Die Autorin

Jennifer Waschke – Foto © privat

Jennifer Waschke wurde 1988 geboren. Aufgewachsen im Kölner Norden lebt sie inzwischen in Dormagen, fühlt sich jedoch noch immer mit Köln verbunden. Sie ist staatlich anerkannte Erzieherin und Sozialarbeiterin und arbeitet in einer Abteilung vom Jugendamt. Seit ihrer frühsten Kindheit schreibt sie Geschichten und träumt davon, ihre eigenen Bücher in den Händen halten zu können. Dabei ist es ihr ein Anliegen, mit ihren Geschichten nicht nur zu unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anzuregen. 

Das Buch

Kann etwas falsch sein, wenn es sich so richtig anfühlt?

Johanna und Bea sind seit fünf Jahren beste Freundinnen, verbringen jede freie Minute miteinander und haben sich bei ihrem Lieblingshobby, dem Tanzen, mindestens schon hunderte Male berührt. Doch noch nie so, wie in dieser einen Nacht in Beas Bett. Es ist nur ein Kuss, der alles verändert und so sehr Johanna es danach auch versucht, zwischen ihr und Bea ist nichts mehr normal. Aber Johanna steht auf Jungs, so war es doch schon immer. Sie ist nicht eine, die sich in ihre beste Freundin verliebt, oder?

Von Jennifer Waschke sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Du und ich gegen den Rest der Welt
Weil mein Herz dich ruft

Jennifer Waschke

Weil mein Herz dich ruft

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-437-4

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Kapitel 1


Wir sitzen auf dem Boden und biegen unsere Spitzenschuhe. Nur noch zehn Minuten bis zum Training, aber ich bin nicht ganz bei der Sache. Immer wieder schweifen meine Gedanken zu dem Streit meiner Eltern, den ich heute Morgen mitangehört habe. Sie waren so in ihrer Diskussion versunken, dass sie mich nicht einmal bemerkt haben. Schon wieder. Es passiert oft in letzter Zeit. Frustriert hämmere ich den Spitzenschuh auf den Boden, um ihn weicher zu bekommen. Das beste Mittel, um aufgestaute Gefühle loszuwerden. Neben dem Tanzen.

»Kommst du morgen mit?«, fragt Bea. Sie ist bereits fertig und wickelt die Bänder ihrer Schuhe in perfekten, rosafarbenen Linien um ihre Wade.

»Zum See?«, frage ich zurück.

»Na klar zum See. Wohin denn sonst? Karsten bringt Andi mit, da wäre es nur fair, wenn ich weibliche Unterstützung bekomme.«

Ich lasse von meinen Spitzenschuhen ab. »Ich komme gerne mit.« Ein Tag mit Bea und ihrer Familie erscheint mir als genau das Richtige, um abzuschalten.

Frau Graleski kommt in den Raum. Ohne ein Wort klatscht sie in die Hände und stellt die Musikanlage an. Die Mädchen um mich herum eilen an ihre Stangen, wie aufgescheuchte Hühner.

»Johanna, brauchst du eine Extraeinladung?«, fragt Frau Graleski. Sie tut immer streng, aber hinter der Fassade ist sie viel weicher. Ich glaube, sie denkt nur, dass dieses konsequente Auftreten zum Ballett gehören muss. Ein Grund, wieso ich das Ballett zwar mag, aber meine Liebe dem Hip-Hop und Modern Dance gehört. Dort ist alles weniger förmlich und streng, sondern eher bunter – genau wie ich.

Ich stelle mich an der Stange hinter Bea und beginne mit dem Port de Bras. Ich lasse mich auf die Musik ein, sanfte Klaviermelodien, auf die ich meine Arme zur Seite und dann nach oben bewege. Meine Bewegungen sind gekonnt, sie sind Routine, aber trotzdem sehe ich, dass Bea dabei viel fließender aussieht als ich. Sie ist die geborene Ballerina.

»Jetzt den Grand-Plié«, fordert Frau Graleski auf. Sie geht herum, begutachtet jeden von uns mit Argusaugen.

»Sehr schön, Bea. Wirklich wundervoll.« Dann kommt sie zu mir. »Johanna, deine Haare sehen heute fürchterlich aus.«

Ich verkneife mir ein Grinsen und versuche stattdessen so auszusehen, als sei ich von dieser Aussage schockiert, obwohl Frau Graleski immer etwas an meinen Haaren auszusetzen hat. Sie mag weder die rote Haarfarbe, die zwar von Natur aus gegeben ist, von mir aber durch Tönungen verstärkt wird, noch mag sie meine Naturkrause, die dazu führt, dass selbst mit Tonnen von Haarspray Babyhaare aus meinem Dutt kommen, die aussehen wie kleine Sprungfedern. Meine Haare sind immer unordentlich, egal was ich tue. Sie sollte sich deswegen lieber beim lieben Gott beschweren, nicht bei mir.

»Und was hast du da an deinem Handgelenk?«, fragt sie missbilligend. Ich sehe auf das Herz auf meiner Pulsader. Mir war im Mathekurs langweilig, und ich hatte einen Filzstift zur Hand. Dieses Herz gefällt mir. Vielleicht sollte ich es mir als Tattoo vormerken, auch wenn es noch ein Jahr dauert, bis ich volljährig bin und endlich selbst darüber entscheiden darf, wann ich wo (welche) Tinte unter meine Haut geritzt haben will. Schon seit einem Jahr versuche ich meine Eltern dazu zu überreden, mir ein Tattoo zu erlauben – nur ein ganz kleines am Hüftknochen, in der Form von einer Musiknote und einem Tanzschuh –, aber sie wollen nichts davon hören und sagen mir immer wieder, dass ich noch warten muss, bis ich volljährig bin. Innerlich zähle ich die Tage. Noch dreihundertsiebzehn.

»Konzentration, meine Damen!«, ruft Frau Graleski. »Gestern habe ich entschieden, dass wir in der diesjährigen Aufführung den Nussknacker zeigen.«

Einige Mädchen beginnen zu tuscheln. Frau Graleski klatscht in die Hände, um die Ruhe wiedereinkehren zu lassen.

»In sechs Wochen ist das offizielle Vortanzen, aber auch euer Verhalten im Vorfeld wird ausschlaggebend sein. Aus all meinen Ballettklassen kommen nur die mit der größten Hingabe und Disziplin auf die Bühne, und genau das erwarte ich von euch.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Bea bei diesen Worten noch ein wenig mehr Spannung in ihren Körper bringt, als wolle sie Frau Graleski beweisen, wie diszipliniert sie ist. Als wüsste unsere Ballettlehrerin das nach fünf Jahren noch nicht. Bea kann unfassbar verbissen sein, wenn es um das Ballett geht. Ich weiß schon jetzt, dass die nächsten Wochen anstrengend werden. Nicht weil ich selbst so viel trainiere, sondern weil Bea dann wieder so nervös sein wird wie letztes Jahr, als es um die Rolle der Aurora ging. Bea hat wochenlang kaum gegessen und geschlafen, und ich musste sie ständig dazu zwingen, auch mal abzuschalten und ein bisschen Spaß zu haben.

»Entspann dich«, sage ich leise und lege Bea meine Hand auf ihre Schulter. »Du schaffst das sowieso.«


Meine babyblaue Vespa Lx50 steht auf dem Parkplatz vor dem Studio. Bea sieht auf den Helm in ihrer Hand. Ihr sind diese Dinger ein Dorn im Auge, aber er ist die Voraussetzung, unter der ihre Eltern erlaubt haben, dass sie mit mir fahren darf.

»Komm schon, Bea. Mach schneller. Ich habe Kohldampf«, sage ich und setze selbst meinen Helm auf.

»Du hast immer Kohldampf«, kommentiert Bea. »Ein Tag, an dem du keinen Bärenhunger hast, würde in die Geschichte eingehen.«

»Ich habe gerade trainiert wie eine Blöde. Ich habe mir Pommes verdient.«

»Na schön.« Seufzend zieht Bea den Helm auf und nimmt hinter mir Platz. »Wenn du nicht immer diesen Helm aufhättest, würde Frau Graleski auch nicht immer an deiner Frisur rummäkeln.«

»Sie würde immer meine Frisur kritisieren. Egal, ob Helm oder nicht – meine Haare machen halt, was sie wollen.«

»Deine Haare oder du?«, fragt Bea und lacht leise. Ihre Hände legen sich um meine Hüfte, als Zeichen, dass ich losfahren kann, doch ich halte noch einen Moment inne. Beas Griff ist locker, aber trotzdem bin ich mir ihrer Berührung bewusst. Ich sehe nach unten, zu den zarten Händen, die sich an mir festhalten, und muss unwillkürlich lächeln. Ich genieße es immer, Bea so nah zu sein. Ich schließe kurz die Augen, um ihre Wärme zu spüren. Heute gefällt mir dieses Gefühl besonders, ihre Nähe scheint die Sorgen wegen des Streits meiner Eltern schrumpfen zu lassen, als hätte sie die Kraft, nur mit ihrer Anwesenheit meine Gedanken und Sorgen auszuschalten. Ein sanftes Kribbeln jagt durch meinen Körper, als ihre Finger sich bewegen. Die Berührung und meine Reaktion darauf verwirren mich kurz, offenbar scheine ich heute besonders empfindsam zu sein. »Was ist denn jetzt?«, fragt Bea und reißt mich damit aus meinen Gedanken. »Ich denke, du bist am Verhungern.«

»Geht schon los«, antworte ich und schüttle kurz den Kopf, um dieses merkwürdige Gefühl abzuwerfen und wieder klar zu denken. Dann starte ich die Vespa und fahre los.


Zehn Minuten später stehen wir schon auf dem Parkplatz von Salt and Pepper. Es ist der einzige Burgerladen hier im Ort, in dem man vernünftige Pommes bekommt. Der Laden ist super, wie diese amerikanischen Restaurants mit Sitzecken aus rotem Leder und Gitarren an der Wand. Mit dem Unterschied, dass hier keine klassischen Oldies gespielt werden, sondern nur Lieder aus den 90ern. Und auch wenn die Pommes hier nicht so göttlich wären – nämlich die perfekte Mischung aus knusprig und labberig –, würde ich den Laden alleine wegen seines Konzepts mögen.

Bea steigt vom Roller, und mich fröstelst es schlagartig, weil mir die Wärme ihrer Hände fehlt. Ich nehme ihr den Helm ab, den ich unter dem Sitz verstaue, und betrete dann mit ihr den Laden.

»Hallo, Mädels«, begrüßt uns Bernd, der Besitzer. »Die anderen sitzen schon drüben.«

»Wir sind einfach zu oft hier«, lacht Bea und geht voraus. Die anderen – Karsten und Paula, auch genannt das Traumpaar – sitzen bereits an unserem Stammtisch. Karsten hat einen Arm um Paula gelegt, und beide kichern. Auch noch nach einem Jahr sind die beiden wie frisch verliebt.

»Hey, Bruderherz«, sagt Bea und strubbelt Karsten durch die Haare. »Hallo, Paula.«

Karsten richtet sein Haar und springt dann auf, um mich zu umarmen. Ich umarme auch Paula, und dann quetschen Bea und ich uns auf die freie Bank.

»Habt ihr schon bestellt?«, fragt Bea und schnappt sich die Karte.

»Wozu guckst du eigentlich rein?«, fragt Karsten zurück. »Du nimmst ja doch nur wieder Salat.«

»Eine Verschwendung von Bernds Kochkünsten«, sage ich und zwinkere Karsten zu.

Karsten ist der Zwillingsbruder von Bea, und auch wenn Bea nur zwei Minuten jünger ist, ist sie ganz anders als er. Karsten ist eigentlich wie ich: manchmal etwas zu direkt, manchmal etwas zu laut, und manchmal etwas chaotisch, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Nur äußerlich sieht man sofort, dass die beiden Zwillinge sind, auch wenn das Karsten gar nicht gerne hört. Na ja, welcher Typ will schon hören, dass er aussieht wie seine Schwester? Und natürlich gibt es auch Unterschiede: Bea hat zum Beispiel ein Muttermal an der rechten Wange, Karsten hat keins. Und Karsten hat kürzere Haare und etwas markantere Wangenknochen. Die zierliche Figur teilen sie sich, auch wenn Karsten sich selbst gerne androgyn nennt, als würde das irgendwie besser klingen.

Bernd kommt an unseren Tisch.

»Das Übliche?«, fragt er uns. Karsten, Paula und ich nicken. Bea sieht ein letztes Mal in die Karte, seufzt dann und nickt ebenfalls. Also wieder Salat. Und dann wird sie Karsten und mir Pommes klauen, als würden die Kalorien nicht zählen, wenn sie von einem anderen Teller kommen. Aber wenigstens den Milchshake zum Nachtisch lehnt sie niemals ab, meistens teilen wir uns einen.

»Wie war das Training?«, fragt Paula. Ich weiß, dass sie es nur höflich meint, weil sie sich absolut gar nicht fürs Tanzen interessiert, aber Bea ist wegen des bevorstehenden Vortanzens so aufgeregt, dass sie das offenbar nicht schnallt. Sie beginnt sofort zu erzählen, wie sehr sie sich die Rolle der Clara wünscht und dass sie jetzt vermehrt auf Technik und Körperspannung achten muss, um Frau Graleski zu beweisen, dass sie diese Hauptrolle verkörpern kann. Ich verkneife mir, ihr zu sagen, dass sie auch ohne Extra-Techniktraining gute Chancen hat. Bea ist die geborene Clara: Träumerisch, sympathisch und ein wenig kindlich, denn auch wenn Bea immer erwachsen wirken will, kenne ich nach fünf Jahren ihr Innerstes – vielleicht sogar besser, als sie es kennt. Ich weiß, dass hinter all der Kontrolle, dem Drang nach Perfektion und dem Traum vom Ballett ein Mädchen steckt, das einfach nur tanzen will. Sie hat mir erzählt, dass sie sich beim Tanzen frei fühlt, als könnte sie dann endlich mal loslassen, und dabei haben ihre Augen so sehr gestrahlt, dass ich sie in den Arm nehmen musste. Bea ist etwas Besonderes. Ich liebe es, wie ernst sie das Tanzen nimmt und wie sie immer das Beste aus sich herausholt. Ich liebe es, wie sie nach außen hin immer perfekt sein will, weil sie innerlich unsicher ist und dieser Perfektionismus ihre Mauer ist, die sie davor bewahrt, verletzt zu werden. Bea ist einfach Bea, und deswegen ist sie meine beste Freundin, auch wenn ich sie am Anfang gar nicht leiden konnte.

Kapitel 2


Die Pommes rutschen wie Blei in meinen Magen, genau in dem Moment, als ich die Haustür aufschließe. Schlagartig kommen die Erinnerungen an den Streit meiner Eltern wieder zurück, die ich den Nachmittag über vergessen konnte.

Ich hänge meinen Schlüssel an das hausförmige Brett neben unserer Garderobe und horche. Diesmal höre ich keine lauten Stimmen, kein Türknallen, aber in der Küche klappert Geschirr. Unsicher stehe ich im Flur und überlege, ob ich in mein Zimmer gehen soll oder nicht. Dann seufze ich schwer und betrete die Küche. Dort sitzen meine Eltern – beide, an einem Tisch, als wäre nichts gewesen.

»Da bist du ja«, begrüßt mich meine Mutter. Das Grinsen auf ihren Lippen kommt mir nach allem, was ich heute Morgen gehört habe, falsch vor, aber ich nehme es einfach hin. Ich nehme es immer so hin.

»Hast du Hunger?«, fragt mein Vater und zeigt auf den Nudelsalat vor ihm.

»Wir waren schon etwas essen«, erkläre ich. Kurz überlege ich, lieber schnell in meinem Zimmer zu verschwinden, dann setze mich aber doch zu den beiden an den Tisch. Ich gieße mir etwas von dem Eistee ein und erzähle meinen Eltern von der bevorstehenden Aufführung und dem Ausflug mit Beas Familie.

»Seid ihr dann das ganze Wochenende da?«, fragt meine Mutter.

»Wir fahren Freitag hin und kommen dann Sonntag wieder.« Ich nehme einen Schluck Eistee, ehe ich fortfahre. »Aber ich komme vorher noch mal nach Hause, damit ich meine Schulsachen nicht mit an den See nehmen muss. Das verdirbt sonst nur die Laune.«

»Ihr habt auf jeden Fall Glück mit dem Wetter. Morgen soll es richtig warm werden.«

»Das hoffe ich doch«, antworte ich. Von dem Regen in den letzten Wochen habe ich ohnehin genug.

Meine Mutter streckt ihre Hand aus, um sich etwas von dem Ofenbrot zu nehmen, aber mein Vater ist schneller. Er reicht ihr das Brot an und schenkt ihr ein Lächeln.

Mir wird schlagartig warm ums Herz. Was auch immer zwischen meinen Eltern los war, scheint vergessen. Ich bleibe noch eine Weile am Tisch sitzen und genieße den Anblick meiner versöhnten Eltern. Er verdrängt diese kindliche Angst, die ich immer in mir trage, wenn meine Eltern sich streiten. Ich versuche nicht zu viel darüber nachzudenken. Letztendlich sind es doch nicht die Regentage, sondern die Tage, an denen die Sonne scheint, die eine Ehe ausmachen. Ich finde es gut, dass ich morgen an den See fahre und ihnen Zeit für sich gebe, damit sie die Sonne genießen können.


Die Aussicht auf den Tag am See und die Tatsache, dass Freitag ist und das Wochenende bevorsteht, lassen meine Laune stetig steigen. Eine Laune, die unsere Deutschlehrerin ziemlich nervig findet, so oft, wie sie mich dazu ermahnt, endlich ruhig zu sein.

»Johanna«, stöhnt sie. »Jetzt reiß dich doch mal zusammen. Es sind noch nur noch drei Minuten bis zur Pause. Diese Minuten wirst du es doch wohl noch schaffen, deinen Redefluss zu stoppen.«

Einige meiner Mitschüler drehen sich zu mir um und grinsen. Bea neben mir grinst ebenfalls. In der Schule ist sie nicht so ernst wie beim Training. Gott sei Dank. Alles andere wäre kaum zu ertragen.

»Das kann ich nicht versprechen, Frau Schubert«, sage ich und unterdrücke ein Lachen. Dafür kichern einige der anderen. Frau Schubert hingegen schüttelt nur den Kopf.

»Auch wenn das Wochenende sonnig werden soll: Denkt bitte daran, dass eure Essays bis nächsten Dienstag abgegeben werden müssen. Solltet ihr also noch nicht fertig sein, würde ich euch dringend raten, euch am Wochenende
dranzusetzen.«

Einige stöhnen bei ihren Worten. Ich auch. Dieses dumme Essay war in den tiefen Windungen meines Gehirns vergraben. Seit wir die Aufgabe vor zwei Wochen bekommen haben, habe ich kaum mehr Gedanken daran verschwendet; nicht nach meinem zweistündigen Versuch, bei dem ich nur auf den Laptop gestarrt, Toasterpizza gegessen und Däumchen gedreht hatte. Mir wollte einfach nichts über die Beziehung zwischen Mensch und Maschine einfallen. Ich bin mir sicher, dass Frau Schubert eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema wünscht, aber ich bin so vernarrt in meine Vespa, dass es mir vollkommen heuchlerisch vorkommt, etwas Negatives darüber zu schreiben. Das Ergebnis, nach dem kläglichen Versuch, diesen Konflikt in Einklang zu bringen, waren vier Wörter. Mir fällt nichts ein. Kein sehr gelungenes Essay.

»Hast du‘s schon fertig?«, flüstert Bea mir zu.

»Nee. Aber ist egal. Der See geht trotzdem klar.«

»Sicher? Also ich bin schon fertig mit meinem. Ich kann dir auch helfen.«

»Nix da. Am See wird nicht gearbeitet. Ich mach dieses doofe Essay einfach am Sonntag. Das passt schon.«

»Johanna«, ermahnt mich Frau Schubert wieder, im gleichen Moment läutet die Klingel.

»Pause!«, rufe ich und klappe mein Buch zu. Frau Schubert blickt auf mich und seufzt noch mal leise, lässt uns dann aber alleine. Die Lehrer verbringen ihre Pausen immer im Lehrerzimmer, und wir aus den oberen Stufen dürfen in den Kursräumen bleiben. Am Anfang war es komisch, keine festen Klassen mehr zu haben und stattdessen von Kursraum zu Kursraum zu gehen und immer mit anderen Leuten im Raum zu sein, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Zum Glück habe ich Bea in Deutsch und in Englisch an meiner Seite.

Freddy Günthers dreht sein Handy auf. Dancehall-Musik vom Feinsten ertönt, und sofort beginnen ein paar der Mädchen aus unserem Deutschkurs zu tanzen, als wären sie in einem dieser billigen Musikvideos.

»Jo!«, ruft Freddy. »Komm schon, sitz nicht da rum.«

»Du weißt, was ich brauche, Freddy«, sage ich theatralisch. Manchmal liebe ich es, die Rolle der Zicke zu spielen, auch wenn jeder hier weiß, dass ich keine Zicke bin. So gar nicht. Freddy, Valentin und Stefan sagen immer, dass ich eher der Kumpeltyp sei.

Freddy drückt auf seinem Handy rum, drei Sekunden später ertönt mein Lieblingslied von seiner Playliste: So what von Vybz Kartel. Sofort springe ich auf. Ich lasse den Beat auf mich wirken und beginne meinen Körper im Einklang mit der Musik zu bewegen. Genau das liebe ich am Tanzen so: sich fallen lassen, alles ausblenden und eins werden mit der Musik. Die anderen bilden einen kleinen Kreis um mich, ich höre einige Anfeuerungsrufe, unter anderem von Bea. Grinsend tanze ich auf sie zu.

»Komm schon. Mach mit«, sage ich und versuche, sie zu mir zu ziehen.

»Lass mal. Ich gucke lieber zu«, sagt Bea. Ich schüttle aber den Kopf, weil ich diese Antwort nicht gelten lasse. Bea mag vielleicht das Ballettmäuschen sein und sich ganz der klassischen Musik hingeben, aber sie ist mindestens genauso begabt in Hip-Hop und Dancehall. Sie traut sich nur manchmal nicht, alles abzuschütteln und sich auf diese Art von Musik einzulassen, weil das Tanzen weniger kontrolliert ist. Man lässt alles von sich abfallen und eskaliert, man feiert sich selbst und das Leben. Bea schafft es nicht immer, über ihren Schatten zu springen und die Kontrolle abzugeben. Aber sie kann es. Oft schon habe ich mit ihr so getanzt.

Ich kehre Bea den Rücken zu und beginne meinen Hintern im Takt der Musik auf und ab zu bewegen. Ich twerke Bea zu, bis sie lachend kapituliert. Dann stellt sie sich neben mich, die Jungs grölen und klatschen. Bea braucht nur wenige Sekunden, bis sie sich meinen Bewegungen anpasst und mit mir im Gleichklang tanzt.

»Du weißt, was jetzt kommt«, sage ich zu ihr, Bea nickt lächelnd. Synchron zueinander neigen wir unsere Oberkörper nach vorne und schütteln unseren Kopf, wie wir es schon so oft in meinem Zimmer gemacht haben. Meine Locken, die ich sowieso immer offen trage, fliegen umher. Beas Zopf hingegen droht sich aufzulösen, aber sie stört sich nicht daran. Der vertraute Duft ihres Apfel-Shampoos weht zu mir herüber, und ich atme tief ein. Diesen Geruch mochte ich von Anfang an, er ist in meinem Unterbewusstsein fest mit Bea verankert und weckt etwas in mir, als würde mein Innerstes damit all die positiven Erinnerungen an sie freisetzen. Zusammen mit den Glücksgefühlen, die das Tanzen auslöst, ist es wie eine Droge. Ich sehe zu Bea, die die Magie nun auch zu spüren scheint. Wir tun das, was wir lieben, das, was uns zusammengeschweißt hat. Wir tanzen, als wären wir alleine, als würde die Welt um uns herum nicht existieren.


Vier Stunden später hält meine Vespa in der staubigen Einfahrt. Ich blicke auf das kleine Holzhaus, in dem ich in den letzten fünf Jahren so viele Sommer verbracht habe. Ich liebe diesen Ort. Bea ist hier quasi aufgewachsen. Das Haus ist seit Generationen im Familienbesitz und dient als Wochenendhaus und Ruhepol. Manchmal kommt es mir vor, als wäre auch ich hier aufgewachsen, so sehr fühlt es sich nach Heimat an.

Im letzten Jahr hat es einen neuen Anstrich bekommen und ist nun hellbraun. Die Bäume rundherum sind noch älter als das Haus selbst, und an einer der Weiden hängt noch eine alte Schaukel, die Bea und Karsten als Kinder benutzt haben. Inzwischen macht sie keinen soliden Eindruck mehr, vermutlich würde sie zusammenbrechen, sobald einer von ihnen auch nur den Versuch starten würde, sich daraufzusetzen. Aber Veronika, Beas Mama, bringt es nicht über sich, die Schaukel abzuhängen. Zu viele Erinnerungen.

Ich schnappe mir meinen Rucksack, nehme den Helm ab und gehe dann über den kleinen Weg auf die andere Seite des Hauses. Jetzt an der Tür zu klingeln, wäre nur verschwendete Energie. Im Garten würden sie die Glocke nicht hören.

Bereits auf dem Weg zum Garten überkommt mich das Kribbeln in meinem Bauch. Die Bäume und Pflanzen verströmen so viel Duft, als würden sie mich damit willkommen heißen wollen. Dann höre ich jemanden jauchzen und schreien und höre Wasser spritzen.

»Veronika!«, rufe ich, als ich Beas Mutter entdecke. Sie ist dabei, den Gartentisch abzuwischen.

Emma, die kleine Mopsdame, die seit einem Jahr zur Familie gehört, läuft auf mich zu und springt an mir hoch, um mich zu begrüßen.

»Da bist du ja, meine Süße.« Veronika umarmt mich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst.«

»Da war eine Baustelle«, erkläre ich. »Ich musste darum herum fahren, das hat etwas länger gedauert.«

»Ja, Thomas hat auch davon gehört, deswegen sind wir gleich anders gefahren. Und ich habe Bea noch gesagt, sie soll dir schreiben.«

Ich winke ab. »Kein Ding. Die Sonne ist ja noch da.«

»Das stimmt. Die anderen sind schon im Wasser. Thomas und ich bereiten alles fürs Essen vor, geh du ruhig zu den anderen.«

»Okay.« Ich lasse Helm und Rucksack einfach liegen, ziehe mir mein Kleid über den Kopf und eile hinunter zum Ufer. Ich sehe Karsten, seinen Freund Andi und Bea im See. Karsten und Andi liefern sich eine Wasserschlacht. Ich laufe auf das Seil zu, das an einem der Bäume hängt, und nehme Schwung.

»Aufgepasst!«, rufe ich, ehe ich loslasse und durch die Luft, direkt in den See, fliege. Mein Körper taucht unmittelbar neben Andi ins Wasser ein. Es ist kühl, aber erfrischend. Keuchend stoße ich wieder durch die Wasseroberfläche, schwimme ein wenig näher ans Ufer und suche Halt im schlammigen Boden.

»Da bist du ja endlich.« Bea umarmt mich, ihre nassen Haare klatschen mir dabei ins Gesicht. Schlagartig bekomme ich eine Gänsehaut.

»Hab schon gedacht, du lässt mich mit den Bekloppten hier alleine«, sagt Karsten und deutet auf Andi und Bea.

»Wieso denn bekloppt?«, frage ich.

»Weil sie sich während der gesamten Autofahrt nur über Bewerbungen unterhalten haben. Und das am Wochenende. Hält doch keiner aus.«

Ich sehe mahnend zu Bea. »Wirklich? Ich dachte, wir wollen uns erst Sonntag um schulische Angelegenheiten kümmern.«

»Erstens«, sagt Bea und stupst mich an, »hast du das mit Sonntag gesagt, nicht ich. Und zweitens reden wir nicht von schulischen Dingen, sondern von Dingen, die nach der Schule passieren.«

»Ja, aber es kommt doch aufs selbe hinaus«, antwortet Karsten seiner Schwester. »Es geht um Pflichten. Und wenn du über Pflichten redest, muss ich daran denken, und dabei möchte ich gar nicht daran denken, weil wir schließlich Wochenende haben.«

»Und noch massig Zeit«, sage ich. »Bewerbungen für Ausbildungen und Studienplätze laufen doch eh erst ab Herbst. Und wir haben gerade erst die Sommerferien hinter uns.«

»Man kann nie früh genug dran sein«, antwortet Bea. »Erst recht nicht, wenn es um einen Studienplatz im Tanz geht. Du weißt, wie rar die Plätze da sind. Die nehmen nur wenig Leute und dann auch nur die Besten.«

»Jetzt fängt sie schon wieder an.« Karsten verdreht die Augen und taucht unter, als wolle er so Beas Erzählungen entgehen.

»Okay«, sage ich. »Ab Sonntag kauen wir die Themen wieder durch, aber heute geht es nur darum, Spaß zu haben.«

»Du willst Spaß?«, fragt Bea grinsend. Kurz darauf merke ich, wie Bea auf meinen Rücken springt und versucht, mich unter Wasser zu drücken. Ich kreische und probiere sie abzuschütteln, während sie versucht, mich irgendwie tiefer ins Wasser zu ziehen. Ihre Haare klatschen mir ins Gesicht.

»Du schafft es nicht«, stachle ich sie an. Bea ist so ein Fliegengewicht, dass es mir spielend leicht gelingt, sie an der Hüfte zu packen, hochzuheben und ihr anzudrohen, sie ins Wasser zu werfen.

»Nein«, ruft sie lachend. »Ich tue auch alles, was du willst.«

Wasser tropft von ihren Haaren und rinnt auf meine Hände.

»Wirklich alles?«, frage ich.

Bea zappelt so stark, dass ich meinen Griff festige. Auf Beas Haut hat sich eine Gänsehaut gebildet, ich spüre sie ganz deutlich an meinen Fingerspitzen und bekomme mit, wie sie leicht erschaudert. Ich selbst habe auch das Gefühl, als würde ich gleich eine Gänsehaut bekommen … aber es fühlt sich merkwürdig an, als würde sie von innen kommen.

»Jo«, lacht sie nun. »Lass mich runter.«

»Okay«, sage ich grinsend und lasse los. Bea plumpst vor mir in den See und erzeugt kleine Wellen. Ich tauche ebenfalls unter Wasser, um diese merkwürdige Gänsehaut loszuwerden. Kalt ist mir jedenfalls nicht, das Wasser ist zwar kühl, aber die Lufttemperatur ist warm genug, um das auszugleichen.

Bea und ich stoßen gleichzeitig wieder an die Oberfläche. Sie keucht und pustet, aber ich höre sie auch lachen. So verbissen Bea manchmal sein kann: Sie weiß zum Glück auch, wie man Spaß hat.

»Das bekommst du zurück«, lacht sie und schwimmt wieder auf mich zu.


Wir verbringen noch eine Stunde im Wasser, bis mir fast die Zehen abfallen.

Pünktlich zum Essen sitzen wir geduscht am Tisch. Veronika und Thomas haben sich selbst übertroffen. Thomas hat im Steinofengrill gefüllte Pizzabrötchen gemacht, die original wie aus einem italienischen Restaurant schmecken. Sie sind klein, oval und haben die perfekte Konsistenz, und wenn man hineinbeißt, läuft Käse hinaus. Es ist genau das Richtige für mich, wo ich doch alles liebe, was fettig ist. Käse, Pizza, Burger, Pommes, Schokolade – ich kann nicht genug davon bekommen, ganz zum Missfallen von Frau Graleski, die mir sagt, ich solle mehr auf meine Ernährung achten. Ich höre ihre Stimme immer mal wieder in meinem Kopf, wenn ich Fast Food esse. Als Tänzerin musst du einfach disziplinierter sein, Johanna. Dein Körper ist dein Erfolg, also pflege ihn auch. Bea nimmt diese Einwände ernst, auch wenn sie sich immer wieder auch mal Süßigkeiten oder Shakes gönnt, aber sie ist viel disziplinierter als ich. Ich denke mir, dass es schon einen Grund hat, wieso mein Körper nach dem Training immer nach Pommes verlangt, er würde sich selbst doch niemals wissentlich schaden. Solange an meiner Figur klar erkennbar ist, was Taille, Busen und Po ist, fahre ich gut. Ich bin halt weiblich. Nicht zu dick, nicht zu dünn, mit Rundungen an den richtigen Stellen. Durch das regelmäßige Training wird die Haut ohnehin straff. Da schwabbelt nichts, egal, wie sehr Frau Graleski manchmal auch drauf herumreitet.

Nach dem Essen bleiben wir noch eine Weile im Garten sitzen. Andi hat seine Gitarre mitgebracht und spielt ein paar Lieder. Veronika hat überall Kerzen und kleine Fackeln aufgestellt, die ein gemütliches Licht erzeugen. Nur die Mücken sind lästig. Bereits nach zehn Minuten habe ich das Gefühl, keine ungestochene Hautpartie mehr frei zu haben. Hier am See sind die Viecher besonders aggressiv. Da helfen auch heftige Chemiekeulen kaum. Als es immer dunkler wird, ziehen wir ins Haus um, wo wir dank der Mückengitter geschützt sind. Thomas macht den Beamer an und lässt Fotos von früher laufen. Eine alte Familientradition während der Zeit am See: in Erinnerungen schwelgen.

»Das Foto ist von der Hochzeit von Tante Dagmar«, erklärt Veronika und lächelt bei dem Foto, auf dem Thomas und sie verliebt tanzen. Sie sind ein echtes Traumpaar. Veronika trägt auf dem Foto dieses tolle fliederfarbene Kleid, das bis zum Boden reicht. Zusammen mit ihrer Hochsteckfrisur könnte sie damit glatt in einem dieser Promi-Klatschblätter als Schauspielerin auf dem roten Teppich durchgehen.

»Ist das hinter euch Bea, die mit Tommy Feldmann tanzt?«, lacht Karsten und stupst Bea an, die diesen Kommentar gar nicht lustig zu finden scheint.

»Das ist er«, erwidere ich.

»Oh, Mann. Ich wusste nicht, dass es Fotos von uns gibt.«

»Ihr wart drei Monate zusammen und zusammen mit uns auf dieser Hochzeit. Natürlich haben wir Fotos von euch«, sagt Thomas. »Ich finde, ihr wart ein tolles Paar.«

Bea schüttelt den Kopf. »Waren wir nicht. Er war ein furchtbarer Freund. Seine Hände waren immer total schwitzig, und er hat so schlechte Witze gemacht.«

»Und zu feucht geküsst«, flüstere ich Bea ins Ohr, und wir beide müssen lachen. Wieso Bea mit Tommy gegangen ist, weiß ich bis heute nicht, denn sie wirkte in den drei Monaten einfach nur unfassbar genervt von ihm. Ich glaube, dass es daran lag, dass sie unbedingt einen Freund haben wollte und keine Lust mehr hatte, darauf zu warten, dass der Richtige kommt. Also hat sie sich einfach den Erstbesten – oder in Tommys Fall nicht gerade das Erstbeste, sondern das Erstschlechteste – geschnappt und schnell gemerkt, dass es ein Fehler war.

»Was ist mit Patrick? Habt ihr kein Foto von ihm? Mit ihm war ich viel länger zusammen.«

»Stimmt«, sagt Veronika. »Aber zu der Zeit gab es keine Hochzeiten oder Familienfeiern.«

»Ich mochte ihn eh nie«, sagt Karsten. Mir ist klar, dass Karsten etwas gegen Patrick hatte, weil er der Freund war, der mit Bea mehr gemacht hat als nur Händchen zu halten. Karsten kennt keine Details, aber er weiß genug, um seinen Beschützerinstinkt einzuschalten, wenn es um ihn geht. Ihm gefällt die Vorstellung nicht, dass seine Schwester Sex haben könnte, was ziemlich bescheuert ist, wenn ich bedenke, dass er seit einem Jahr mit Paula schläft, die genauso alt ist wie wir. Aber das ist wohl so eine Bruder-Schwester-Sache, die ich als Einzelkind nicht verstehe.

»Hat ja auch nicht gehalten«, sagt Bea. »Also gut, genug von Ex-Freunden, wir sind hier ja nicht in der Bea-Show. Können wir mal das nächste Foto ansehen? Bitte?«

Ihre Stimme klingt locker, aber ich als ihre beste Freundin höre den leicht genervten Unterton heraus. In letzter Zeit ist Beas Liebesleben ziemlich eingeschlafen, und sie redet nicht mehr so offen darüber wie sonst. Ich fürchte, sie ist gefrustet, weil sie seit einem Jahr weder einen Freund hatte noch jemanden geküsst oder mit jemandem geschlafen hat. Nicht, dass es bei mir in letzter Zeit viel aufregender gewesen wäre, aber zumindest kann ich in den letzten Monaten ein paar Dates vorweisen, auch wenn letztendlich nichts draus geworden ist.

»Da sind Bea und Jo«, sagt Thomas und deutet auf das nächste Bild auf der Leinwand. »Wie jung ihr zwei da noch wart. Das war in dem Jahr, in dem ihr euch kennengelernt habt. Wisst ihr noch?«

»Klar«, sage ich, während ich das Foto von Bea und mir betrachte. Eigentlich haben wir uns gar nicht so sehr verändert. Ich habe noch immer diese störrischen Locken, auch wenn sie jetzt etwas rötlicher und länger sind. Und Bea hatte auch da schon die kleine Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen und ihr Muttermal auf der rechten Wange. Nur ihr Gesicht ist auf dem Foto noch ein wenig rundlicher als jetzt.

»Als könnte ich das vergessen«, sagt Bea. »Jo hat mich total gehasst.«

»Ich habe dich nicht gehasst«, erwidere ich. »Ich habe dich nur falsch eingeschätzt.«

»Und wenn ich mich recht erinnere, warst du am Anfang auch nicht gerade ein Fan von ihr.« Karsten räuspert sich. »Warst du nicht diejenige, die mir tagelang erzählt hat, wie doof sie Jo findet?«

»Ja, aber doch nur, weil sie in Reli immer so laut war. Und dann kam sie auch noch zum Ballett und hat dort alles gesprengt, weil sie sich nie an die Regeln gehalten hat.«

»Hat sich wirklich nicht viel verändert seitdem«, sage ich und muss lachen. Tatsächlich hatte ich damals gar keinen Bock auf diese Ballerinas und ihre Tutus und Dutts. Ich hatte mich nur für diesen dummen Unterricht angemeldet, weil er zur Tanzausbildung dazugehört – zumindest dann, wenn man vorhat, irgendwann mal professionell zu tanzen. Also hatte ich mir ein neonfarbenes Tutu angezogen und war in diesen Raum reinspaziert, um allen zu zeigen, dass ich zwar Ballett tanze, aber kein Ballettmäuschen bin. Und dann traf ich auf Bea: das schüchterne Mädchen aus meiner Parallelklasse, mit dem ich vorher nicht ein Wort gewechselt hatte. Die perfekte Ballerina, mit ihrem rosafarbenen Tutu, dem perfekten Dutt und der zierlichen Tänzerfigur, die von Frau Graleski immer gelobt wurde. Immer hieß es, guckt mal, wie toll Bea die Arme hält, guckt euch die Fußstellung von Bea an … Klar war ich genervt. Erst recht, weil ich immer nur ermahnt wurde. Lob hörte ich eigentlich niemals. Kurz gesagt: Bea und ich waren so unterschiedlich, dass ich niemals gedacht hätte, dass wir einmal Freundinnen werden könnten. Und mehr als das. Schwestern im Herzen.

Letztendlich haben wir das einem Zufall zu verdanken … vielleicht war es aber auch Schicksal, dass wir beide in derselben Umkleidekabine eingeschlossen wurden. Damals, ziemlich genau vor fünf Jahren, unmittelbar vor dem Vortanzen für die alljährliche Herbstaufführung. Ich stand in der Toilettenkabine, als ich Beas Hilferufe gehört habe. Sie hämmerte wie eine Wilde gegen die Tür, aber durch die laute Musik vom Vortanzen hatte sie keine Chance, gehört zu werden. Ich weiß noch, wie blass sie war, als ich endlich zu ihr gegangen bin, um dann festzustellen, dass wir wirklich in der Umkleide festsaßen. Für Bea eine mittelschwere Katastrophe, wo sie für die Hauptrolle vortanzen wollte. Ich selbst war nicht so aufgebracht, weil ich mir zu dem Zeitpunkt noch sehr wenig aus Ballett gemacht habe und nie dachte, eine Rolle in dem Stück zu bekommen, aber irgendwann konnte ich Beas Gejammer nicht mehr ertragen, weil sie komplett in Panik verfallen ist. Sie dachte wohl, sie würde nicht vortanzen können und deswegen nicht mal eine Statistenrolle bekommen. Ich hatte versucht, ihr die Angst zu nehmen, weil sie als Liebling von Frau Graleski sowieso irgendeine Rolle bekommen würde. Aber ich hätte genauso gut mit einer Wand reden können, denn Bea war gar nicht in der Lage, mir richtig zuzuhören. Also hatte ich Nägel mit Köpfen gemacht und uns einen Ausweg gesucht: ein kleines Fenster, das zur Jungskabine führte. Wir platzten direkt in eine Horde Jungs in Unterhosen, die einen Riesenaufstand machten, weil wir ihre Privatsphäre verletzt hätten. Aber was hätten wir tun sollen? Es war Beas einzige Chance, doch noch vortanzen zu können. Sie hat sich überhaupt nicht davon aus der Ruhe bringen lassen, dass die Jungs panisch ihre Unterhosen verdeckten oder ihr unterstellten, sie sei eine Spannerin. Sie hatte sich einfach vor sie gestellt, ihnen gesagt, dass man in Notsituationen manchmal Regeln brechen musste und sie das verstehen müssten … und war dann grinsend aus der Kabine spaziert. Ich habe mich noch mal amüsiert umgesehen, den Jungs einen schönen Tag gewünscht, und bin ihr gefolgt.

Am Ende bekam Bea die Hauptrolle und ist mir bei der Verkündung um den Hals gefallen. Sie hat mir gesagt, dass sie es ohne mich nie geschafft hätte. An diesem Tag bekam ich nicht nur eine Statistenrolle, sondern auch eine beste Freundin. Es war plötzlich egal, wie nervig ich sie zuvor fand, denn seit diesem Tag war mir klar, dass Bea mehr ist als dieses kleine perfekte Ballettmädchen. Sie ist jemand zum Pferdestehlen, jemand, den ich an diesem Tag in mein Herz geschlossen habe. Wir sind unzertrennlich geworden, und jetzt, wo auch die Klassen nicht mehr bestehen und wir im Englisch- und Deutschkurs zusammen sind, ist es noch mal enger geworden.

»Guckt mal, das war auf dem sechzehnten Geburtstag von Karsten und Bea.« Veronika tätschelt die Arme der Zwillinge, woraufhin beide ein genervtes »Mama« hören lassen und mich damit vollkommen aus dem Strudel der Erinnerungen befreien. Ich sehe auf die ganzen Bilder aus den letzten Jahren. Es bedeutet mir viel, dass ich auf so vielen Fotos drauf bin, als wäre ich Teil dieser Familie. Irgendwie bin ich das auch. Seit dem Moment unserer Freundschaft waren Bea und ich nie wirklich getrennt.

Bea hat mich überall mit hingenommen: Auf Familienfeste, Wochenendausflüge. Ich schlafe so oft bei Bea, dass ich sogar eine eigene Zahnbürste und eigene Bettwäsche dort habe. Veronika und Thomas wurde es nie zu viel. Andere Eltern hätten vielleicht irgendwann die Reißleine gezogen und ihrer Tochter gesagt, dass es auch mal Zeiten für die Familie geben muss – ohne Freunde, ohne Leute von außen -, aber das haben sie nie gemacht, sie haben mich einfach mit aufgenommen. Wie immer, wenn ich daran denke, breitet sich Wärme in mir aus, bis mein Körper zu kribbeln beginnt.

Ich lehne mich gegen Beas Schulter, die prompt ihren Arm um mich legt und gedankenverloren mit ihrem Daumen auf meiner Schulter Kreise zieht. Die Wärme in meinem Körper steigt an, während ich genüsslich die Augen schließe und mich geborgen fühle. Die Kreise, die Bea mit ihren Fingerspitzen malt, werden größer und größer, genau wie das Kribbeln auf meiner Haut stärker wird. Ich lächle glückselig, ich mochte es schon immer, wenn Bea das bei mir macht. Gerade scheint alles andere weit entfernt zu sein – der Streit meiner Eltern und auch die kindlichen Ängste und die Sorgen um meine und Beas Zukunft. Ich kann einfach abschalten und zur Ruhe kommen. Bea hilft mir dabei, wie sie mir immer hilft.