach«, begann Liz und trat zu ihrer Freundin, »ich habe nur einzuschätzen versucht, wie viel Zeit uns noch bis zum Sonnenuntergang bleibt. Es wird in diesem Monat eindeutig zu früh dunkel und das schlechte Wetter macht auch nichts besser. Mit Sicherheit schneit es heute Nacht wieder.«

»Ja, das ist ein furchtbarer Winter dieses Jahr. Vielleicht will der Himmel ja dieses Dilemma hier auf der Erde bedecken«, murmelte Bea mit einem Seufzen und machte sich mit ihrer Kiste auf den Weg zur Eingangstür.

Liz schmunzelte über diese philosophischen Worte und folgte ihr mit einem weiteren Karton. »Mir würde es schon genügen, wenn er die Dunklen verschütten und das Tor schließen würde. Dann hätten wir ein ruhiges Leben ohne Angst.«

Bea schnaubte. »Sei froh, dass wir normale Menschen sind. Ich will nicht wissen, wie sich die Krieger und Quellen in dieser Welt fühlen.«

Liz erwiderte nichts darauf und folgte ihrer Freundin schnaufend die ganzen Stufen hoch. Dabei bewunderte sie Beas Ausdauer. Sie war fast einen halben Kopf kleiner als Liz, zierlich wie ein Fahnenmast und schleppte doch unermüdlich Kisten in den vierten Stock. Liz fand zwar, dass sie selbst nicht untrainiert war, aber gegen ihre Freundin kam sie nicht an.

Kaum oben angekommen setzte sie die schwere Kiste mit einem erleichterten Seufzen in ihrem neuen Zuhause ab und wischte sich über die Stirn. Sie war erschöpft, sogar mehr, als sie eigentlich nach dem bisschen Tragen hätte sein dürfen, aber vielleicht brütete sie etwas aus. Verdenken konnte sie es ihrem Körper bei dem Wetter nicht.

»Christian hilft uns morgen mit den großen Sachen«, teilte Bea ihr mit und eilte bereits wieder die Treppe hinab.

Mit einem Seufzen folgte Liz ihr. »Meinst du, dass er das hinbekommt?«

Christian war Beas Freund und ein sehr netter Kerl. Allerdings übertraf er Liz nur um knappe zwei Zentimeter und war dabei sehr schmächtig. Dass gerade er ihnen mit dem Kühlschrank oder der Waschmaschine helfen wollte, klang fast wie Hohn.

Belustigt sah Bea zu ihr zurück und hopste dabei geschickt die Stufen hinab. »Unterschätze ihn nicht. Er ist kräftiger, als er aussieht.«

»Wer wäre ich denn, dir da zu widersprechen? Am Ende muss ich das Zeug nur allein hochbekommen«, erwiderte Liz mit einem Grinsen und eilte Bea hinterher.

Tatsächlich schafften sie es, den Kleintransporter zu leeren, bevor die Sonne ganz unterging. Aber nun trat Liz besorgt an die Fahrertür, wo Bea hinter dem Steuer Platz genommen hatte. »Bist du sicher, dass du um diese Uhrzeit noch fahren willst? Was ist, wenn du unterwegs auf Schatten triffst?«

Aber Bea winkte ab. »Im Gegensatz zu deinem alten Wohnort ist es hier selbst nachts recht sicher. So nah am Regierungssitz gibt es sehr viele Krieger, die die Straßen frei halten. Mach dir also keine Sorgen.«

Liz überzeugten diese Worte wenig, trotzdem nickte sie. »Danke für deine Hilfe, Bea.«

»Für dich immer, meine Liebe. Melde dich, falls etwas sein sollte. Ansonsten komme ich morgen früh wieder vorbei.« Bea beugte sich noch kurz zu ihr, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und schloss dann die Tür.

Liz sah ihrer Freundin nach, bis der Kleintransporter hinter der nächsten Häuserecke verschwand. Ein eisiger Wind kam auf, fuhr ihr unter die Kleidung und ließ sie erschauern. Erneut warf sie einen Blick hoch in den nachtschwarzen Himmel und tatsächlich segelten nun die ersten Schneeflocken herab. Liz schüttelte sich, schlang die Arme um ihren Körper und huschte schnell zurück in den Hauseingang. Bea konnte sagen, was sie wollte, aber Liz war es draußen bei Weitem nicht so geheuer, dass sie auch nur noch eine Minute ungeschützt stehenbleiben wollte. Außerdem hatte sie viel auszupacken und eine gesamte Wohnung einzurichten.

***

Zwei Tage später saß Liz zwischen den letzten Umzugskartons in ihrem neuen Wohnzimmer und sortierte Bücher in eine sinnvolle Reihenfolge, um sie in ihrem Bücherschrank zu verstauen. Der gestrige Tag hatte sie erschöpft, da sie zusammen mit Christian und Bea endlos viele Regale, Schränke und klobige Geräte erst die Treppen hinaufgetragen und dann aufgebaut hatte. Da kam ihr die jetzige Aufgabe wie eine Belohnung vor. Ab Montag begann bereits ihr neuer Job, der ihr genügend abverlangen würde. Da konnte sie sich jetzt durchaus mal entspannen.

Erfreut horchte Liz auf, als im Radio eines ihrer Lieblingslieder ertönte. Schnell rappelte sie sich hoch und drehte die Lautstärke auf, was ihr irgendwie ein heimisches Gefühl in der vollkommen neuen Umgebung gab. Zufrieden seufzte sie, lauschte eine Minute lang den bekannten Melodien und wollte sich gerade wieder zu Boden sinken lassen, um weiter auszupacken, als es ziemlich stürmisch an der Tür klingelte.

Überrascht blickte sie auf.

Wer sollte sie denn besuchen? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie bereits Post bekäme, und es war noch nicht einmal Mittag, weswegen es auch nicht Bea sein konnte. Neugierig richtete sie sich wieder auf und lief in den Flur.

Als sie die Tür aufzog, erstarrte sie kurz, denn am Türrahmen gelehnt stand ein Mann, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als sie selbst, mit zerzausten, dunkelbraunen Haaren. Zusammen mit dem Shirt und der Unterhose, die er als Einziges trug, sah er aus wie gerade aus dem Bett gefallen.

»Hi?«, begann sie irritiert, aber der Mann unterbrach sie sogleich durch eine harsche Geste.

»Sag mal, hast du sie noch alle?«, fuhr er sie an.

Überrascht blinzelte sie und wusste nichts zu erwidern.

»Stell dir vor, es gibt tatsächlich Menschen, die nachts arbeiten müssen und tagsüber schlafen wollen. Ist es da zu viel verlangt, dass die Nachbarn die Musik nicht bis zum Anschlag aufdrehen?«

Scheinbar erwartete er eine Antwort von ihr, denn mit seinen sturmgrauen Augen sah er sie abwartend und voller Wut an.

»Nein … Natürlich nicht«, stammelte Liz überrumpelt.

»Dann ist es für dich ja kein Problem, die Musik wieder leiser zu stellen, oder?«

Liz konnte nur den Kopf schütteln.

»Danke«, sagte der Unbekannte unfreundlich und mit vor Sarkasmus triefender Stimme, drehte sich abrupt um und ging mit wütendem Schritt die Treppe in den dritten Stock hinab.

Fassungslos trat Liz an das Geländer und blickte ihm nach. Ein paar Sekunden später knallte er die Tür zur Wohnung direkt unter ihrer zu. Einen Moment war Liz zu perplex, um überhaupt etwas zu denken. Dann schnaubte sie empört.

»Ja, vielen Dank für diese wundervolle Begrüßung«, höhnte sie, wandte sich um und schlug ihre Wohnungstür genauso wütend zu. »Wie kann er nur so unfair sein? Selbst wenn ich ihn geweckt habe, hätte er ruhig freundlicher sein können. Ich kann ja nicht ahnen, dass er nachts arbeitet. Bin ich eine Hellseherin, oder was?«

Kurz überlegte sie, ob sie die Musik nicht einfach noch lauter aufdrehen sollte, aber andererseits war ein Nachbarschaftsstreit nicht unbedingt das, was sie in ihrer ersten Woche vom Zaun brechen wollte. Also ging sie zurück in ihr Wohnzimmer und schaltete das Radio ganz aus. Die Lust auf Musik war ihr gehörig vergangen.

Mein neues Leben hier fängt ja gut an, dachte sie mit einem Schnauben.

Unschlüssig und wütend stand sie zwischen all den Kisten, ging dann aber zurück in den Flur und zog ihren Mantel und den Schal vom Haken neben der Tür. Sie brauchte nach dieser Begegnung erst einmal frische Luft.

***

Nick

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte Maja und hob die feinen Augenbrauen.

Doch Nick brummte nur etwas Undeutliches und legte seinen Schwertgurt um, damit sie endlich mit ihrer Schicht beginnen konnten.

»Hallo, Erde an Nick! Ich mache den Mund nicht auf, damit du mich ignorierst«, rief Maja dicht an seinem Ohr.

»Ja klar, geh du mir auch noch auf die Nerven«, murmelte er seufzend, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.

Majas unerschütterliche Art konnte nur aufmuntern und er wollte nicht ausgerechnet jetzt mit ihr streiten. Es war kurz vor neun Uhr abends, was bedeutete, dass er noch über neun Stunden mit ihr aushalten musste. Wenn er es sich jetzt mit Maja verscherzte, würde er es die ganze Nacht bereuen. Denn er und Maja waren Partner, die durch ihre Gabe dazu auserkoren waren, als Krieger zu arbeiten.

»Ich gehe dir so lange auf die Nerven, bis du es mir erzählst«, erwiderte die Frau an seiner Seite und schlug ihm freundschaftlich gegen den Arm.

Mit einem belustigten Schnauben sah Nick sie an.

Maja war eine große, durchtrainierte Frau, was sie nicht nur ihrem Dasein als Kriegerin verdankte, sondern auch der Tatsache, dass sie zusätzlich ein Fitnessstudio betrieb. Ihre braunen Haare hatte sie vor einer Woche extrem kurz schneiden lassen, was ihren breiten Mund und die grünen Augen nur noch mehr hervorhob. Aber obwohl sie so dürr wie eine halb ausgehungerte Gazelle war, strotzte sie vor Energie und Kraft, die ihr ihre Gabe gewährte. Sie beide besaßen nur mittelmäßige Magiereserven, weshalb sie sich nicht an eine Quelle binden durften und daher zu zweit arbeiteten.

»Also?«, fragte Maja noch einmal, als er sie nur musterte.

Doch Nick winkte ab.

»Ich wurde heute ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen«, berichtete er und erinnerte sich an die junge Frau, die nun über ihm eingezogen war. Dabei verfinsterte sich sein Gesicht erneut. Wieso nur mussten seine alten Mitmieter aus- und dafür dieses energiegeladene Mädchen einziehen?

Ihre Vormieter waren göttlich gewesen: schon im fortgeschrittenen Alter, ruhig, ohne laute Enkel oder hohe Absätze. Von ihnen hatte er nur selten etwas gehört. Von seiner neuen Nachbarin drangen dagegen ständig Geräusche herab, was ihn mehr als störte. Denn Nicks Gabe hatte einen für ihn recht nervigen Nebeneffekt: Er konnte extrem gut hören.

Jeder mit der Gabe besaß so eine zusätzliche Fähigkeit und bei ihm hatte es sich auf das Gehör ausgewirkt. Wenn er wach war, konnte er es durch seine Magie abschwächen, aber wenn er schlief leider nicht. Dadurch und durch die Tatsache, dass er meist tagsüber schlief, wurde er trotz Ohrstöpsel immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Und er hasste das wie die Pest!

Allerdings tat es ihm inzwischen leid, dass er seine neue Nachbarin so angefahren hatte. Im Nachhinein musste er sogar darüber schmunzeln, wie verblüfft sie ihn angesehen und danach über ihn geschimpft hatte. Was er durchaus gehört hatte. Sie besaß Feuer und das mochte er.

»Nick? Träumst du?«, fragte Maja nun genervt.

Nick schüttelte den Gedanken ab und sah seine Partnerin an. »Du hast etwas gesagt?«

Maja seufzte theatralisch. »Ich fragte, wer oder was dich geweckt hat. Meine Güte, du hast heute wirklich deinen Kopf in den Wolken.«

Nick grinste sie an. »Meine neue Nachbarin hat mich geweckt.«

Sofort horchte Maja auf. »Eine neue Nachbarin? Erzähl mir von ihr.«

Nick rollte mit den Augen. Es störte ihn nicht, dass Maja auf Frauen stand, aber kaum begegnete er jemand Neuem, musste Maja sofort über alles Bescheid wissen. Es wurde Zeit, dass sie eine Freundin bekam.

»Lass uns erst einmal mit unserer Patrouille beginnen. Nachher bleibt uns noch genug Zeit zum Reden«, schlug er vor und widerwillig stimmte sie zu.

Mit einem Frösteln zog Nick seinen Schal fester um den Hals. Natürlich konnte er die Luft um sich herum erwärmen, um nicht auszukühlen, aber am Anfang einer Schicht wusste man nie, wie viel Magie man benötigen würde, weshalb er lieber sparsam sein wollte.

Die Dunklen machten ihnen in dieser Stadt, weitab von den umkämpften Gebieten, zum Glück keine großen Probleme. Sie waren zu schlau, um sich offen in die Hauptstadt der Krieger zu wagen. Nur die Schatten, die mehr Tieren als Menschen ähnelten, suchten immer wieder einen Weg durch die Straßen. Meist befanden sie sich auf der Suche nach Nahrung in Form von Blut der Stadtbewohner, doch hier lebten so viele magiekundige Krieger, dass selbst nachts nur selten Gefahr für die Bevölkerung bestand. Dies war auch der Grund, warum sich jeder regelrecht darum riss, hier eine Wohnung zu finden.

Nick runzelte die Stirn. In dieser Stadt lebten die Reichsten der Reichen und obwohl Nick nur in einem durchschnittlichen Viertel wohnte, waren die Mieten hier überaus hoch. Er fragte sich, wie es eine so junge Frau wie seine neue Nachbarin geschafft hatte, die Zimmer über ihm zu ergattern. Sie konnte höchstens Mitte zwanzig sein und damit war sie viel zu jung für einen hoch bezahlten Job – zumindest in der heutigen Zeit. Diese Frau wurde immer interessanter. Doch nachdem er sie heute so wüst angeraunzt hatte, würden sie wahrscheinlich keine Freunde werden. Na egal, die Hauptsache war, dass sie tagsüber keinen Lärm machte.

Diese ganzen Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er schnellen Schrittes neben Maja herlief. Der Schnee knirschte leise unter seinen Stiefeln und obwohl es seit gestern nicht mehr geschneit hatte, lag selbst auf der Straße noch immer eine mehrere Zentimeter dicke Schicht der weißen Flocken. Am Rand der Gehwege türmten sie sich inzwischen auf, sodass nur noch eine schmale Spur blieb, die man zum Gehen benutzen konnte.

Die Nacht war dunkel und sternenlos, da noch immer dicke Wolken über den Himmel zogen. Nur das gelbe Licht der Laternen beleuchtete das ruhige Bild vor ihnen und obwohl es hier nachts nicht allzu gefährlich war, streiften kaum Menschen durch die Straßen. Diejenigen, die sich aus ihren Häusern trauten, huschten entweder mit ängstlichem Blick dahin oder gehörten wie Nick und Maja der Kriegerkaste an.

Aufmerksam schweiften Nicks Augen über die Wände der Häuser. Sie waren alt, stilvoll, aber auch aufwendig restauriert und muteten wie aus der Blütezeit des Mittelalters an, als die Menschen gern ausschweifend und mit viel Schmuck gebaut hatten. Allerdings war keines dabei, das weniger als vier Etagen aufwies, da immer mehr Platz gebraucht wurde. Nick wohnte und arbeitete gern hier. Wenn er durch die stillen, dunklen Straßen ging, hatte er oftmals das Gefühl, sich in einer anderen Zeit zu befinden – in einer, in der das heutige Dunkel nicht existierte.

»Hast du schon die Gerüchte gehört, dass Noreana gesehen worden sein soll?«, fragte Maja und riss ihn damit aus den Gedanken. Sie lief schnell neben ihm her und achtete dabei auf die Spuren am Boden.

»Also ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die legendäre Quelle überhaupt noch in der Stadt befindet. Ich an ihrer Stelle hätte mich ganz schnell aus dem Staub gemacht«, meinte Nick und verzog den Mund. »So eine Verschwendung.«

»Du bist dagegen, dass nach ihr gefahndet wird?«

»Nein, das nicht. Sie und Samuel haben uns verraten. Aber wenn du dir bewusst machst, wie stark Noreana als Quelle ist, kann man es nur als Verschwendung betiteln, sie nicht mehr auf unserer Seite zu wissen. Meine Güte, sie ist eine Verzweigte! Von ihnen gibt es nur wenige auf der ganzen Welt«, rief Nick leise, aber empört aus.

»Und dann auch noch eine komplett Verzweigte«, fügte Maja mit einem bedauernden Seufzen hinzu.

Nach mehreren Generationen der Quellen hatte sich eine Besonderheit in der Gabe dieser Menschen gezeigt. Normalerweise war es einer Quelle nur möglich, eine einzige Kategorie zu meistern: die Heilung, der Schutz, das Wandeln oder der Kampf. Verzweigte jedoch konnten mehrere Disziplinen ausführen und Noreana war darin die Beste. Sie konnte alle Disziplinen anwenden und war zusätzlich noch unglaublich stark. Er mit seinen durchschnittlichen magischen Kräften hätte ihr nicht einmal in die Augen sehen, geschweige denn sich mit ihr verbinden dürfen.

»Irgendwie kann ich es nicht glauben«, sagte Maja mit finsterer Stimme.

»Was?«

»Dass Samuel und Noreana uns verraten haben. Als ich sie vor einiger Zeit getroffen habe, kamen sie mir so freundlich und bodenständig vor.«

»Du hast sie getroffen?«, fragte Nick perplex. Die beiden waren Legenden, die man nicht einfach so auf der Straße traf.

Maja grinste ihn überlegen an. »Ja, aber das ist schon ein paar Jährchen her. Damals waren die beiden noch nicht so berühmt.«

»Und du konntest ihre Gesichter sehen?«

Maja schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Selbst damals haben sie sich schon verhüllt.«

Was nur verständlich war. Wenn ihre Feinde, aber auch ihre Verbündeten herausgefunden hätten, wie dieses phänomenale Paar aussah, hätten die beiden kein normales Leben mehr führen können. Deshalb trugen sie, wie viele der starken Krieger und Quellen aus der Elite, lange Mäntel mitsamt Kapuzen.

»Sie wirkten damals nett und lustig und es kommt mir auch jetzt, Monate nach dem Vorfall, unwahrscheinlich vor, dass sie einen Verrat begehen würden«, maulte Maja ungehalten.

Nick zuckte daraufhin nur mit den Schultern. »Scheinbar haben sie es aber trotzdem getan. Sie haben die Dunklen in die Gänge der Akademie geführt und dort fast den gesamten Westflügel verheert. Wenn die Wachen sie nicht abgehalten hätten, wären sie wohl bis zum Herrscher durchgedrungen.«

»Stattdessen haben unsere Leute Samuel geschnappt und nur Noreana konnte entkommen«, schloss Maja. »So war es wahrscheinlich besser. Ich will gar nicht wissen, was der Herrscher mit ihr gemacht hätte. Er hätte sie kaum hinrichten können, wie er es mit Samuel gemacht hat. Aber sie an jemand Neuen zu binden ist auch unmöglich. Die Arme wäre wohl in einem Kerker verrottet.«

»Wenn man dir so zuhört, könnte man glauben, du wärst für unsere Gegner«, sagte Nick mit einem schiefen Grinsen, denn er wusste, dass Maja absolut treu ihrem Herrscher gegenüber war. Sie teilte ihm nur gern mit, was in ihrem Kopf vorging. Umsichtig blieb Nick stehen und hockte sich hin, um eine Spur im Schnee genauer zu untersuchen.

Maja schnaubte in der Zwischenzeit und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. In ihrer dicken, verstärkten Jacke und mit den dünnen Beinen sah sie ein wenig merkwürdig aus. Als hätte ein Stein das Laufen gelernt, sich aber die falschen Stelzen dafür ausgesucht. »So war das sicher nicht gemeint, Nick und das weißt du. Aber ich will einfach nicht wahrhaben, dass die beiden Verräter sind. Sie waren meine Idole. So jung und so brillant.«

Nick konnte ihr nur recht geben.

Samuel war ein erstklassiger Kämpfer gewesen und dazu noch ein außergewöhnlich starker Magier. Zusammen mit seiner noch ausgezeichneteren Quelle hatte er Dinge für ihr Volk getan, für die allein sie ihnen schon ewige Dankbarkeit schuldeten. Doch vielleicht war ihnen gerade das zu Kopf gestiegen.

Betrübt schüttelte Nick den Kopf. »Es hat keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Samuel ist tot und Noreana verschwunden. Was sie zu dieser Tat verleitet hat, ist unerheblich. Wir werden es wohl nie erfahren.« Er zeigte auf eine Spur, die sich deutlich von den anderen abhob. »Außerdem haben wir unerwünschten Besuch.«

Maja beugte sich zu ihm herab, um die Abdrücke ebenfalls zu besehen. Obwohl es sehr kalt war, hatte das merkwürdige Wetter für sie beide einen großen Vorteil: Im Schnee konnte man sehr gut die Fußabdrücke der Schatten erkennen. Sie erinnerten an Krallen von großen Vögeln, die in wankenden Schritten fortführten.

Stumm deutete Maja voraus und Nick bestätigte mit einer Kopfbewegung. Lautlos liefen sie los und zogen währenddessen ihre Schwerter.

Schusswaffen, die Menschen oft genutzt hatten, bevor das Tor geöffnet worden war, gab es nur noch selten. Man musste ein sehr geschickter Krieger und Magier sein, um damit einen Schatten zu treffen. Nick übte sich gerade in dieser Disziplin, aber während der Arbeit verließ er sich lieber auf die kunstvoll verzierte Klinge an seiner Seite.

»Dort vorn nach rechts«, flüsterte Maja und deutete auf eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern. Ein bevorzugter Ort für Schatten, um auf Beute zu lauern. Doch dieses Essen hier würde ihm nicht schmecken, dafür würde Nick sorgen. Kurz vor der Gasse hielten sie beide inne und drückten sich an die Hauswand.

»Bereit?«, formte Maja lautlos mit den Lippen. Nick bestätigte und Maja blies kurz in ihre Hand, schloss die Finger und machte dann eine Geste, als würde sie etwas in die Gasse werfen. Nick schloss die Augen und einen Moment später loderte ein so grelles Licht auf, dass er sogar hinter den geschlossenen Lidern beinahe geblendet wurde. Ein markerschütternder Schrei ertönte und Nick stürmte in die Gasse.

Noch immer hing ein Hauch des Lichtzaubers an den Wänden und spendete genug Licht, dass Nick den Schatten deutlich sehen konnte. Die rot glühenden kleinen Flammen, die seine Augen darstellten, flackerten, da dem Wesen das Licht extreme Schmerzen bereitete, und durch die flüchtige Dunkelheit seines Wesens, das beständig die Form zu verändern schien, erkannte er undeutlich das Ende der Gasse. Sehr gut, denn das bedeutete, dass der Schatten geschwächt war.

Nick hob die Waffe und weckte seine Magie, um die Klinge magisch aufzuladen. Ohne diese Technik würde das Metall einfach durch das Wesen hindurchgleiten, ohne Schaden zu verursachen. So aber schnitt es tief in die wabernde Dunkelheit und teilte den rauchigen Körper fast in zwei Hälften. Ein weiterer Schrei löste sich aus der unsichtbaren Kehle und schnell wob Maja einen Schild. Nicht nur Quellen waren zu so etwas in der Lage, aber den Kriegern kostete es wahnsinnig viel Kraft. Der Schrei schwoll immer weiter an und der Schatten blähte sich, im Todeskampf windend, auf, bis er schließlich in einem wunderschönen Funkenregen zerbarst.

Einen Moment sah Nick dabei zu, wie diese glitzernden Splitter zu Boden schwebten und dort langsam erloschen. Schon immer hatte er sich gefragt, wieso diese Wesen im Tod solch eine Schönheit zeigten.

»Alles in Ordnung, Nick?«, fragte Maja besorgt, als er sich nicht rührte.

»Ja, alles bestens. Lass uns weitergehen«, beruhigte Nick sie und wandte sich von der Gasse ab.

Kapitel 3

Vignette

Liz

Bea lachte schallend auf, als Liz ihr am Montagmorgen von ihrer Begegnung mit dem unfreundlichen Nachbarn erzählte.

»Ich finde das gar nicht lustig«, begann Liz finster.

Aber Bea winkte nur ab und musste sich sogar eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. »Ach was, sieh es doch mit mehr Humor. Wann steht der gut aussehende Nachbar schon mal in Unterwäsche vor einem, nur weil man ihn aufgeweckt hat?«

Womit sie nicht ganz unrecht hatte. Schließlich konnte Liz nicht behaupten, dass sein Anblick ihren Augen geschmerzt hätte. Dann dachte sie jedoch wieder an seine unfreundliche Art.

»Trotzdem kann er mir gestohlen bleiben«, murrte sie und Bea sah sie verblüfft an.

»Er hat dich beeindruckt!«, stellte sie unumwunden fest.

»Woher bitte willst du das wissen?«, fragte Liz mit einem finsteren Blick.

»Weil ich dich schon dein ganzes Leben lang kenne. Man sieht dir so was immer an der Nasenspitze an.« Zu Liz’ Überraschung schien Bea die Aussicht, dass ihr Nachbar ihr imponiert hatte, nicht unbedingt zu erfreuen.

»Warum ziehst du so ein Gesicht?«, fragte sie deswegen.

»Weil ich damit nicht gerechnet habe«, gab Bea zu und zuckte unzufrieden mit den Schultern.

»Und? Darf mich ein Mann nicht beeindrucken?«

»Darum geht es nicht. Aber lassen wir das Thema. Bist du noch nicht aufgeregt wegen des neuen Jobs?«

Tatsächlich gingen sie gerade über den großen Parkplatz der Firma, in der Liz ab heute im Einkauf arbeiten sollte. Bea war in diesem Schwesterunternehmen einer berühmten Herstellungsfirma Assistentin der Geschäftsführung und hatte ihre Beziehungen spielen lassen, damit Liz den frei gewordenen Posten im Einkaufsteam bekam. Es war nicht unbedingt Liz’ Traumjob, da sie eigentlich lieber in der Akquisition arbeitete, aber sie würde sich nicht beklagen. Sie bekam hier mehr Geld als bei dem alten Job, musste dafür weniger arbeiten und konnte sich somit sogar eine Wohnung in dieser Luxusstadt leisten, auch wenn sie nicht sonderlich groß war.

»Ich bin schon ziemlich nervös«, gestand Liz und ließ den Blick über die langen, modernen Gebäude gleiten, die sich am nördlichen Außenbezirk der Stadt befanden. Der typische Industriebau zeigte sich kühl, weiß und verchromt. Sie hoffte, dass es im Inneren gemütlicher zuging.

»Dir wird es hier gefallen. Die Leute sind nett, vor allem die Chefs. Die Arbeitszeiten sind human und das Geld stimmt. Was also will man mehr?«, fragte Bea, beugte sich dann aber verschwörerisch zu ihr. »Pass aber ein wenig auf Willson auf. Er ist dein direkter Vorgesetzter und ein kleiner Weiberheld. Eigentlich gebe ich es nicht gerne zu, aber du bist definitiv hübsch genug, um in sein Beuteschema zu fallen.«

Liz musste ihre Freundin angrinsen. »War das jetzt etwa ein Kompliment?«

»Vielleicht ein kleines. Aber nun marsch. Ich will nicht, dass du an deinem ersten Tag zu spät kommst.«

Sie erklommen ein paar Stufen zu einer großen, gläsernen Eingangstür, die sich lautlos vor ihnen öffnete. Dadurch betraten sie eine helle, mit Fliesen ausgelegte Halle, von der zwei Gänge nach rechts und links und ein weiterer hinter dem Empfangstresen abgingen. Mitten im Raum führte eine hölzerne, ziemlich schwungvolle Wendeltreppe hinauf in eine weitere Etage. Das doch recht kühle Bild lockerten mehrere große Pflanzen auf, deren grüne Farbe das Auge über das viele Weiß hinwegtröstete.

»Rechts geht es zum Marketing, dem Qualitätsmanagement und der IT-Abteilung. Links befinden sich der Einkauf, der Verkauf und ein Zugang zur Logistik. Die Tür weiter hinten führt zur Produktion und die Treppe zu den Chefs. Da muss ich jetzt auch fix hin, da wir gleich ein Meeting haben. Aber ich lasse dich in den netten Händen unserer Empfangsdame Nancy«, erklärte Bea plappernd und schob Liz auf den Tresen zu, hinter dem schon eine adrette, etwas ältere Frau auf sie wartete. Bea klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und eilte dann bereits die Treppe hinauf.

»Wir sehen uns zum Mittag«, rief sie noch und war dann verschwunden. Wie ein kleiner, ziemlich schmaler Wirbelwind. Kurz sah Liz ihr hinterher, atmete dann tief durch und wandte sich Nancy zu.

»Guten Morgen«, begrüßte diese Liz. Sie war eine freundlich wirkende Frau in den Vierzigern und lächelte auf eine sehr sympathische Art und Weise. Ihre braunen Haare waren kurz geschnitten und mit ein wenig zu viel Haarspray gegen jegliche Art von Unordnung gesichert. Was allerdings auch zu ihrem etwas zu engen, hellen Kostüm passte.

Liz lächelte unverbindlich. »Guten Morgen, ich bin sozusagen die Neue hier«, sagte sie und trommelte leicht mit den Fingern auf dem Tresen. Sie war nervös, aber das wäre in ihrer Situation wahrscheinlich jeder.

»Das dachte ich mir fast schon, als Sie mit Bea hereingekommen sind. Willkommen in unserer Firma. Ihr Name ist Eliza Night, oder?«

»Ja.«

»Hauptsache, Ihre Seele ist nicht so schwarz wie die Nacht«, rief Nancy in dem Versuch, einen lockeren Witz zu machen.

Liz lachte eher, damit die gute Nancy nicht in Verlegenheit geriet. Über ihren Namen waren schon alle erdenklichen Witze gemacht worden und Liz hatte sogar schon erlebt, dass ihr wegen ihres Nachnamens Misstrauen und Kälte entgegengeschlagen waren, da seit der Öffnung des Tores sehr viel Schlechtes mit der Nacht verbunden wurde. Aber was sollte sie machen? Für den Namen konnte man nun wirklich nichts.

Hoffentlich heirate ich mal einen Mann mit besserem Nachnamen, dachte Liz mit einem Lächeln, als Nancy um ihren Tresen herumkam.

»Ihr neuer Chef ist noch in der Besprechung, zu der auch Bea gerade so eilig gegangen ist. Wenn Sie nichts dagegen haben, zeige ich Ihnen in der Zwischenzeit unsere Firma. Das wird Sie sicher interessieren, nicht wahr?«, fragte die engagierte Nancy und winkte sie hinter sich her. Liz blies kurz die Wangen auf und folgte ihr dann. Hoffentlich waren nicht alle ihre neuen Kollegen so übereifrig.

***

Die Führung zeigte sich am Ende doch recht interessant, obwohl Nancy ununterbrochen erzählte und schwatzte. Vor allem hinter die Kulissen einer so großen Produktionsfirma zu schauen, war sehr beeindruckend. Bisher hatte Liz nur für Planungsbüros gearbeitet und noch nie gesehen, wie minutiös so eine Firma funktionierte. Inzwischen hatte Nancy sie allerdings an ihrem neuen Arbeitsplatz abgesetzt und Liz versuchte sich erst einmal zurechtzufinden.

Ihre Abteilung war riesig, hell und modern. Sie teilte sie sich zusammen mit vier weiteren Mitarbeitern und trotzdem hatte sie mehr Platz für sich allein als in ihrer alten Arbeitsstelle. Und auch an der Ausstattung merkte sie, dass es der Firma sehr gut ging. Ihr Schreibtisch war aus edelstem Holz und der Stuhl nach der neusten ergonomischen Art gefertigt, ihr Computer gehörte einer der marktführenden Marken an und Liz konnte sich gut vorstellen, dass der Boden aus echtem Parkett von der teuersten Sorte bestand.

Als sie das alles gesehen hatte, kam in ihr die Befürchtung auf, dass ihre Kollegen sehr hochgestochen und eitel sein könnten, doch da hatte sie sich zum Glück getäuscht. Sie arbeitete mit zwei Männern und zwei weiteren Frauen zusammen, die sich unerwartet freundlich und bodenständig zeigten. Liz hatte sich schon gewundert, dass die lebensfrohe Bea hier arbeitete, doch inzwischen konnte auch sie sich vorstellen, zufrieden zu werden.

Gerade erklärte ihr Jan, der ihr gegenübersaß, für was sie in nächster Zeit zuständig sein würde. »Aber am Ende muss dir das Herr Willson noch bestätigen. Wer weiß, was er genau für Pläne mit dir hat«, schloss Jan gerade seine Ausführungen.

Er war ein sympathischer Mann Anfang dreißig mit hellem Haar und grauen Augen. Er lächelte ununterbrochen und so etwas wie schlechte Laune konnte sich Liz bei ihm fast nicht vorstellen. Sie mochte ihn auf Anhieb.

»Ah und da kommt er auch schon«, sagte ihr Kollege und deutete nach hinten, wo der Eingang zu ihrer Abteilung lag. Liz drehte sich um und erblickte einen äußerst charismatischen Mann. Er war vielleicht Ende dreißig mit einem scharf geschnittenem Gesicht, rabenschwarzem Haar und dunklen Augen, die sich fast sofort auf sie richteten.

Und das löste in Liz ein unbeschreibliches Gefühl aus.

Augenblicklich erfasste sie ein solch kalter Schauer, dass sie sich nur mit Mühe zusammenreißen konnte, um nicht aufzuspringen und zu fliehen. Egal wohin, nur weg. Ihr neuer Chef sah zwar nett aus, aber irgendetwas an seiner Ausstrahlung ließ sie erzittern und automatisch ihr Misstrauen erwachen. Aber woher kam das? So etwas hatte sie noch nie gespürt. Schnell versuchte sie sich zu fangen und brachte sogar den Hauch eines Lächelns zustande, als ihr Chef neben ihrem Schreibtisch stehen blieb.

»Hallo, Sie müssen Miss Night sein. Es tut mir leid, dass ich Sie nicht persönlich in Empfang nehmen konnte, aber das Meeting hat sich länger hingezogen als gedacht«, sagte er mit einer tiefen, angenehmen Stimme und hielt ihr eine Hand entgegen.

Aus immer noch unerfindlichen Gründen fühlte sich Liz wie die Maus vor einer Schlange und am liebsten hätte sie ihn von sich gestoßen. Stattdessen atmete sie tief durch, stand auf und ergriff die Hand ihres Chefs. Seine Finger waren warm und schlossen sich angenehm fest um ihre, trotzdem war es für sie das unangenehmste Gefühl, das sie seit Langem erleiden musste. Ihr Magen krampfte sich zusammen und sie schluckte schnell, damit sie sich nicht auf seine Schuhe erbrach.

Was war nur mit ihr los?

»Es freut mich, dass unser Team durch eine so hübsche neue Mitarbeiterin bereichert wird«, fuhr Willson fort, ohne dass seine Worte groß an Liz’ Ohr drangen. Erst als er ihre Hand an seinen Mund hob, um ihre Haut sanft mit seinen Lippen zu berühren, erwachte sie aus ihrer Schockstarre. Am liebsten hätte sie Willson ihre Finger entrissen, aber stattdessen stierte sie ihn bloß an, während Jan schwer seufzte. Das war scheinbar jene Situation, vor der Bea sie bereits gewarnt hatte.

»Danke für die nette Begrüßung«, brachte sie irgendwie hervor, selbst wenn es mehr als gepresst klang.

Endlich entließ Willson ihre Hand und zeigte dabei ein charmantes Lächeln, aber Liz fiel durchaus auf, dass es nicht seine Augen erreichte. Sie hatte eher das Gefühl, dass er sie wie seine neuste Beute musterte.

»Hat Jan Ihnen bereits eine kleine Einführung gegeben?«, fragte er nun.

Liz war erleichtert, dass sie sich diesem Thema widmen und nebenbei auch zwei Schritte zurück machen konnte. »Ja, das hat er. Allerdings wusste er noch nicht genau, welche Arbeitsfelder ich von nun an in Angriff nehmen soll.«

»Gut, über genauere Details werden wir uns später unterhalten. Ich muss zuerst ein paar wichtige Telefonate führen und werde Ihnen dann alles erklären. Entschuldigen Sie mich also kurz«, erwiderte Willson und neigte den Kopf, natürlich nicht ohne Liz noch einmal haargenau zu betrachten. Während sie sich wie ein Stück Vieh fühlte und sich bemühte ihren Ekel, aber auch ihre Verwirrung zu verbergen, wandte sich ihr Chef ab und ging zu seinem Büro, das am Ende des Raumes lag.

»Auch wenn es dir die Arbeit um einiges erleichtern wird, beneide ich dich nicht darum, dass Willson offensichtlich Interesse an dir hegt«, rüttelte Jan sie auf. »Aber mach dir keine Sorgen, er arbeitet meist allein und du wirst nicht oft mit ihm zu tun haben.«

Liz hoffte das sehr, denn der Mann war ihr unheimlich. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch blickte sie noch einmal zu Willsons Bürotür und wandte sich dann wieder Jan zu, der ihr erneut allerlei Dinge zu erklären begann. Doch so richtig zuhören konnte sie ihm nicht mehr.

***

»Und? Wie war dein erster Tag?«, fragte Bea, als sie Liz abholte, damit sie zusammen heimfahren konnten.

»Eigentlich ganz gut. Ich komme mit dem Einkauf besser klar, als ich dachte«, begann Liz und zögerte dann.

Bea sah ihre Freundin von der Seite an. »Aber?«

Liz lächelte schief. »Ich glaube, Willson erwartet viel von mir und wird mich in nächster Zeit ordentlich mit Arbeit zuschütten.«

»Solange es nicht zu viel wird, ist das doch vollkommen in Ordnung. Überstunden bedeuten auch mehr Geld und du kannst es dir im Moment leisten, dein Hauptaugenmerk auf die Arbeit zu legen«, erwiderte Bea, musterte sie dann jedoch erneut. »Aber?«

Liz seufzte. Kurz wandte sie sich nach rechts und links, um sich zu versichern, dass niemand sie belauschte. »Er ist unheimlich«, sagte sie dann leise.

Bea runzelte verwirrt die Stirn. »Wer? Willson?«

Liz nickte nur. Sie konnte sich nicht erklären, woher dieses Gefühl kam, aber der Mann schickte ihr eine Gänsehaut über den Körper, kaum dass er den Raum betrat.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Bea und blickte sich ebenfalls um, als sie aus der großen Halle auf den Parkplatz traten. Aber um sie herum war niemand zu entdecken.

Liz zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich kann es nicht wirklich erklären. Er war eigentlich sehr nett zu mir und ist ein sehr sympathischer Mensch, aber allein bei seinem Anblick bekomme ich kalte Finger und eine Art Fluchtreaktion.« Aufmerksam blickte Bea sie an und Liz konnte den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten. Unsicher nestelte sie an ihrer Handtasche herum. »Das klingt komisch, oder?«

Da hellte sich Beas Gesicht auf. »Nein, tut es nicht. Wahrscheinlich hast du dir meine Worte von heute Morgen nur zu sehr zu Herzen genommen. Willson ist ein Frauenheld, aber ein guter Mensch. Mach dir keine Sorgen. Bestimmt wirst du noch warm mit ihm.«

Liz verzog zweifelnd den Mund, aber vielleicht hatte ihre Freundin ja recht. Was sonst sollte diese unheimlichen Gefühle verursachen? Am besten sie ging freundlich, aber distanziert mit ihrem Chef um und dann würde sie sich schon an ihn gewöhnen. In ihren Gedanken versunken fiel ihr der nachdenkliche Blick, den ihr Bea zuwarf, nicht auf und sie ging weiter auf ihr Auto zu.

Kapitel 4

Vignette

Nick

Grummelnd rollte sich Nick auf die Seite und blickte auf den Wecker neben seinem Bett. Es war zwei Uhr mittags. Seiner Meinung nach noch viel zu früh, um aufzustehen, aber er hatte sieben Stunden geschlafen und scheinbar sollte das heute reichen.